Ansatz der Entfernungspauschale statt der tatsächlichen Kosten für regelmäßige Fahrten eines Betriebsinhabers zu seinem einzigen Auftraggeber

BFH, Pressemitteilung Nr. 10/15 vom 04.02.2015 zum Urteil X R 13/13 vom 22.10.2014

Der X. Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) hat mit Urteil vom 22. Oktober 2014 X R 13/13 entschieden, dass auch regelmäßige Fahrten eines Betriebsinhabers zwischen seinem häuslichen Büro und dem Sitz seines einzigen Auftraggebers „Fahrten zwischen Wohnung und Betriebsstätte“ darstellen. In derartigen Fällen werden die Fahrtkosten einkommensteuerlich in Höhe fester Beträge abgesetzt („Entfernungspauschale“); auf die Höhe der tatsächlichen Fahrtkosten kommt es hingegen nicht an.

Der X. Senat hat damit an der bisherigen Rechtsprechung der für die Gewinneinkünfte zuständigen Senate zum Begriff der „Betriebsstätte“ festgehalten. Damit hat er sich zugleich von der – für Arbeitnehmer geltenden – Rechtsprechung des VI. Senats abgegrenzt, der in neueren Entscheidungen den Parallelbegriff der „regelmäßigen Arbeitsstätte“ stark eingeschränkt hat. Insbesondere sieht der VI. Senat die betriebliche Einrichtung eines Kunden des Arbeitgebers nicht als regelmäßige Arbeitsstätte des Arbeitnehmers an. Damit kann ein Arbeitnehmer in derartigen Fällen die tatsächlichen Kosten abziehen; die Entfernungspauschale ist nicht anwendbar.

Mit Wirkung ab dem 1. Januar 2014 hat der Gesetzgeber allerdings bereits auf die zum Begriff der regelmäßigen Arbeitsstätte ergangene Rechtsprechung des VI. Senats reagiert und in § 9 Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes eine Definition des Begriffs der „ersten Tätigkeitsstätte“ festgeschrieben, die von den Grundsätzen der zwischenzeitlichen BFH-Rechtsprechung abweicht. Für Arbeitnehmer ist es damit – zunächst durch die Rechtsprechungsänderung des VI. Senats, danach durch die Gesetzesänderung – zu einer mehrfachen Änderung der Rechtslage gekommen. Für Betriebsinhaber hat die Entscheidung des X. Senats demgegenüber klargestellt, dass keine Änderung der Rechtslage eingetreten ist.

Für Betriebsinhaber, die nur einen Auftraggeber haben und für ihre regelmäßigen Fahrten einen Pkw nutzen, bedeutet die nunmehrige Entscheidung des X. Senats für die Zeit bis einschließlich 2013 eine Einschränkung der Abzugsmöglichkeiten im Vergleich zu Arbeitnehmern, weil die tatsächlichen Pkw-Kosten die Entfernungspauschale übersteigen. Für Nutzer öffentlicher Verkehrsmittel ergibt sich hingegen zumeist eine Verbesserung, da hier die Entfernungspauschale in der Regel über den tatsächlichen Kosten liegt.

Bundesfinanzhof, X-R-13/13

Urteil vom 22.10.2014

Fahrten zwischen Wohnung und Betriebsstätte bei den Gewinneinkünften


Leitsatz:

  1. Aufwendungen eines Erzielers von Gewinneinkünften für regelmäßige PKW-Fahrten zu seinem einzigen Auftraggeber sind nur in Höhe der Entfernungspauschale als Betriebsausgaben abziehbar.

  2. Betriebsstätte i.S. des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6 EStG ist –abweichend von § 12 AO– bei einem im Wege eines Dienstvertrags tätigen Unternehmer, der nicht über eine eigene Betriebsstätte verfügt, der Ort, an dem oder von dem aus die beruflichen oder gewerblichen Leistungen erbracht werden (Bestätigung der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung).

  3. Betrieblich genutzte Räume, die sich in der im Übrigen selbstgenutzten Wohnung des Steuerpflichtigen befinden, können wegen ihrer engen Einbindung in den privaten Lebensbereich nicht als Betriebsstätte i.S. des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6 EStG angesehen werden.

Tatbestand:

I.

1

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) erzielt als Einzelunternehmer Einkünfte aus Gewerbebetrieb. Im Streitjahr 2008 hatte er lediglich einen einzigen Auftraggeber, für den er die Finanzbuchhaltung, die Lohn- und Gehaltsabrechnungen sowie das EDV-System betreute. Er suchte dessen Betrieb an vier bis fünf Tagen wöchentlich auf; weitere betriebliche Tätigkeiten führte er in Räumen durch, die im Obergeschoss des von ihm und seiner Lebensgefährtin bewohnten Einfamilienhauses liegen.

2

In seiner Gewinnermittlung zog der Kläger die Kosten für den zu seinem Betriebsvermögen gehörenden PKW auch insoweit in voller Höhe ab, als sie auf die Fahrten zwischen dem Einfamilienhaus und dem Betrieb des Auftraggebers entfielen. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt –FA–) setzte hingegen nur die Entfernungspauschale an und erhöhte den Gewinn entsprechend. Zur Begründung verwies er auf die Regelungen der § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6, § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) i.d.F. des Gesetzes zur Fortführung der Gesetzeslage 2006 bei der Entfernungspauschale vom 20. April 2009 (BGBl I 2009, 774), die gemäß § 52 Abs. 12 Satz 8, Abs. 23d Satz 1 EStG i.d.F. des genannten Gesetzes bereits für das Streitjahr anzuwenden sind.

3

Nach erfolglosem Einspruchsverfahren gab das Finanzgericht (FG) der Klage statt (Entscheidungen der Finanzgerichte –EFG– 2013, 765) und setzte wieder den vom Kläger erklärten Gewinn an. Die für Aufwendungen für die Wege des Steuerpflichtigen zwischen Wohnung und Betriebsstätte geltende Abzugsbeschränkung des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6 EStG sei nicht anwendbar, weil der Kläger im Betrieb des Auftraggebers keine Betriebsstätte unterhalten habe. Zwar sei der in der genannten Vorschrift verwendete Begriff der Betriebsstätte in der bisherigen Rechtsprechung der für die Gewinneinkünfte zuständigen Senate des Bundesfinanzhofs (BFH) abweichend von der gesetzlichen Definition in § 12 der Abgabenordnung (AO) ausgelegt worden. Daran könne aber angesichts der neueren Rechtsprechung des VI. Senats des BFH, wonach eine betriebliche Einrichtung eines Kunden des Arbeitgebers nicht als regelmäßige Arbeitsstätte des Arbeitnehmers anzusehen sei, nicht mehr festgehalten werden, so dass die Definition des § 12 AO auch für Zwecke der Anwendung des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6 EStG uneingeschränkt heranzuziehen sei. Daher sei die Abzugsbeschränkung hier nur dann noch anzuwenden, wenn der Steuerpflichtige bei seinem Auftraggeber eine eigene Betriebsstätte unterhalte. Vorliegend sei dies mangels der hierfür erforderlichen Verfügungsbefugnis des Klägers über Einrichtungen des Auftraggebers aber nicht der Fall gewesen. Danach komme es nicht mehr darauf an, ob die vom Kläger im Einfamilienhaus genutzten Räume als Betriebsstätte oder aber als häusliches Arbeitszimmer anzusehen seien.

4

Mit seiner Revision beruft das FA sich auf die höchstrichterliche Rechtsprechung, wonach als Betriebsstätte i.S. des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6 EStG auch der Ort anzusehen sei, an dem der Unternehmer die geschuldete Leistung zu erbringen habe. Dies müsse erst recht bei Unternehmern gelten, die nur einen einzigen Auftraggeber hätten. Vor diesem Hintergrund hätte das FG die Frage, ob die Räume im selbstgenutzten Einfamilienhaus eine Betriebsstätte darstellten, nicht offenlassen dürfen.

5

Das FA beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

6

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Gründe:

II.

7

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung –FGO–).

8

Zur Abgeltung der Aufwendungen für die Wege des Steuerpflichtigen zwischen Wohnung und Betriebsstätte ist gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6 Sätze 1 und 2 EStG u.a. die Vorschrift des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG (Entfernungspauschale) entsprechend anzuwenden. Das FG hat zu Unrecht in bewusster Abkehr von der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung eine Betriebsstätte des Klägers bei seinem Auftraggeber verneint (dazu unten 1.). Die Sache ist nicht spruchreif, weil es für die Entscheidung des Streitfalls darauf ankommt, ob der Kläger auch in dem ansonsten zu eigenen Wohnzwecken genutzten Einfamilienhaus eine Betriebsstätte unterhalten hat, das FG diese Frage aber ausdrücklich offengelassen hat (unten 2.).

9

1. Der Kläger hat bei seinem Auftraggeber eine Betriebsstätte i.S. des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6 Satz 1 EStG unterhalten.

