Grundsteuer-Ärger: Schon 350.000 Einsprüche

BdSt klärt auf und beantwortet die wichtigsten Fragen

Bislang sind schon mindestens 350.000 Einsprüche gegen Grundsteuerwertbescheide bei den Finanzämtern eingegangen. Darüber hat die Zeitschrift „Finanztip“ berichtet. 350.000 Einsprüche – bei aktuell erst 9 Millionen Bescheiden ist das eine Quote von derzeit 3,8 Prozent. Bei mehr als 30 Millionen zu erwartenden Bescheiden scheint ein Ende der Einsprüche also noch nicht in Sicht. Deshalb wollen wir eine drohende Einspruchswelle verhindern und fordern einen Vorläufigkeitsvermerk bei Bescheiden zur Feststellung des Grundsteuerwerts.

Im Einzelnen: Die Finanzverwaltung muss alle Einsprüche bearbeiten – es sei denn, die Bescheide würden vorläufig erlassen. Genau das fordert der Bund der Steuerzahler im Rahmen einer Verbände-Allianz. Denn: Wenn die Bescheide vorläufig erlassen werden, kann eine gerichtliche Überprüfung für einzelne Musterverfahren erfolgen. Fällt diese Prüfung positiv aus, wird das für alle vorläufigen Bescheide gelten. Deshalb fordern wir die Finanzverwaltung dazu auf, die Vorläufigkeit zu beschließen. Das würde sowohl die Finanzverwaltung selbst sowie die Steuerberater entlasten als auch den Eigentümern Sicherheit bis zum Abschluss einer gerichtlichen Klärung verschaffen.

Musterklagen

Weil der Bund der Steuerzahler Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Grundsteuer-Reform hat, hier vor allem an der Bewertung im Bundesmodell, bereiten wir gemeinsam mit Haus und Grund Deutschland Musterklagen in Bundesländern vor, die sich für das Bundesmodell entschieden haben. Denn: Die Bodenrichtwerte werden von den Gutachterausschüssen festgelegt – Eigentümer haben keine Möglichkeit, gegen diese vorzugehen. Das Verfahren ist nicht transparent, auch die Mietpreisniveaustufen sind oft nicht nachvollziehbar und zu wenig differenziert.

Quelle: BdSt, Mitteilung vom 16.02.2023

Siehe auch https://www.steuerschroeder.de/Steuerrechner/Grundsteuer.html#Einspruch

BFH zur Behandlung von Pflegegeldern für die intensivpädagogische Betreuung von Jugendlichen in einer Einrichtung i. S. des § 34 SGB VIII

Leitsatz

Pflegegelder, die für die intensivpädagogische Betreuung mehrerer Jugendlicher in einer Einrichtung i. S. des § 34 SGB VIII gezahlt werden, sind keine steuerfreien Beihilfen zur unmittelbaren Förderung der Erziehung.

Quelle: BFH, Urteil VIII R 13/19 vom 30.11.2022

BFH zur Steuerfreiheit der Vorteile des Arbeitnehmers aus der Nutzung eines betrieblichen Telekommunikationsgeräts

Leitsatz

Die Erstattung von Telefonkosten für einen vom Arbeitnehmer abgeschlossenen Mobilfunkvertrag durch den Arbeitgeber ist auch dann nach § 3 Nr. 45 EStG steuerfrei, wenn der Arbeitgeber das Mobiltelefon, durch dessen Nutzung die Telefonkosten entstanden sind, von dem Arbeitnehmer zu einem niedrigen, auch unter dem Marktwert liegenden Preis erworben hat und er das Mobiltelefon dem Arbeitnehmer unmittelbar danach wieder zur privaten Nutzung überlässt.

