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Rechtsfehlerkompensation im Rahmen der Änderung einer vorläufigen Steuerfestsetzung

Rechtsfehlerkompensation im Rahmen der Änderung einer vorläufigen Steuerfestsetzung – Abgrenzung zwischen selbständiger und nichtselbständiger Redakteurstätigkeit

1. Bei einer Änderung der Steuerfestsetzung nach § 165 Abs. 2 AO dürfen grundsätzlich sämtliche materiellen (Rechts-)Fehler, die bei der Festsetzung unterlaufen sind, beseitigt werden, soweit die Änderung reicht.
2. Die Honorar-Tätigkeit einer Redakteurin in einem Übergangszeitraum von 2 Monaten zwischen einer angestellten Redakteurstätigkeit (Schwangerschaftsvertretung) und dem geplanten Antritt einer Planstelle als Angestellte bei dem gleichen Verlag kann als nichtselbständige Tätigkeit im Sinne des § 19 Abs. 1 EStG zu qualifizieren sein, auch wenn bei Krankheit und Urlaub in diesem Zeitraum kein Anspruch auf Entgeltsfortzahlung bestanden hat.

Niedersächsisches Finanzgericht 9. Senat, Urteil vom 23.01.2013, 9 K 43/12
§ 165 Abs 2 AO, § 177 Abs 4 AO, § 18 Abs 1 EStG 2002, § 19 Abs 1 S 1 Nr 1 EStG 2002, § 7g Abs 7 EStG 2002
Tatbestand
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Streitig ist die Zulässigkeit und inhaltliche Richtigkeit einer Rechtsfehlerkompensation im Rahmen einer Änderung nach § 165 Abs. 2 AO.
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Die Klägerin erwarb zum 1. Juli 2000 den land- und forstwirtschaftlichen Betrieb Forsthof G. Die Gewinnfeststellungsbescheide für die Streitjahre 2000 – 2002 waren hinsichtlich der Aufteilung des Kaufpreises für den bezeichneten Betrieb und der hieraus resultierenden Absetzungen für Abnutzung nach § 165 Abgabenordnung (AO) vorläufig ergangen (vgl. Tz. 19 des Bp-Berichts vom 15. Juni 2005).
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Der Vorläufigkeitsvermerk in den geänderten Gewinnfeststellungsbescheiden für die Jahre 2000 – 2002 vom 13. Dezember 2006 lautet wie folgt:
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„Der Bescheid ergeht vorläufig gem. § 165 Abgabenordnung hinsichtlich der Kaufpreisaufteilung des Grundstückskaufs von Herrn W O (vgl. Tz. 18 des Bp-Berichts vom 15. Juni 2005). Die Vorläufigkeit umfasst die Bewertung der erworbenen Wirtschaftsgüter sowie die daraus resultierende Absetzung für Abnutzung.“
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Nach Vorlage eines von den Sachverständigen der Oberfinanzdirektion erstellten Gutachtens zur Kaufpreisaufteilung waren die sich hieraus ergebenden Abschreibungsgrundlagen und Abschreibungen zwischen den Beteiligten unstreitig. Die Mehrabschreibungen sind unter Tz. 15.1 des Bp-Berichts vom 12. April 2010 (Anschlussbetriebsprüfung für die Folgejahre) für die einzelnen Streitjahre wie folgt dargestellt:
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Kalenderjahr 2000:
22.870,00 €
Kalenderjahr 2001:
45.758,00 €
Kalenderjahr 2002:
28.984,00 €
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Von der vorausgehenden Betriebsprüfung für die Streitjahre 2000 – 2002 (Bp-Bericht vom 15. Juni 2005) war die seinerzeit gebildete Existenzgründerrücklage nach § 7g Abs. 7 EStG a.F. anerkannt worden. Durch die Anschlussbetriebsprüfung für die Folgejahre 2003 – 2006 (Bp-Bericht vom 12. April 2010) wurde gleichwohl die Existenzgründerrücklage nach § 7g Abs. 7 EStG a.F. aus der Vorprüfung erneut überprüft (vgl. Tz. 14 des Bp-Berichts vom 12. April 2010). Die Betriebsprüfung vertrat danach die Auffassung, dass mangels Existenzgründereigenschaft der Klägerin die Voraussetzungen für die Bildung einer Rücklage nach § 7g Abs. 7 EStG a.F. nicht vorliegend waren. Die Klägerin habe im Vorgründungszeitraum Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit erzielt, und zwar in den Monaten Mai und Juni 1997 im Rahmen einer journalistischen Tätigkeit. Diese Einkünfte stünden einer Anerkennung der Eigenschaft als Existenzgründer entgegen.
