BFH zur Einlage i. S. des § 15a Abs. 1 Satz 1 EStG

Leitsatz

  1. Ein Kommanditist kann sein Verlustausgleichsvolumen i. S. des § 15a Abs. 1 Satz 1 EStG auch durch die Erbringung einer freiwilligen Einlage erhöhen.
  2. Eine derartige freiwillige Einlage ist allerdings nur dann gegeben, wenn sie gesellschaftsrechtlich, insbesondere nach dem Gesellschaftsvertrag, zulässig ist. Dementsprechend führt die Buchung einer freiwillig vom Kommanditisten erbrachten Einlage auf einem variablen Eigenkapitalkonto nur dann zu einer Erhöhung des Verlustausgleichsvolumens, wenn es sich um eine gesellschaftsrechtlich zulässige Einlage in das Gesamthandsvermögen der Gesellschaft handelt.

Quelle: BFH, Urteil IV R 8/19 vom 10.11.2022

Missbräuchliche Nutzung von Briefkastenfirmen

Das EP hat am 17. Januar 2023 seine Position zum Richtlinienvorschlag der Europäischen Kommission zur Verhinderung der missbräuchlichen Nutzung von Briefkastenfirmen angenommen. Dabei spricht es sich unter anderem für stärkere Sanktionen aus.

Die Richtlinie 2011/16/EU über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung soll ein weiteres Mal überarbeitet werden, die Kommission hatte dazu im Dezember 2021 einen Vorschlag vorgelegt. Dieser enthielt ein Indikatorensystem zur Feststellung, ob ein Unternehmen Substanz aufweist oder nur auf dem Papier existiert. Die Abgeordneten haben ihre Position mit 367 zu 2 Stimmen bei 6 Enthaltungen angenommen. Sie sprechen sich beispielsweise dafür aus, die Minimalanforderungen, unterhalb derer Unternehmen von den Meldeanforderungen ausgenommen sind, abzusenken.

Diese Parlamentsposition wird nun dem Rat zugeleitet, welcher die Richtlinie im Anhörungsverfahren annehmen muss.

Quelle: BRAK, Mitteilung vom 20.01.2023

Transparenzerfordernis einer Zeitaufwand-Klausel im Anwaltsvertrag

Eine Klausel, nach der sich die Vergütung der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte nach dem Zeitaufwand richtet, genügt nicht dem unionsrechtlichen Erfordernis der Klarheit und Verständlichkeit, wenn dem Verbraucher vor Vertragsschluss nicht die Informationen erteilt worden sind, die für seine Entscheidung unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Folgen des Vertragsschlusses relevant sind.

Der EuGH hat am 12. Januar 2023 in der Rechtssache C-395/21 D.V I Rechtanwaltsvergütung – Abrechnung nach dem Zeitaufwand entschieden, dass eine Klausel eines zwischen einem Rechtsanwalt und einem Verbraucher geschlossenen Vertrags, nach der sich die anwaltliche Vergütung nach dem Zeitaufwand – richtet, nicht dem Erfordernis der Klarheit und Verständlichkeit nach Art. 5 der Richtlinie über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (93/13/EWG) genügt, wenn dem Verbraucher vor Vertragsabschluss nicht die Informationen erteilt worden sind, die ihn in die Lage versetzt hätten, seine Entscheidung mit Bedacht und in voller Kenntnis der wirtschaftlichen Folgen des Vertragsabschlusses zu treffen. Um dem Transparenzerfordernis zu entsprechen, muss der Verbraucher aufgrund der ihm erteilten entsprechenden Informationen im Vertrag über die Gesamtkosten der Rechtsdienstleistungen, die Einschätzung der voraussichtlich erforderlichen Stunden, die wirtschaftlichen Folgen des Vertragsschlusses einschätzen können. Wenn die Verträge nach der Aufhebung der Klausel über die Vergütung nach den einschlägigen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts nicht fortbestehen können, steht Art. 6 Abs. 1 der RL 93/13/EWG der Nichtigerklärung der Verträge nicht entgegen. Dies gilt auch, wenn dies bedeuten würde, dass der Gewerbetreibende für seine Dienstleistungen überhaupt keine Vergütung erhält.

Quelle: BRAK, Mitteilung vom 20.01.2023

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

12. Januar 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen – Richtlinie 93/13/EWG – Zwischen einem Rechtsanwalt und einem Verbraucher geschlossener Vertrag über die Erbringung von Rechtsdienstleistungen – Art. 4 Abs. 2 – Beurteilung der Missbräuchlichkeit der Vertragsklauseln – Ausschluss der Klauseln betreffend den Hauptgegenstand des Vertrags – Klausel, nach der sich die Vergütung des Rechtsanwalts nach dem Zeitaufwand richtet – Art. 6 Abs. 1 – Befugnisse des nationalen Gerichts bei einer als missbräuchlich angesehenen Klausel“

In der Rechtssache C‑395/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Lietuvos Aukščiausiasis Teismas (Oberstes Gericht Litauens) mit Entscheidung vom 23. Juni 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Juni 2021, in dem Verfahren

D. V.

gegen

M. A.

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos, der Richterin L. S. Rossi, der Richter J.‑C. Bonichot und S. Rodin sowie der Richterin O. Spineanu-Matei (Berichterstatterin),

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von D. V., vertreten durch A. Kakoškina, Advokatė,

–        der litauischen Regierung, vertreten durch K. Dieninis, S. Grigonis und V. Kazlauskaitė-Švenčionienė als Bevollmächtigte,

–        der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, U. Bartl und M. Hellmann als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Jokubauskaitė und N. Ruiz García als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 22. September 2022

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 1, Art. 4 Abs. 2, Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (ABl. 1993, L 95, S. 29) in der durch die Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2011 (ABl. 2011, L 304, S. 64) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 93/13).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Rechtsanwalt D. V. und seinem Auftraggeber M. A.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 bestimmt:

„Eine Vertragsklausel, die nicht im einzelnen ausgehandelt wurde, ist als missbräuchlich anzusehen, wenn sie entgegen dem Gebot von Treu und Glauben zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner verursacht.“

4        Art. 4 der Richtlinie 93/13 bestimmt:

„(1)      Die Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel wird unbeschadet des Artikels 7 unter Berücksichtigung der Art der Güter oder Dienstleistungen, die Gegenstand des Vertrages sind, aller den Vertragsabschluss begleitenden Umstände sowie aller anderen Klauseln desselben Vertrages oder eines anderen Vertrages, von dem die Klausel abhängt, zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses beurteilt.

(2)      Die Beurteilung der Missbräuchlichkeit der Klauseln betrifft weder den Hauptgegenstand des Vertrages noch die Angemessenheit zwischen dem Preis bzw. dem Entgelt und den Dienstleistungen bzw. den Gütern, die die Gegenleistung darstellen, sofern diese Klauseln klar und verständlich abgefasst sind.“

5        Art. 5 der Richtlinie 93/13 bestimmt:

„Sind alle dem Verbraucher in Verträgen unterbreiteten Klauseln oder einige dieser Klauseln schriftlich niedergelegt, so müssen sie stets klar und verständlich abgefasst sein. …“

6        Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass missbräuchliche Klauseln in Verträgen, die ein Gewerbetreibender mit einem Verbraucher geschlossen hat, für den Verbraucher unverbindlich sind, und legen die Bedingungen hierfür in ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften fest; sie sehen ferner vor, dass der Vertrag für beide Parteien auf derselben Grundlage bindend bleibt, wenn er ohne die missbräuchlichen Klauseln bestehen kann.“

7        Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass im Interesse der Verbraucher und der gewerbetreibenden Wettbewerber angemessene und wirksame Mittel vorhanden sind, damit der Verwendung missbräuchlicher Klauseln durch einen Gewerbetreibenden in den Verträgen, die er mit Verbrauchern schließt, ein Ende gesetzt wird.“

8        Art. 8 der Richtlinie 93/13 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten können auf dem durch diese Richtlinie geregelten Gebiet mit dem [AEU-Vertrag] vereinbare strengere Bestimmungen erlassen, um ein höheres Schutzniveau für die Verbraucher zu gewährleisten.“

 Litauisches Recht

 Zivilgesetzbuch

9        Art. 6.2284 („Missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen“) des Lietuvos Respublikos civilinio kodekso patvirtinimo, įsigaliojimo ir įgyvendinimo įstatymas Nr. VIII-1864 (Gesetz Nr. VIII-1864 über die Annahme, das Inkrafttreten und die Durchführung des litauischen Zivilgesetzbuchs) vom 18. Juli 2000 (Žin., 2000, Nr. 74-2262) in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Zivilgesetzbuch) dient der Umsetzung der Richtlinie 93/13. Er bestimmt:

„…

2.      Klauseln in Verbraucherverträgen, die nicht im Einzelnen ausgehandelt wurden, werden für missbräuchlich erklärt, wenn mit ihnen das Gleichgewicht der Rechte und Pflichten der Vertragspartner entgegen dem Gebot von Treu und Glauben zum Nachteil des Verbrauchers gestört wird.

6.      Schriftlich niedergelegte Klauseln eines Verbrauchervertrags müssen klar und verständlich abgefasst sein. Klauseln, die diesem Erfordernis nicht genügen, sind als missbräuchlich anzusehen.

7.      Sofern sie klar und verständlich abgefasst sind, unterliegen Klauseln, mit denen der Gegenstand des Verbrauchervertrags bestimmt wird oder die die Angemessenheit des Preises einer verkauften Ware oder einer erbrachten Dienstleistung betreffen, nicht der Missbräuchlichkeitskontrolle.

8.      Erklärt das Gericht eine oder mehrere Klauseln für missbräuchlich, ist diese bzw. sind diese ab dem Zeitpunkt des Vertragsschlusses nichtig; die übrigen Klauseln des Vertrags bleiben für die Vertragspartner jedoch verbindlich, wenn sich der Vertrag nach der Nichtigerklärung der missbräuchlichen Klauseln weiter durchführen lässt.“

 Gesetz Nr. IX-2066 über den Beruf des Rechtsanwalts

10      Art. 50 („Vergütung der von einem Rechtsanwalt erbrachten Rechtsdienstleistungen“) des Lietuvos Respublikos advokatūros įstatymas Nr. IX-2066 (Gesetz Nr. IX-2066 über den Beruf des Rechtsanwalts) vom 18. März 2004 (Žin., 2004, Nr. 50-1632) bestimmt:

„1.      Der Auftraggeber schuldet dem Rechtsanwalt für die gemäß dem Vertrag erbrachten Rechtsdienstleistungen die vertraglich vereinbarte Vergütung.

3.      Bei der Bestimmung der Höhe der Vergütung des Rechtsanwalts für Rechtsdienstleistungen sind die Schwierigkeit der Sache, die Qualifikation und die Erfahrung des Rechtsanwalts, die wirtschaftlichen Verhältnisse des Auftraggebers und sonstige relevante Umstände zu berücksichtigen.“

 Verordnung vom 2. April 2004

11      Mit dem Lietuvos Respublikos teisingumo ministro įsakymas Nr. 1R-85 „Dėl Rekomendacijų dėl civilinėse bylose priteistino užmokesčio už advokato ar advokato padėjėjo teikiamą teisinę pagalbą (paslaugas) maksimalaus dydžio patvirtinimo“ (Verordnung des Justizministers der Republik Litauen Nr. 1R-85 über die Genehmigung der Leitlinien betreffend den Höchstbetrag der Vergütung, die in Zivilsachen für die Beratung oder Vertretung – Erbringung von Dienstleistungen – durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtsanwaltsanwärter zu zahlen ist) vom 2. April 2004 (Žin., 2004, Nr. 54-1845) in der ab dem 20. März 2015 geltenden Fassung (im Folgenden: Verordnung vom 2. April 2004) wurden Empfehlungen für den Höchstbetrag der Vergütung für von einem Rechtsanwalt oder einem Rechtsanwaltsanwärter in Zivilsachen erbrachte Rechtsdienstleistungen ausgesprochen. Diese wurden am 26. März 2004 von den litauischen Rechtsanwaltskammern gebilligt. Sie bilden die Grundlage für die Anwendung der Vorschriften der Zivilprozessordnung über die Festsetzung der Kosten.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

12      M. A. schloss im Zeitraum vom 11. April bis zum 29. August 2018 als Verbraucher mit D. V. als Rechtsanwalt fünf Verträge über die entgeltliche Erbringung von Rechtsdienstleistungen: am 11. April 2018 zwei Verträge in Zivilsachen, in denen es um das Miteigentum an Gütern bzw. um den Aufenthalt minderjähriger Kinder, die Modalitäten der Kommunikation und die Festsetzung von Unterhalt ging, am 12. April und am 8. Mai 2018 zwei Verträge über die Vertretung gegenüber dem Polizeikommissariat und der Staatsanwaltschaft des Bezirks Kaunas (Litauen) und am 29. August 2018 einen Vertrag über die Vertretung in einem Scheidungsverfahren.