Quelle: BFH, Urteil VI R 50/20 vom 23.11.2022

BFH zur Berücksichtigung von AfA auf nachträgliche Anschaffungskosten eines Pkw-Tiefgaragenstellplatzes bei vorheriger Inanspruchnahme von Denkmal-AfA

Leitsatz

  1. Nachträgliche Anschaffungs- oder Herstellungskosten sind bei der Vornahme von AfA nach § 7 Abs. 5 EStG grundsätzlich ab dem Jahr ihres Anfalls zusammen mit den bisherigen Herstellungs- und Anschaffungskosten des Gebäudes nach dem für diese geltenden Prozentsatz abzusetzen.
  2. Nimmt der Steuerpflichtige AfA nach § 7i EStG auf die Herstellungskosten für Baumaßnahmen zur Erhaltung eines denkmalgeschützten Gebäudes in Anspruch, erhöhen die ‑ nach Ablauf des Begünstigungszeitraums für AfA nach § 7i EStG angefallenen ‑ nachträglichen Anschaffungskosten eines im gleichen Gebäude befindlichen Pkw-Tiefgaragenstellplatzes lediglich die Bemessungsgrundlage für den ‑ nicht nach § 7i EStG begünstigten ‑ Teil der Anschaffungs- oder Herstellungskosten des Gebäudes, von dem der Kläger (weiterhin) AfA nach § 7 Abs. 5 EStG vornimmt.

Quelle: BFH, Urteil 13 K 201/17 vom 15.11.2022

BFH: Vorabentscheidungsersuchen zum Direktanspruch

Leitsatz

Dem EuGH werden folgende Fragen zur Vorabentscheidung zur Auslegung der MwStSystRL vorgelegt:

  1. Steht einem Leistungsempfänger mit Ansässigkeit im Inland ein sog. Direktanspruch gegen die inländische Finanzverwaltung entsprechend dem EuGH-Urteil Reemtsma Cigarettenfabriken vom 15.03.2007 – C-35/05 (EU:C:2007:167) zu, wenn
    • (a) dem Leistungsempfänger von einem Leistenden, der gleichfalls im Inland ansässig ist, eine Rechnung mit inländischem Steuerausweis erteilt wird, die der Leistungsempfänger bezahlt, wobei der Leistende die in der Rechnung ausgewiesene Steuer ordnungsgemäß versteuert,
    • (b) es sich bei der in Rechnung gestellten Leistung aber um eine in einem anderen Mitgliedstaat erbrachte Leistung handelt,
    • (c) dem Leistungsempfänger daher der Vorsteuerabzug im Inland versagt wird, da es an einer im Inland gesetzlich geschuldeten Steuer fehlt,
    • (d) der Leistende die Rechnung daraufhin dahingehend berichtigt, dass der inländische Steuerausweis entfällt und sich der Rechnungsbetrag daher in Höhe des Steuerausweises mindert,
    • (e) der Leistungsempfänger aufgrund der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Leistenden Zahlungsansprüche gegen den Leistenden nicht durchsetzen kann und
    • (f) für den im anderen Mitgliedstaat bislang nicht registrierten Leistenden die Möglichkeit besteht, sich in diesem Mitgliedstaat mehrwertsteuerrechtlich registrieren zu lassen, sodass er danach unter Angabe einer Steuernummer dieses Mitgliedstaats dem Leistungsempfänger eine Rechnung unter Ausweis der Steuer dieses Mitgliedstaats erteilen könnte, die den Leistungsempfänger in diesem Mitgliedstaat zum Vorsteuerabzug im besonderen Verfahren nach der Richtlinie 2008/9/EG zum Vorsteuerabzug berechtigen würde?
  2. Kommt es für die Beantwortung dieser Frage darauf an, dass die inländische Finanzverwaltung dem Leistenden aufgrund der bloßen Rechnungsberichtigung die Steuerzahlung erstattet hat, obwohl der Leistende aufgrund der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über sein Vermögen nichts an den Leistungsempfänger zurückgezahlt hat?

Quelle: BFH, Beschluss XI R 6/21 vom 03.11.2022

BFH: Besteuerung eines Promotionsstipendiums

Leistungen aus einem Promotionsstipendium können der Einkommensteuer unterliegen. Dies ist nach einer Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) jedenfalls dann der Fall, wenn der Stipendiat eine wirtschaftliche Gegenleistung zu erbringen hat und keine Steuerbefreiungsvorschrift eingreift.