10

a) Nach ständiger Rechtsprechung der für die Gewinneinkünfte zuständigen Senate des BFH ist als Betriebsstätte bei einem im Wege eines Dienstvertrags tätigen Unternehmer, der nicht über eine eigene Betriebsstätte verfügt, der Ort anzusehen, an dem er die geschuldete Leistung zu erbringen hat, in der Regel also der Betrieb des Auftraggebers (mit ausführlicher Begründung BFH-Urteil vom 13. Juli 1989 IV R 55/88, BFHE 157, 562, BStBl II 1990, 23; ferner BFH-Urteile vom 27. Oktober 1993 I R 99/92, BFH/NV 1994, 701, und vom 19. August 1998 XI R 90/96, BFH/NV 1999, 41). In anderen Entscheidungen wird die Formulierung verwendet, es handele sich um den Ort, an dem oder von dem aus die beruflichen oder gewerblichen Leistungen erbracht werden (BFH-Urteile vom 19. September 1990 X R 110/88, BFHE 162, 82, BStBl II 1991, 208; X R 44/89, BFHE 162, 77, BStBl II 1991, 97, unter I.2.; vom 31. Juli 1996 XI R 5/95, BFH/NV 1997, 279, unter II.1., und vom 29. April 2014 VIII R 33/10, BFHE 246, 53, BStBl II 2014, 777, unter II.1.c aa; ebenso Hessisches FG, Urteil vom 20. Juni 2012 12 K 1511/09, Revision III R 59/13), ohne dass in diesem Formulierungsunterschied allerdings eine inhaltliche Abweichung zu sehen ist.

11

Die für Arbeitnehmer entwickelten Ausnahmen von der –für PKW-Nutzer– mit der Anwendung des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG verbundenen Abzugsbeschränkung gelten allerdings auch zugunsten der Bezieher von Gewinneinkünften. Dies ist bisher vor allem für Steuerpflichtige entschieden worden, die an –so die Terminologie der damaligen Rechtsprechung– ständig wechselnden Einsatzstellen tätig waren (vgl. –im Ergebnis jeweils nicht tragend– die Ausführungen in den BFH-Urteilen vom 5. November 1987 IV R 180/85, BFHE 151, 413, BStBl II 1988, 334, unter 2.a; in BFHE 162, 77, BStBl II 1991, 97, unter I.3.; in BFH/NV 1994, 701, unter II.3., und in BFHE 246, 53, BStBl II 2014, 777, unter II.1.c aa; tragend im BFH-Urteil in BFH/NV 1997, 279, unter II.2.; im Ergebnis ebenso, wenn auch mit abweichender Begründung Urteile des FG Baden-Württemberg vom 27. Oktober 2011 3 K 1849/09, EFG 2012, 310, Revision VIII R 47/11, und des FG Münster vom 22. März 2013 4 K 4834/10, EFG 2013, 839, Revision III R 19/13).

12

Die dargestellte, zu § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6 EStG entwickelte Definition der Betriebsstätte weicht zwar vom allgemeinen Betriebsstättenbegriff des § 12 AO ab, der eine nicht nur vorübergehende Verfügungsmacht des Steuerpflichtigen über die von ihm genutzte Einrichtung voraussetzt (vgl. BFH-Urteil vom 4. Juni 2008 I R 30/07, BFHE 222, 14, BStBl II 2008, 922, unter II.2.a, m.w.N.). Diese normspezifische Gesetzesauslegung ist jedoch im Hinblick auf den mit § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6 EStG verfolgten Zweck, die Bezieher von Gewinneinkünften in Bezug auf regelmäßige Fahrten mit Arbeitnehmern gleichzustellen (vgl. hierzu Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 2. Oktober 1969 1 BvL 12/68, BVerfGE 27, 58, unter C.II.3.c), geboten (ausführlich BFH-Urteil in BFHE 157, 562, BStBl II 1990, 23). Demgegenüber dient der Betriebsstättenbegriff des § 12 AO im Wesentlichen der Abgrenzung von Besteuerungsbefugnissen zwischen verschiedenen Steuergläubigern (z.B. Gewerbesteuerzerlegung nach § 28 des Gewerbesteuergesetzes, nationales Zugriffsrecht auf die Einkünfte von Steuerausländern nach § 49 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a EStG, Aufrechterhaltung des nationalen Zugriffsrechts in Anwendung des im Recht der Doppelbesteuerungsabkommen entwickelten Betriebsstättenbegriffs), was für den Regelungsbereich des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6 EStG indes nicht von Bedeutung ist.

13

b) An der dargestellten Auslegung des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6 EStG ist –entgegen der Auffassung des FG– ungeachtet der neueren Rechtsprechung des VI. Senats des BFH zu dem in § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG verwendeten Begriff der regelmäßigen Arbeitsstätte festzuhalten.

14

Der VI. Senat hat für die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit in seiner neueren Rechtsprechung allerdings angenommen, regelmäßige Arbeitsstätte könne nur eine betriebliche Einrichtung des Arbeitgebers sein, nicht aber die betriebliche Einrichtung eines Kunden des Arbeitgebers (BFH-Urteile vom 10. Juli 2008 VI R 21/07, BFHE 222, 391, BStBl II 2009, 818, unter II.1.b; vom 9. Juli 2009 VI R 21/08, BFHE 225, 449, BStBl II 2009, 822, und vom 17. Juni 2010 VI R 35/08, BFHE 230, 147, BStBl II 2010, 852). Dies soll selbst dann gelten, wenn der Arbeitnehmer jahrzehntelang ausschließlich in derselben Einrichtung des Kunden des Arbeitgebers tätig wird (vgl. den Sachverhalt zum BFH-Urteil vom 13. Juni 2012 VI R 47/11, BFHE 238, 53, BStBl II 2013, 169).

15

Auch nach Bekanntwerden dieser Rechtsprechung haben verschiedene für die Gewinneinkünfte zuständige Senate des BFH hinsichtlich des Begriffs der Betriebsstätte an der dargestellten, langjährigen Auslegung des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6 EStG festgehalten (z.B. BFH-Entscheidungen vom 25. Juli 2012 X B 11/11, BFH/NV 2013, 245, und in BFHE 246, 53, BStBl II 2014, 777, unter II.1.b aa). Der erkennende Senat schließt sich dem an.

16

Eine Abweichung von der neueren Rechtsprechung des VI. Senats liegt darin schon deshalb nicht, weil umgekehrt auch der VI. Senat bei Begründung seiner neueren Rechtsprechung keine Abweichung von der –wesentlich älteren– Rechtsprechung aller für die Gewinneinkünfte zuständigen Senate des BFH zum Betriebsstättenbegriff des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6 EStG gesehen und folgerichtig von einer Anfrage nach § 11 Abs. 3 FGO bei diesen Senaten abgesehen hat. Vor allem aber ist das vom VI. Senat für Zwecke der Besteuerung von Arbeitnehmern entwickelte Differenzierungskriterium, ob deren Arbeitgeber bei dem Kunden, in dessen Räumen der Arbeitnehmer tätig sei, eine eigene Betriebsstätte unterhalte oder nicht, auf die Gewinneinkünfte nicht übertragbar. Denn dort fehlt es bei typisierender Betrachtung an dem für die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit typischen Dreiecksverhältnis zwischen dem Arbeitnehmer, seinem Arbeitgeber und dem Kunden des Arbeitgebers. Vielmehr ist allein das zweipolige Rechtsverhältnis zwischen dem Gewerbetreibenden und seinem Kunden maßgebend. Zudem fehlt es an einem Direktionsrecht eines Arbeitgebers, das der VI. Senat als entscheidend für seine Differenzierung angesehen hat (vgl. BFH-Urteil in BFHE 225, 449, BStBl II 2009, 822, unter II.1.c). Der Gewerbetreibende ist vielmehr regelmäßig selbst Herr seiner Entscheidungen.

17

Im Übrigen hat der Gesetzgeber der neueren Rechtsprechung des VI. Senats mit Wirkung ab dem Veranlagungszeitraum 2014 durch Änderungen in § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4, Abs. 4 EStG teilweise die Grundlage entzogen. Der erkennende Senat erachtet es aber auch im Interesse der Kontinuität der Rechtsanwendung nicht für sachgerecht, die höchstrichterliche Rechtsprechung zur Auslegung des Betriebsstättenbegriffs des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6 EStG für Sachverhalte, die in der Vergangenheit liegen, zu ändern –zumal dies ohnehin erst nach einer Anfrage bei den meisten für Gewinneinkünfte zuständigen Senaten bzw. nach Anrufung des Großen Senats möglich wäre–, um dann für Veranlagungszeiträume ab 2014 aufgrund der gesetzgeberischen Reaktion auf die Rechtsprechung des VI. Senats wieder zu der bisherigen Handhabung zurückzukehren. Auch die Finanzverwaltung will für die Zeit ab 2014 weiterhin ausdrücklich den dargestellten, normspezifischen Betriebsstättenbegriff i.S. des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6 EStG anwenden (vgl. Rz 1 des Entwurfs eines Schreibens des Bundesministeriums der Finanzen zur ertragsteuerlichen Beurteilung von Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und Betriebsstätte und von Reisekosten unter Berücksichtigung der Reform des steuerlichen Reisekostenrechts zum 1. Januar 2014 IV C 6 – S 2145/10/10005:001).