13      In Art. 1 der Verträge verpflichtete sich der Rechtsanwalt jeweils, mündlich und/oder schriftlich rechtlichen Rat zu erteilen, rechtliche Schreiben zu entwerfen, Unterlagen rechtlich zu prüfen und den Auftraggeber gegenüber verschiedenen Stellen zu vertreten, indem er die entsprechenden Handlungen vornimmt.

14      In den Verträgen waren als Vergütung jeweils 100 Euro „für jede Stunde der Beratung oder Erbringung von Rechtsdienstleistungen gegenüber dem Auftraggeber“ (im Folgenden: Klausel über die Vergütung) festgelegt. In den Verträgen war bestimmt, dass „ein Teil der angegebenen Vergütung … sofort fällig [ist], sobald der Rechtsanwalt auf der Basis der geleisteten Stunden der Beratung oder Erbringung von Rechtsdienstleistungen eine Rechnung über die Rechtsdienstleistungen vorlegt“ (im Folgenden: Klausel über die Art und Weise der Zahlung der Vergütung).

15      M. A. leistete auf die Vergütung einen Vorschuss in Höhe von 5 600 Euro.

16      D. V. erbrachte Rechtsdienstleistungen von April bis Dezember 2018 und von Januar bis März 2019. Am 21. und 26. März 2019 stellte er für sämtliche erbrachten Rechtsdienstleistungen Rechnungen aus.

17      Da die in Rechnung gestellte Vergütung nicht in voller Höhe gezahlt wurde, erhob D. V. gegen M. A. am 10. April 2019 beim Kauno apylinkės teismas (Bezirksgericht Kaunas) Klage auf Zahlung von 9 900 Euro für die erbrachten Rechtsdienstleistungen und von 194,30 Euro für Auslagen im Zusammenhang mit der Durchführung der Verträge, jeweils nebst Zinsen in Höhe von 5 % jährlich ab dem Zeitpunkt der Erhebung der Klage bis zur Durchführung des Urteils.

18      Mit Entscheidung vom 5. März 2020 gab der Kauno apylinkės teismas (Bezirksgericht Kaunas) der Klage von D. V. teilweise statt. Er stellte fest, dass gemäß den geschlossenen Verträgen Rechtsdienstleistungen in Höhe von insgesamt 12 900 Euro erbracht worden seien. Er gelangte jedoch zu der Auffassung, dass die Klauseln über die Vergütung aller fünf Verträge missbräuchlich seien, und setzte die geforderte Vergütung um die Hälfte herab. Er setzte die Vergütung auf 6 450 Euro. Entsprechend wurde M. A. vom Kauno apylinkės teismas (Bezirksgericht Kaunas) unter Berücksichtigung des bereits gezahlten Betrags verurteilt, 1 044,33 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 % jährlich ab dem Zeitpunkt der Erhebung der Klage bis zur Durchführung des Urteils zu zahlen und Kosten in Höhe von 12 Euro zu erstatten. D. V. wurde verurteilt, M. A. Kosten in Höhe von 360 Euro zu erstatten.

19      D. V. legte gegen diese Entscheidung am 30. April 2020 Berufung ein. Die Berufung wurde mit Beschluss vom 15. Juni 2020 vom Kauno apygardos teismas (Regionalgericht Kaunas, Litauen) zurückgewiesen.

20      Gegen diesen Beschluss legte D. V. am 10. September 2020 beim Lietuvos Aukščiausiasis Teismas (Oberstes Gericht Litauens), dem vorlegenden Gericht, eine Kassationsbeschwerde ein.

21      Das vorlegende Gericht sieht sich im Wesentlichen vor zwei Probleme gestellt: Zum einen geht es um das Erfordernis der Transparenz von Klauseln, die den Hauptgegenstand von Verträgen über die Erbringung von Rechtsdienstleistungen betreffen, zum anderen um die Frage, welche Folgen die Feststellung der Missbräuchlichkeit einer Klausel hat, mit der die Vergütung für solche Dienstleistungen festgelegt wird.

22      Was den ersten Fragenkreis angeht, geht das vorlegende Gericht zunächst der Frage nach, ob eine nicht im Einzelnen ausgehandelte Klausel eines Vertrags über die Erbringung von Rechtsdienstleistungen, die deren Vergütung und die Art und Weise der Berechnung der Vergütung betrifft – wie die Klausel über die Vergütung –, unter Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 93/13 fällt.

23      Das vorlegende Gericht geht davon aus, dass dies der Fall ist, und fragt sich weiter, wie transparent eine Klausel, die den Hauptgegenstand des Vertrags betreffe, sein müsse, um der Beurteilung der Missbräuchlichkeit entzogen zu sein. Die Klausel über die Vergütung sei grammatisch zwar klar abgefasst. Es sei aber fraglich, ob sie verständlich sei. Der Durchschnittsverbraucher sei nicht in der Lage, die wirtschaftlichen Folgen der Klausel zu erfassen, und zwar auch dann nicht, wenn die übrigen Klauseln der betreffenden Verträge berücksichtigt würden, nämlich die Klausel über die Art und Weise der Zahlung der Vergütung, die weder vorsehe, dass der Rechtsanwalt Berichte über die erbrachten Dienstleistungen vorzulegen hätte, noch, dass die Vergütung für diese Dienstleistungen in regelmäßigen Abständen zu zahlen sei.

24      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs sei es für den Verbraucher aber von grundlegender Bedeutung, dass er vor Abschluss eines Vertrags über die Vertragsbedingungen und die Folgen des Vertragsschlusses informiert sei, da er insbesondere auf der Grundlage dieser Information entscheide, ob er sich durch die vom Gewerbetreibenden vorformulierten Bedingungen binden möchte (Urteil vom 21. März 2013, RWE Vertrieb, C‑92/11, EU:C:2013:180, Rn. 44).

25      Die Verträge, um die es im Ausgangsverfahren gehe, seien zwar besonderer Art, und bei Rechtsdienstleistungen sei schwer vorherzusehen, wie viele Stunden erforderlich seien, um sie zu erbringen. Es sei jedoch fraglich, ob von einem Gewerbetreibenden verlangt werden könne, für die Rechtsdienstleistungen einen Richtpreis anzugeben, und ob diese Information in den entsprechenden Verträgen enthalten sein müsse. Außerdem sei fraglich, ob die Nichterteilung von Informationen vor dem Vertragsschluss während der Durchführung der Verträge geheilt werden könne und ob es insoweit von Bedeutung sei, dass die Vergütung erst sicher feststehe, nachdem der Rechtsanwalt einen Auftraggeber in einer bestimmten Rechtssache vertreten habe.

26      Was den zweiten Fragenkreis angeht, weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass Art. 6.2284 Abs. 6 des Zivilgesetzbuchs einen höheren Schutz gewährleiste als den, der durch die Richtlinie 93/13 gewährleistet werde. Eine Klausel könne nämlich, ohne dass sie gemäß Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie geprüft werden müsste, bereits wegen mangelnder Transparenz für missbräuchlich erklärt werden. Das vorlegende Gericht fragt sich daher, welche Folgen die Feststellung der Missbräuchlichkeit einer Klausel nach dem Unionsrecht hat.

27      Insoweit weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Nichtigerklärung der Klausel über die Vergütung zur Nichtigkeit der Verträge über die Erbringung von Rechtsdienstleistungen und zur Wiederherstellung der Lage führen müsste, in der sich der Verbraucher befunden hätte, wenn die Klauseln niemals existiert hätten. Im vorliegenden Fall würde dies aber zu einer ungerechtfertigten Bereicherung des Verbrauchers und zu einer Lage führen, die für den Gewerbetreibenden, der die Rechtsdienstleistungen in vollem Umfang erbracht habe, nicht gerecht sei. Das vorlegende Gericht fragt sich ferner, ob eine Herabsetzung der Vergütung für die Rechtsdienstleistungen nicht die abschreckende Wirkung beeinträchtigt, die mit Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 verfolgt werde.

28      Der Lietuvos Aukščiausiasis Teismas (Oberstes Gericht Litauens) hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 93/13 dahin auszulegen, dass der Begriff „Hauptgegenstand des Vertrages“ eine – nicht im Einzelnen ausgehandelte und in einem von einem Gewerbetreibenden (Rechtsanwalt) und einem Verbraucher geschlossenen Vertrag über juristische Dienstleistungen enthaltene – Klausel umfasst, die sich auf die Kosten und die Art und Weise ihrer Berechnung bezieht?

2.      Ist der Verweis in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 93/13 auf die Klarheit und Verständlichkeit einer Vertragsklausel dahin auszulegen, dass es genügt, in der Vertragsklausel über die Kosten (nach der die Kosten für tatsächlich erbrachte Dienstleistungen auf der Grundlage eines Stundensatzes festgelegt werden) die Höhe des dem Rechtsanwalt geschuldeten Stundenhonorars anzugeben?

3.      Falls die zweite Frage verneint wird: Ist das Transparenzerfordernis dahin auszulegen, dass es die Verpflichtung des Rechtsanwalts umfasst, im Vertrag die Kosten für Dienstleistungen anzugeben, deren konkrete Sätze im Voraus klar bestimmt und aufgeführt werden können, oder sind indikative Kosten für die Dienstleistungen (eine vorläufige Schätzung für die erbrachten juristischen Dienstleistungen) auch anzugeben, wenn die Zahl (oder Dauer) konkreter Handlungen und das Honorar dafür bei Vertragsschluss nicht vorhersehbar sind, und sind etwaige Risiken, die zu einer Erhöhung oder Verringerung der Kosten führen, anzugeben? Ist es für die Beurteilung der Frage, ob die Vertragsklausel über die Kosten dem Transparenzerfordernis genügt, erheblich, ob Informationen über die Kosten juristischer Dienstleistungen und die Art und Weise ihrer Berechnung dem Verbraucher in geeigneter Weise zur Verfügung gestellt werden oder im Vertrag über juristische Dienstleistungen selbst festgelegt werden? Kann ein Mangel an Informationen in den vorvertraglichen Beziehungen dadurch ausgeglichen werden, dass bei der Vertragsdurchführung Informationen zur Verfügung gestellt werden? Spielt es für die Beurteilung der Frage, ob die Vertragsklausel dem Transparenzerfordernis genügt, eine Rolle, dass sich die Endkosten der erbrachten juristischen Dienstleistungen erst nach Beendigung der Leistungserbringung herausstellen? Ist es für die Beurteilung der Frage, ob die Vertragsklausel über die Kosten dem Transparenzerfordernis genügt, erheblich, dass im Vertrag nicht festgelegt ist, dass regelmäßig Berichte des Rechtsanwalts über die erbrachten Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen sind oder dem Verbraucher regelmäßig Rechnungen vorzulegen sind, was es dem Verbraucher ermöglichen würde, rechtzeitig über die Ablehnung juristischer Dienstleistungen oder eine Änderung des vertraglich vereinbarten Preises zu entscheiden?