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Nach den Feststellungen des Senats liegt der Tätigkeit der Klägerin in den Monaten Mai und Juni 1997 folgender Sachverhalt zugrunde:
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Die Klägerin war nach Ableistung ihres Volontariats für die L Rundschau C zunächst im Rahmen eines befristeten Arbeitsvertrages (Schwangerschaftsvertretung) bis zum 31. März 1997 tätig. Dieser Arbeitsvertrag wurde um einen Monat bis zum 30. April 1997 verlängert. Im Rahmen dieses befristeten Arbeitsverhältnisses war die Klägerin als Redakteurin in einer Lokalredaktion tätig. Im Anschluss daran sollte die Klägerin in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis übernommen werden. Eine für sie vorgesehene Planstelle stand jedoch erst zum 1. Juli 1997 zur Verfügung. Aufgrund dessen kam sie mit dem in der damaligen Zeit verantwortlichen stellvertretenen Chefredakteur, Herrn Dr. R W, überein, in den dazwischen liegenden Monaten wie zuvor am gleichen Arbeitsplatz mit der gleichen festgelegten Arbeitszeit und dem gleichen redaktionellen Aufgabengebiet tätig zu sein. Auf Vorschlag ihres Vorgesetzten sollte sie für die abgeleisteten Arbeitstage Pauschalhonorare in Rechnung stellen, und zwar in Höhe von 230,00 DM pro Tag. Der sich so ergebende Monatsbetrag entsprach in etwa ihrem vorherigen Gehalt. Entsprechend dieser mündlichen Absprache war die Klägerin in den Monaten Mai und Juni 1997 für den LR – Medienverlag GmbH, C, tätig und stellte am 3. Juni bzw. 4. August 1997 entsprechende Rechnungen aus, auf die bezüglich der weiteren Einzelheiten Bezug genommen wird. Mit Datum des 27. April 2010 bestätigte der damalige stellvertretende Chefredakteur, Dr. R W, diesen vorstehenden Sachverhalt schriftlich. Er wies darauf hin, dass die Klägerin in den Monaten Mai/Juni 1997 mit den gleichen redaktionellen Aufgaben betraut war, wie in der Zeit davor und danach. Sie sei ihm gegenüber weisungsgebunden und in der Redaktion H unverändert am gleichen Arbeitsplatz tätig gewesen. Sie sei dem Verlag gegenüber in keinerlei Weise unternehmerisch tätig gewesen. In der mündlichen Verhandlung erläuterte die Klägerin darüber hinaus, dass es in der Lokalredaktion auch so genannte freie Mitarbeiter gegeben habe. Diese hätten in einem anderen, abgegrenzten Arbeitsgebiet bestimmte Aufgaben bei Bedarf (nach Anruf der Sekretärin) übernommen und seien – anders als die Klägerin – nicht in den zeitlichen und örtlichen Arbeitsablauf eingebunden gewesen.
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Bei der Einkommensteuererklärung 1997 unterließ es die Klägerin zunächst, die in Rechnung gestellten Beträge dem Finanzamt gegenüber zu erklären. Auf Nachfrage des Finanzamts holte sie dies nach und erklärte schriftlich, dass sie in den Monaten Mai/Juni 1997 „als freier Mitarbeiter gearbeitet und 2 Rechnungen über 9.220,00 DM geschrieben habe“. Gleichzeitig machte sie 54 Fahrten zur Arbeitsstelle nach H (einfache Entfernung: 30 km) geltend. Das Finanzamt beurteilte diese Fahrten – in geminderter Anzahl (20 Fahrten wurden anerkannt) – als Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte mit 0,70 DM pro Entfernungskilometer. Die weiteren geltend gemachten Dienstfahrten wurden nach Dienstreisegrundsätzen anerkannt. Im Einkommensteuerbescheid von 1997 berücksichtigte das Finanzamt den erzielten Überschuss als Einkünfte aus selbständiger Arbeit in Höhe von 7.760,00 DM.
