BFH: Keine Bindung an eine den Verlust des Freizügigkeitsrechts feststellende Entscheidung der Ausländerbehörde im Kindergeldrecht

BFH, Urteil III R 36/23 vom 25.04.2024

Der Bundesfinanzhof (BFH) hat am 25. April 2024 entschieden, dass die Familienkasse im Rahmen der Kindergeldfestsetzung eine uneingeschränkte Prüfungskompetenz hinsichtlich der Freizügigkeitsberechtigung des Anspruchstellers hat, auch wenn die Ausländerbehörde den Verlust des Freizügigkeitsrechts festgestellt hat.

Leitsätze des Urteils

  1. Prüfungskompetenz der Familienkasse: Gemäß § 62 Abs. 1a Satz 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) besteht bei Kindergeldfestsetzungen für nach dem 31.07.2019 beginnende Zeiträume eine uneingeschränkte Prüfungskompetenz der Familienkasse für die in § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG vorausgesetzte Freizügigkeitsberechtigung des Anspruchstellers.
  2. Eigenständige Prüfungspflicht: Eine eigenständige Prüfungspflicht der Familienkasse besteht auch dann, wenn die Ausländerbehörde den Verlust des Freizügigkeitsrechts gemäß § 5 Abs. 4 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) festgestellt hat. Der Bescheid der Ausländerbehörde entfaltet bei der Prüfung des Kindergeldanspruchs keine echte Tatbestandswirkung.
  3. Keine teleologische Reduktion: Eine teleologische Reduktion des § 62 Abs. 1a Satz 4 EStG kommt nicht in Betracht.

Hintergrund des Falls

Die Klägerin, eine rumänische Staatsangehörige, lebte seit April 2019 in Deutschland und war ab November 2021 bei einer deutschen Zeitarbeitsfirma beschäftigt. Die Ausländerbehörde stellte im November 2021 den Verlust des Freizügigkeitsrechts der Klägerin fest, da sie weniger als fünf Jahre in Deutschland wohnte und keine Erwerbstätigkeit ausübte. Aufgrund dieser Entscheidung hob die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung ab Dezember 2021 auf. Nachdem die Ausländerbehörde im April 2022 die Verlustfeststellung aufhob und die Freizügigkeitsberechtigung der Klägerin anerkannte, bewilligte die Familienkasse Kindergeld ab April 2022 erneut. Die Klägerin klagte auf Kindergeld für den Zeitraum Dezember 2021 bis März 2022.

Entscheidung des BFH

  1. Kindergeldanspruch bejaht: Das Finanzgericht (FG) und der BFH bejahten den Kindergeldanspruch der Klägerin für den Zeitraum Dezember 2021 bis März 2022, da die Klägerin während des gesamten Zeitraums freizügigkeitsberechtigt war.
  2. Eigenständige Prüfung der Freizügigkeitsberechtigung: Die Familienkasse hat gemäß § 62 Abs. 1a Satz 4 EStG die Freizügigkeitsberechtigung eigenständig zu prüfen, unabhängig von der Entscheidung der Ausländerbehörde.
  3. Kein Vertrauensschutz durch Feststellung der Ausländerbehörde: Der Bescheid der Ausländerbehörde über den Verlust des Freizügigkeitsrechts entfaltet keine Tatbestandswirkung bei der Prüfung des Kindergeldanspruchs durch die Familienkasse. Die Familienkasse ist verpflichtet, die Freizügigkeitsberechtigung selbst zu überprüfen.
  4. Teleologische Reduktion nicht gerechtfertigt: Eine Einschränkung der Prüfungskompetenz der Familienkasse durch teleologische Reduktion des § 62 Abs. 1a Satz 4 EStG ist nicht gerechtfertigt, da der Wortlaut der Norm eine umfassende Prüfungskompetenz der Familienkasse vorsieht.