Archiv der Kategorie: Steuern & Recht

Kein Anspruch auf Durchführung einer Schlussbesprechung mit persönlicher Anwesenheit der Teilnehmer

Die Antragstellerin wünschte zum Abschluss einer bei ihr durchgeführten Betriebsprüfung eine Schlussbesprechung. Aufgrund der Corona-Pandemie schlug das Finanzamt eine telefonische Schlussbesprechung vor, was die Antragstellerin indes ablehnte. Das Finanzamt ging aus diesem Grund in seinem endgültigen Betriebsprüfungsbericht davon aus, dass an einer Schlussbesprechung kein Interesse bestehe.

Daraufhin wollte die Antragstellerin im Wege einer einstweiligen Anordnung die Durchführung einer Schlussbesprechung unter persönlicher Anwesenheit der Beteiligten erreichen. Sie war der Ansicht, dass vor der von ihr begehrten Schlussbesprechung keine Änderungsbescheide aufgrund der Betriebsprüfung ergehen dürften.

Das Finanzgericht hat den Antrag in seinem Beschluss vom 11.05.2020 abgelehnt. Die Richter sahen keinen Anspruch für eine solche Anordnung. Eine Schlussbesprechung müsse nicht unter persönlicher Anwesenheit erfolgen, insbesondere da ein Ende der Corona-Epidemie nicht absehbar sei. § 201 Abs. 1 Satz 1 AO mache keine Vorgaben zu dem Ort sowie der Art und Weise der Durchführung einer Schlussbesprechung. Die Prüfungsfeststellungen könnten auch in einem telefonischen Gespräch erörtert werden. Das entsprechende Angebot des Finanzamts zu einer telefonischen Besprechung habe die Antragstellerin mehrfach abgelehnt. Es sei daher von einem Verzicht auf die Durchführung einer Schlussbesprechung auszugehen.

Die Entscheidung ist rechtskräftig.

Quelle: FG Düsseldorf, Mitteilung vom 10.03.2021 zum Beschluss 3 V 1087/20 vom 11.05.2020 (rkr)

Bezug von Kurzarbeitergeld kann Abgabe einer Einkommensteuererklärung notwendig machen

Der Bezug von Kurzarbeitergeld kann für viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in 2021 erstmalig zur Abgabe einer Einkommensteuererklärung für das Jahr 2020 führen.

Eine Einkommensteuererklärung ist demnach abzugeben, wenn im vergangenen Kalenderjahr Lohnersatzleistungen von insgesamt mehr als 410 Euro zugeflossen sind. Die Finanzverwaltung empfiehlt rechtzeitig zu prüfen, ob für das Jahr 2020 eine Einkommensteuererklärung abgegeben werden muss. Die Abgabefrist für steuerlich nicht beratene Bürgerinnen und Bürger ist der 2. August 2021. Über das Online-Portal „Mein ELSTER“ (www.elster.de) kann die Steuererklärung elektronisch abgegeben werden.

Das Kurzarbeitergeld ist als Lohnersatzleistung steuerfrei. Dies gilt – bis zu einer gewissen Höhe – ebenso für die Zuschüsse des Arbeitgebers zum Kurzarbeitergeld, zum Saison-Kurzarbeitergeld und zum Transferkurzarbeitergeld. Lohnersatzleistungen, wie z. B. auch das Arbeitslosengeld, Krankengeld, Elterngeld oder Verdienstausfallentschädigungen nach dem Infektionsschutzgesetz, unterliegen jedoch dem Progressionsvorbehalt. Das bedeutet, dass diese Leistungen im Einkommensteuerveranlagungsverfahren bei der Ermittlung des individuellen Steuersatzes einbezogen werden. Dieser individuelle Steuersatz wird aber nur auf das tatsächlich steuerpflichtige Einkommen, d. h. ohne Kurzarbeitergeld und etwaige andere Lohnersatzleistungen, angewendet. Dadurch ergibt sich ein höherer Steuersatz für das restliche Einkommen, wodurch es gegebenenfalls zu Steuernachzahlungen kommen kann.