Die Klägerin promovierte an einer Universität im Bundesland X. Zwecks Förderung akademischer Nachwuchskräfte wurde die Klägerin während ihrer Promotionszeit aus den Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF) mit monatlich 800 Euro unterstützt. Nach Maßgabe der Vergabebedingungen beteiligte sich ein in X ansässiges privatwirtschaftliches Unternehmen in gleicher Höhe an der Finanzierung des Promotionsvorhabens und zahlte der Klägerin somit ebenfalls monatlich 800 Euro. Die Klägerin war verpflichtet, ihre Arbeitskraft ausschließlich der Promotion zu widmen und hierüber Nachweise zu erbringen. Zudem unterlag sie hinsichtlich der Ergebnisse ihres Promotionsprojekts einer fünfjährigen Ausübungs- und Verwertungspflicht in X. Das Finanzamt (FA) besteuerte den aus Mitteln des ESF gezahlten Teil des Stipendiums nicht. Die vom Unternehmen bezogenen Zuwendungen sah das FA dagegen als steuerbare und steuerpflichtige sonstige Einkünfte an. Die Klage hatte keinen Erfolg.

Der BFH hob die angefochtene Entscheidung auf und verwies die Sache an das Finanzgericht (FG) zurück. Dem BFH genügten die vom FG bislang getroffenen Feststellungen nicht, um abschließend zu entscheiden, ob die gesamten – miteinander verknüpften – Leistungen aus dem Stipendium einem Steuertatbestand unterliegen. Die im Streitfall einzig in Betracht zu ziehenden Einkünfte aus wiederkehrenden Bezügen gemäß § 22 Nr. 1 Satz 1 Halbsatz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) setzten voraus, dass die Klägerin für die Gewährung der Leistungen aus dem Stipendium eine – wie auch immer geartete – wirtschaftliche Gegenleistung hätte erbringen müssen. Zwar stellte der BFH klar, dass die von der Klägerin für die Promotion aufgewandte Arbeitszeit keine relevante Gegenleistung gewesen sei. Weiterer Sachaufklärung durch das FG bedürfe aber, ob die im Zusammenhang mit der Förderung von Promotionen jedenfalls nicht allgemeinübliche Pflicht, die aus dem Vorhaben gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse innerhalb einer bestimmten Frist ausschließlich im Geber-Bundesland beruflich zu verwerten, als wirtschaftliche Gegenleistung oder als bloße Erwartungshaltung einzustufen sei.

Eine Steuerbefreiung gemäß § 3 Nr. 44 EStG könne – so der BFH weiter – nur hinsichtlich des aus dem ESF finanzierten Teils des Stipendiums gewährt werden. Soweit der Klägerin in gleicher Höhe von einem privatwirtschaftlichen Unternehmen Zahlungen zugeflossen seien, handele es sich nicht um öffentliche Mittel im Sinne dieser Vorschrift.

Quelle: BFH, Pressemitteilung Nr. 9/23 vom 16.02.2023 zum Urteil X R 21/20 vom 28.09.2022

Konzerne sollen Steuerzahlungen offenlegen

Multinationale und ertragsstarke Unternehmen und Konzerne sollen künftig Informationen zu in den Mitgliedstaaten gezahlten Ertragssteuern offenlegen. Eine entsprechende EU-Richtlinie ((EU) 2021/2101) will die Bundesregierung mit ihrem Gesetzentwurf (20/5653) in deutsches Recht umsetzen. Wie die Bundesregierung ausführt, soll durch die Offenlegungspflicht „eine informierte öffentliche Debatte darüber ermöglicht werden, ob die betroffenen multinationalen Unternehmen und Konzerne ihren Beitrag zum Gemeinwohl auch dort leisten, wo sie tätig sind“.

Die Umsetzung der Richtlinie soll dem Entwurf zufolge durch einen neuen Unterabschnitt im Vierten Abschnitt des Dritten Buchs des Handelsgesetzbuches (HGB) erfolgen. Zudem sind weitere Änderungen im HGB vorgesehen. So sollen unter anderem eine Offenlegungspflicht erweitert und handelsbilanzrechtliche Bußgeld- und Ordnungsgeldvorschriften punktuell angepasst werden.

Quelle: Deutscher Bundestag, Mitteilung vom 17.02.2023

Geldbuße auch bei Nutzung einer „Blitzer-App“ durch eine Beifahrerin

Ein Autofahrer begeht auch dann eine Ordnungswidrigkeit, wenn ein anderer Fahrzeuginsasse mit Billigung des Fahrzeugführers auf seinem Mobiltelefon eine App geöffnet hat, mit der vor Verkehrsüberwachungsmaßnahmen gewarnt wird. Mit dieser Begründung hat der 2. Senat für Bußgeldsachen des Oberlandesgerichts Karlsruhe mit Beschluss vom 7. Februar 2023 der Rechtsbeschwerde eines 64 Jahre alten Mannes aus dem Rhein-Neckar-Kreis gegen ein Urteil des Amtsgerichts Heidelberg vom 7. Oktober 2022 keine Folge gegeben.