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Soweit ersichtlich ist dieser vorgenannte Sachverhalt zwischen den Beteiligten unstreitig. Im Rahmen der vorgenannten Anschlussbetriebsprüfung war jedoch die Bewertung dieses Sachverhaltes im Hinblick auf die Einordnung der Einkünfte streitig. Die Klägerin vertrat die Auffassung, dass sie in dem Zeitraum zwischen den beiden Arbeitsverhältnissen ebenfalls nichtselbstständig tätig gewesen und damit zu Recht als Existenzgründerin beurteilt worden sei. Die Betriebsprüfung kam jedoch zu dem Ergebnis, dass die Klägerin Einkünfte aus selbständiger Arbeit als Journalistin erzielt habe. Das gesamte Unternehmerrisiko während der 2 Monate ohne Vertrag habe auf Seiten der Klägerin gelegen. Bei Erkrankung hätte der Auftraggeber keinen Lohn/kein Honorar gezahlt. Im Krankheitsfall hätte die Klägerin ihren Lebensunterhalt aus Eigenmitteln bestreiten müssen. Eine behauptete Scheinselbstständigkeit sei nicht nachgewiesen. Der Auftraggeber habe sie tatsächlich nicht als Arbeitnehmerin geführt. Das Entgelt sei nicht über eine Lohnsteuerkarte abgerechnet worden. Das Schreiben von Honorarrechnungen sei in nichtselbstständigen Arbeitsverhältnissen unüblich. Üblich sei jedoch, dass selbstständige Auftragnehmer ihrem Auftraggeber gegenüber durchaus projektbezogen weisungsgebunden seien. Bezüglich der weiteren Einzelheiten wird auf Tz. 14 des Bp-Berichts vom 12. April 2010 Bezug genommen.
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Ausgehend von dieser Beurteilung ging die Betriebsprüfung davon aus, dass die gesamte gebildete Rücklage nur als eine § 7g Abs. 3 EStG a.F. anzusehen sei mit der Folge, dass eine Neubildung in den Jahren 2000/2001 und 2001/2002 nur bis zur Höhe von 310.000,00 DM/154.000,00 € möglich gewesen sei und das bei der gewinnerhöhenden Auflösung ein außerbilanzieller Gewinnzuschlag/eine Verzinsung zu erfolgen habe. Insoweit ging die Betriebsprüfung von einem Rechtsfehler aus, der im Rahmen der vorzunehmenden Änderung der Feststellungsbescheide 2000 – 2002 gemäß § 165 Abs. 2 AO saldiert werden könne. Aufgrund dieser Rechtsfehlersaldierung kam es nur zu geringfügigen Gewinnminderungen.
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Gegen die entsprechenden Änderungsbescheide vom 21. Juni 2010 legte die Klägerin fristgerecht Einspruch ein. Im Einspruchsverfahren wendete sie sich alleine gegen die vorgenommene Rechtsfehlersaldierung. Die Einsprüche hatten jedoch keinen Erfolg.
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Mit der vorliegenden Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren aus den Einspruchsverfahren weiter. Zur Begründung trägt die Klägerin im Wesentlichen Folgendes vor: Die vorgenommene Rechtsfehlersaldierung bei einer Änderung gemäß § 165 Abs. 2 AO verstoße gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes (Teilbestandskraft). Die Reichweite der Vorläufigkeit sei dem im Bescheid dafür angeführten Grund zu entnehmen oder aus sonstigen Umständen im Wege der Auslegung zu ermitteln. Dabei sei entscheidend, wie der Adressat des Vorläufigkeitsvermerks nach den ihm bekannten Umständen – seinem objektiven Verständnishorizont – unter Berücksichtigung von Treu und Glauben verstehen konnte. Die Klägerin verweist zudem auf die verstärkte Bestandskraft nach Abschluss einer Außenprüfung. Die Änderungssperre nach einer Außenprüfung diene damit in besonderem Maße dem Rechtsfrieden. Der Gesetzgeber gebe damit dem Rechtsfrieden und der Rechtssicherheit Vorrang vor der materiellen Richtigkeit der Besteuerung. Die Berichtigung von materiellen Fehlern gemäß § 177 AO im Rahmen der Bescheidänderung aufgrund anders gelagerte Sachverhalte, derentwegen die Feststellungsbescheide punktuell vorläufig gemäß § 165 AO ergangen sind, sei gemäß § 177 Abs. 4 AO nicht zulässig. Diese Vorschrift bestimme ausdrücklich, dass unter anderem § 165 Abs. 2 AO unberührt bleibe, so dass Änderungen nach § 165 Abs. 2 AO nicht kompensiert werden könnten mit einer Berichtigung materieller Fehler nach § 177 AO. Dies ergebe sich aus dem Wortlaut des § 177 Abs. 4 AO, dessen Gesetzesbegründung, der systematischen Stellung des § 177 AO und dem Sinn und Zweck des § 177 Abs. 4 AO. Die Klägerin verweist hierzu auf die Ausführungen in dem Aufsatz von Bergan, Martin (in DStR 2007, 658) und auf die Kommentierung von Tipke/Kruse (AO/FGO-Kommentar, § 177 AO Rz. 2).