18

c) Vorliegend hatte der Kläger nach den Feststellungen des FG nur einen einzigen Auftraggeber und hat dessen Betrieb an vier bis fünf Tagen wöchentlich aufgesucht. Damit stellt der Betrieb des Auftraggebers für Zwecke des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6 EStG in Anwendung der dargestellten ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung zugleich eine Betriebsstätte des Klägers dar. Die für ständig wechselnde Einsatzstellen entwickelte Ausnahme ist im Streitfall nicht einschlägig, da der Kläger nicht an unterschiedlichen Einsatzstellen tätig war.

19

2. Die Sache ist nicht spruchreif, weil es nach dem Vorstehenden für die Entscheidung des Streitfalls darauf ankommt, ob der Kläger auch in den von seiner Lebensgefährtin angemieteten Räumen des im Übrigen selbstgenutzten Einfamilienhauses eine Betriebsstätte unterhalten hat, das FG diese Frage aber ausdrücklich offengelassen hat.

20

a) Sind auch die Räume im Einfamilienhaus als Betriebsstätte anzusehen, stellen die Fahrten des Klägers zu seinem Auftraggeber Wege zwischen zwei Betriebsstätten dar. Derartige Aufwendungen fallen nach ständiger Rechtsprechung nicht unter die Abzugsbeschränkung des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6 EStG (vgl. BFH-Urteil vom 31. Mai 1978 I R 69/76, BFHE 125, 381, BStBl II 1978, 564, unter 2.b, betreffend Fahrten von einer Produktionsstätte, die sich auf demselben Grundstück wie die Privatwohnung befindet, zu der auswärtigen Hauptproduktionsstätte; BFH-Urteil vom 29. März 1979 IV R 137/77, BFHE 128, 196, BStBl II 1979, 700, betreffend Fahrten von einem Ingenieurbüro, das sich im selben Gebäude wie die Privatwohnung befindet, zu einem weiteren auswärtigen Ingenieurbüro). Die Sachverhalte, die den beiden vorstehend zitierten Entscheidungen zugrunde lagen, waren allerdings dadurch gekennzeichnet, dass die Betriebsstätten von den jeweils selbstgenutzten Wohnungen räumlich getrennt waren (so ausdrücklich BFH-Urteil vom 15. Juli 1986 VIII R 134/83, BFHE 147, 169, BStBl II 1986, 744); eine solche räumliche Trennung ist für die Annahme von Fahrten zwischen zwei Betriebsstätten zwingend erforderlich (BFH-Urteil in BFHE 157, 562, BStBl II 1990, 23).

21

b) Sind die Räume wegen ihrer engen Einbindung in den privaten Lebensbereich hingegen nicht als Betriebsstätte anzusehen, überlagert die Nutzung des Gebäudes als Wohnung die dort auch verwirklichten betrieblichen Zwecke. In einem solchen Fall kann nicht davon gesprochen werden, dass der Steuerpflichtige seine auswärtige Betriebsstätte von einer in der Wohnung befindlichen Betriebsstätte aufsucht; Ausgangs- und Endpunkt der Fahrten ist vielmehr die Wohnung (BFH-Urteil in BFHE 147, 169, BStBl II 1986, 744). Damit würde es sich bei den streitgegenständlichen Fahrtkosten um Aufwendungen für Wege zwischen Wohnung und Betriebsstätte handeln, die unter die Abzugsbeschränkung des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6 EStG fallen.

22

Der BFH hat in diesem Zusammenhang bereits vielfach entschieden, dass insbesondere ein häusliches Arbeitszimmer stets derart in den privaten Bereich eingebunden ist, dass seine Existenz die Anwendung des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6 EStG nicht ausschließt (BFH-Entscheidungen vom 7. Dezember 1988 X R 15/87, BFHE 155, 353, BStBl II 1989, 421; in BFHE 162, 82, BStBl II 1991, 208; in BFHE 162, 77, BStBl II 1991, 97, unter I.1.; in BFH/NV 1994, 701, unter II.1.a; in BFH/NV 1997, 279, unter II.1.; in BFH/NV 1999, 41, und vom 28. Juni 2006 IV B 75/05, BFH/NV 2006, 2243, unter II.2.c). Auch dies dient der Gleichbehandlung der Bezieher von Gewinneinkünften mit Arbeitnehmern, bei denen allein die Existenz eines häuslichen Arbeitszimmers nicht dazu führt, dass die Entfernungspauschale auf ihre Wege zwischen der Wohnung und der regelmäßigen Arbeitsstätte keine Anwendung mehr findet.

23

Schon nach dem eigenen Vorbringen des Klägers im Verwaltungs- und Klageverfahren spricht zwar Vieles dafür, dass die Räume im Einfamilienhaus lediglich als häusliches Arbeitszimmer anzusehen sind und ihre betriebliche Nutzung der Anwendung des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6 EStG daher nicht entgegensteht. Da das FG hierzu aber keine Feststellungen getroffen hat, ist dem Senat eine eigene Entscheidung verwehrt.

Normen:

EStG:4/5/1/6  EStG:9/1/3/4  AO:12

Aufstockung eines Investitionsabzugsbetrags in einem Folgejahr

BFH, Urteil X R 4/13 vom 12.11.2014

Leitsatz

Ein für ein bestimmtes Wirtschaftsgut in einem Vorjahr gebildeter Investitionsabzugsbetrag kann in einem Folgejahr innerhalb des dreijährigen Investitionszeitraums bis zum gesetzlichen Höchstbetrag aufgestockt werden (gegen BMF-Schreiben vom 20. November 2013, BStBl I 2013, 1493, Rz 6).

 

Tatbestand:

I.

1

Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) sind Eheleute, die im Streitjahr 2009 zur Einkommensteuer zusammenveranlagt wurden. Der Kläger ließ im Jahr 2010 aufgrund einer verbindlichen Bestellung vom 15. Dezember 2008 eine Photovoltaik-Anlage errichten und erzielt daraus Einkünfte aus Gewerbebetrieb. Die tatsächlichen Herstellungskosten betrugen 648.367,55 €.

2

In der Einkommensteuererklärung 2008 beantragten die Kläger für die beabsichtigte Herstellung der Photovoltaik-Anlage einen Investitionsabzugsbetrag von 110.000 €, den der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt –FA–) gewährte. Für das Streitjahr 2009 beantragten die Kläger eine Aufstockung des Investitionsabzugsbetrags um 90.000 €. Dies lehnte das FA im angefochtenen Einkommensteuerbescheid 2009 unter Verweis auf das Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) vom 8. Mai 2009 (BStBl I 2009, 633, Rz 6; jetzt BMF-Schreiben vom 20. November 2013, BStBl I 2013, 1493, Rz 6) ab.

3

Nach erfolglosem Einspruchsverfahren gab das Finanzgericht (FG) der Klage statt (Entscheidungen der Finanzgerichte –EFG– 2013, 669). Sowohl die Systematik als auch der Zweck und die historische Entwicklung des Gesetzes sprächen für die Zulässigkeit einer späteren Aufstockung eines bereits gebildeten Investitionsabzugsbetrags. Der insoweit offene Gesetzeswortlaut stehe dem jedenfalls nicht entgegen.

4

Das FA bringt mit seiner Revision vor, der Gesetzeswortlaut schließe aufgrund der mehrfachen Verwendung des bestimmten Artikels („der Investitionsabzugsbetrag“) eine spätere Aufstockung aus. Zudem werfe die Auffassung des FG ungeklärte Folgeprobleme auf und laufe der angestrebten Vereinfachung des Steuerrechts zuwider.

5

Das FA beantragt sinngemäß,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

6

Die Kläger beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

7

Während des Revisionsverfahrens hat das FA am 13. Februar 2014 einen geänderten Einkommensteuerbescheid 2009 erlassen. Die Beteiligten haben übereinstimmend erklärt, dass der Streitstoff hierdurch nicht berührt werde.

Gründe:

II.

8

Die Revision führt aus verfahrensrechtlichen Gründen zur Aufhebung des FG-Urteils und zur erneuten Klagestattgabe.

9

1. Das vorinstanzliche Urteil ist aufzuheben, weil der während des Revisionsverfahrens ergangene geänderte Einkommensteuerbescheid 2009 an die Stelle des angefochtenen Bescheids vom 23. Dezember 2011 getreten ist. Damit kann das FG-Urteil keinen Bestand haben, weil ihm ein nicht mehr existierender Bescheid zugrunde liegt. Da das Urteil jedoch nicht an einem Verfahrensmangel leidet und die vom FG festgestellten tatsächlichen Grundlagen des Streitstoffs durch die Änderung des angefochtenen Verwaltungsakts unberührt bleiben, bedarf es keiner Zurückverweisung nach § 127 der Finanzgerichtsordnung –FGO– (vgl. zum Ganzen, Senatsurteil vom 26. November 2008 X R 31/07, BFHE 223, 471, BStBl II 2009, 651, unter II.1., m.w.N.).