4.      Wenn das nationale Gericht feststellt, dass die Vertragsklausel, mit der die Kosten für tatsächlich erbrachte Dienstleistungen auf der Grundlage eines Stundensatzes festgelegt werden, nicht klar und verständlich abgefasst ist, wie es Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 93/13 verlangt, hat es dann zu prüfen, ob diese Klausel missbräuchlich im Sinne von Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie ist (d. h., bei der Prüfung, ob die Vertragsklausel möglicherweise missbräuchlich ist, ist festzustellen, ob diese Klausel zum Nachteil des Verbrauchers ein „erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis“ der Rechte und Pflichten der Vertragspartner verursacht), oder ist es, wenn man berücksichtigt, dass diese Klausel wesentliche Vertragsinformationen enthält, für die Feststellung der Missbräuchlichkeit der Kostenklausel bereits ausreichend, dass sie nicht transparent ist?

5.      Bedeutet der Umstand, dass, wenn die Missbräuchlichkeit der Vertragsklausel über die Kosten festgestellt wurde, der Vertrag über juristische Dienstleistungen, wie in Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 vorgesehen, unverbindlich ist, dass [dann] die Situation wiederherzustellen ist, in der sich der Verbraucher ohne die Klausel, deren Missbräuchlichkeit festgestellt wurde, befunden hätte? Würde die Wiederherstellung dieser Situation bedeuten, dass der Verbraucher nicht verpflichtet ist, die bereits erbrachten Dienstleistungen zu bezahlen?

6.      Wenn die Art eines entgeltlichen Dienstleistungsvertrags dazu führt, dass es unmöglich ist, die Situation wiederherzustellen, in der sich der Verbraucher ohne die Klausel, deren Missbräuchlichkeit festgestellt wurde, befunden hätte (die Dienstleistungen wurden bereits erbracht), liefe dann die Festsetzung eines Entgelts für die vom Rechtsanwalt erbrachten Dienstleistungen dem Ziel von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 zuwider? Falls diese Frage verneint wird, würde das tatsächliche Gleichgewicht, durch das die Gleichheit der Vertragsparteien wiederhergestellt wird, erreicht werden, (i) wenn der Rechtsanwalt für die erbrachten Dienstleistungen nach dem im Vertrag festgelegten Stundensatz bezahlt würde, (ii) wenn dem Rechtsanwalt die Mindestkosten für juristische Dienstleistungen (z. B. jene, die in einer nationalen Rechtsvorschrift, d. h. Empfehlungen über den Höchstbetrag des Honorars für den von einem Rechtsanwalt geleisteten Beistand, festgelegt sind) gezahlt würden, (iii) wenn dem Rechtsanwalt für die Dienstleistungen ein angemessener Betrag gezahlt würde, der vom Gericht unter Berücksichtigung der Komplexität des Falles, der Qualifikationen und der Erfahrung des Rechtsanwalts, der finanziellen Situation des Mandanten und sonstiger relevanter Umstände festgesetzt wurde?

 Zu den Vorlagefragen

 Zu Frage 1

29      Mit Frage 1 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 93/13 dahin auszulegen ist, dass eine nicht im Einzelnen ausgehandelte Klausel eines zwischen einem Rechtsanwalt und einem Verbraucher geschlossenen Vertrags über die Erbringung von Rechtsdienstleistungen, nach der sich die Vergütung Letzterer nach dem Zeitaufwand richtet, unter „Hauptgegenstand des Vertrages“ im Sinne dieser Bestimmung fällt.

30      Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 93/13 begründet eine Ausnahme von dem im Rahmen des mit dieser Richtlinie geschaffenen Systems des Verbraucherschutzes vorgesehenen Verfahren zur Inhaltskontrolle missbräuchlicher Klauseln und ist daher eng auszulegen. Außerdem muss der in dieser Bestimmung verwendete Ausdruck „Hauptgegenstand des Vertrages“ grundsätzlich in der gesamten Europäischen Union eine autonome und einheitliche Auslegung erfahren, die unter Berücksichtigung des Kontexts der Bestimmung und des mit der betreffenden Regelung verfolgten Ziels gefunden werden muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. September 2017, Andriciuc u. a., C‑186/16, EU:C:2017:703, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31      Zum Begriff „Hauptgegenstand des Vertrages“ im Sinne von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 93/13 hat der Gerichtshof entschieden, dass darunter diejenigen Klauseln zu fassen sind, die die Hauptleistungen des Vertrags festlegen und diesen als solche charakterisieren. Hingegen können Klauseln mit akzessorischem Charakter gegenüber denen, die das Wesen des Vertragsverhältnisses selbst definieren, nicht unter den Begriff „Hauptgegenstand des Vertrages“ im Sinne von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 93/13 fallen (vgl. insbesondere Urteile vom 20. September 2017, Andriciuc u. a., C‑186/16, EU:C:2017:703, Rn. 35 und 36, sowie vom 22. September 2022, Vicente [Verfahren zur Vollstreckung von Anwaltshonoraren], C‑335/21, EU:C:2022:720, Rn. 78).

32      Im vorliegenden Fall betrifft die Klausel über die Vergütung die Vergütung der Rechtsdienstleistungen nach dem Zeitaufwand. Eine solche Klausel, mit der die Verpflichtung des Auftraggebers zur Zahlung der Vergütung des Rechtsanwalts festgelegt und die Höhe der Vergütung bestimmt wird, ist eine Klausel, die das Wesen des Vertragsverhältnisses selbst definiert. Denn das Vertragsverhältnis ist ja gerade durch die entgeltliche Erbringung von Rechtsdienstleistungen gekennzeichnet. Die Klausel fällt daher unter den Begriff „Hauptgegenstand des Vertrages“ im Sinne von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 93/13. Bei ihrer Beurteilung kann es auch auf „die Angemessenheit zwischen dem Preis bzw. dem Entgelt und den Dienstleistungen, die die Gegenleistung darstellen“ im Sinne dieser Bestimmung ankommen.

33      Insoweit ist unerheblich, dass die Klausel, wie aus Frage 1 hervorgeht, nicht im Einzelnen ausgehandelt wurde. Gehört eine Vertragsklausel zu denjenigen, die das Wesen des Vertragsverhältnisses selbst definieren, gilt dies nämlich unabhängig davon, ob sie im Einzelnen ausgehandelt wurde oder nicht.

34      Somit ist auf Frage 1 zu antworten, dass Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 93/13 dahin auszulegen ist, dass eine Klausel eines zwischen einem Rechtsanwalt und einem Verbraucher geschlossenen Vertrags über die Erbringung von Rechtsdienstleistungen, nach der sich die Vergütung Letzterer nach dem Zeitaufwand richtet, unter diese Bestimmung fällt.

 Zu den Fragen 2 und 3

35      Es bietet sich an, die Fragen 2 und 3 zusammen zu prüfen. Das vorlegende Gericht möchte im Wesentlichen wissen, ob Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 93/13 dahin auszulegen ist, dass eine Klausel eines zwischen einem Rechtsanwalt und einem Verbraucher geschlossenen Vertrags über die Erbringung von Rechtsdienstleistungen, nach der sich die Vergütung Letzterer nach dem Zeitaufwand richtet und die außer dem geltenden Stundensatz keine weiteren Erläuterungen oder Informationen enthält, dem Erfordernis gemäß dieser Bestimmung, dass die Klausel klar und verständlich abgefasst sein muss, genügt. Für den Fall, dass diese Frage zu verneinen sein sollte, möchte das vorlegende Gericht weiter wissen, welche Informationen dem Verbraucher erteilt werden müssen, wenn nicht vorhersehbar ist, wie viele Stunden tatsächlich erforderlich sind, um die Rechtsdienstleistungen zu erbringen, die Gegenstand des Vertrags sind, und ob, wenn diese Informationen vor dem Vertragsabschluss nicht erteilt worden sind, dieser Mangel während der Durchführung des Vertrags geheilt werden kann.

36      Was als Erstes das Erfordernis der Transparenz von Vertragsklauseln gemäß Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 93/13 angeht, hat der Gerichtshof entschieden, dass dieses Erfordernis, das auch in Art. 5 der Richtlinie zu finden ist, nicht auf die bloße Verständlichkeit einer Vertragsklausel in formeller und grammatikalischer Hinsicht beschränkt werden kann. Da das durch die Richtlinie 93/13 eingeführte Schutzsystem auf dem Gedanken beruht, dass der Verbraucher gegenüber dem Gewerbetreibenden u. a. einen geringeren Informationsstand besitzt, müssen das Erfordernis, dass die Vertragsklauseln klar und verständlich abgefasst sein müssen, und mithin das Transparenzerfordernis, das die Richtlinie auferlegt, vielmehr umfassend verstanden werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. März 2020, Gómez del Moral Guasch, C‑125/18, EU:C:2020:138, Rn. 46 und 50 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

37      Somit ist das Erfordernis, dass eine Vertragsklausel klar und verständlich abgefasst sein muss, so zu verstehen, dass der Vertrag die konkrete Funktionsweise des Verfahrens, auf das die betreffende Klausel Bezug nimmt, und gegebenenfalls das Verhältnis zwischen diesem und dem durch andere Klauseln vorgeschriebenen Verfahren in transparenter Weise darstellen muss, damit der betroffene Verbraucher in der Lage ist, die sich für ihn daraus ergebenden wirtschaftlichen Folgen auf der Grundlage genauer und nachvollziehbarer Kriterien einzuschätzen (Urteile vom 20. September 2017, Andriciuc u. a., C‑186/16, EU:C:2017:703, Rn. 45, und vom 16. Juli 2020, Caixabank und Banco Bilbao Vizcaya Argentaria, C‑224/19 und C‑259/19, EU:C:2020:578, Rn. 67 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38      Entsprechend ist die Prüfung, ob eine Klausel wie die, um die es im Ausgangsverfahren geht, im Sinne der Richtlinie 93/13 „klar und verständlich“ ist, vom nationalen Gericht anhand aller relevanten Tatsachen vorzunehmen. Das nationale Gericht hat insbesondere unter Berücksichtigung aller den Vertragsabschluss begleitenden Umstände zu prüfen, ob dem Verbraucher sämtliche Tatsachen mitgeteilt wurden, die sich auf den Umfang seiner Verpflichtung auswirken könnten und ihm erlauben, die finanziellen Folgen seiner Verpflichtung einzuschätzen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. März 2020, Gómez del Moral Guasch, C‑125/18, EU:C:2020:138, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).

39      Was als Zweites den Zeitpunkt angeht, zu dem dem Verbraucher entsprechende Informationen zu erteilen sind, hat der Gerichtshof entschieden, dass es für den Verbraucher von grundlegender Bedeutung ist, dass er vor Abschluss des Vertrags über die Vertragsbedingungen und die Folgen des Vertragsschlusses informiert wird. Namentlich auf der Grundlage dieser Information entscheidet er, ob er durch die vom Gewerbetreibenden vorformulierten Bedingungen gebunden sein möchte (Urteil vom 9. Juli 2020, Ibercaja Banco, C‑452/18, EU:C:2020:536, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).

40      Wie aus dem Vorlagebeschluss hervorgeht, ist im vorliegenden Fall in der Klausel über die Vergütung lediglich bestimmt, dass der Gewerbetreibende als Vergütung für jede Stunde, in der er Rechtsdienstleistungen erbringt, 100 Euro erhält. Ohne weitere Angaben des Gewerbetreibenden ist ein normal informierter und angemessen aufmerksamer und verständiger Durchschnittsverbraucher bei einem solchen Mechanismus der Festsetzung der Vergütung nicht in der Lage, die finanziellen Folgen der Klausel über die Vergütung, nämlich die für die Dienstleistungen insgesamt zu zahlende Vergütung, einzuschätzen.