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Die Klägerin beantragt,
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die geänderten Gewinnfeststellungsbescheide für 2000 – 2002 vom 21. Juni 2010 i.d.F. der Einspruchsentscheidung vom 12. Januar 2012 dahin zu ändern, dass die Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft auf 58.037 € für das Jahr 2000, 67.344 € für das Jahr 2001 und 15.226 € für das Jahr 2002 festgestellt werden.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung verweist der Beklagte auf seinen Einspruchsbescheid vom 12. Januar 2012 und das Urteil des Bundesfinanzhofs vom 2. März 2000 (VI R 48/97). Die Bestimmung der zutreffenden Höhe der Besteuerungsgrundlagen sei Ziel der Festsetzungen. Dieses sei in den angefochtenen Gewinnfeststellungsbescheiden erfolgt. Eine Änderungssperre aufgrund erhöhter Bestandskraft nach der Vor-Betriebsprüfung komme im vorliegenden Fall nicht zum Tragen, da kein Fall einer Änderung nach §§ 172 ff. AO vorliege. Auf einen Vertrauensschutz gemäß § 176 AO könne sich die Klägerin nicht berufen, da keine Änderungen der Rechtsprechung oder von Verwaltungsanweisungen maßgeblich gewesen seien.
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In der mündlichen Verhandlung hat der Senat die Klägerin ausführlich zu ihrer Tätigkeit in den Monaten Mai/Juni 1997 befragt. Bezüglich der Einzelheiten wird auf das Sitzungsprotokoll vom 23. Januar 2013 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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1. Die Klage ist begründet.
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Der Beklagte ist zwar zu Recht davon ausgegangen, dass bei einer Änderung der Steuerfestsetzung nach § 165 Abs. 2 AO grundsätzlich sämtliche materiellen (Rechts-) Fehler, die bei der Festsetzung unterlaufen sind, beseitigt werden dürfen, soweit die Änderung reicht. Der Änderung der angefochtenen geänderten Gewinnfeststellungs-bescheide 2000 bis 2002 in dem von der Klägerin begehrten Umfang stand jedoch eine Rechtsfehlerkompensation in Höhe der Einkommensteuer, die durch Umwandlung der zuvor gewährten Existenzgründerrücklage (§ 7g Abs. 7 EStG a.F.) in eine Ansparrücklage (§ 7g Abs. 3 EStG a.F.) entsteht, nicht entgegen, da der Beklagte die Existenzgründereigenschaft der Klägerin zu Unrecht verneint hat.
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a. Aus verfahrensrechtlicher Sicht war der Beklagte – entgegen der Auffassung der Klägerin – grundsätzlich nicht gehindert, Rechtsfehler, die mit dem Grund der vorläufigen Steuerfestsetzung der angefochtenen Steuerbescheide nicht im Zusammenhang stehen, im Rahmen einer gegenläufigen Kompensation zu korrigieren.
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aa. Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs und der herrschenden Meinung im steuerrechtlichen Schrifttum sind bei einer Änderung nach § 165 Abs. 2 AO im Rahmen des Änderungsbetrages auch solche Fehler zu berücksichtigen, die nicht mit dem Grund der Vorläufigkeit zusammenhängen. Die materielle Bestandskraft des Steuerbescheides bleibt danach lediglich in dem Umfang offen, in dem die Steuer auf der im Bescheid als vorläufig gekennzeichneten Besteuerungsgrundlage beruht (vgl. BFH-Urteil vom 2. März 2000 VI R 48/97, BStBl. II 2003, 332; BFH-Beschluss vom 6. März 2003 IX B 197/02, BFH/NV 2003, 742; BMF-Schreiben vom 12. Dezember 2000 IV A 4-S0130a-9/00, BStBl. I 2000, 1549; u.a. Cöster in: Pahlke/Koenig, AO-Kommentar, 2. Aufl. München 2009, § 165 AO Rz. 46 bzw. Koenig in Pahlke/Koenig, § 177 AO Rz. 25; Rüsken in Klein, AO, § 165 Rz. 47 und § 177 Rz. 16, Kühn, AO/FGO, 20. Auflage 2011, § 177 Rz. 36; von Groll, in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 177 AO Rz. 202; Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO § 177 AO Tz. 2).