Nach den Feststellungen des Amtsgerichts fuhr der Mann am 31. Januar 2022 mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit durch Heidelberg. Dabei war ihm bekannt, dass auf dem in der Mittelkonsole abgelegten Smartphone seiner Beifahrerin eine „Blitzer-App“ in Betrieb war. Auf diese Kenntnis des Fahrers schloss das Amtsgericht insbesondere aus dem Umstand, dass er das Mobiltelefon bewusst zur Seite schob, als er von Polizeibeamten wegen seines auffälligen Fahrverhaltens kontrolliert wurde. Das Amtsgericht Heidelberg verhängte deswegen eine Geldbuße in Höhe von 100 Euro gegen den Autofahrer.

In seiner jetzt ergangenen Entscheidung über die Rechtsbeschwerde des Autofahrers hat das Oberlandesgericht Karlsruhe zunächst festgestellt, dass die Beweiswürdigung durch das Amtsgericht Heidelberg keine Rechtsfehler aufweist. Das Oberlandesgericht hat außerdem ausgeführt, dass ein von § 23 Abs. 1c Satz 3 der Straßenverkehrsordnung (StVO) verbotenes Verhalten nicht nur dann vorliegt, wenn der Fahrer selbst eine App zur Warnung vor Verkehrsüberwachungsmaßnahmen aktiviert hat. Verboten und bußgeldbewehrt ist vielmehr auch die Nutzung der auf dem Mobiltelefon eines anderen Fahrzeuginsassen installierten und aktivierten „Blitzer-App“, soweit sich der Fahrer die Warnfunktion der App zunutze macht. Es bleibt deshalb bei der Geldbuße von 100 Euro für den Autofahrer.

Gegen die Entscheidung des Oberlandesgerichts Karlsruhe gibt es keine weiteren Rechtsmittel. Sie ist daher rechtskräftig.

Quelle: OLG Karlsruhe, Pressemitteilung vom 16.02.2023 zum Beschluss 2 ORbs 35 Ss 9/23 vom 07.02.2023 (rkr)

Hebammenleistungen – Keine außerordentliche Kündigung

Fristlose Kündigung wegen Statuswechsel einer Hebamme von freiberuflicher Tätigkeit zu einem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis ist unwirksam.

Die Deutsche Rentenversicherung ordnete einen Begleithebammenvertrag, der die freiberufliche Tätigkeit einer Hebamme in einem Krankenhaus vorsah, als versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis ein. Eine mit diesem – noch nicht bestandskräftig festgestellten – Statuswechsel begründete außerordentliche Kündigung einer anderen Hebamme ist unwirksam, entschied das Oberlandesgericht Frankfurt am Main (OLG) mit am 17.02.2023 veröffentlichter Entscheidung. Den geltend gemachten entgangenen Gewinn sprach es jedoch mangels hinreichender Darlegungen nicht zu.

Die Klägerin ist Hebamme. Die Beklagte betreibt ein Krankenhaus. Die Parteien schlossen einen sog. Begleithebammenvertrag. Demnach erbrachte die Klägerin ihre Leistungen im Rahmen der Geburtshilfe freiberuflich und berechnete sie unmittelbar gegenüber der Patientin.

Die Deutsche Rentenversicherung stufte in einem Clearingverfahren gegenüber einer anderen bei der Beklagten tätigen Hebamme deren Vertragsverhältnis als versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis ein. Daraufhin kündigte die Beklagte den Begleithebammenvertrag mit der Klägerin außerordentlich aus wichtigem Grund. Sie verwies darauf, dass Kooperationsgrundlage der freiberufliche Status der Klägerin gewesen sei. Dieser sei nunmehr weggefallen. Die Klägerin hält die Kündigung für unwirksam und begehrt entgangenen Gewinn in Höhe von rund 26.000 Euro. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen.