41      Wegen der Art der Dienstleistungen, die Gegenstand eines Vertrags über die Erbringung von Rechtsdienstleistungen sind, ist es für den Gewerbetreibenden zwar oft schwer, wenn nicht sogar unmöglich, bei Vertragsschluss vorherzusehen, wie viele Stunden genau erforderlich sind, um die Rechtsdienstleistungen zu erbringen, und somit welche Vergütung hierfür insgesamt zu zahlen ist.

42      Außerdem hat der Gerichtshof entschieden, dass die Einhaltung des in Art. 4 Abs. 2 und Art. 5 der Richtlinie 93/13 genannten Transparenzerfordernisses durch einen Gewerbetreibenden anhand der Gesichtspunkte zu beurteilen ist, über die der Gewerbetreibende zum Zeitpunkt des Abschlusses des Vertrags, den er mit dem Verbraucher geschlossen hat, verfügte (Urteil vom 9. Juli 2020, Ibercaja Banco, C‑452/18, EU:C:2020:536, Rn. 49).

43      Aber auch wenn von einem Gewerbetreibenden nicht verlangt werden kann, dass er den Verbraucher über die endgültigen finanziellen Folgen der von ihm eingegangenen Verpflichtung informiert, die von unvorhersehbaren zukünftigen Ereignissen abhängen, auf die der Gewerbetreibende keinen Einfluss hat, müssen die Informationen, die der Gewerbetreibende vor Vertragsabschluss zu erteilen hat, den Verbraucher in die Lage versetzen, seine Entscheidung mit Bedacht und in voller Kenntnis zum einen des Umstands, dass solche Ereignisse eintreten können, und zum anderen der Folgen, die solche Ereignisse während der Dauer der Erbringung der betreffenden Rechtsdienstleistungen haben können, zu treffen.

44      In diesen Informationen – die je nach Gegenstand und Art der in den Vertrag über die Erbringung von Rechtsdienstleistungen vorgesehenen Leistungen und je nach den einschlägigen berufs- und standesrechtlichen Vorschriften unterschiedlich ausfallen können – müssen Angaben enthalten sein, anhand deren der Verbraucher die Gesamtkosten der Rechtsdienstleistungen der Größenordnung nach einzuschätzen vermag, etwa eine Schätzung der Stunden, die voraussichtlich oder mindestens erforderlich sind, um eine bestimmte Dienstleistung zu erbringen, oder die Verpflichtung, in angemessenen Zeitabständen Rechnungen oder regelmäßige Aufstellungen zu übermitteln, in denen die aufgewandten Arbeitsstunden ausgewiesen sind. Wie bereits ausgeführt (siehe oben, Rn. 38), hat das nationale Gericht unter Berücksichtigung aller den Vertragsabschluss begleitenden Umstände zu beurteilen, ob der Verbraucher durch die ihm vor Vertragsabschluss vom Gewerbetreibenden erteilten Informationen in die Lage versetzt worden ist, seine Entscheidung mit Bedacht und in voller Kenntnis der finanziellen Folgen des Vertragsabschlusses zu treffen.

45      Somit ist auf die Fragen 2 und 3 zu antworten, dass Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 93/13 dahin auszulegen ist, dass eine Klausel eines zwischen einem Rechtsanwalt und einem Verbraucher geschlossenen Vertrags über die Erbringung von Rechtsdienstleistungen, nach der sich die Vergütung Letzterer nach dem Zeitaufwand richtet, dem Erfordernis gemäß dieser Bestimmung, dass die Klausel klar und verständlich abgefasst sein muss, nicht genügt, wenn dem Verbraucher vor Vertragsabschluss nicht die Informationen erteilt worden sind, die ihn in die Lage versetzt hätten, seine Entscheidung mit Bedacht und in voller Kenntnis der wirtschaftlichen Folgen des Vertragsabschlusses zu treffen.

 Zu Frage 4

46      Mit Frage 4 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 dahin auszulegen ist, dass eine Klausel eines zwischen einem Rechtsanwalt und einem Verbraucher geschlossenen Vertrags über die Erbringung von Rechtsdienstleistungen, nach der sich die Vergütung Letzterer nach dem Zeitaufwand richtet und die daher den Hauptgegenstand des Vertrags betrifft, bereits deshalb, weil sie dem Transparenzerfordernis gemäß Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie nicht entspricht, als missbräuchlich anzusehen ist.

47      Zu Art. 5 der Richtlinie 93/13 hat der Gerichtshof entschieden, dass die Transparenz einer Vertragsklausel einen der Gesichtspunkte darstellt, die bei der vom nationalen Gericht anhand von Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie vorzunehmenden Beurteilung der Missbräuchlichkeit der Klausel zu berücksichtigen sind. Bei dieser Beurteilung hat das nationale Gericht unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände der Rechtssache zunächst zu prüfen, ob ein Verstoß gegen das Gebot von Treu und Glauben vorliegt, und dann, ob zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches Missverhältnis im Sinne dieser Bestimmung besteht (Urteil vom 3. Oktober 2019, Kiss und CIB Bank, C‑621/17, EU:C:2019:820, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).

48      Nach der oben in Rn. 36 dargestellten Rechtsprechung hat das Erfordernis der Transparenz der Vertragsklauseln gemäß Art. 4 Abs. 2 und gemäß Art. 5 der Richtlinie 93/13 dieselbe Tragweite (vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 30. April 2014, Kásler und Káslerné Rábai, C‑26/13, EU:C:2014:282, Rn. 69). Die Folgen der fehlenden Transparenz einer Vertragsklausel sind mithin nicht unterschiedlich zu behandeln, je nachdem ob diese den Hauptgegenstand oder einen anderen Gesichtspunkt des Vertrags betrifft.

49      Nach der oben in Rn. 47 dargestellten Rechtsprechung ist die Missbräuchlichkeit einer Klausel eines Verbrauchervertrags zwar grundsätzlich im Wege einer Gesamtwürdigung zu beurteilen, bei der nicht nur die fehlende Transparenz der Klausel berücksichtigt wird. Nach Art. 8 der Richtlinie 93/13 können die Mitgliedstaaten aber ein höheres Schutzniveau für die Verbraucher gewährleisten.

50      Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass sich die Republik Litauen, wie aus dem Vorlagebeschluss und den Erklärungen der litauischen Regierung hervorgeht, dafür entschieden hat, ein höheres Schutzniveau zu gewährleisten. Nach Art. 6.2284 Abs. 6 des Zivilgesetzbuchs sind Klauseln, die dem Transparenzerfordernis nicht genügen, nämlich als missbräuchlich anzusehen.

51      Da es den Mitgliedstaaten freisteht, in ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften ein höheres Schutzniveau vorzusehen, steht die Richtlinie 93/13, nach der eine Klausel eines Verbrauchervertrags bei fehlender Transparenz nicht automatisch für missbräuchlich zu erklären ist, nicht dem entgegen, dass sich diese Rechtsfolge aus den innerstaatlichen Rechtsvorschriften ergibt.

52      Somit ist auf Frage 4 zu antworten, dass Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 dahin auszulegen ist, dass eine Klausel eines zwischen einem Rechtsanwalt und einem Verbraucher geschlossenen Vertrags über die Erbringung von Rechtsdienstleistungen, nach der sich die Vergütung Letzterer nach dem Zeitaufwand richtet und die daher den Hauptgegenstand des Vertrags betrifft, nicht bereits deshalb, weil sie dem Transparenzerfordernis gemäß Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie nicht entspricht, als missbräuchlich anzusehen ist, es sei denn, der Mitgliedstaat, dessen innerstaatliches Recht auf den betreffenden Vertrag anwendbar ist, hat dies gemäß Art. 8 der Richtlinie ausdrücklich vorgesehen.

 Zu den Fragen 5 und 6

53      Es bietet sich an, die Fragen 5 und 6 zusammen zu prüfen. Das vorlegende Gericht möchte im Wesentlichen wissen, ob Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 dahin auszulegen sind, dass sie in Fällen, in denen ein zwischen einem Rechtsanwalt und einem Verbraucher geschlossener Vertrag über die Erbringung von Rechtsdienstleistungen nach der Aufhebung einer für missbräuchlich erklärten Klausel, nach der sich die Vergütung für die betreffenden Dienstleistungen nach dem Zeitaufwand richtet, nicht fortbestehen kann und in denen die Dienstleistungen bereits erbracht sind, dem entgegenstehen, dass das nationale Gericht auch dann, wenn dies dazu führt, dass der Gewerbetreibende für seine Dienstleistungen überhaupt keine Vergütung erhält, die Lage wiederherstellt, in der sich der Verbraucher ohne die Klausel befunden hätte, oder die Klausel durch eine Vorschrift des innerstaatlichen Rechts über die höchst zulässige Vergütung für die Beratung oder Vertretung durch einen Rechtsanwalt oder durch seine eigene Beurteilung der Höhe der Vergütung, die es für die betreffenden Dienstleistungen für angemessen hält, ersetzt.

54      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs muss es die Feststellung der Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel ermöglichen, dass die Sach- und Rechtslage wiederhergestellt wird, in der sich der Verbraucher ohne die missbräuchliche Klausel befunden hätte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 31. Mai 2018, Sziber, C‑483/16, EU:C:2018:367, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

55      Gemäß Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 obliegt es dem nationalen Gericht, die missbräuchlichen Klauseln für unanwendbar zu erklären, damit sie den Verbraucher nicht binden, sofern der Verbraucher dem nicht widerspricht. Der Vertrag muss jedoch – abgesehen von der Änderung, die sich aus der Aufhebung der missbräuchlichen Klauseln ergibt – grundsätzlich unverändert fortbestehen, soweit dies nach den Vorschriften des innerstaatlichen Rechts rechtlich möglich ist (Urteil vom 25. November 2020, Banca B., C‑269/19, EU:C:2020:954, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

56      Wenn ein zwischen einem Gewerbetreibenden und einem Verbraucher geschlossener Vertrag nach Aufhebung einer missbräuchlichen Klausel nicht fortbestehen kann, hindert Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 das nationale Gericht nicht daran, die missbräuchliche Klausel wegfallen zu lassen und sie in Anwendung vertragsrechtlicher Grundsätze durch eine dispositive Vorschrift des nationalen Rechts zu ersetzen, wenn die Nichtigerklärung der missbräuchlichen Klausel das Gericht zwingen würde, den Vertrag insgesamt für nichtig zu erklären, was für den Verbraucher besonders nachteilige Folgen hätte, so dass dieser dadurch geschädigt würde (Urteil vom 25. November 2020, Banca B., C‑269/19, EU:C:2020:954, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

57      Im vorliegenden Fall fragt sich das vorlegende Gericht, welche Folgen es hätte, wenn die Klausel über die Vergütung für missbräuchlich erklärt würde. Es weist zum einen darauf hin, dass die Verträge, um die es im Ausgangsverfahren geht, ohne die Klausel über die Vergütung nicht fortbestehen könnten, und zum anderen darauf, dass die Lage, in der sich der Verbraucher ohne die Klausel befunden hätte, nicht wiederhergestellt werden könne, da die in den Verträgen vorgesehenen Rechtsdienstleistungen bereits erbracht worden seien.

58      Nach der oben in den Rn. 54 bis 56 dargestellten Rechtsprechung ist das nationale Gericht, wenn es die Missbräuchlichkeit der Klausel über die Vergütung feststellt, verpflichtet, diese für unanwendbar zu erklären, sofern der Verbraucher dem nicht widerspricht. Die Wiederherstellung der Lage, in der sich der Verbraucher ohne die Klausel befunden hätte, erfolgt grundsätzlich dadurch, dass der Verbraucher von der Verpflichtung befreit wird, die gemäß der Klausel berechnete Vergütung zu zahlen. Dies gilt auch in Fällen, in denen die Dienstleistungen bereits erbracht worden sind.