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bb. Dieser Rechtsauslegung schließt sich der Senat an. Die hiergegen von der Klägerin auf der Grundlage des Aufsatzes von Bergan/Martin (DStR 2007, 658) vorgebrachten Einwendungen greifen nicht durch. So steht der Wortlaut des § 177 Abs. 4 AO einer Kompensation im Rahmen einer Änderung gemäß § 165 Abs. 2 AO nicht entgegen. Nach dem Wortlaut des § 177 Abs. 4 FGO bleibt die Vorschrift des § 165 Abs. 2 AO lediglich unberührt. Nach dem Verständnis des Senats soll damit aber nicht die Saldierungsmöglichkeit, die § 177 Abs. 1 und Abs. 2 AO vorsieht, ausgeschlossen sein. Nach dem Wortlaut des § 177 Abs. 4 AO soll lediglich klargestellt werden, dass die Möglichkeit der Änderung nach § 165 Abs. 2 AO nicht ausgeschlossen sein soll. Damit läuft im Ergebnis die Vorschrift des § 177 Abs. 4 AO genau genommen ins Leere. In dem Umfang der vorläufig festgesetzten Steuer – nicht Bemessungsgrundlage – tritt eine materiell-rechtliche Bestandskraft nicht ein (aA Eschenbach, DStZ 1997, 624). Eine Fehlerberichtigung ist in diesem Rahmen damit uneingeschränkt möglich, ohne dass es der Anwendung des § 177 AO überhaupt bedarf (vgl. Kühn, AO/FGO, 20. Auflage 2011, § 177 AO, Rz. 36). Im Ergebnis dürfen also auch Fehler uneingeschränkt berücksichtigt werden, die nicht mit dem Grund der Vorläufigkeit zusammenhängen.
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Nichts anderes ergibt sich aus der Gesetzesbegründung des historischen Gesetzgebers zu § 177 Abs. 4 AO. In der Begründung zu § 158 des Entwurfs zur AO (BT-Drucks. VI/1982, S. 155) ist lediglich ausgeführt, dass „die Vorschrift nicht gilt, soweit es sich um eine Änderung eines Steuerbescheides nach …§ 146 Satz 3 (entspricht § 165 Abs. 2 Satz 1 AO) handelt.“ Hier wird aus Sicht des Senats besonders deutlich, dass es einer Anwendung des § 177 AO im Rahmen einer Änderung nach § 165 Abs. 2 AO – wie im Übrigen auch bei einer Änderung nach § 164 Abs. 2 AO – nicht bedarf.
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Nach diesem vorgenannten Verständnis des Senates von der Vorschrift des § 177 Abs. 4 AO verbietet auch die Systematik der AO nicht eine entsprechende Fehlerberichtigung im Rahmen des § 165 Abs. 2 AO. Es kann dahinstehen, ob die Vorschrift des § 177 AO grundsätzlich aufgrund der systematischen Stellung nur zur Anwendung kommt, wenn eine Berichtigungsvorschrift der §§ 172 ff. AO einschlägig ist. Wie zuvor erläutert bedarf es im Streitfall für die Rechtsfehlersaldierung nicht der Vorschrift des § 177 AO. Die Saldierungsmöglichkeit ergibt sich aus der Vorläufigkeit der Steuer und der damit im Zusammenhang stehenden fehlenden materiellen Bestandskraft selbst. Aufgrund dessen bedarf es auch entgegen der Auffassung der Klägerin keiner Vorschrift zur Durchbrechung einer Bestandkraft.
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Dies führt im Ergebnis auch dazu, dass das Argument einer erhöhten Bestandskraft nach einer Außenprüfung (§ 173 Abs. 2 AO) ins Leere läuft, weil im Rahmen einer Rechtsfehlersaldierung im Umfang der Vorläufigkeit gerade keine Bestandskraft durchbrochen wird.
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b. Entgegen der Auffassung des Beklagten liegen jedoch die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für eine Rechtsfehlerberichtigung nicht vor, denn die streitbefangene Existenzgründerrücklage ist von der Klägerin zu Recht gebildet worden. Die Tätigkeit der Klägerin in dem Zeitraum Mai/Juni 1997, also im sog. Vorgründungszeitraum, steht der Existenzgründereigenschaft der Klägerin nicht entgegen. Zwar sind die in diesem Zeitraum erzielten Einkünfte im Einkommensteuerbescheid 1997 als solche aus selbständiger Arbeit – und damit „schädlich“ im Sinne des § 7 g Abs. 7 EStG a.F. – aufgeführt. Diese steuerrechtliche Einordnung im Einkommensteuerbescheid entfaltet aber keine Bindungswirkung für die Beurteilung der Existenzgründereigenschaft im Zeitpunkt der Bildung der Rücklage.