10

2. Die Klage ist –aus den bereits vom FG angeführten Gründen– begründet. Die Einkünfte des Klägers aus Gewerbebetrieb sind um 90.000 € aus der Aufstockung des Investitionsabzugsbetrags zu mindern.

11

Steuerpflichtige können gemäß § 7g Abs. 1 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) für die künftige Anschaffung oder Herstellung eines abnutzbaren beweglichen Wirtschaftsguts des Anlagevermögens –unter den weiteren Voraussetzungen des § 7g Abs. 1 Satz 2 EStG– bis zu 40 % der voraussichtlichen Anschaffungs- oder Herstellungskosten gewinnmindernd abziehen (Investitionsabzugsbetrag).

12

Das FG hat festgestellt –hierüber besteht auch zwischen den Beteiligten kein Streit–, dass die in § 7g Abs. 1 Satz 2 EStG genannten Voraussetzungen für die Inanspruchnahme eines Investitionsabzugsbetrags (Betriebsgröße, Investitionsabsicht, Angaben zum begünstigten Wirtschaftsgut) erfüllt sind. Die Beteiligten streiten vielmehr ausschließlich über die Frage, ob ein Investitionsabzugsbetrag, der bereits in einem Vorjahr abgezogen worden war, ohne dabei aber die absolute Höchstgrenze von 200.000 € je Betrieb (§ 7g Abs. 1 Satz 4 EStG) oder die relative Höchstgrenze von 40 % der voraussichtlichen Anschaffungs- oder Herstellungskosten (§ 7g Abs. 1 Satz 1 EStG) zu erreichen, in einem Folgejahr des durch § 7g Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Buchst. a, Abs. 3 Satz 1 EStG umrissenen Dreijahreszeitraums bis zum Erreichen der genannten Höchstgrenzen aufgestockt werden darf.

13

Diese Frage ist zu bejahen. Zwar lassen sich weder im Gesetzeswortlaut (dazu unten a) noch aus der Systematik des Gesetzes (unten b) eindeutige Anhaltspunkte für die eine oder die andere Auffassung finden. Sowohl die historische Entwicklung des Gesetzes (unten c) als auch der Gesetzeszweck (unten d) sprechen aber für die Zulässigkeit späterer Aufstockungen eines für dasselbe Wirtschaftsgut bereits gebildeten Investitionsabzugsbetrags. Die vom FA vorgebrachten weiteren Einwendungen stehen dem nicht entgegen (unten e).

14

a) Dem Wortlaut des § 7g EStG lässt sich weder eine ausdrückliche Aussage zur Zulässigkeit noch –umgekehrt– zum Ausschluss einer nachträglichen Aufstockung eines Investitionsabzugsbetrags entnehmen.

15

Die vom FA angeführten Zitate aus dem Gesetzestext, in denen die Begriffe „der Investitionsabzugsbetrag“ (§ 7g Abs. 1 Satz 2 Einleitungssatz, § 7g Abs. 2 Satz 1, § 7g Abs. 3 Satz 1 EStG) oder „der Abzug“ (§ 7g Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Einleitungssatz, § 7g Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Buchst. a, § 7g Abs. 1 Satz 4, § 7g Abs. 3 Satz 1, § 7g Abs. 4 Satz 1 EStG) jeweils mit einem bestimmten Artikel versehen worden sind, lassen nicht den Schluss zu, dass damit der Abzug auf genau ein einziges Wirtschaftsjahr beschränkt werden soll. Die Verwendung des bestimmten Artikels lässt sich hier vielmehr jeweils mit sprachlichen Gründen erklären. Das FG hat zutreffend ausgeführt, auch ein aufgestockter Investitionsabzugsbetrag sei „der Investitionsabzugsbetrag“ für dieses Wirtschaftsgut (s. dazu auch unten e aa).

16

Ebensowenig kann allerdings umgekehrt aus der gelegentlichen Verwendung des Plurals durch den Gesetzgeber (z.B. § 7g Abs. 1 Satz 3 EStG: „Abzugsbeträge“) geschlossen werden, damit solle ausdrücklich die Zulässigkeit der Verteilung des Abzugs auf mehrere Wirtschaftsjahre eröffnet werden. Hier hat die Gesetzesformulierung ebenfalls sprachliche Gründe.

17

b) Anders als das FG meint, lassen sich auch der Gesetzessystematik –insbesondere dem Vergleich mit anderen Vorschriften des EStG– keine eindeutigen Anhaltspunkte für oder gegen die Zulässigkeit einer späteren Aufstockung eines in einem Vorjahr in Anspruch genommenen Investitionsabzugsbetrags entnehmen.

18

Das FG verweist insoweit auf die Vorschrift des § 34 Abs. 3 Satz 4 EStG, in der es ausdrücklich heißt, der Steuerpflichtige könne den besonderen ermäßigten Steuersatz „nur einmal im Leben in Anspruch nehmen“. Das Fehlen einer solchen ausdrücklichen Beschränkung in § 7g EStG lässt aber keinen zwingenden Rückschluss darauf zu, dass ein Investitionsabzugsbetrag mehrfach für dasselbe Wirtschaftsgut in Anspruch genommen werden kann, zumal der Gesetzgeber in anderen Vorschriften, in denen er die Verteilung eines Abzugsbetrags über mehrere Jahre ermöglicht hat, dies ausdrücklich im Wortlaut erkennen lässt (z.B. Sonderabschreibung nach § 7g Abs. 5 EStG: „im Jahr der Anschaffung oder Herstellung und in den vier folgenden Jahren … Sonderabschreibungen bis zu insgesamt 20 % der Anschaffungs- oder Herstellungskosten“; ebenso in den mittlerweile ausgelaufenen Vorschriften des § 7f Abs. 1 EStG und § 4 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Abs. 2 des Fördergebietsgesetzes).

19

c) Demgegenüber spricht die historische Entwicklung des Gesetzes entscheidend für die Zulässigkeit späterer Aufstockungen des Investitionsabzugsbetrags.

20

§ 7g EStG erhielt mit dem Unternehmensteuerreformgesetz (UntStRefG) 2008 vom 14. August 2007 (BGBl I 2007, 1912) seine heutige Gestalt. Die Vorschrift nahm die frühere Regelung über die Ansparabschreibung und -rücklage (§ 7g EStG a.F.) auf, gestaltete sie aber in einigen Bereichen um. In Bezug auf die hier in Rede stehende Problematik verhielten sich Wortlaut und Systematik des § 7g EStG a.F. zur Frage der Zulässigkeit einer späteren Aufstockung einer in einem Vorjahr gebildeten Rücklage ebenso offen wie bei § 7g EStG in der im Streitjahr geltenden Fassung. Gleichwohl entsprach es zu § 7g EStG a.F. einhelliger Auffassung sowohl der Finanzverwaltung (BMF-Schreiben vom 25. Februar 2004, BStBl I 2004, 337, Rz 14 Satz 1: „Soll die Höhe der Rücklage in einem Folgejahr geändert werden (z.B. Anpassung an geänderte voraussichtliche Anschaffungs- oder Herstellungskosten), ist eine erneute Prüfung der Betriebsgrößenmerkmale nicht erforderlich“; dazu Pitzke, Neue Wirtschafts-Briefe –NWB– 2009, 2063, 2064) als auch der Rechtsprechung (z.B. Urteile des FG Düsseldorf vom 2. Mai 2012 15 K 453/10 E, EFG 2012, 1335, rkr., und des FG Köln vom 28. Juni 2012 13 K 1110/09, EFG 2012, 2001, rkr.) und Literatur (vgl. Blümich/Brandis, § 7g EStG a.F. Rz 82; Schmidt/ Kulosa, EStG, 26. Aufl. 2007, § 7g Rz 42, m.w.N.; Pinkos, Der Betrieb 1993, 1688, 1690), dass die Höhe der Rücklage in einem Folgejahr geändert (vermindert, aber auch aufgestockt) werden konnte.

21

In den Materialien zum UntStRefG 2008 sind die einzelnen Änderungen, die im Zusammenhang mit dem Übergang von der Ansparabschreibung auf den Investitionsabzugsbetrag beabsichtigt waren, jeweils ausdrücklich benannt worden (vgl. Fraktionsentwurf eines UntStRefG 2008 vom 27. März 2007, BTDrucks 16/4841, 51 ff.). Dass der Gesetzgeber den Steuerpflichtigen die –zu § 7g EStG a.F. auch von der Finanzverwaltung ausdrücklich zugelassene– Möglichkeit einer späteren Aufstockung nicht mehr einräumen wollte, geht indes weder aus dieser Auflistung der Änderungen noch aus anderen Formulierungen der Gesetzesmaterialien hervor.