59      Sollte das vorlegende Gericht zu der Einschätzung gelangen, dass die Verträge nach der Aufhebung der Klausel über die Vergütung nach den einschlägigen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts nicht fortbestehen können, steht Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 der Nichtigerklärung der Verträge daher nicht entgegen, und zwar auch dann nicht, wenn dies bedeuten würde, dass der Gewerbetreibende für seine Dienstleistungen überhaupt keine Vergütung erhält.

60      Nur falls die Nichtigerklärung der Verträge insgesamt für den Verbraucher besonders nachteilige Folgen hätte, so dass er bestraft würde, ist das vorlegende Gericht ausnahmsweise befugt, eine für nichtig erklärte missbräuchliche Klausel durch eine dispositive oder im Fall einer entsprechenden Vereinbarung der Vertragsparteien anwendbare Vorschrift des innerstaatlichen Rechts zu ersetzen.

61      Was die möglichen Folgen der Nichtigerklärung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verträge für den Verbraucher angeht, hat der Gerichtshof zu einem Darlehensvertrag entschieden, dass die Nichtigerklärung des Vertrags insgesamt grundsätzlich bedeuten würde, dass der noch offene Darlehensbetrag sofort in einem Umfang fällig wird, der die finanzielle Leistungsfähigkeit des Verbrauchers möglicherweise übersteigt, und für den Verbraucher besonders nachteilige Folgen haben könnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. März 2020, Gómez del Moral Guasch, C‑125/18, EU:C:2020:138, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung). Bei der Beurteilung der Frage, ob die Nichtigerklärung eines Vertrags besonders nachteilige Folgen hat, ist aber nicht lediglich auf die rein wirtschaftlichen Folgen abzustellen.

62      Wie der Generalanwalt in den Nrn. 74 und 76 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist nämlich durchaus denkbar, dass die Nichtigerklärung eines Vertrags über die Erbringung von Rechtsdienstleistungen, die bereits erbracht worden sind, für den Verbraucher Rechtsunsicherheit bedeuten kann, insbesondere in Fällen, in denen der Gewerbetreibende die Vergütung der Dienstleistungen nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften auf einer anderen Grundlage als dem für nichtig erklärten Vertrag verlangen kann. Außerdem kann sich die Nichtigkeit des Vertrags nach den einschlägigen innerstaatlichen Rechtsvorschriften möglicherweise auf die Gültigkeit und Wirksamkeit der auf der Grundlage des Vertrags vorgenommenen Handlungen auswirken.

63      Sollte das vorlegende Gericht in Anbetracht der vorstehenden Ausführungen zu dem Schluss gelangen, dass die Nichtigerklärung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verträge insgesamt für den Verbraucher besonders nachteilige Folgen hätte, stünde Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 daher nicht dem entgegen, dass das vorlegende Gericht die Klausel über die Vergütung durch eine dispositive oder im Fall einer entsprechenden Vereinbarung der Vertragsparteien anwendbare Vorschrift des innerstaatlichen Rechts ersetzt. Eine solche Vorschrift muss aber für eine Anwendung speziell auf Verträge zwischen Gewerbetreibenden und Verbrauchern bestimmt sein und darf nicht so allgemein sein, dass ihre Anwendung darauf hinauslaufen würde, dass das nationale Gericht für die erbrachten Dienstleistungen letztlich eine Vergütung festsetzen könnte, die es selbst für angemessen hält (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. September 2022, D.B.P. u. a. [Auf eine Fremdwährung lautendes Hypothekendarlehen], C‑80/21 bis C‑82/21, EU:C:2022:646, Rn. 76 und 77 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

64      Falls die im Vorlagebeschluss angesprochene Verordnung vom 2. April 2004 eine solche Vorschrift enthalten sollte – was das vorlegende Gericht zu prüfen haben wird –, könnte diese Verordnung herangezogen werden, um die Klausel über die Vergütung durch eine vom Gericht festgesetzte Vergütung zu ersetzen.

65      Hingegen darf das vorlegende Gericht die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verträge nicht anpassen, indem es selbst bestimmt, welche Vergütung für die erbrachten Dienstleistungen angemessen ist.

66      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs kann das nationale Gericht, wenn es die Nichtigkeit einer missbräuchlichen Klausel in einem Vertrag zwischen einem Gewerbetreibenden und einem Verbraucher feststellt, den Vertrag nämlich nicht durch Abänderung des Inhalts dieser Klausel anpassen (Urteil vom 25. November 2020, Banca B., C‑269/19, EU:C:2020:954, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

67      Stünde es dem nationalen Gericht frei, den Inhalt der missbräuchlichen Klauseln in einem solchen Vertrag abzuändern, könnte eine derartige Befugnis die Verwirklichung des langfristigen Ziels gefährden, das mit Art. 7 der Richtlinie 93/13 verfolgt wird. Sie trüge dazu bei, den Abschreckungseffekt zu beseitigen, der für die Gewerbetreibenden darin besteht, dass solche missbräuchlichen Klauseln gegenüber dem Verbraucher schlicht unangewendet bleiben; die Gewerbetreibenden blieben nämlich versucht, die betreffenden Klauseln zu verwenden, wenn sie wüssten, dass der Vertrag, selbst wenn die Klauseln für nichtig erklärt werden sollten, gleichwohl im erforderlichen Umfang vom nationalen Gericht angepasst werden könnte, so dass ihr Interesse auf diese Art und Weise gewahrt würde (Urteil vom 18. November 2021, A. S.A., C‑212/20, EU:C:2021:934, Rn. 69 und die dort angeführte Rechtsprechung).

68      Nach alledem ist auf die Fragen 5 und 6 zu antworten, dass Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 dahin auszulegen sind, dass sie in Fällen, in denen ein zwischen einem Rechtsanwalt und einem Verbraucher geschlossener Vertrag über die Erbringung von Rechtsdienstleistungen nach der Aufhebung einer für missbräuchlich erklärten Klausel, nach der sich die Vergütung für die betreffenden Dienstleistungen nach dem Zeitaufwand richtet, nicht fortbestehen kann und in denen die Dienstleistungen bereits erbracht sind, nicht dem entgegenstehen, dass das nationale Gericht, auch dann, wenn dies dazu führt, dass der Gewerbetreibende für seine Dienstleistungen überhaupt keine Vergütung erhält, die Lage wiederherstellt, in der sich der Verbraucher ohne die Klausel befunden hätte. Hätte die Nichtigerklärung des Vertrags insgesamt für den Verbraucher besonders nachteilige Folgen – was das vorlegende Gericht zu prüfen haben wird –, stehen die genannten Vorschriften nicht dem entgegen, dass das nationale Gericht der Nichtigkeit der Klausel abhilft, indem es sie durch eine dispositive oder im Fall einer entsprechenden Vereinbarung der Vertragsparteien anwendbare Vorschrift des innerstaatlichen Rechts ersetzt. Hingegen stehen die genannten Vorschriften dem entgegen, dass das nationale Gericht die für nichtig erklärte missbräuchliche Klausel ersetzt, indem es selbst bestimmt, welche Vergütung für die betreffenden Dienstleistungen angemessen ist.

 Kosten

69      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen in der durch die Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2011 geänderten Fassung

ist wie folgt auszulegen:

Eine Klausel eines zwischen einem Rechtsanwalt und einem Verbraucher geschlossenen Vertrags über die Erbringung von Rechtsdienstleistungen, nach der sich die Vergütung Letzterer nach dem Zeitaufwand richtet, fällt unter diese Bestimmung.

2.      Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 93/13 in der durch die Richtlinie 2011/83 geänderten Fassung

ist wie folgt auszulegen:

Eine Klausel eines zwischen einem Rechtsanwalt und einem Verbraucher geschlossenen Vertrags über die Erbringung von Rechtsdienstleistungen, nach der sich die Vergütung Letzterer nach dem Zeitaufwand richtet, genügt nicht dem Erfordernis gemäß dieser Bestimmung, dass die Klausel klar und verständlich abgefasst sein muss, wenn dem Verbraucher vor Vertragsabschluss nicht die Informationen erteilt worden sind, die ihn in die Lage versetzt hätten, seine Entscheidung mit Bedacht und in voller Kenntnis der wirtschaftlichen Folgen des Vertragsabschlusses zu treffen.

3.      Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 in der durch die Richtlinie 2011/83 geänderten Fassung

ist wie folgt auszulegen:

Eine Klausel eines zwischen einem Rechtsanwalt und einem Verbraucher geschlossenen Vertrags über die Erbringung von Rechtsdienstleistungen, nach der sich die Vergütung Letzterer nach dem Zeitaufwand richtet und die daher den Hauptgegenstand des Vertrags betrifft, ist nicht bereits deshalb, weil sie dem Transparenzerfordernis gemäß Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie in der geänderten Fassung nicht entspricht, als missbräuchlich anzusehen, es sei denn, der Mitgliedstaat, dessen innerstaatliches Recht auf den betreffenden Vertrag anwendbar ist, hat dies gemäß Art. 8 der Richtlinie in der geänderten Fassung ausdrücklich vorgesehen.

4.      Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 in der durch die Richtlinie 2011/83 geänderten Fassung

sind wie folgt auszulegen:

In Fällen, in denen ein zwischen einem Rechtsanwalt und einem Verbraucher geschlossener Vertrag über die Erbringung von Rechtsdienstleistungen nach der Aufhebung einer für missbräuchlich erklärten Klausel, nach der sich die Vergütung für die betreffenden Dienstleistungen nach dem Zeitaufwand richtet, nicht fortbestehen kann und in denen die Dienstleistungen bereits erbracht sind, stehen nicht dem entgegen, dass das nationale Gericht, auch dann, wenn dies dazu führt, dass der Gewerbetreibende für seine Dienstleistungen überhaupt keine Vergütung erhält, die Lage wiederherstellt, in der sich der Verbraucher ohne die Klausel befunden hätte. Hätte die Nichtigerklärung des Vertrags insgesamt für den Verbraucher besonders nachteilige Folgen – was das vorlegende Gericht zu prüfen haben wird –, stehen die genannten Vorschriften nicht dem entgegen, dass das nationale Gericht der Nichtigkeit der Klausel abhilft, indem es sie durch eine dispositive oder im Fall einer entsprechenden Vereinbarung der Vertragsparteien anwendbare Vorschrift des innerstaatlichen Rechts ersetzt. Hingegen stehen die genannten Vorschriften dem entgegen, dass das nationale Gericht die für nichtig erklärte missbräuchliche Klausel ersetzt, indem es selbst bestimmt, welche Vergütung für die betreffenden Dienstleistungen angemessen ist.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Litauisch.

Pandemiefolgen bei Sperrzeit zu berücksichtigen

Wird eine abhängige Beschäftigung zwecks Wiederaufnahme einer pandemiebedingt aufgegebenen Selbstständigkeit gekündigt, liegt zumindest ein Härtefall vor.

Dies hat das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG) mit Beschluss vom 01.09.2022 entschieden (Az. L 9 AL 106/22 B ER).

Der Antragsteller war seit 2000 mit einer Eventagentur selbstständig. Er stellte diese Tätigkeit aufgrund der mit der Corona-Pandemie verbundenen Einschränkungen im Veranstaltungssektor 2020 ein. Am 31.01. kündigte er das zwischenzeitlich begründete Arbeitsverhältnis als Berufskraftfahrer zum 28.02.2022 und meldete sich arbeitslos. Die Bundesagentur für Arbeit als Antragsgegnerin stellte den Eintritt einer zwölfwöchigen Sperrzeit und das Ruhen des Anspruchs auf Arbeitslosengeld in diesem Zeitraum (01.03. bis 23.05.2022) fest. Gegen den Sperrzeitbescheid erhob der Antragsteller Klage, die noch anhängig ist. Das SG Aachen lehnte seinen parallelen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ab.