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Eine solche Bindungswirkung ergibt sich auch nicht aus dem grundsätzlich auch im Steuerrecht anwendbaren Grundsatz von Treu und Glauben. Insbesondere kann der Senat ein widersprüchliches Verhalten der Klägerin zur Erlangung von Steuervorteilen in Bezug auf die Zuordnung der im Zeitraum Mai/Juni 1997 zu einer Einkunftsart nicht feststellen (vgl. hierzu BFH-Urteil vom 29. Januar 2009 VI R 12/06, BFH/NV 2009, 1105; FG München, Beschluss vom 28. September 2009 7 V 2320/09 betr. Existenzgründereigenschaft). Im Schriftsatz vom 13. Dezember 1999 hat die Klägerin gegenüber dem Finanzamt lediglich die Einnahmen aus der Arbeit als „freie Mitarbeiterin“ nacherklärt und schließlich die Zuordnung der Einkünfte als solche aus § 18 EStG widerspruchlos hingenommen, ohne eine eigene Wertung abzugeben.
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Entgegen der Beurteilung der Betriebsprüfung erfüllt die Tätigkeit der Klägerin als Redakteurin für den L-Verlag, C, im Zeitraum Mai/Juni 1997 nicht die Merkmale einer selbständigen Tätigkeit in Sinne des § 18 EStG. Die diesbezüglichen Einkünfte der Klägerin sind vielmehr den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit (§ 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG) zuzuordnen. Damit hat die Klägerin im maßgeblichen Vorgründungszeitraum keine schädlichen Einkünfte im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 1 – 3 EStG erzielt (§ 7g Abs. 7 Satz 2 Nr. 1 EStG in der für das Streitjahr maßgebenden Fassung).
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aa. Für die im Streitfall entscheidende Abgrenzung zwischen einer selbständigen und einer nichtselbständigen Betätigung sieht § 1 Abs. 1 LStDV solche Personen als „Arbeitnehmer“ an, die im öffentlichen oder privaten Dienst angestellt oder beschäftigt sind oder waren und die aus diesem oder einem früheren Dienstverhältnis Arbeitslohn beziehen. Ein „Dienstverhältnis“ in diesem Sinne liegt vor, wenn der Angestellte (Beschäftigte) dem Arbeitgeber seine Arbeitskraft schuldet. Dies ist der Fall, wenn die tätige Person in der Betätigung ihres geschäftlichen Willens unter der Leitung des Arbeitgebers steht oder im geschäftlichen Organismus des Arbeitgebers dessen Weisungen zu folgen verpflichtet ist (§ 1 Abs. 2 LStDV). Demgegenüber ist nicht Arbeitnehmer, wer Lieferungen und sonstige Leistungen innerhalb der von ihm selbständig ausgeübten gewerblichen oder beruflichen Tätigkeit im Inland gegen Entgelt ausführt (§ 1 Abs. 3 LStDV).
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Unter Beachtung dieser Begriffsbestimmungen ist die Frage, ob ein Steuerpflichtiger mit einer bestimmten Betätigung Arbeitnehmer ist, nach dem Gesamtbild der Verhältnisse zu beurteilen. Denn es handelt sich um einen offenen Typusbegriff, der nur durch eine größere und unbestimmte Zahl von Merkmalen beschrieben werden kann (BFH-Urteil vom 14. Juni 2007 VI R 5/06, BStBl II 2009, 931, unter II.1.). Im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtwürdigung sind nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung insbesondere die folgenden Merkmale von Bedeutung, die für eine Arbeitnehmereigenschaft sprechen können (vgl. BFH-Urteil vom 22. Februar 2012 X R 14/10, BStBl II 2012, 511 m.w.N.): – persönliche Abhängigkeit, – Weisungsgebundenheit hinsichtlich Ort, Zeit und Inhalt der Tätigkeit, – feste Arbeitszeiten, – Ausübung der Tätigkeit gleichbleibend an einem bestimmten Ort, – feste Bezüge, – Urlaubsanspruch, – Anspruch auf sonstige Sozialleistungen, – Fortzahlung der Bezüge im Krankheitsfall, – Überstundenvergütung, – zeitlicher Umfang der Dienstleistungen, – Unselbständigkeit in Organisation und Durchführung der Tätigkeit, – fehlendes Unternehmerrisiko, – fehlende Unternehmerinitiative, – kein Kapitaleinsatz, – keine Pflicht zur Beschaffung von Arbeitsmitteln, – Notwendigkeit der engen ständigen Zusammenarbeit mit anderen Mitarbeitern, – Eingliederung in den Betrieb, – geschuldet wird die Arbeitskraft, nicht aber ein Arbeitserfolg, – Ausführung von einfachen Tätigkeiten, bei denen eine Weisungsabhängigkeit die Regel ist.