Die hiergegen gerichtete Berufung hatte auch vor dem OLG keinen Erfolg. Die außerordentliche Kündigung sei zwar unwirksam, bestätigte das OLG die Entscheidung des Landgerichts. Es sei der Beklagten bei Ausspruch der Kündigung jedenfalls nicht unzumutbar gewesen, das Vertragsverhältnis (zunächst) fortzusetzen. Der Bescheid der Rentenversicherung sei zum Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs infolge Widerspruchs der betroffenen Hebamme noch nicht bestandskräftig gewesen. Das Risiko, im Falle der Feststellung einer Versicherungspflicht der Klägerin für einen längeren Zeitraum rückwirkend Beitragszahlungen leisten zu müssen, habe die Beklagte zudem selbst verursacht. Sie hätte unmittelbar bei Vertragsschluss mit der Klägerin ein Statusfeststellungsverfahren durchführen lassen können.

Der Klägerin stehe aber kein Schadensersatz zu, da sie ihren entgangenen Gewinn nicht schlüssig dargelegt habe. Es sei Aufgabe des selbstständig Tätigen, konkrete Anknüpfungspunkte zur Schätzung darzulegen und nachzuweisen. Die Klägerin habe zwar Verträge mit Schwangeren vorgelegt, die sie infolge der Kündigung nicht mehr habe erfüllen können. Es fehlten aber Darlegungen, was die Klägerin „aufgrund der durch Wegfall der Begleitgeburten freigewordenen Betreuungskapazitäten anderweitig erworben hat oder zu erwerben unterlassen hat“. Soweit die Klägerin auf Reduzierungen infolge von Corona hingewiesen habe, hätte sie konkret darlegen müssen, in welchem Umfang Hebammenleistungen pandemiebedingt nicht erbracht werden konnten und ihr anderweitiger Erwerb nicht möglich war. Daran fehle es.

Die Entscheidung ist nicht rechtskräftig. Mit der Nichtzulassungsbeschwerde kann die Klägerin die Zulassung der Revision beim BGH begehren.

Quelle: OLG Frankfurt, Pressemitteilung vom 17.02.2023 zum Urteil 17 U 30/22 vom 01.02.2023 (nrkr)

Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen strafrechtliche Verurteilung in einem „Cum-Ex“-Fall wegen Entziehung des gesetzlichen Richters

Mit am 17. Februar 2023 veröffentlichtem Beschluss hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, die sich gegen eine strafrechtliche Verurteilung wegen Steuerstraftaten im Zusammenhang mit Aktienkäufen über den Dividendenstichtag (sog. Cum-Ex-Geschäfte) richtet. Der Beschwerdeführer macht eine Verletzung seines Rechts aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz (GG) auf die Entscheidung durch den gesetzlichen Richter geltend. Zwei Mitglieder der zuständigen Strafkammer des Landgerichts waren an einem zuvor gegen zwei Börsenhändler wegen Beihilfe zu Steuerstraftaten gefällten Urteil beteiligt gewesen. Die schriftlichen Urteilsgründe des Urteils enthielten auch Ausführungen zur Rolle des – an diesem Verfahren unbeteiligten – Beschwerdeführers als Haupttäter.

Sachverhalt

Im März 2020 verurteilte das Landgericht Bonn zwei britische Börsenhändler wegen Beihilfe zu mehreren Steuerstraftaten im Zusammenhang mit Cum-Ex-Geschäften zu Gesamtfreiheitsstrafen. In den schriftlichen Urteilsgründen nahm das Landgericht in mehreren Passagen auf den Beschwerdeführer und dessen Stellung in einer Bank, die an der Abwicklung von Cum-Ex-Geschäften beteiligt war, Bezug. Es führte insbesondere aus, der Beschwerdeführer habe gemeinschaftlich mit weiteren Personen vorsätzlich rechtswidrige Steuerstraftaten begangen, zu denen einer der beiden Börsenhändler Hilfe geleistet habe.

Im Mai 2020 klagte die Staatsanwaltschaft den Beschwerdeführer wegen Steuerstraftaten im Zusammenhang mit Cum-Ex-Geschäften zum Landgericht Bonn an. Nach dem Geschäftsverteilungsplan war dieselbe Strafkammer zur Entscheidung über die Anklage berufen, die zuvor das Urteil gegen die Börsenhändler gefällt hatte. Der Kammervorsitzende und der als Berichterstatter vorgesehene Richter hatten an dem Strafurteil gegen die Börsenhändler mitgewirkt.