Auf seine Beschwerde hat das LSG die aufschiebende Wirkung der Klage für die Zeit ab 13.04.2022 angeordnet und die Antragsgegnerin verpflichtet, ihm bis 23.05.2022 Arbeitslosengeld zu zahlen. Hinsichtlich der ersten 6 Wochen der Sperrzeit (01.03. bis 12.04.2022) hat es die Beschwerde zurückgewiesen. Es bestünden so große Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides jedenfalls für die Zeit ab dem 13.04.2022, dass dessen Vollzug insoweit auszusetzen sei. Zwar habe der Antragsteller durch seine Kündigung die Arbeitslosigkeit selbst herbeigeführt. Fraglich sei aber bereits, ob dies grob fahrlässig erfolgt sei. Der Antragsteller habe nach Aktenlage im Januar 2022 noch davon ausgehen dürfen, dass er ab März 2022 wieder mit der Eventagentur tätig werden könne. Aber auch wenn angesichts der unsicheren Pandemielage Anfang des Jahres 2022 von einer grob fahrlässigen Herbeiführung ausgegangen werden sollte, sei die Annahme einer besonderen Härte mit der Folge einer Verkürzung der Sperrzeit auf 6 Wochen geboten. Es sei mindestens unverhältnismäßig hart, den Versuch eines vor der pandemiebedingten Schließung seines Geschäfts erfolgreich selbstständig Tätigen, diese Tätigkeit wiederaufzunehmen, mit der Regelsperrzeit von 12 Wochen zu sanktionieren, wenn – wie hier – ein berechtigter Grund zu der Annahme vorliege, dass die selbstständige Tätigkeit wiederaufgenommen werden könne. Abschließend sei im Klageverfahren zu prüfen, ob der Antragsteller sich zudem auf einen wichtigen Grund berufen könne.

Quelle: LSG Nordrhein-Westfalen, Pressemitteilung vom 20.01.2023 zum Beschluss L 9 AL 106/22 B ER vom 01.09.2022

Stand der Doppelbesteuerungsabkommen am 01.01.2023

Das BMF hat eine Übersicht über den gegenwärtigen Stand der Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) und anderer Abkommen im Steuerbereich sowie der Abkommensverhandlungen veröffentlicht.

Durch das am 07.06.2017 unterzeichnete Mehrseitige Übereinkommen vom 24.11.2016 zur Umsetzung steuerabkommensbezogener Maßnahmen zur Verhinderung der Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung (MÜ) soll eine Modifikation der von ihm erfassten Steuerabkommen entsprechend den von den jeweiligen Vertragsstaaten bei ihrer Ratifikation des MÜ getroffenen Auswahlentscheidungen erfolgen.

Von deutscher Seite wurden die Steuerabkommen mit den folgenden Staaten für eine Modifikation durch das MÜ benannt: Frankreich, Griechenland, Italien, Japan, Kroatien, Luxemburg, Malta, Österreich, Rumänien, Slowakei, Spanien, Tschechien, Türkei und Ungarn.

Das MÜ wurde nach Zustimmung der deutschen gesetzgebenden Körperschaften (BGBl. II 2020 S. 946) im Dezember 2020 ratifiziert und trat für die Bundesrepublik Deutschland am 01.04.2021 in Kraft. Aufgrund der von der deutschen Seite getroffenen Auswahlentscheidung zu Artikel 35 Absatz 7 MÜ wird die Modifikation eines vom MÜ erfassten Steuerabkommens aus Gründen der Rechtssicherheit und -klarheit jedoch erst nach Abschluss eines nachfolgenden Anwendungsgesetzgebungsverfahrens und entsprechender Notifizierung gegenüber der OECD als Verwahrer des MÜ wirksam werden.

Quelle: BMF, Schreiben (koordinierter Ländererlass) IV B 2 – S-1301 / 21 / 10048 :002 vom 18.01.2023

EuGH zu Ausschließlichkeitsklauseln in Vertriebsverträgen

Missbrauch einer beherrschenden Stellung: Ausschließlichkeitsklauseln in Vertriebsverträgen müssen geeignet sein, Verdrängungswirkungen zu entfalten.

Die Wettbewerbsbehörde ist verpflichtet, die tatsächliche Eignung zur Verdrängung auch unter Berücksichtigung der Beweise zu prüfen, die von dem Unternehmen in beherrschender Stellung vorgelegt wurden.

Mit Entscheidung vom 31. Oktober 2017 stellte die italienische Wettbewerbs- und Marktaufsichtsbehörde (im Folgenden: AGCM)1 fest, dass die Italia Mkt. Operations Srl (im Folgenden: Unilever) ihre beherrschende Stellung auf dem italienischen Markt für den Vertrieb von Speiseeis in Einzelverpackungen, das für den Konsum „Außer-Haus“, d. h. nicht im Haushalt des Verbrauchers, sondern an verschiedenen Verkaufsstellen, bestimmt sei, missbraucht habe.

Der Unilever vorgeworfene Missbrauch beruhte auf einem Verhalten, das tatsächlich nicht von dieser Gesellschaft, sondern von unabhängigen Vertriebshändlern ihrer Produkte, die den Betreibern der Verkaufsstellen Ausschließlichkeitsklauseln auferlegt hatten, begangen wurde. Die AGCM war u. a. der Ansicht, dass die Praktiken, die Gegenstand der Untersuchung waren, die Möglichkeit der konkurrierenden Wirtschaftsteilnehmer, in einen auf den Vorzügen ihrer Produkte beruhenden Wettbewerb zu treten, ausgeschlossen oder zumindest erschwert habe.

In diesem Rahmen fühlte sie sich nicht verpflichtet, die wirtschaftlichen Analysen zu prüfen, die Unilever vorgelegt hatte, um nachzuweisen, dass die untersuchten Praktiken nicht die Wirkung hatten, mindestens ebenso leistungsfähige Wettbewerber vom Markt zu verdrängen, da diese Analysen bei Ausschließlichkeitsklauseln völlig irrelevant seien und die Verwendung solcher Klauseln durch ein Unternehmen in beherrschender Stellung ausreiche, um einen Missbrauch dieser Stellung festzustellen. Dementsprechend verhängte die AGCM gegen Unilever eine Geldbuße in Höhe von 60.668.580 Euro wegen Missbrauchs ihrer beherrschenden Stellung unter Verstoß gegen Art. 102 AEUV.

Die gegen diese Entscheidung erhobene Klage wurde vom erstinstanzlichen Gericht in vollem Umfang abgewiesen. Der Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien), der mit einem Rechtsmittel befasst wurde, legte dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung nach der Auslegung und der Anwendung des Wettbewerbsrechts der Union im Hinblick auf die Entscheidung der AGCM vor.

Mit seinem Urteil konkretisiert der Gerichtshof die Modalitäten der Durchführung des Verbots des Missbrauchs einer beherrschenden Stellung nach Art. 102 TAEUV angesichts eines beherrschenden Unternehmens, dessen Vertriebsnetz ausschließlich vertraglich organisiert ist, und erläutert in diesem Zusammenhang die Beweislast der nationalen Wettbewerbsbehörde.

Würdigung durch den Gerichtshof

Zunächst stellt der Gerichtshof fest, dass das missbräuchliche Verhalten von Vertriebshändlern, die Teil des Vertriebsnetzes eines Herstellers in beherrschender Stellung, wie Unilever, sind, diesem nach Art. 102 AEUV zugerechnet werden kann, wenn feststeht, dass dieses Verhalten von den Vertriebshändlern nicht selbständig angenommen wurde, sondern Teil einer einseitig von diesem Hersteller beschlossenen und mittels dieser Vertriebshändler umgesetzten Politik ist. In einem solchen Fall sind nämlich die Vertriebshändler und folglich auch das Vertriebsnetz, das sie mit dem beherrschenden Unternehmen bilden, als bloßes Instrument zur territorialen Verbreitung der Geschäftspolitik dieses Unternehmens und damit als Instrument anzusehen, mit dem die fragliche Verdrängungspraxis gegebenenfalls umgesetzt worden ist. Dies gilt insbesondere dann, wenn – wie im vorliegenden Fall – die Vertriebshändler eines Herstellers in beherrschender Stellung die Betreiber der Verkaufsstellen Standardverträge, die von diesem Hersteller bereitgestellt wurden und zugunsten seiner Produkte Ausschließlichkeitsklauseln enthalten, unterzeichnen lassen müssen.

Dann antwortet der Gerichtshof auf die Frage, ob die zuständige Wettbewerbsbehörde in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens für die Anwendung von Art. 102 AEUV nachweisen muss, dass die Ausschließlichkeitsklauseln in Vertriebsverträgen die Wirkung haben, ebenso leistungsfähige Wettbewerber wie das Unternehmen in beherrschender Stellung vom Markt auszuschließen, und ob diese Behörde verpflichtet ist, die von diesem Unternehmen vorgelegten wirtschaftlichen Analysen eingehend zu prüfen, insbesondere wenn sie auf dem Test des „ebenso leistungsfähigen Wettbewerbers“ beruhen.

Dazu weist der Gerichtshof darauf hin, dass ein Missbrauch einer beherrschenden Stellung insbesondere dann nachgewiesen werden kann, wenn das vorgeworfene Verhalten für ebenso leistungsfähige Wettbewerber wie den Urheber dieses Verhaltens in Bezug auf die Kostenstruktur, die Innovationsfähigkeit oder die Qualität Verdrängungswirkung entfaltet hat oder wenn dieses Verhalten auf der Nutzung anderer Mittel als derjenigen beruhte, die zu einem „normalen“ Wettbewerb, d. h. einem Leistungswettbewerb, gehören. Im Allgemeinen obliegt es den Wettbewerbsbehörden, die Missbräuchlichkeit eines Verhaltens unter Berücksichtigung aller relevanten tatsächlichen Umstände des fraglichen Verhaltens nachzuweisen, was diejenigen einschließt, die durch die vom Unternehmen in beherrschender Stellung zur Verteidigung vorgelegten Beweise hervorgehoben werden.

Um die Missbräuchlichkeit eines Verhaltens nachzuweisen, muss eine Wettbewerbsbehörde zwar nicht notwendigerweise beweisen, dass dieses Verhalten tatsächlich wettbewerbswidrige Wirkungen erzeugt hat. Daher kann eine Wettbewerbsbehörde einen Verstoß gegen Art. 102 AEUV feststellen, indem sie nachweist, dass das in Rede stehende Verhalten in dem Zeitraum, in dem es stattgefunden hat, unter den Umständen des konkreten Falls trotz seiner fehlenden Wirkung in der Lage war, den Leistungswettbewerb zu beschränken.

Dieser Nachweis muss jedoch grundsätzlich auf greifbare Beweise gestützt sein, die, indem sie über eine bloße Annahme hinausgehen, die tatsächliche Eignung der in Rede stehenden Praxis zeigen, solche Wirkungen zu entfalten, wobei, falls Zweifel daran bestehen, diese dem Unternehmen, das eine solche Praxis anwendet, zugutekommen müssen.

Eine Wettbewerbsbehörde kann sich zwar für die Beurteilung der Frage, ob das Verhalten eines Unternehmens geeignet ist, den Wettbewerb zu beschränken, auf die Erkenntnisse der Wirtschaftswissenschaften stützen, die durch empirische oder verhaltensbezogene Studien bestätigt werden, doch sind andere Faktoren, die den Umständen des konkreten Falles eigen sind, wie der Umfang dieses Marktverhaltens, die Kapazitätsengpässe der Rohstofflieferanten oder die Tatsache, dass das Unternehmen in beherrschender Stellung zumindest für einen Teil der Nachfrage ein unvermeidbarer Partner ist, bei der Prüfung der Frage zu berücksichtigen, ob das fragliche Verhalten in Anbetracht dieser Erkenntnisse so zu verstehen ist, dass es geeignet war, Verdrängungseffekte auf dem betreffenden Markt zu entfalten.