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Alle diese Einzelmerkmale lassen sich zum Zwecke der Systematisierung letztlich den beiden Oberbegriffen der „Unternehmerinitiative“ und des „Unternehmerrisikos“ zuordnen. An der Unternehmerinitiative fehlt es – in Aufnahme der Kernmerkmale des § 1 Abs. 2 Satz 2 LStDV -, wenn der Beschäftigte vom Auftraggeber persönlich abhängig, also hinsichtlich Ort, Zeit und Inhalt seiner Tätigkeit weisungsgebunden ist. Ferner muss er in den Betrieb des Auftraggebers und in die dortigen Organisationsabläufe eingegliedert sein. Für eine solche Eingliederung spricht wiederum die Notwendigkeit einer ständigen engen Zusammenarbeit mit anderen Mitarbeitern, die Ausübung der Tätigkeit zu festen Arbeitszeiten sowie gleichbleibend an einem bestimmten Ort und der zeitliche Umfang der Dienstleistungen. Denn je kürzer die zeitliche Berührung des Auftragnehmers mit dem Betrieb des Auftraggebers ist, desto geringer wird der Grad von dessen Eingliederung und Weisungsgebundenheit sein.
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Anzeichen für das Fehlen eines Unternehmerrisikos sind der Erhalt fester Bezüge, die gesonderte Vergütung anfallender Überstunden und die Fortzahlung der Bezüge auch in Fällen, in denen der Auftragnehmer aus persönlichen Gründen an der Erbringung seiner Leistungen gehindert ist (z.B. Urlaubsanspruch, Fortzahlung der Bezüge im Krankheitsfall). Gegen das Vorhandensein eines Unternehmerrisikos spricht auch, wenn der Auftragnehmer lediglich seine Arbeitskraft, nicht aber einen bestimmten Arbeitserfolg schuldet, und wenn der Arbeitsplatz vom Auftraggeber gestellt wird, der Auftragnehmer also weder zum Kapitaleinsatz noch zur Beschaffung von Arbeitsmitteln verpflichtet ist.
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Dagegen ist die sozial- und arbeitsrechtliche Einordnung einer Tätigkeit als selbständig oder unselbständig für die steuerrechtliche Beurteilung nicht ausschlaggebend (BFH-Urteil vom 25. Juni 2009 V R 37/08, BStBl II 2009, 873 m.w.N.).
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bb. Unter Berücksichtigung der vorstehenden Rechtsgrundsätze, denen der Senat folgt, erfüllt die Klägerin in dem Zeitraum Mai/Juni 1997 die für die Annahme der Einkünfte aus selbständiger Arbeit erforderlichen Merkmale der Selbständigkeit nicht. Insbesondere fehlen nach dem Gesamtbild der Verhältnisse die Unternehmerinitiative und das Unternehmerrisiko.
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Nach der von dem damaligen Vorgesetzten, Dr. W, abgegebenen schriftlichen Erklärung und den Ausführungen der Klägerin in der mündlichen Verhandlung geht der Senat davon aus, dass die Klägerin im Zeitraum Mai/Juni 1997 wie zuvor und im Anschluss an diesen Zeitraum weisungsgebunden hinsichtlich Ort, Zeit und Inhalt ihrer Redakteurstätigkeit war. Die Weisungsgebundenheit bezog sich dabei nicht auf einzelne Projekte, sondern umfasste die gesamte Tätigkeit. Die Klägerin war in den Betrieb des Verlags und in die dortigen Organisationsabläufe der Lokalredaktion eingegliedert. Nach der Schilderung der Klägerin begann sie wie zuvor und danach jeden Arbeitstag mit der Teilnahme an der Redaktionsbesprechung und der Verteilung der Aufgaben. Sie war für die Erstellung eines Teils der Zeitung im Bereich des Lokalteils zuständig und verantwortlich, arbeitete am gleichen Arbeitsplatz mit den gleichen Arbeitskollegen zusammen und hatte sich an die festen Arbeitszeiten und den gleichbleibenden zeitlichen Umfang der Tätigkeit wie zuvor zu richten. Damit fehlten ihr in jeder Hinsicht die Merkmale, die die Rechtsprechung für die Unternehmerinitiative herausgearbeitet hat. Insoweit konnte der Senat keine Unterschiede zu der unstreitig als nichtselbständig einzustufenden Arbeitnehmertätigkeit in den Zeiträumen vor Mai 1997 und nach Juni 1997 feststellen. Die Arbeitnehmertätigkeit wurde nach der schriftlichen Bestätigung des Vorgesetzten vom 27. April 2010 insoweit vielmehr unverändert fortgesetzt. Soweit ersichtlich hat der Beklagte hiergegen weder Einwendungen erhoben noch die aus Sicht des Senats glaubhafte Schilderung der Klägerin in der mündliche Verhandlung bzw. des Vorgesetzen in Zweifel gezogen.
