BFH erleichtert Steuerpflichtigen den Nachweis verspäteter Bekanntgabe bei Postzustellproblemen
Mit Urteil vom 29. Juli 2025 (VI R 6/23) hat der Bundesfinanzhof (BFH) eine wichtige Entscheidung zur Bekanntgabevermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO getroffen. Die Entscheidung hat große praktische Bedeutung für Einspruchsfristen, Klagefristen und alle Fälle, in denen Steuerbescheide „zu spät“ ankommen.
Der BFH stellt klar:
👉 Wenn innerhalb der Drei-Tage-Fiktion kein ordnungsgemäßer Postlauf stattfindet, ist die Bekanntgabevermutung ohne Weiteres entkräftet.
1. Gesetzliche Ausgangslage: Bekanntgabefiktion nach § 122 AO
Nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO gilt:
- Wird ein Steuerbescheid per einfachem Brief versendet,
- gilt er am dritten Tag nach Aufgabe zur Post als bekanntgegeben.
- Dies gilt unabhängig vom tatsächlichen Zugang, solange der Steuerpflichtige nicht Gegenteiliges nachweist.
Diese Fiktion ist extrem relevant für:
- Einspruchsfristen
- Klagefristen
- Festsetzungs- und Verjährungsfristen
- Vollstreckung
Doch der BFH zieht die Grenze klarer als bisher.
2. Der Fall: Drei-Tage-Frist – aber keine Postzustellung
Im Urteilsfall geschah Folgendes:
- In der relevanten Drei-Tage-Frist wurde an zwei Tagen planmäßig keine Post zugestellt.
- Am dritten Tag wurde lediglich die Post des ersten „zustellfreien“ Tags ausgeliefert.
- Die Post vom eigentlichen zweiten Tag sowie der laufenden Tag wurde nicht zugestellt.
Der BFH stellt fest:
👉 Ein tatsächlicher, ordnungsgemäßer Postlauf hat nicht stattgefunden.
Damit könne die gesetzliche Vermutung nicht greifen.
3. BFH: Bekanntgabevermutung automatisch entkräftet
Entscheidender Satz des BFH:
„Die Bekanntgabevermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO ist ohne Weiteres entkräftet.“
Das bedeutet:
- Es bedarf keiner detaillierten Glaubhaftmachung,
- keiner eidesstattlichen Versicherungen,
- keiner aufwendigen Nachweise des Steuerpflichtigen.
Ein strukturelles Zustellungsdefizit der Post reicht aus.
4. Konsequenzen für Fristen und Verfahren
4.1 Einspruchs- und Klagefristen beginnen später
Wenn der Steuerpflichtige sich auf Postzustellprobleme beruft, gilt:
➡️ Der tatsächliche Zugang ist maßgeblich.
4.2 Finanzämter müssen im Zweifel „Zugang“ nachweisen
Ein verspäteter Zugang kann zur Folge haben:
- Einsprüche sind rechtzeitig, obwohl formal „verspätet“
- Klagen sind zulässig, weil die Frist nicht lief
- Festsetzungsfristen können sich verlängern oder verkürzen
4.3 Signalwirkung in Zeiten unzuverlässiger Postzustellung
Die Urteilsbegründung erschwert es der Finanzverwaltung, sich blind auf die Fiktion zu berufen.
5. Praxistipps für Steuerberater und Steuerpflichtige
Bei Problemen mit der Postzustellung sollten Steuerpflichtige:
- den tatsächlichen Zugang dokumentieren (Datum/Foto/Scan),
- Zeugen (z. B. Familienmitglieder) benennen,
- lokale Postausfälle oder Zustellprobleme anführen,
- zögerliche Zustellungen regelmäßig dokumentieren.
Steuerberater sollten bei „verspäteten“ Einsprüchen:
- sofort auf das BFH-Urteil VI R 6/23 verweisen,
- tatsächlichen Postlauf darlegen,
- die Finanzverwaltung zur Beweislast anhalten.
6. Bedeutung des Urteils
Der BFH stärkt die Rechte der Steuerpflichtigen erheblich, da:
- Postausfälle häufiger geworden sind,
- die Drei-Tage-Fiktion in Zeiten unzuverlässiger Zustellung realitätsfern ist,
- sich viele Verfahren um Tage oder sogar Stunden entscheiden.
Mit dieser Entscheidung schafft der BFH klare Kriterien, wann die Fiktion nicht gilt – und entlastet Steuerpflichtige bei der Beweisführung.
Fazit
Das BFH-Urteil VI R 6/23 bringt deutliche Erleichterungen bei Postzustellproblemen:
👉 Wenn innerhalb der Drei-Tages-Frist keine ordnungsgemäße Postzustellung erfolgt, gilt die Bekanntgabevermutung nicht.
Einspruchs- und Klagefristen beginnen erst mit tatsächlicher Bekanntgabe – ein wichtiger Schutz gegen verspätete oder fehlerhafte Zustellungen.
Quelle: BFH, Urteil vom 29.07.2025 – VI R 6/23