22

Die vom FA angeführten Passagen der Begründung des Gesetzentwurfs sind in Bezug auf die vorliegend zu beurteilende Fragestellung nicht ergiebig; sie enthalten hierzu vielmehr weder eine ausdrückliche noch eine mittelbare Äußerung. So kann der Aussage „Die Regelungen in § 7g Abs. 1 bis 4 ermöglichen die Vorverlagerung von Abschreibungspotenzial in ein Wirtschaftsjahr vor Anschaffung oder Herstellung eines begünstigten Wirtschaftsguts“ nicht die Festlegung des Gesetzgebers entnommen werden, der Investitionsabzugsbetrag müsse auf „ein einziges Wirtschaftsjahr“ konzentriert werden. Der Begriff „ein“ ist hier vielmehr in seiner Funktion als unbestimmter Artikel verwendet worden, nicht aber als Zahlwort. Gleiches gilt für die Wendung „in einem Vorjahr“ in der Passage „Sind dagegen die tatsächlichen Kosten höher als der prognostizierte Anschaffungs- oder Herstellungsaufwand, übersteigt die höchstmögliche, gewinnmindernde Kürzung der Bemessungsgrundlage den hinzuzurechnenden, in einem Vorjahr berücksichtigten Abzugsbetrag“.

23

d) Auch der Zweck des § 7g EStG spricht für die Zulässigkeit der nachträglichen Aufstockung eines Investitionsabzugsbetrags.

24

Die genannte Vorschrift soll nach dem Willen des Gesetzgebers der Verbesserung der Wettbewerbssituation kleiner und mittlerer Betriebe, der Unterstützung von deren Liquidität und Eigenkapitalbildung sowie der Stärkung der Investitions- und Innovationskraft dienen (BTDrucks 16/4841, 51). Dieser Gesetzeszweck wird durch die Zulassung späterer Aufstockungen eines bereits in einem Vorjahr in Anspruch genommenen Investitionsabzugsbetrags nicht unterlaufen, sondern im Gegenteil verwirklicht. Dies zeigt sich gerade in Fällen, in denen sich im Laufe der Investitionsplanungsphase ein Anstieg der voraussichtlichen Investitionskosten ergibt. Wäre hier keine Anpassung des Investitionsabzugsbetrags an den gestiegenen Mittelbedarf möglich, wäre ein Teil der Investitionskosten von der Förderung durch § 7g EStG ausgeschlossen, obwohl der Zweck der Norm –Stärkung der Liquidität und Investitionskraft– gerade in einem solchen Fall die Förderung geböte. Missbräuchliche Gestaltungen sind durch die Zulassung einer nachträglichen Aufstockung nicht zu erwarten, zumal eine solche Aufstockung schon im zeitlichen Anwendungsbereich des § 7g EStG a.F. zulässig war, ohne dass entsprechende Gestaltungen bekannt geworden sind.

25

e) Die vom FA vorgebrachten Einwendungen stehen dieser Beurteilung nicht entgegen.

26

aa) Das FA verweist zunächst auf seiner Ansicht nach ungeklärte Folgefragen der Zulassung nachträglicher Aufstockungen. So sei unklar, ob sich der Investitionszeitraum hierdurch verlängere und welcher Teilbetrag bei zu geringen Anschaffungskosten vorrangig rückgängig zu machen sei.

27

Dass sich bei einer bestimmten Gesetzesauslegung möglicherweise Folgefragen stellen, spricht nicht von vornherein gegen die Richtigkeit dieser Gesetzesauslegung. Vielmehr sind die Folgefragen unter Zuhilfenahme der allgemeinen Auslegungsmethodik zu lösen. Hinsichtlich der vom FA aufgeworfenen Fragen ist darauf zu verweisen, dass der Investitionsabzugsbetrag dem Grunde nach für ein bestimmtes Wirtschaftsgut gebildet wird und die Änderung der Höhe nach davon zu unterscheiden ist. Damit scheint dem erkennenden Senat eindeutig, dass die dreijährige Investitionsfrist (§ 7g Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Buchst. a, Abs. 3 Satz 1 EStG) mit der erstmaligen Inanspruchnahme für ein bestimmtes Wirtschaftsgut ausgelöst wird und sich durch eine spätere Aufstockung des für das nämliche Wirtschaftsgut bereits in Anspruch genommenen Investitionsabzugsbetrags nicht verlängern kann (ebenso Kratzsch in Frotscher, EStG, Freiburg 2011, § 7g Rz 58; a.A. Meyer in Herrmann/Heuer/Raupach –HHR–, § 7g EStG Rz 25; Bugge, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff –KSM–, EStG, § 7g Rz B 69). Ebenso eindeutig erscheint, dass in Fällen, in denen die späteren tatsächlichen Anschaffungs- oder Herstellungskosten geringer sind als die voraussichtlichen Anschaffungs- oder Herstellungskosten, die der Bildung des Investitionsabzugsbetrags zugrunde gelegt worden waren, nur der übersteigende Teilbetrag nach § 7g Abs. 3 Satz 1 EStG („soweit“) rückgängig zu machen ist. Der übersteigende Teilbetrag resultiert aber in dem vom FA gebildeten Fall aus der nachträglichen Aufstockung des ursprünglichen Investitionsabzugsbetrags.

28

bb) Das FA bemängelt ferner, es komme durch die –vom erkennenden Senat geteilte– Auslegung des FG zu einer Verkomplizierung des Steuerrechts, weil mehrere Teilbeträge nachvollzogen und dokumentiert werden müssten sowie bei einer Rückgängigmachung der Abzüge mehrere Steuerbescheide zu ändern seien. Dem ist zu entgegnen, dass es dem Steuerpflichtigen –auch nach Auffassung der Finanzverwaltung– frei steht, Investitionsabzugsbeträge bis zum gesetzlichen Höchstbetrag von 200.000 € auf mehrere –unter Umständen zahlreiche– Wirtschaftsgüter zu verteilen. Der Dokumentations- und Überwachungsaufwand ist aber bei einer Verteilung des Abzugs auf mehrere Wirtschaftsgüter nicht geringer als bei einer nachträglichen Aufstockung eines für dasselbe Wirtschaftsgut bereits gebildeten Investitionsabzugsbetrags. Die Notwendigkeit der Änderung mehrerer Steuerbescheide kann sich nicht nur in Fällen der Aufstockung, sondern auch bei einer Inanspruchnahme des Investitionsabzugsbetrags für mehrere Wirtschaftsgüter nebeneinander ergeben. Im Übrigen hat schon das FG zutreffend darauf hingewiesen, dass die Finanzverwaltung sich im umgekehrten Fall –der freiwilligen Minderung des in einem Vorjahr in Anspruch genommenen Investitionsabzugsbetrags durch den Steuerpflichtigen in einem Folgejahr, aber noch vor dem Jahr der tatsächlichen Investition– nicht durch die damit einhergehende Komplizierung daran gehindert sieht, eine solche teilweise Rückgängigmachung ungeachtet des insoweit ebenfalls offenen Gesetzeswortlauts zuzulassen (vgl. BMF-Schreiben in BStBl I 2013, 1493, Rz 55).

29

f) Die Entscheidung des erkennenden Senats weicht von der Verwaltungsauffassung ab (gegen die Zulässigkeit der Aufstockung eines für dasselbe Wirtschaftsgut bereits in Anspruch genommenen Investitionsabzugsbetrags in einem Folgejahr –allerdings ohne Begründung– BMF-Schreiben in BStBl I 2009, 633 und BStBl I 2013, 1493, jeweils Rz 6). Sie steht aber in Übereinstimmung mit der Auffassung der instanzgerichtlichen Rechtsprechung (neben der Vorinstanz zum vorliegenden Revisionsverfahren auch Urteil des Niedersächsischen FG vom 20. Juli 2010 16 K 116/10, EFG 2010, 2075, aus anderen Gründen aufgehoben durch Senatsurteil vom 19. Oktober 2011 X R 25/10, BFH/NV 2012, 718) und der ganz überwiegenden Literaturmeinung (Blümich/Brandis, § 7g EStG Rz 60; HHR/Meyer, § 7g EStG Rz 25; Lambrecht in Kirchhof, EStG, 13. Aufl., § 7g Rz 11; Frotscher/ Kratzsch, § 7g Rz 56 ff.; Bartone in Korn, § 7g EStG n.F. Rz 81; Kaligin in Lademann, EStG, § 7g EStG n.F. Rz 15; Roland in Bordewin/Brandt, § 7g EStG n.F. Rz 28; KSM/Bugge, § 7g Rz B 69; Schmidt/Kulosa, EStG, 33. Aufl., § 7g Rz 23; Rosarius, Deutsche Steuer-Zeitung 2009, 463, 465; Meyer/Ball, Finanz-Rundschau 2009, 641, 645; Kulosa, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 2012, 843, 844; Graw, EFG 2013, 671; Heß, Betriebs-Berater 2013, 752; Kratzsch, NWB 2013, 736 f.; a.A. –soweit ersichtlich– nur Pitzke, NWB 2009, 2063, 2064; Hottmann, Deutsches Steuerrecht 2009, 1236, 1240, und Handzik in Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, Kommentar, § 7g ab UntStRefG 2008 Rz 24b).