In diesem Zusammenhang geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs speziell in Bezug auf die Verwendung von Ausschließlichkeitsklauseln hervor, dass Klauseln, mit denen sich Vertragspartner verpflichtet haben, ihren gesamten Bedarf oder einen beträchtlichen Teil desselben bei einem Unternehmen in beherrschender Stellung zu beziehen, auch wenn sie nicht mit Rabatten verbunden sind, naturgemäß eine Ausnutzung einer beherrschenden Stellung darstellen und dass dies auch für die Treuerabatte eines solchen Unternehmens gilt.

Im Urteil Intel/Kommission2 hat der Gerichtshof diese Rechtsprechung jedoch erstens dahin konkretisiert, dass, wenn ein Unternehmen in beherrschender Stellung im Verwaltungsverfahren unter Vorlage von Beweisen für seine Behauptungen geltend macht, dass sein Verhalten nicht geeignet gewesen sei, die beanstandeten Verdrängungswirkungen zu erzeugen, die Wettbewerbsbehörde u. a. verpflichtet ist, das eventuelle Vorliegen einer Strategie zur Verdrängung der Wettbewerber, die mindestens ebenso leistungsfähig sind wie das Unternehmen in beherrschender Stellung, zu prüfen.

Zweitens ist die Analyse der Eignung zur Verdrängung ebenfalls maßgeblich für die Beurteilung der Frage, ob sich ein Rabattsystem, das grundsätzlich unter das Verbot des Art. 102 AEUV fällt, objektiv rechtfertigen lässt. Außerdem kann die für den Wettbewerb nachteilige Verdrängungswirkung eines Rabattsystems durch Effizienzvorteile ausgeglichen oder sogar übertroffen werden, die auch dem Verbraucher zugutekommen. Eine solche Abwägung der für den Wettbewerb vorteilhaften und nachteiligen Auswirkungen der beanstandeten Praxis auf den Wettbewerb kann jedoch nur im Anschluss an eine Analyse der dieser Praxis innewohnenden Eignung zur Verdrängung mindestens ebenso leistungsfähiger Wettbewerber wie des Unternehmens in beherrschender Stellung vorgenommen werden

Diese Konkretisierung, die im Urteil Intel/Kommission in Bezug auf Rabattsysteme vorgenommen wurde, ist so zu verstehen, dass sie auch für Ausschließlichkeitsklauseln gilt. Daraus folgt zum einen, dass eine Wettbewerbsbehörde, wenn sie den Verdacht hat, dass ein Unternehmen durch die Verwendung solcher Klauseln gegen Art. 102 AEUV verstoßen hat, und dieses Unternehmen im Lauf des Verfahrens gestützt auf Beweise die konkrete Eignung dieser Klauseln, ebenso leistungsfähige Wettbewerber vom Markt auszuschließen, in Abrede stellt, im Stadium der Einstufung der Zuwiderhandlung sicherstellen muss, dass diese Klauseln unter den Umständen des konkreten Falles tatsächlich geeignet waren, ebenso leistungsfähige Wettbewerber wie dieses Unternehmen vom Markt ausschließen.

Zum anderen ist die Wettbewerbsbehörde, die dieses Verfahren eingeleitet hat, auch verpflichtet, konkret zu beurteilen, ob diese Klauseln geeignet sind, den Wettbewerb zu beschränken, wenn das unter Verdacht stehende Unternehmen im Verwaltungsverfahren vorträgt, dass es Rechtfertigungen für sein Verhalten gibt.

Jedenfalls begründet die Vorlage von Beweisen im Laufe des Verfahrens, die die fehlende Eignung, wettbewerbsbeschränkende Wirkungen hervorzurufen, belegen können, die Verpflichtung der Wettbewerbsbehörde, diese Beweise zu prüfen.

Folglich kann die zuständige Wettbewerbsbehörde, wenn das Unternehmen in beherrschender Stellung eine Wirtschaftsstudie vorgelegt hat, um zu zeigen, dass die ihm zur Last gelegte Praxis nicht geeignet war, Wettbewerber zu verdrängen, die Relevanz dieser Studie nicht ausschließen, ohne die Gründe darzulegen, aus denen sie der Ansicht ist, dass diese Studie es nicht ermögliche, zum Nachweis der fehlenden Eignung der in Rede stehenden Praktiken, den wirksamen Wettbewerb auf dem betreffenden Markt zu beeinträchtigen, beizutragen, und demnach ohne diesem Unternehmen die Möglichkeit zu geben, das Beweisangebot zu ermitteln, das an deren Stelle treten könnte.

Da das vorlegende Gericht in seiner Vorlageentscheidung ausdrücklich auf den Test des „ebenso leistungsfähigen Wettbewerbers“ Bezug genommen hat, führt der Gerichtshof schließlich aus, dass ein solcher Test nur eine von mehreren Methoden ist, mit der beurteilt werden kann, ob eine Praxis geeignet ist, Verdrängungswirkungen zu entfalten. Folglich können die Wettbewerbsbehörden rechtlich nicht verpflichtet sein, für die Feststellung der Missbräuchlichkeit einer Praxis auf diesen Test zurückzugreifen. Werden die Ergebnisse eines solchen Tests jedoch von dem betreffenden Unternehmen im Verwaltungsverfahren vorgelegt, so ist die Wettbewerbsbehörde verpflichtet, deren Beweiswert zu prüfen.

Fußnoten

1 Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato (Wettbewerbs- und Marktaufsichtsbehörde, Italien).
2 Urteil vom 6 September 2017, Intel/Kommission, C 413/14 P (vgl. auch Pressemitteilung Nr. 90/17).

Quelle: EuGH, Pressemitteilung vom 19.01.2023 zum Urteil C-680/20 vom 19.01.2023

Kanzlei-Webseite: Kein Löschungs-, aber Nachtragsanspruch

Es besteht kein Löschungs-, aber ein Nachtragsanspruch bei einem nicht mehr aktuellen Beitrag auf einer anwaltlichen Homepage.

Berichtet ein Rechtsanwalt über einen erstrittenen gerichtlichen Erfolg auf seiner Homepage und wird diese Entscheidung später rechtskräftig aufgehoben, muss er diesen Bericht nicht nachträglich löschen. Auf Verlangen des Betroffenen wäre er jedoch verpflichtet, den Beitrag zu aktualisieren (Nachtragsanspruch). Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main (OLG) wies mit heute verkündeter Entscheidung den Unterlassungsanspruch der Betroffenen gegen den Rechtsanwalt zurück.

Die Klägerin betreibt eine deutschlandweit tätige Wirtschaftsauskunftei in Wiesbaden. Der Beklagte ist Rechtsanwalt. Er erstritt im November 2020 eine einstweilige Verfügung gegen die Klägerin und berichtete im Anschluss darüber in einem Anwalts-Blog auf der Kanzlei-Webseite unter der Überschrift „Einstweilige Verfügung gegen (die Klägerin) erlassen; Zwangsmittel beantragt“. Die einstweilige Verfügung wurde nachfolgend auf Widerspruch der Klägerin hin rechtskräftig aufgehoben.

Die Klägerin wendet sich gegen Äußerungen in diesem unverändert nach Aufhebung der einstweiligen Verfügung verfügbaren Bericht. Das Landgericht hatte dem Unterlassungsbegehren der Klägerin stattgegeben. Die hiergegen gerichtete Berufung des Beklagten hatte vor dem OLG Erfolg.

Die Klägerin habe keinen Unterlassungsanspruch gegen den Beklagten, stellte das OLG fest. Wahre Tatsachenbehauptungen – wie hier der Erlass der einstweiligen Verfügung – seien grundsätzlich hinzunehmen. Dies gelte auch, wenn sie für den Betroffenen nachteilig seien. Der Leser erkenne hier, dass der Beitrag nicht einen nach dessen Veröffentlichung aktualisierten Stand wiedergebe.

Durch die zwischenzeitlich erfolgte rechtskräftige Aufhebung der einstweiligen Verfügung werde ebenfalls kein Unterlassungsanspruch begründet. Zwar könne das fortdauernde Bereithalten ursprünglich rechtmäßig veröffentlichter Berichte im Einzelfall unzulässig sein. „Wenn sich die beim Ursprungsbericht bekannte und zugrunde gelegte Sachlage nachträglich ändert und deshalb die Ursprungsmeldung als unwahr oder jedenfalls in einem anderen Licht erscheinen lässt“, könnten Persönlichkeitsrechte verletzt werden, gibt das OLG zu Bedenken. Komme es zu einer nachträglichen Änderung, sei deshalb eine erneute Abwägung der betroffenen Interessen vorzunehmen. Hier rechtfertigten es die Interessen der Klägerin indes nicht, dem Beklagten künftig die Berichterstattung über die aufgehobene Verfügung zu untersagen. Da der Beitrag ein kommerziell orientierter Blog sei, könnte sich der Beklagte zwar nicht – wie die Presse – darauf berufen, nicht verpflichtet zu sein, die Berichterstattung über ein einmal aufgegriffenes Thema bei neuen Entwicklungen fortzusetzen. Der geringere Verbreitungsgrad des Blogbeitrags führe allerdings auch zu einer geringeren Beeinträchtigung der Klägerin. Dem Beklagten sei zudem grundsätzlich ein anerkennenswertes Interesse zuzusprechen, gegenwärtige und potenzielle Kunden darüber zu informieren, dass ein Gericht zunächst zu Gunsten seines Mandanten entschieden habe. Eine Löschung der angegriffenen Äußerungen wäre mithin ein zu starker Eingriff in die Berufs- und Meinungsfreiheit des Beklagten.

Ausreichend und verhältnismäßig wäre hier ein Nachtrag über den Fortgang des Verfahrens. Darauf hätte die Klägerin, die rüge, dass „nur die halbe Wahrheit“ berichtet werde, auch einen Anspruch gehabt. Sie hätte aber einen solchen Nachtrag auch verlangen müssen. Daran fehle es hier.

Die Entscheidung ist nicht rechtskräftig. Mit der Nichtzulassungsbeschwerde kann die Klägerin die Zulassung der Revision beim BGH begehren.

Quelle: OLG Frankfurt, Pressemitteilung vom 19.01.2023 zum Urteil 16 U 255/21 vom 15.12.2022 (nrkr)

Novellierte Bundesförderung effiziente Gebäude

Bauen und Sanieren für den Klimaschutz

Zum 1. Januar 2023 ist die novellierte Bundesförderung für effiziente Gebäude in Kraft getreten. Mit neuen Förderboni und leichteren Förderbedingungen will die Bundesregierung möglichst viele Menschen bei der energetischen Sanierung ihrer Häuser unterstützen. Das „Effizienzhaus-55“ gilt nun als gesetzlicher Neubaustandard.

Mit der Reform der Bundesförderung für effiziente Gebäude (BEG) richtet die Bundesregierung ihre Förderung bestmöglich auf den Klimaschutz aus. Übergeordnetes Ziel der Reform: Bis 2045 soll Klimaneutralität im Gebäudebestand erreicht werden.

Sanieren und langfristig Energiekosten sparen

Möglichst viele Menschen sollen die Förderung in Anspruch nehmen können, um bestehende Gebäude energetisch zu sanieren. Denn bei der Sanierung des Gebäudebestands sind Klimaschutzeffekt und Fördereffizienz am höchsten.

Die Sanierungsförderung hilft den Bürgerinnen und Bürgern zudem dabei, langfristig Geld für teure Energie zu sparen. Alte Fenster, alte Außentüren oder alte Heizungsanlagen sind Energiefresser – und damit Kostenfaktoren.

Neue Förderboni und leichterer Zugang

Mit der Reform wird der Zugang zur Bundesförderung weiter erleichtert, wofür unter anderem die Antragsstellung erleichtert wurde. Neue Förderboni sollen die Anreize für Sanierungen erhöhen. Die Fördereffizienz des Programms wird erneut gesteigert, um möglichst viele Antragstellerinnen und Antragssteller unterstützen zu können. Dafür mussten die Fördersätze für die einzelnen Bauprojekte leicht reduziert werden. Insgesamt stellt der Bund mehr Fördermittel im Vergleich zu den Jahren bereit.