Nach Eröffnung des Hauptverfahrens und der Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung – aber vor Beginn der Hauptverhandlung – lehnte der Beschwerdeführer den Kammervorsitzenden und den Berichterstatter aufgrund ihrer Mitwirkung am Verfahren gegen die Börsenhändler wegen der Besorgnis der Befangenheit ab. Das Landgericht wies das Ablehnungsgesuch zurück.

Nach Beginn der Hauptverhandlung beantragte der Beschwerdeführer, einen vom Gericht bereits gehörten Zeugen erneut zu vernehmen, da er meinte, dieser habe widersprüchlich zu seiner Aussage im früheren Cum-Ex-Prozess ausgesagt. Der Vorsitzende äußerte sich darauf in einem Rechtsgespräch sinngemäß dahingehend, er habe eine abweichende Erinnerung an die damalige Aussage des Zeugen und bitte den Beschwerdeführer daher um Überlassung des dem Gericht nicht vorliegenden stenografischen Protokolls, um das sauber prüfen zu können. An einem späteren Sitzungstag beantragte der Beschwerdeführer die Aussetzung des Verfahrens. Der Vorsitzende habe sich mit dem Hinweis auf seine Erinnerung zu einem Zeugen gemacht und sei von Gesetzes wegen an der Mitwirkung im weiteren Verfahren ausgeschlossen. Das Landgericht lehnte diesen Antrag ab.

Am 1. Juni 2021 verurteilte das Landgericht den Beschwerdeführer wegen fünf Fällen der Steuerhinterziehung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten. Der Beschwerdeführer griff dieses Urteil mit der Revision an. Er machte unter anderem geltend, die auf die Vorbefassung und den Hinweis des Vorsitzenden gestützten Befangenheitsanträge seien zu Unrecht zurückgewiesen worden, weshalb ein Revisionsgrund vorliege. Mit Beschluss vom 6. April 2022 verwarf der Bundesgerichtshof die Revision des Beschwerdeführers.

Mit seiner Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen die Entscheidungen des Landgerichts Bonn und des Bundesgerichtshofs. Er macht eine Verletzung seines Rechts auf die Entscheidung durch den gesetzlichen Richter geltend. Der Vorsitzende und der Berichterstatter seien ihm nicht unvoreingenommen entgegengetreten, weil sie schon an dem Prozess gegen die Börsenhändler mitgewirkt hätten.

Wesentliche Erwägungen der Kammer

Dem Beschwerdeführer wurde der gesetzliche Richter nicht entzogen.

1. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gewährt einen subjektiven Anspruch auf eine Entscheidung durch den gesetzlichen Richter. Eine „Entziehung“ des gesetzlichen Richters durch die fachgerichtliche Rechtsprechung, der die Anwendung der Zuständigkeitsregeln und die Handhabung des Ablehnungsrechts im Einzelfall obliegt, kann nicht in jeder fehlerhaften Rechtsanwendung gesehen werden. Das Bundesverfassungsgericht beanstandet deshalb die Auslegung und Anwendung von Zuständigkeitsnormen nur, wenn sie bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen und offensichtlich unhaltbar sind oder die Bedeutung und Tragweite der Gewährleistung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundlegend verkannt wird. Rechtsfehlerhafte – aber nicht willkürliche – Entscheidungen über die Bestimmung des zuständigen Gerichts oder des zuständigen Richters beanstandet das Bundesverfassungsgericht nicht.

Die hier zu beurteilende verfassungsrechtliche Frage betrifft die Auslegung und Anwendung der Befangenheitsregeln und damit die Auslegung und Anwendung von Regeln, die dem durch Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verbürgten Ziel, auch im Einzelfall die Neutralität und Distanz der zur Entscheidung berufenen Richter zu sichern, dienen. Das Bundesverfassungsgericht prüft mithin nicht, ob tatsächlich die Besorgnis der Befangenheit bestanden hat, sondern nur, ob die diesbezüglichen Entscheidungen der Fachgerichte nach den Grundsätzen des Beschwerderechts willkürlich waren oder spezifisches Verfassungsrecht verletzt haben.