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Dem Beklagten ist zuzugeben, dass die Klägerin im Zeitraum Mai/Juni 1997 bei Krankheit und Urlaub keinen Anspruch auf Fortzahlung der Bezüge gehabt hätte. Dieser Umstand spricht für sich betrachtet für ein von ihr getragenes Unternehmerrisiko. Dagegen spricht jedoch, dass die Klägerin allein ihre Arbeitskraft schuldete, und keinen speziellen Arbeitserfolg. Im Unterschied zu anderen in der gleichen Lokalredaktion tätigen freien Mitarbeitern wurde sie nicht nur bei Bedarf für spezielle Aufträge beauftragt, sondern arbeitete wie zuvor im Rahmen einer regelmäßigen, für Arbeitnehmer festgesetzten Arbeitszeit. Eine Verpflichtung zum Kapitaleinsatz und zur Gestellung von Arbeitsmitteln bestanden nicht. Vielmehr erhielt sie eine vorher festgelegte Vergütung in gleichbleibender Höhe in Abhängigkeit von der Ableistung einer vereinbarten Arbeitszeit. Sie erhielt insoweit 230,00 DM pro Arbeitstag, ein Betrag, der auf den Monat addiert in etwa ihrem vorherigen monatlichen Arbeitslohn entsprechen sollte. Hinsichtlich der Abrechnung von Fotos ergab sich gegenüber der Arbeitnehmertätigkeit ebenfalls keine Änderung, da diese auch im Rahmen der Arbeitnehmertätigkeit üblicherweise gesondert abgerechnet werden können.
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Im Rahmen der Gesamtwürdigung misst der Senat den Umständen der fehlenden Entgeltfortzahlung bei Krankheit und Urlaub bzw. der fehlenden Absicherung im Krankheitsfall bei der Beurteilung des Unternehmerrisikos keine durchschlagende Bedeutung bei. Dabei ist nach Überzeugung des Senats entscheidend, dass der Zeitraum des Tragens dieses speziellen Risikos nur auf 2 Monate beschränkt war und daher aus Sicht der Klägerin keine große Bedeutung hatte. Weitaus wichtiger war für die Klägerin, dass sie in dem Zwischenzeitraum zu in etwa gleichen Bedingungen auch ohne einen formellen Arbeitsvertrag weiterarbeiten konnte, bis ihre Planstelle zu Verfügung stand. Gegenüber den übrigen, gegen das Unternehmerrisiko sprechenden Umstände treten daher dieser Punkte in den Hintergrund.
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Abgesehen von der Art der Abrechnung hat sich für die Klägerin auch nichts Wesentliches im Vergleich zu der Tätigkeit im Zeitraum vor und nach Mai/Juni 1997 verändert. Die vom Beklagten in diesem Zusammenhang angeführten Punkte (nicht als Arbeitnehmerin geführt, keine Lohnsteuer und Sozialversicherungsbeiträge abgeführt, kein Arbeitsvertrag, sondern Honorarrechnungen) betreffen dagegen die arbeits- und sozialversicherungstechnische Seite, also die äußere Hülle der Tätigkeit, die für die steuerliche Gesamtbeurteilung maximal indizielle Bedeutung hat, im Übrigen aber nicht ausschlaggebend ist (vgl. BFH-Urteil vom 25. Juni 2009 V R 37/08, BStBl II 2009, 873 m.w.N.).
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Nach dem Gesamtbild der Verhältnisse geht der Senat deshalb davon aus, dass die Klägerin die Merkmale einer selbständigen Tätigkeit im Zeitraum Mai/Juni 1997 nicht erfüllt hat.
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Mangels Rechtsfehlers bei der Bildung der Existenzgründerrücklage scheidet damit eine Kompensation aus. Der Beklagte war im Ergebnis verpflichtet, die begehrte Änderung gemäß § 165 Abs. 2 AO im beantragten Umfang durchzuführen.
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Die Klage hat damit im vollen Umfang Erfolg.
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung (FGO).
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3. Die Nebenentscheidungen beruhen auf § 151 Abs. 1 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.