So wird ab Januar 2023 ein Bonus für serielles Sanieren in Höhe von 15 Prozentpunkten eingeführt. Mit innovativen seriell vorgefertigten Dach- und Fassadenelementen inklusive Installationstechnik lassen sich Sanierungsaufwand und Kosten deutlich verkürzen.

Mit den Änderungen werden ab 2023 nur noch effizientere Wärmepumpen und Biomasseheizungen mit besonders geringem Feinstaubausstoß gefördert. Jeglicher Einbau von gasverbrauchenden Anlagen wird seit August 2022 nicht mehr gefördert. Stattdessen wird es einen Heizungs-Tausch-Bonus für Gaskessel geben.

Für alle drei Teilprogramme der BEG-Förderung gelten ab dem 1. Januar 2023 neue Förderregeln: für Wohngebäude, Nichtwohngebäude und Einzelmaßnahmen. Weitere Informationen zu den neuen Förderkonditionen.

Neubauförderung

Die Bundesregierung hebt zudem den gesetzlichen Neubaustandard zum 1. Januar 2023 auf den EH-55-Standard an. Damit werden die Anforderungen an den zulässigen Primärenergiebedarf des Gebäudes erhöht. Der Einsatz fortschrittlicher Technologien und Materialien senkt bei Neubauten den Heizenergiebedarf und erneuerbaren Energien können effizienter genutzt werden.

Wer sein Haus mit einer EH-Stufe 40 mit Nachhaltigkeitsklasse (EH 40 NH) baut, kann dafür bereits heute eine Förderung erhalten.

  • Ein Effizienzhaus ist ein energetischer Standard für Wohngebäude. Zwei Kriterien sind für die entsprechende Zuordnung wichtig: der Gesamtenergiebedarf und die Wärmedämmung der Immobilie. Für energiesparende Gebäude ist die Effizienzhaus-Stufe ein Orientierungsmaßstab: Die Kennzahl einer Effizienzhaus-Stufe gibt an, wie energieeffizient ein Gebäude im Vergleich zu einem Referenzgebäude ist. Mehr Informationen finden Sie auf der Webseite der KfW.

Mit dieser gesetzlichen Anpassung im Gebäudeenergiegesetz (GEG) setzt die Bundesregierung Anreize zum Energiesparen beim Bauen und Wohnen. Der neue Gebäudestandard unterstützt gleichzeitig auch Anstrengungen, die Abhängigkeit Deutschlands von Importen fossiler Energieträger zu reduzieren.

Die Änderung des GEG wurde im Rahmen einer größeren Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes im Sommer 2022 vom Bundeskabinett beschlossen und ist zum 1. Januar 2023 in Kraft getreten.

Neue Förderrichtlinien für klimafreundlichen Neubau ab März 2023

Neubauten sollen ab 2023 in einer eigenen Richtlinie unter dem Titel „Klimafreundlicher Neubau“ unter Federführung des Bundesministeriums für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen (BMWSB) gefördert werden. Die Bundesregierung plant eine klimapolitisch ambitioniertere Neubauförderung zum 1. März 2023.

Das Förderprogramm soll sich stärker am Lebenszyklus von Gebäuden ausrichten. Dafür steht das staatliche Qualitätssiegel Nachhaltiges Gebäude (QNG). Um vom Bau bis zum Abriss weniger Treibhausgase auszustoßen, weniger Ressourcen, Flächen und Energie zu verbrauchen. Ein digitaler Gebäuderessourcenpass für Neubauten soll helfen Bauprodukte wiederzuverwenden.

Quelle: Bundesregierung, Mitteilung vom 19.01.2023

Körperschaftsteuerrechtliche Zulässigkeit einer sog. Einheits-GmbH & Co. KG

Europarechtskonformität der sog. Bruttomethode nach § 15 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 KStG

Mit Urteil vom 22. September 2022 (Az. 1 K 17/20) hatte der 1. Senat des Niedersächsischen Finanzgerichts über mehrere Fragestellungen im Zusammenhang mit der körperschaftsteuerlichen Organschaft zu entscheiden. Anlass der Entscheidung war das Begehren des Klägers, die Gewinnausschüttungen einer ausländischen Kapitalgesellschaft an eine Organgesellschaft bei der Organträgerin steuerfrei zu stellen. Im Entscheidungsfall bestand die Besonderheit, dass der Gewinnabführungsvertrag zwischen einer Einheits-GmbH & Co. KG als Organträgerin und ihrer Komplementär-GmbH als Organgesellschaft vereinbart war.

Der 1. Senat hat die Klage abgewiesen. Zwar lägen die Voraussetzungen einer körperschaftsteuerlichen Organschaft im Streitfall vor. So könne eine Komplementär-GmbH, deren sämtliche Geschäftsanteile von der KG gehalten würden (sog. Einheits-GmbH & Co. KG), Organgesellschaft sein. Dies gelte zumindest für den Fall, dass die Komplementär-GmbH ihrerseits nicht am Vermögen der KG beteiligt sei.

Die weitere Frage, ob die Gewinnausschüttungen der ausländischen Kapitalgesellschaft an die Organgesellschaft bei der Organträgerin freizustellen seien, sei hingegen zu verneinen. Das Einkommen der Organgesellschaft sei nach § 14 Abs. 1 Satz 1 KStG der Organträgerin zuzurechnen. Bei der Ermittlung des Einkommens der Organgesellschaft bleibe gemäß § 15 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 KStG die grundsätzliche Steuerbefreiung von Gewinnausschüttungen an Kapitalgesellschaften nach § 8b Abs. 1 KStG außer Betracht. Die Organträgerin könne sich als Personengesellschaft auch nicht auf die in der Mutter-Tochter-Richtlinie angeordnete Steuerfreistellung von Gewinnausschüttungen berufen. Das sog. Schachtelprivileg sei allein Kapitalgesellschaften vorbehalten.

Das Finanzgericht hat wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache die Revision zugelassen (Az. des BFH: IV R 29/22).

Quelle: FG Niedersachsen, Mitteilung vom 19.01.2023 zum Urteil 1 K 17/20 vom 22.09.2022 (nrkr – BFH-Az.: IV R 29/22)

Mitgliedsbeiträge für ein Fitnessstudio zur Durchführung eines ärztlich verordneten Funktionstrainings (Wassergymnastik) keine außergewöhnlichen Belastungen

Der 9. Senat des Niedersächsischen Finanzgerichts hatte sich im Urteil vom 14. Dezember 2022 (Az. 9 K 17/21) mit der Frage zu befassen, inwieweit Aufwendungen für die Durchführung von Funktionstraining (ärztlich verordnete Wassergymnastik) in einem Fitnessstudio als außergewöhnliche Belastungen im Sinne des § 33 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) abzugsfähig sind.

Im zugrundeliegenden Sachverhalt wurde einer behinderten Klägerin (GdB 30) zur Behandlung der zunehmend schmerzhaften Bewegungseinschränkungen, zur funktionalen Verbesserung und zur Schmerzreduktion ein Funktionstraining in Form von Wassergymnastik ärztlich verordnet. Die zuständige Krankenkasse übernahm die Kosten für ein wöchentliches Funktionstraining. Nachdem die Klägerin die Wassergymnastikkurse zunächst in einem Verein durchgeführt hatte, entschied sie sich schließlich, die Kurse in einem näher zu ihrem Wohnort gelegenen Fitnessstudio zu absolvieren. Das Funktionstraining wurde hier von qualifizierten Übungsleitern mit einer gültigen Übungsleiterlizenz für den Rehabilitationssport durchgeführt. Voraussetzung dafür war jedoch, dass sich die Klägerin als Mitglied im Fitnessstudio anmelden und den (reduzierten) Beitrag für das auf die Teilnahme an den verordneten Kursen zugeschnittene Modul („Wellness und Spa“) bezahlen musste. Neben der Teilnahme an dem verordneten Funktionstraining beinhaltete der Beitrag auch noch die Saunabenutzung und weitere Aqua-Fitnesskurse. Das Fitnessstudio stellte der Klägerin auch noch den wöchentlichen Beitrag für den Reha-Verein, der das Funktionstraining durchführte, in Rechnung.

Vergeblich machte die Klägerin ihre Gesamtkosten (Fitnessstudiobeitrag, Reha Vereinsbeitrag, Fahrtkosten) als Teil ihrer Heilbehandlungskosten im Sinne von § 33 EStG geltend.

Das Niedersächsischen Finanzgerichts gab der Klage nur zum Teil statt. Es vertritt die Auffassung, dass die Fitnessstudio-Mitgliedsbeiträge für ein für die Teilnahme an dem verordneten Funktionstraining zugeschnittenes Grundmodul (im Streitfall: „Wellness und Spa“) jedenfalls dann keine außergewöhnlichen Belastungen im Sinne des § 33 EStG darstellen, wenn mit dem Mitgliedsbeitrag auch weitere Leistungen abgegolten werden (im Streitfall: Saunanutzung; Aqua Fitnesskurse), die ihrer Art nach nicht nur von kranken, sondern auch gesunden Menschen in Anspruch genommen werden, um die Gesundheit zu erhalten, das Wohlbefinden zu steigern oder die Freizeit sinnvoll zu gestalten, und eine Aufteilung nach objektiven Kriterien nicht möglich ist. Gegen die Zwangsläufigkeit spricht danach insbesondere, wenn dem Steuerpflichtigen die Möglichkeit eröffnet ist, die ärztlich verordneten Kurse auch außerhalb eines Fitnessstudios durchführen zu können. Allein die räumliche Nähe des Fitnessstudios zum Wohnort, die Einsparung von Park- und Fahrtkosten sowie die größere zeitliche Flexibilität hinsichtlich der Durchführung und Nachholung der Kurse könnten die Zwangsläufigkeit der Mitgliedsbeiträge für das Fitnessstudio nicht begründen.

Das Finanzgericht hat ausdrücklich offengelassen, ob etwas Anderes gelten könne, wenn dem Steuerpflichtigen zur Durchführung der ärztlich verordneten Kurse in einem Fitnessstudio keine sinnvolle Alternative zur Verfügung steht.

Erfolg hatte die Klage jedoch hinsichtlich der Abzugsfähigkeit der zwangsläufig angefallenen Beiträge für einen Reha-Verein, der die ärztlich verordneten Kurses in einem Fitnessstudio durchführt. Diese zählen nach Überzeugung des Finanzgerichts zu den als außergewöhnliche Belastungen anzuerkennenden Heilbehandlungskosten. Zum Abzug zuzulassen waren nach Auffassung des 9. Senats zudem die Aufwendungen für die Fahrten zum Fitnessstudio, die ausschließlich im Zusammenhang mit der Durchführung der ärztlich verordneten Kurse anfallen. Diese teilten das Schicksal der Kurskosten als zwangsläufige Heilbehandlungskosten (im Streitfall: Übernahme der Kurskosten durch die Krankenkasse) und stellten daher ebenfalls außergewöhnliche Belastungen dar.

Das Finanzgericht hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen. Sofern die Revision auch eingelegt wird, erhält der BFH aufgrund der großen Breitenwirkung der Problematik Gelegenheit, höchstrichterlich zu klären, ob und ggf. inwieweit bei medizinischer Indikation der Behandlung die Mitgliedsbeiträge für ein Fitnessstudio – gerade auch in den Fällen, in denen wie im Streitfall mindestens ein auf die Behandlung zugeschnittenes Grundmodul für die Ableistung der Kurse gebucht werden muss – außergewöhnliche Belastungen sein können.

Quelle: FG Niedersachsen, Mitteilung vom 19.01.2023 zum Urteil 9 K 17/21 vom 14.12.2022

Steuern & Recht vom Steuerberater M. Schröder Berlin