BFH zur Anwendbarkeit des unionsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei nationalem Recht

Leitsatz

  • Es verstößt gegen Unionsrecht, wenn die Verletzung nationaler formeller Anforderungen dadurch sanktioniert wird, dass eine obligatorische oder eine fakultative Steuerbegünstigung nach der Energiesteuerrichtlinie verweigert wird.
  • Bei einer nicht auf Unionsrecht beruhenden nationalen Energiesteuerbegünstigung steht dagegen das Unionsrecht einer Verweigerung der Steuerbegünstigung aufgrund der Verletzung formeller Anforderungen nicht entgegen.
  • Einem tatsächlichen Verhalten ohne Erklärungsbewusstsein oder Rechtsbindungswillen werden die Wirkungen einer Willenserklärung nur zum Schutz des redlichen Rechtsverkehrs beigelegt. Es kommt daher keine Auslegung in Betracht, wenn der Handelnde keinen Erklärungswillen hat und der Empfänger dies auch erkennt.

Quelle: BFH, Urteil VII R 1/23 (VII R 44/19) vom 29.08.2023

Hintergrund

Die Energiesteuerrichtlinie (Richtlinie 2003/96/EG) sieht eine Reihe von Steuerbegünstigungen für bestimmte Energieprodukte vor. Die Richtlinie legt jedoch nicht fest, ob die Gewährung dieser Steuerbegünstigungen an die Einhaltung nationaler formeller Anforderungen geknüpft werden kann.

Entscheidung

Der BFH hat mit dem Urteil vom 29. August 2023 entschieden, dass es gegen Unionsrecht verstößt, wenn die Verletzung nationaler formeller Anforderungen dadurch sanktioniert wird, dass eine obligatorische oder eine fakultative Steuerbegünstigung nach der Energiesteuerrichtlinie verweigert wird.

Der BFH hat ausgeführt, dass die Energiesteuerrichtlinie den Mitgliedstaaten zwar die Möglichkeit einräumt, bei der Umsetzung der Richtlinie nationale Regelungen vorzusehen. Diese Regelungen dürfen jedoch nicht dazu führen, dass die Ziele der Richtlinie verfehlt werden.

Die Gewährung von Steuerbegünstigungen ist ein wesentliches Ziel der Energiesteuerrichtlinie. Die Verweigerung einer Steuerbegünstigung aufgrund der Verletzung nationaler formeller Anforderungen kann dazu führen, dass die Steuerbegünstigung nicht gewährt wird, obwohl sie dem Grunde nach zusteht. Dies kann zu einer Wettbewerbsverzerrung und zu einer Beeinträchtigung der Verwirklichung der Ziele der Richtlinie führen.

Der BFH hat weiter entschieden, dass bei einer nicht auf Unionsrecht beruhenden nationalen Energiesteuerbegünstigung das Unionsrecht einer Verweigerung der Steuerbegünstigung aufgrund der Verletzung formeller Anforderungen nicht entgegensteht.

Im entschiedenen Fall ging es um die Frage, ob die Verweigerung einer Steuerbegünstigung für Dieselkraftstoff aufgrund der Verletzung von Formvorschriften des deutschen Energiesteuergesetzes gegen Unionsrecht verstößt. Der BFH hat entschieden, dass dies der Fall ist.

Auswirkungen

Die Entscheidung des BFH hat weitreichende Auswirkungen für die Gewährung von Steuerbegünstigungen nach der Energiesteuerrichtlinie. Sie stellt klar, dass die Verletzung nationaler formeller Anforderungen nicht dazu führen darf, dass eine obligatorische oder eine fakultative Steuerbegünstigung nach der Richtlinie verweigert wird.

Praxishinweise

Unternehmen, die Steuerbegünstigungen nach der Energiesteuerrichtlinie in Anspruch nehmen möchten, sollten sich bewusst sein, dass die Verletzung nationaler formeller Anforderungen nicht dazu führen kann, dass die Steuerbegünstigung verweigert wird.