2.Gemessen an diesen Maßstäben wurde dem Beschwerdeführer der gesetzliche Richter nicht im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG entzogen.

a) Die angegriffenen Entscheidungen entsprechen der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Befangenheit wegen Vorbefassung. Eine Vortätigkeit des erkennenden Richters, die den Verfahrensgegenstand betrifft, zieht nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs weder automatisch die Ausschließung des Richters von der Ausübung des Richteramts im weiteren Verfahren nach sich, noch begründet sie zwangsläufig die Besorgnis der Befangenheit. Es müssen besondere Umstände hinzukommen, die diese Besorgnis rechtfertigen.

b) Diese Rechtsprechung ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Das deutsche Verfahrensrecht ist von der Auffassung beherrscht, ein Richter könne auch dann unvoreingenommen an die Beurteilung einer Sache herantreten, wenn er sich schon früher über denselben Sachverhalt ein Urteil gebildet habe. Es bedarf deshalb besonderer Umstände, um aus der Vorbefassung eines Richters auf dessen fehlende Neutralität zu schließen. Nur wenn ein diese Umstände aufgreifendes Befangenheitsgesuch willkürlich zu Unrecht abgelehnt wird, ist dem Angeklagten der gesetzliche Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG entzogen.

c) Diese Maßstäbe stehen im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention, die als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte heranzuziehen ist.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verortet die Unparteilichkeit des zur Entscheidung berufenen Richters im Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 6 Abs. 1 EMRK und sieht sie als dessen unverzichtbaren Bestandteil an. Er prüft die Unparteilichkeit nicht nur anhand subjektiver Kriterien ausgehend von der persönlichen Überzeugung und dem Verhalten eines bestimmten Richters. Er stellt auch auf objektive Kriterien ab und prüft, ob der Richter hinreichend Gewähr dafür geboten hat, dass alle berechtigten Zweifel insoweit auszuschließen sind.

Auch nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte genügt allein die Tatsache, dass ein Richter bereits über ähnliche, aber selbständige Tatvorwürfe entschieden oder in einem gesonderten Strafverfahren gegen einen Mitangeklagten verhandelt hat, nicht, um Zweifel an der Unparteilichkeit dieses Richters in einem nachfolgenden Fall zu begründen. Hat allerdings ein Gericht in einem früheren Urteil ohne rechtliche Notwendigkeit die Rolle des später Angeklagten derart detailliert beurteilt, dass das frühere Urteil so zu verstehen ist, das Gericht habe hinsichtlich des später Angeklagten alle für die Erfüllung eines Straftatbestands erforderlichen Kriterien als erfüllt angesehen, können nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte objektive Zweifel an der Unvoreingenommenheit des Gerichts bestehen.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erkennt ferner an, dass es in komplexen Strafverfahren mit mehreren Beteiligten, die nicht in einem Verfahren gleichzeitig abgeurteilt werden können, für die Beurteilung der Schuld der abzuurteilenden Personen unerlässlich sein kann, dass das Strafgericht auf die Beteiligung Dritter Bezug nimmt, gegen die später womöglich ein gesondertes Verfahren geführt wird. Ausdrücklich hat er betont, dass Strafgerichte auch in solchen Konstellationen den für die Bewertung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Angeklagten maßgeblichen Sachverhalt so genau und präzise wie möglich feststellen müssen und entscheidende Tatsachen – einschließlich solcher mit Bezug auf die Beteiligung Dritter – nicht als reine Behauptungen oder Vermutungen darstellen dürfen.

d) Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der Bundesgerichtshof die Revision des Beschwerdeführers verworfen hat. Auch unter Berücksichtigung der Gewährleistungsgehalte des Art. 6 Abs. 1 und 2 EMRK scheidet ein Entzug des gesetzlichen Richters aus.

aa) Die Auffassung der Strafkammer, in dem vorliegenden komplexen Strafverfahren die Beteiligten nicht in einem Verfahren gleichzeitig aburteilen zu können, ist verfassungsrechtlich unbedenklich. Schon die Urteile zeigen auf, dass an Geschäften aus dem Cum-Ex-Komplex eine Vielzahl von Beschäftigten unterschiedlicher Banken in unterschiedlicher Zusammensetzung und in unterschiedlichen Fallkonstellationen beteiligt waren. Ein einziger Prozess, der sich gegen alle diese Personen richtete, hätte insbesondere Beteiligte mit untergeordneten Tatbeiträgen über Gebühr mit einem langen Strafverfahren belastet und wäre mit dem Beschleunigungsgebot nicht zu vereinbaren gewesen.

bb) Die Argumentation, es sei unerlässlich gewesen, die Tatbeiträge des Beschwerdeführers im früheren ersten Cum-Ex-Prozess festzustellen und rechtlich zu würdigen, begegnet ebenfalls keinen verfassungsrechtlichen oder konventionsrechtlichen Bedenken.