Normen:

EStG:7g/1

 

Husten, Schnupfen, Heiserkeit: Der grippale Infekt als außergewöhnliche Belastung

Winterzeit ist Grippezeit! Für die jährlich zahlreichen Betroffenen nicht nur ein gesundheitlicher Kraftakt, auch steuerlich können die anfallenden Krankheitskosten eine sog. außergewöhnliche Belastung darstellen. Das Gute daran: Außergewöhnliche Belastungen im Steuerrecht führen mitunter zu einer Steuerlastminderung bzw. -erstattung. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass die insgesamt im Kalenderjahr aufgewendeten Kosten den zumutbaren Eigenanteil überschreiten. Dieser ermittelt sich in Abhängigkeit der gesamten Einkünfte und liegt z. B. bei einer Familie mit drei Kindern und einem Jahreseinkommen von 40.000 Euro bei 400 Euro.

Der Deutsche Steuerberaterverband e.V. (DStV) empfiehlt daher Quittungen und Belege für Krankheitskosten, wie u. a. ärztlich verordnete Medikamente, medizinische Behandlungen aber auch Sehhilfen oder Zahnersatz, bereits von Jahresbeginn an gut aufzubewahren. Maßgebend ist stets der Zeitpunkt der Barzahlung oder Überweisung.

Doch auch wenn sich die Kosten innerhalb der zumutbaren Belastung bewegen, kann die Geltendmachung der angefallenen Beträge in der Steuererklärung lohnen. Da regelmäßig Klagen bezüglich der Höhe des zumutbaren Eigenanteils vor den Gerichten anhängig sind, rät der DStV aktuelle Verfahren und Entscheidungen fortwährend zu beobachten bzw. einen Steuerberater einzubinden.

Um hohen Krankheitskosten von vornherein vorzubeugen, werben viele Krankenkassen mit sog. Bonus- und Prämienprogrammen im Rahmen derer sie ihre Versicherten für die Teilnahme an Vorsorge- und Früherkennungsuntersuchungen sowie sportlichen Aktivitäten (Mitgliedschaft im Fitnessstudio etc.) belohnen. Diese Bonuszahlungen sind jedoch einkommensteuerpflichtig und müssen, so der DStV, in der Jahressteuererklärung von den als Sonderausgaben geltend gemachten Krankenversicherungsbeiträgen abgezogen werden. Dies gilt entsprechend für erhaltene Beitragsrückerstattungen. Nicht steuerpflichtig sind hingegen (ggf. anteilige) Kostenerstattungen für Leistungen, wie z. B. den Yogakurs oder das präventive Rückentraining.

Quelle: DStV, Pressemitteilung vom 02.02.2015

 

Fahrtenbuchauflage nach Höchstgeschwindigkeitsüberschreitung trotz Aussageverweigerung rechtmäßig

Die Klägerin ist Halterin eines Pkw, mit dem am 11. Juli 2013 auf der B 421 im Bereich von Walhausen außerhalb geschlossener Ortschaften die zulässige Höchstgeschwindigkeit um 48 km/h überschritten wurde. Nachdem die Zentrale Bußgeldstelle beim Polizeipräsidium Rheinpfalz unter dem 14. August 2013 einen Zeugenfragebogen an die Klägerin verschickt hatte, beanspruchte diese für sich ein Zeugnisverweigerungsrecht. In der Folgezeit konnte der Fahrzeugführer nicht ermittelt werden. Daraufhin gab der Rhein-Hunsrück-Kreis der Klägerin die Führung eines Fahrtenbuches für die Dauer von acht Monaten auf. Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren erhob die Klägerin hiergegen Klage.

Die Klage blieb ohne Erfolg. Das Führen eines Fahrtenbuchs, so die Koblenzer Richter, dürfe von der Halterin verlangt werden, weil die Feststellung eines Fahrzeugführers nach einer Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften nicht möglich gewesen sei. Eine Fahrtenbuchauflage diene der vorbeugenden Gefahrenabwehr. Sie solle auf die einem Fahrzeughalter zumutbare Mitwirkung bei der Feststellung eines Fahrzeugführers hinwirken.

Zwar solle ein Fahrzeughalter grundsätzlich unverzüglich, d. h. regelmäßig innerhalb von zwei Wochen nach einem Verkehrsverstoß benachrichtigt werden, da sich Personen häufig an zeitlich länger zurückliegende Vorgänge nicht mehr erinnern könnten. Jedoch sei dieser Umstand im konkreten Einzelfall nicht von Belang. Die Halterin habe nämlich keine Angaben zum Fahrzeugführer gemacht, sondern sich auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht berufen. Damit habe sie deutlich gemacht, dass sie nicht auskunftswillig sei, obwohl sie die Fahrerin oder den Fahrer kenne. Ein doppeltes „Recht“, nach einem Verkehrsverstoß einerseits im Verfahren nicht belangt zu werden und andererseits trotz fehlender Mitwirkung bei der Feststellung des Fahrzeugführers von einer Fahrtenbuchauflage verschont zu bleiben, bestehe nicht. Von daher sei der Erlass einer Fahrtenbuchauflage ermessensgerecht.

Gegen diese Entscheidung kann die Zulassung der Berufung durch das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz beantragt werden.

Quelle: VG Koblenz, Pressemitteilung vom 29.01.2015 zum Urteil 4 K 215/14.KO vom 13.01.2015

 

Fahrtenbuchauflage für Firmenfahrzeuge wegen Geschwindigkeitsüberschreitung rechtmäßig

Fahrtenbuchauflage für 31 Firmenfahrzeuge für die Dauer von 12 Monaten bei Geschwindigkeitsüberschreitung um 41 km/h auf Autobahn rechtmäßig

Wurde mit einem Firmenfahrzeug die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf der Autobahn um 41 km/h überschritten und wirkt der Halter bei der Ermittlung des Fahrers nicht ausreichend mit, kann ihm für die Dauer von 12 Monaten eine Fahrtenbuchauflage auferlegt werden. Das hat das Verwaltungsgericht Neustadt am 22.01.2015 in einem Eilverfahren entschieden.

Die Antragstellerin ist eine Firma und Halterin eines von 31 auf sie zugelassenen Pkw. Mit einem dieser Fahrzeuge wurde im Februar 2014 in der Gemarkung Wetzlar auf der BAB 45 Richtung Dortmund innerhalb einer Baustelle die dort zulässige Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h um 41 km/h überschritten. Auf dem Beweisfoto war als verantwortlicher Fahrzeugführer ein Mann abgebildet. In dem unmittelbar danach eingeleiteten Bußgeldverfahren suchten Beamte der Polizeiinspektion Speyer fünfmal die Adresse der Antragstellerin auf, um den Fahrer des genannten Kraftfahrzeugs vom Februar 2014 ausfindig zu machen. Letztlich ließ sich der Fuhrparkleiter der Firma dahin ein, nicht zu wissen, wer der Fahrer des Fahrzeugs gewesen sei.

Nach Einstellung des Bußgeldverfahrens durch die Polizei gab die Stadt Speyer der Antragstellerin unter Anordnung der sofortigen Vollziehung die Führung eines Fahrtenbuches für die Dauer von 12 Monaten für insgesamt 31 Firmen-Pkw sowie für Ersatzfahrzeuge auf. Zur Begründung führte die Stadt Speyer u. a. aus, aufgrund der Schwere des Vergehens sei die Verhängung eines Fahrtenbuches über einen Zeitraum von 12 Monaten für alle Firmenfahrzeuge angemessen. Offensichtlich gebe es keine wirkungsvollen firmeninternen Überwachungsmechanismen, die dazu geeignet wären, die betreffenden Fahrzeugführer nach Verkehrsverstößen zu ermitteln. Es könne deshalb nicht ausgeschlossen werden, dass im Falle künftiger Verstöße die Verantwortlichen erneut nicht ermittelt werden könnten.

Die Antragstellerin hat Anfang Januar 2015 um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht. Zur Begründung hat sie ausgeführt: Der Fall vom Februar 2014 mit dem Firmen-Pkw habe innerhalb der Firma zu einer Umorganisation geführt. So gebe es jetzt eine konkrete Zuordnung der Fahrzeuge. Schließlich werde über den Einsatz eine konkrete Liste geführt. Damit sei sichergestellt, dass jede Fahrt mit jedem Fahrzeug einem Fahrer zugeordnet werden könne.

Den Eilantrag der Antragstellerin hat die 3. Kammer des Gerichts mit folgender Begründung abgelehnt:

Die Fahrtenbuchauflage sei rechtmäßig. Die festgestellte Geschwindigkeitsüberschreitung um 41 km/h stelle einen Verkehrsverstoß von einigem Gewicht dar, der zu einem Punkteintrag und zu einem Fahrverbot von einem Monat geführt hätte. Die weitere Voraussetzung zur Anordnung einer Fahrtenbuchauflage, dass der verantwortliche Fahrzeugführer im Zeitpunkt der Begehung des Verkehrsverstoßes nicht habe ermittelt werden können, sei ebenfalls erfüllt. Nach den durchgeführten Ermittlungsmaßnahmen habe die Behörde hier in das rationelle Maß bereits übersteigendem Umfang alle Maßnahmen getroffen, die in gleichliegenden Fällen erfahrungsgemäß Erfolg haben könnten. Die Antragstellerin hingegen habe in keiner Weise zur Aufklärung beigetragen.

Die Fahrtenbuchauflage für die 31 Firmen-Pkw sei auch verhältnismäßig. In der Rechtsprechung sei anerkannt, dass bei unaufgeklärt gebliebenen Verkehrsverstößen mit verschiedenen auf einen Halter zugelassenen Firmenfahrzeugen die Anordnung einer Fahrtenbuchauflage bezogen auf den gesamten Fahrzeugpark gerechtfertigt sein könne. Sei der Adressat einer Fahrtenbuchauflage gleichzeitig Halter mehrerer Fahrzeuge, so dürften diese im Rahmen der ordnungsgemäßen Ermessensausübung der Behörde mit in die Fahrtenbuchauflage einbezogen werden, wenn aufgrund der Nutzungsgepflogenheiten des Halters auch mit anderen Fahrzeugen einschlägige Zuwiderhandlungen naheliegend und zu erwarten seien.

Dies sei hier der Fall, weil es bereits in der Vergangenheit mehrmals zu Verkehrsverstößen mit auf die Antragstellerin zugelassenen Kraftfahrzeugen gekommen sei, die nicht hätten aufgeklärt werden können. Dass die Antragstellerin den für den jeweiligen Verkehrsverstoß verantwortlichen Fahrer des in Rede stehenden Fahrzeugs nicht benannt habe, habe daran gelegen, dass sie nicht die zumutbaren und erforderlichen organisatorischen Vorkehrungen getroffen habe, um eine Übersicht über die Benutzung ihrer Firmenfahrzeuge zu gewährleisten. Bei einem Fuhrpark von Firmenfahrzeugen, die unterschiedlichen Personen überlassen würden, müsse die Geschäftsleitung aber zumindest in der Lage sein, der Bußgeldbehörde die Firmenangehörigen zu nennen, denen das betreffende Fahrzeug zugerechnet werden könne. Dies sei hier offensichtlich in den genannten Fällen nicht so gewesen.

Soweit sich die Antragstellerin auf eine „Reorganisation des Fuhrparkmanagements“ berufen habe, bestünden derzeit massive Zweifel an der Ernsthaftigkeit und Zuverlässigkeit dieser Maßnahme. Denn trotz dieser Reorganisation habe sich die Antragstellerin nicht in der Lage gesehen, den für einen Rotlichtverstoß im Juli 2014 verantwortlichen Fahrer, dem das Fahrzeug angeblich seit Februar 2011 konstant zugeordnet sei, in dem ihr von der Bußgeldstelle zugesandten Zeugenfragebogen zu benennen.

Es bestehe somit Veranlassung, für alle in Betracht kommenden Fahrzeuge eine Fahrtenbuchauflage zu verhängen, um die Antragstellerin auf diese Weise zu einer spürbaren Überwachung der Fahrzeugbenutzung und zur Mitwirkung bei der Feststellung des Fahrzeugführers im Falle eines erneuten Verkehrsverstoßes anzuhalten.

Gegen den Beschluss ist das Rechtsmittel der Beschwerde zum Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz zulässig.

Quelle: VG Neustadt, Pressemitteilung vom 29.01.2015 zum Beschluss 3 L 22/15.NW vom 22.01.2015

 

Keine Berücksichtigung nachträglicher Anschaffungskosten bei Nichterklärung der Veräußerung der wesentlichen Beteiligung in der Steuererklärung

Keine Berücksichtigung nachträglicher Anschaffungskosten im Rahmen des § 17 EStG als „rückwirkendes Ereignis“ i. S. d. § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO bei Nichterklärung der Veräußerung der wesentlichen Beteiligung in der Steuererklärung

Mit Urteil vom 29. Juli 2014 hat der 3. Senat des Schleswig-Holsteinischen Finanzgerichts (Az. 3 K 77/10, veröffentlicht in EFG 2015, 52) entschieden, dass nachträgliche Anschaffungskosten im Rahmen des § 17 EStG als „rückwirkendes Ereignis“ i. S. d. § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO nur berücksichtigt werden können, wenn die Veräußerung der wesentlichen Beteiligung in der das Jahr der Veräußerung betreffenden Steuererklärung auch mitgeteilt wurde und die Veräußerung damit „der Besteuerung zugrunde gelegt“ (also bei der Veranlagung berücksichtigt) werden konnte.

Die Klägerin hatte einer ihr zu 100 % gehörenden GmbH ein Darlehen gewährt und die Anteile im Streitjahr 2003 verkauft. Sie erklärte die Veräußerung der Anteile in der Erklärung für das Jahr 2003 nicht. Erst nach Erlass des Bescheides für 2003 machte sie den Ausfall des – ihrer Meinung nach kapitalersetzenden – Darlehens als nachträgliche Anschaffungskosten geltend und begehrte die Berücksichtigung von Verlusten aus § 17 EStG. Der Senat entschied, dass eine Berücksichtigung für die nach Erlass des Bescheides eingetretenen Darlehensverluste im Bescheid für 2003 (welcher nicht unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stand) nur über die Regelung § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO in Betracht komme. Sei jedoch – wie im Streitfall – ein Sachverhalt in seiner ursprünglichen Gestalt steuerlich gar nicht erfasst gewesen (weil er dem Finanzamt nicht erklärt wurde), habe er der Besteuerung im Ausgangsbescheid nicht zugrunde gelegt werden können. Damit rechtfertige eine spätere Änderung des Sachverhalts auch nicht die Änderung nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO.

Der Senat hat die Revision zugelassen; das Revisionsverfahren ist beim BFH unter dem Aktenzeichen IX R 30/14 anhängig.

Quelle: FG Schleswig-Holstein, Mitteilung vom 30.01.2015 zum Urteil 3 K 77/10 vom 29.07.2014 (nrkr – BFH-Az.: IX R 30/14)

 

Kein Vorsteuerabzug der Lotsen aus Eingangsleistungen an Lotsenbrüderschaft für die Erfüllung ihrer Selbstverwaltungsaufgaben

Mit Urteilen vom 10. September 2014 (Az. 4 K 53/11, veröffentlicht in EFG 2015, 87, und 4 K 50052/11, veröffentlicht in EFG 2015, 90) hat der 4. Senat des Schleswig-Holsteinischen Finanzgerichts entschieden, dass Vorsteuerbeträge aus Eingangsleistungen, die an die Lotsenbrüderschaft für die Erfüllung ihrer Selbstverwaltungsaufgaben erbracht werden, nicht von den einzelnen Lotsen als Mitglieder der Lotsenbrüderschaft abgezogen werden können, auch wenn die Aufwendungen für diese Leistungen wirtschaftlich von den Lotsen getragen werden. Im Klageverfahren 4 K 50052/11 hat der Senat zugleich entschieden, dass damit auch keine gesonderte und einheitliche Feststellung des Vorsteuerabzugs auf der Ebene der Lotsenbrüderschaft in Betracht kommt.

Der Kläger im Verfahren 4 K 53/11 ist Seelotse in einer Lotsenbrüderschaft, die als Körperschaft des öffentlichen Rechts im Rahmen ihrer Selbstverwaltung die Belange des Seelotsreviers zu wahren und zu fördern hat. Die Lotsenbrüderschaft organisiert die Tätigkeit der Lotsen und stimmt sie aufeinander ab, regelt Dienst- und Urlaubszeiten, nimmt die Lotsgelder für Rechnung der Lotsen ein und verteilt diese nach Abzug ihrer von den Seelotsen anteilig zu tragenden Ausgaben an die Lotsen. Mit seiner Klage begehrte der Kläger den anteiligen Vorsteuerabzug für die Errichtung eines Verwaltungsgebäudes durch die Lotsenbrüderschaft.

Klägerin im Verfahren 4 K 50052/11 ist die Lotsenbrüderschaft, deren Klage auf die Durchführung der vom beklagten Finanzamt abgelehnten einheitlichen und gesonderten Feststellung der auf die einzelnen Seelotsen entfallenden Vorsteuerbeträge aus den laufenden Verwaltungskosten und der Errichtung des Verwaltungsgebäudes gerichtet ist.