(1) Ausgangspunkt ist, dass die Angeklagten des früheren Verfahrens unter anderem wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung angeklagt und verurteilt wurden. In diesem Verfahren konnte auf Feststellungen zum Vorliegen einer vorsätzlichen rechtswidrigen Haupttat und damit zum Tatbeitrag des Beschwerdeführers nicht verzichtet werden. Vielmehr musste das Tatgericht seiner Pflicht nachkommen, den für die Bewertung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der damals Angeklagten maßgeblichen Sachverhalt so genau und präzise wie möglich festzustellen und entscheidende Tatsachen – auch solche mit Bezug auf die Beteiligung Dritter – nicht als reine Behauptungen oder Vermutungen darzustellen.

(2) Bei der Feststellung, dass einer der früheren Angeklagten dem Beschwerdeführer zu dessen vorsätzlicher und rechtswidriger Steuerhinterziehung Hilfe geleistet hat, hat sich das Landgericht – konventionsrechtliche Anforderungen beachtend – der Aussage enthalten, ob der Beschwerdeführer schuldhaft gehandelt hat. Es hat berücksichtigt, dass schuldhaftes Handeln des (Haupt-)Täters – anders als ein tatbestandsmäßiges und rechtswidriges Handeln – keine Voraussetzung für eine Strafbarkeit des Gehilfen ist.

(3) Der Hinweis des Beschwerdeführers darauf, wie häufig sein Name in dem vorangegangenen Strafurteil aus dem Cum-Ex-Komplex genannt worden ist, ist bereits angesichts der Länge des betreffenden Urteils nicht aussagekräftig.

(4) Auf die Aufklärung der Rolle des Beschwerdeführers im Cum-Ex-Komplex hätte in dem vorangegangenen Strafverfahren auch nicht deshalb verzichtet werden können, weil außer ihm ein weiterer Tatbeteiligter die entsprechenden Steuererklärungen unterzeichnet und daher ebenfalls eine vorsätzliche rechtswidrige Haupttat begangen hat. Dem steht insbesondere entgegen, dass so jeder Haupttäter die Darstellung seiner Tatbeiträge mit Verweis auf weitere Täter für verzichtbar erklären könnte, sodass das Gericht im Ergebnis überhaupt kein Täterhandeln mehr beschreiben dürfte.

(5) Eine verfassungsrechtlich zu beanstandende Vorbefassung der erkennenden Richter lässt sich ferner nicht daraus ableiten, dass das Landgericht im Urteil gegen die Börsenhändler die vorsätzliche rechtswidrige Haupttat nicht allgemeiner umschrieben und die Person des Haupttäters offengelassen hat. Zwar erkennt der Beschwerdeführer im Ansatz zutreffend, dass die Verurteilung eines Gehilfen grundsätzlich auch dann möglich ist, wenn die Identität des Haupttäters unbekannt bleibt. Bei dem hier zu beurteilenden Verfahren war aber gerade die Identität der Haupttäter, insbesondere deren berufliche Stellung und ihre Kenntnisse im Steuerrecht, maßgeblich für die – im Verfahren gegen die Gehilfen zwingend vorzunehmende – Bewertung der inneren Tatseite der Haupttäter.

cc) Der Rüge, der Hinweis des Vorsitzenden auf seine Erinnerung an die Vernehmung eines Zeugen im früheren Verfahren begründe besondere Umstände, die die Besorgnis der Befangenheit wegen Vorbefassung rechtfertigten, ist ebenfalls der Erfolg zu versagen. Der Beschwerdeführer verkennt den vom Bundesverfassungsgericht anzuwendenden Prüfungsmaßstab, wenn er im Ergebnis eine Neubewertung der für und gegen eine Befangenheit sprechenden Umstände erreichen möchte.

Quelle: BVerfG, Pressemitteilung vom 17.02.2023 zum Beschluss 2 BvR 1122/22 vom 27.01.2023

Steuern & Recht vom Steuerberater M. Schröder Berlin