Der 4. Senat des Schleswig-Holsteinischen Finanzgerichts wies die Klagen ab, da Leistungsempfänger der den geltend gemachten Vorsteuerbeträgen zugrunde liegenden Leistungen nicht der einzelne Seelotse, sondern die Lotsenbrüderschaft sei, da diese die den Eingangsumsätzen zugrunde liegenden schuldrechtlichen Vereinbarungen abgeschlossen habe. Die Seelotsen seien auch nach dem Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer nicht als Leistungsempfänger anzusehen, auch wenn sie bei einer nicht unternehmerischen Tätigkeit der Lotsenbrüderschaft aufgrund des fehlenden Vorsteuerabzugs wirtschaftlich belastet seien. Denn die streitigen Eingangsumsätze seien nicht von den Seelotsen, sondern von der Lotsenbrüderschaft selbst verwendet worden, die ihrerseits an die Seelotsen Dienstleistungen erbracht habe. Die Eingangsumsätze dienten damit der Lotsenbrüderschaft zur Erfüllung ihrer gesetzlichen Aufgaben und erfolgten nicht für das Unternehmen der Seelotsen, da diese die Tätigkeit der Lotsenbrüderschaft nicht erbringen dürften. Der Streitfall unterscheide sich insoweit von den Fällen der Bruchteils- und Ehegattengemeinschaft sowie der Personengesellschaften, bei denen die Gemeinschaft bzw. die Gesellschaft selbst nicht unternehmerisch tätig sei, aber Liefergegenstände schuldrechtlich erwerbe und den Gemeinschaftern, dem Ehegatten oder Gesellschafter zur Verwendung überlasse. Der Senat konnte es im Ergebnis offen lassen, ob die Lotsenbrüderschaft im Rahmen der Erfüllung ihrer Selbstverwaltungsaufgaben unternehmerisch tätig wird, da es in diesem Fall aufgrund des der Lotsenbrüderschaft zustehenden Vorsteuerabzugs aus den Eingangsumsätzen an einer wirtschaftlichen Belastung der Seelotsen fehlt.

Die im Klageverfahren 4 K 50052/11 begehrte gesonderte und einheitliche Feststellung der auf die Seelotsen entfallenden anteiligen Vorsteuerbeträge scheiterte bereits daran, dass den Seelotsen als möglichen Feststellungsbeteiligten kein Vorsteuerabzug zusteht, so dass es auf die einzelnen weiteren Voraussetzungen des Feststellungverfahrens nicht ankam.

Der Senat hat in beiden Entscheidungen die Revision zugelassen; die Revisionsverfahren sind beim BFH unter den Aktenzeichen XI R 39/14 und XI R 40/14 anhängig.

Quelle: FG Schleswig-Holstein, Mitteilung vom 30.01.2015 zu den Urteilen 4 K 53/11 und 4 K 50052/11 vom 10.09.2014 (nrkr)

 

Zahnaufhellung eines aufgrund einer Vorerkrankung und -behandlung nachgedunkelten Zahnes (Bleaching) umsatzsteuerfrei

Mit Urteil vom 9. Oktober 2014 hat der 4. Senat des Schleswig-Holsteinischen Finanzgerichts (Az. 4 K 179/10) entschieden, dass die von einem Zahnarzt durchgeführte Zahnaufhellung – sog. Bleaching – umsatzsteuerfrei ist, soweit sie dazu dient, einen aufgrund einer Vorerkrankung und -behandlung nachgedunkelten Zahn aufzuhellen.

Die Klägerin ist eine zahnärztliche Gemeinschaftspraxis in der Gesellschaftsform einer GbR. Bei einigen Patienten der Klägerin wurde eine Zahnaufhellung – ein Bleaching – einzelner Zähne durchgeführt und in Rechnung gestellt. Der Grund dafür lag in allen Fällen darin, dass der jeweilige Zahn in Folge einer Vorerkrankung und -behandlung nachgedunkelt war. Der Senat entschied, dass das Bleaching nach § 4 Nr. 14 UStG steuerlich begünstigt ist, wenn es auf die Beseitigung der (optischen) Folge einer Krankheit oder Gesundheitsstörung und einer aufgrund dieser Krankheit oder Gesundheitsstörung medizinisch indizierten Heilungsmaßnahme gerichtet ist, wenn sie also ein Teil einer Gesamtbehandlung der Gesundheitsstörung darstellt, deren Ziel, soweit möglich, die Wiederherstellung des status quo ante des behandelten Körperteils ist.

Der Senat hat die Revision zugelassen, das Revisionsverfahren ist beim BFH unter dem Az. V R 60/14 anhängig.

Quelle: FG Schleswig-Holstein, Mitteilung vom 30.01.2015 zum Urteil 4 K 179/10 vom 09.10.2014 (nrkr – BFH-Az.: V R 60/14)

 

Liposuktion ohne vorher eingeholtes amtsärztliches Attest nicht als außergewöhnliche Belastung abziehbar

Mit seinem Urteil vom 1. Oktober 2014 (Az. 2 K 272/12, veröffentlicht in EFG 2015, 33) hat der 2. Senat des Finanzgerichts Vorgenanntes erkannt. Die Kläger begehrten die Berücksichtigung von Aufwendungen für die Beseitigung von Lipödemen (Fettabsaugung an den Beinen) in Höhe von 5.500 Euro als Krankheitskosten bei den außergewöhnlichen Belastungen gem. § 33 EStG. Ein amtsärztliches Zeugnis oder ein Zeugnis des Medizinischen Dienstes der Krankenkasse wurde weder vor den Operationen noch danach eingeholt. Aus einem fachärztlichen Gutachten ergab sich die Diagnose „schmerzhaftes Lipödem der Beine Stad. II (Mb. Derkum)“.

Der Senat hat die Klage abgewiesen, weil die medizinische Notwendigkeit der Maßnahme nicht durch ein zuvor erstelltes amtsärztliches Attest oder ein Zeugnis des Medizinischen Dienstes der Krankenkasse nachgewiesen wurde. Das sei aber gem. § 64 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. f EStDV i. d. F. des StVereinfG 2011 erforderlich, denn es handele sich bei der Liposuktion um eine wissenschaftlich nicht anerkannte Behandlungsmethode. In diesem Sinne hätten bereits das OVG Lüneburg (Urteil vom 22.01.2013 5 LB 50/11, juris – keine Beihilfe) und auch das BSG (Urteil vom 16.12.2008 B 1 KR 11/08 R, SozR 4-2500 § 13 Nr. 19 m. w. N.) erkannt.

Der Senat hat die Revision zugelassen. Das Revisionsverfahren wird beim BFH unter dem Az. VI R 68/14 geführt.

Quelle: FG Schleswig-Holstein, Mitteilung vom 30.01.2015 zum Urteil 2 K 272/12 vom 01.10.2014 (nrkr – BFH-Az.: VI R 68/14)

 

Vorauszahlungen zur Einkommensteuer durch einen Ehepartner nach Ehescheidung

Der 5. Senat des Schleswig-Holsteinischen Finanzgerichts hatte über die Pflicht des Finanzamts zur Erstattung nach § 37 Abs. 2 AO in einem Fall zu entscheiden, bei dem die Ehe vor Erlass des Vorauszahlungsbescheides und zum Zeitpunkt der durch den Kläger geleisteten Vorauszahlungen bereits nicht mehr bestand, das Finanzamt hiervon aber erst im Nachhinein, aber noch vor Erlass des Einkommensteuerbescheides erfuhr und die vom Kläger geleisteten Vorauszahlungen lediglich hälftig anrechnete.

In seinem Urteil vom 8. Juli 2014 (Az. 5 K 93/11, veröffentlicht in EFG 2014, 2014) stellt der Senat heraus, dass der bestandskräftige Vorauszahlungsbescheid trotz geschiedener Ehe den Rechtsgrund für die geleisteten Zahlungen des Klägers bilde. Deswegen bestehe ein Gesamtschuldverhältnis, für das unter der Maßgabe des § 26 Abs. 1 EStG die Tilgungsvermutung gelte, dass für beide Ehegatten geleistet werden solle. Vorliegend lägen wegen der Scheidung die objektiven Voraussetzungen, an die die Vermutung der Tilgungsabsicht anknüpfe, zwar nicht mehr vor. Da aber für die Frage, auf wessen Rechnung die Zahlung eines Gesamtschuldners erfolge, auf den im Zeitpunkt der Zahlung gegenüber dem Finanzamt erkennbar hervorgetretenen Willen des Zahlenden abzustellen sei, greife die Vermutung vorliegend durch: Das Finanzamt wusste zum Zeitpunkt der Zahlungen weder, dass die Eheleute dauernd getrennt lebten, noch, dass die Ehe zu diesem Zeitpunkt nicht mehr existierte.

Der Senat hat die Revision zugelassen; das Revisionsverfahren ist beim BFH unter dem Aktenzeichen VII R 38/14 anhängig.

Quelle: FG Schleswig-Holstein, Pressemitteilung vom 30.01.2015 zum Urteil 5 K 93/11 vom 08.07.2014 (nrkr – BFH-Az.: VII R 38/14)

 

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