Quelle: BayLfSt, Pressemitteilung vom 08.03.2021

Versicherungsteuerbarkeit gemäß § 1 Versicherungsteuergesetz (VersStG)

A. Gemeinschaftsrechtliche Implikationen

1 Die Versicherungsteuer und die Feuerschutzsteuer sind in der Europäischen Union nicht harmonisiert. Im Hinblick auf die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit im europäischen Binnenmarkt existieren aber seit der Richtlinie des Rates der Europäischen Gemeinschaften (EG) betreffend die Zweite Richtlinie des Rates vom 22. Juni 1988 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (mit Ausnahme der Lebensversicherung) und zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs sowie zur Änderung der Richtlinie 73/239/EWG (ABl. 1988, L 172 vom 4. Juli 1988) gewisse europarechtliche Vorgaben, die bei der Besteuerung von Versicherungsentgelten zu berücksichtigen sind. Das einschlägige Richtlinienrecht wurde überarbeitet und zusammengefasst in der Richtlinie 2009/138/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und der Rückversicherungstätigkeit (Solvabilität II) (ABl. 2009, L 335 vom 17. Dezember 2009).

2 Ausweislich des Erwägungsgrundes Nr. 11 stellt die Richtlinie 2009/138/EG ein wichtiges Instrument zur Vollendung des Binnenmarktes dar. Es soll Versicherungs- und Rückversicherungsunternehmen, die in ihrem Herkunftsmitgliedstaat zugelassen sind, gestattet werden, ihr Geschäft ganz oder teilweise durch die Gründung von Zweigniederlassungen oder die Erbringung von Dienstleistungen in der gesamten Gemeinschaft auszuüben.

3 Darüber hinaus dürfen die von den Mitgliedstaaten erhobenen unterschiedlichen Steuern und Abgaben auf Versicherungsverträge nicht zu Wettbewerbsverzerrungen beim Angebot von Versicherungen zwischen den Mitgliedstaaten führen. Um derartige Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden, ist das Steuersystem und sind andere Abgabensysteme desjenigen Mitgliedstaats anzuwenden, in dem die Risiken belegen sind oder in dem bei Lebensversicherungen die Verpflichtungen eingegangen werden. Es obliegt den Mitgliedstaaten, Regelungen festzulegen, durch die die Erhebung dieser Steuern und Abgaben sichergestellt wird.

4 Das Kriterium der Risikobelegenheit ist ein Element des europäischen Richtlinienrechts, anhand dessen das Besteuerungsrecht demjenigen Mitgliedstaat zugewiesen wird, in dem das versicherte Risiko belegen ist. Es beansprucht daher nur Geltung in Fällen, in denen das versicherte Risiko in einem Staat des Europäischen Wirtschaftsraum (EWR-Staat) belegen ist (nachfolgend: „Mitgliedsstaat“). Ist es außerhalb des EWR belegen, enthält das Richtlinienrecht keine Vorgaben hinsichtlich des Besteuerungsrechts, da es in keinem Mitgliedstaat belegen ist. Dementsprechend entscheiden die Mitgliedstaaten autonom, ob und unter welchen Voraussetzungen Versicherungsentgelte für die Versicherung von Risiken, die in einem Drittland (außerhalb des EWR) belegen sind, besteuert werden.

(…)

C. BMF-Schreiben vom 26. September 1990

Das BMF-Schreiben vom 26. September 1990 – IV A 4 – S-6356-16/90 (BStBl I 1990, 645) wird aufgehoben.

  • Das vollständige Schreiben finden Sie auf der Homepage des BMF.

Quelle: BMF, Schreiben III C 4 – S-6400 / 21 / 10001 :001 vom 04.03.2021

Verletzung des Urheberrechts durch Framing?

Hat der Urheberrechtsinhaber beschränkende Maßnahmen gegen Framing getroffen oder veranlasst, stellt die Einbettung eines Werks in eine Website eines Dritten im Wege dieser Technik eine Zugänglichmachung dieses Werks für ein neues Publikum dar.

Für diese öffentliche Wiedergabe muss daher die Erlaubnis des Urheberrechtsinhabers vorliegen.

Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK), eine deutsche Stiftung, ist Trägerin der Deutschen Digitalen Bibliothek, die eine Online-Plattform für Kultur und Wissen anbietet, die deutsche Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen miteinander vernetzt. Diese Bibliothek verlinkt auf ihrer Website digitalisierte Inhalte, die in den Webportalen der zuliefernden Einrichtungen gespeichert sind. Als „digitales Schaufenster“ speichert die Deutsche Digitale Bibliothek selbst nur Vorschaubilder (thumbnails), d. h. verkleinerte Versionen der Bilder in Originalgröße.

Die VG Bild-Kunst, eine Gesellschaft zur kollektiven Wahrnehmung von Urheberrechten an Werken der bildenden Künste in Deutschland, macht den Abschluss eines Lizenzvertrags mit der SPK über die Nutzung ihres Repertoires von Werken in Form von Vorschaubildern davon abhängig, dass in den Vertrag eine Bestimmung aufgenommen wird, wonach sich die SPK verpflichtet, bei der Nutzung der Werke wirksame technische Maßnahmen gegen das Framing1 der im Portal der Deutschen Digitalen Bibliothek angezeigten Vorschaubilder dieser Werke durch Dritte durchzuführen.

Da die SPK eine solche Vertragsbedingung aus urheberrechtlichen Gründen nicht für angemessen hielt, erhob sie vor den deutschen Gerichten Klage auf Feststellung einer Verpflichtung der VG Bild-Kunst, die fragliche Lizenz zu erteilen, ohne diese an die Bedingung zu knüpfen, dass Maßnahmen zur Verhinderung von Framing getroffen werden2.

Vor diesem Hintergrund ersucht der Bundesgerichtshof (Deutschland) den Gerichtshof um Klärung der Frage, ob dieses Framing als eine öffentliche Wiedergabe im Sinne der Richtlinie 2001/293 anzusehen ist, was es der VG Bild-Kunst erlauben würde, die SPK zur Durchführung dieser Maßnahmen zu verpflichten.

Die Große Kammer des Gerichtshofs entscheidet, dass die Einbettung urheberrechtlich geschützter und der Öffentlichkeit mit Erlaubnis des Inhabers des Urheberrechts auf einer anderen Website frei zugänglich gemachter Werke in die Website eines Dritten im Wege des Framing eine öffentliche Wiedergabe darstellt, wenn sie unter Umgehung von Schutzmaßnahmen gegen Framing erfolgt, die dieser Rechtsinhaber getroffen oder veranlasst hat.

Würdigung durch den Gerichtshof

Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass die Änderung der Größe der Werke bei Gelegenheit eines Framings für die Beurteilung, ob eine öffentliche Wiedergabe vorliegt, keine Rolle spielt, solange die Originalelemente dieser Werke erkennbar sind.

Sodann führt der Gerichtshof zum einen aus, dass die Framing-Technik eine Handlung der öffentlichen Wiedergabe darstellt, da damit der angezeigte Gegenstand sämtlichen potenziellen Nutzern einer Website zugänglich gemacht wird. Zum anderen verweist er darauf, dass diese Wiedergabe, da die Framing-Technik nach demselben technischen Verfahren erfolgt wie das bereits zur öffentlichen Wiedergabe des geschützten Werks verwendete Verfahren, nicht die Voraussetzung eines neuen Publikums erfüllt und daher keine „öffentliche“ Wiedergabe im Sinne der Richtlinie 2001/29 darstellt.

Der Gerichtshof stellt jedoch klar, dass dies nur dann gilt, wenn der Zugang zu den betreffenden Werken auf der ursprünglichen Website keinen Beschränkungen unterliegt. In diesem Fall hat der Rechtsinhaber nämlich von Anfang an die Wiedergabe seiner Werke gegenüber sämtlichen Internetnutzern erlaubt.

Hat der Rechtsinhaber im Zusammenhang mit der Veröffentlichung seiner Werke dagegen von Anfang an beschränkende Maßnahmen getroffen oder veranlasst, dann hat er der freien öffentlichen Wiedergabe seiner Werke durch Dritte nicht zugestimmt. Vielmehr wollte er die Öffentlichkeit, die Zugang zu seinen Werken hat, auf die Nutzer einer bestimmten Website beschränken.

Der Gerichtshof stellt daher fest, dass, wenn der Urheberrechtsinhaber beschränkende Maßnahmen gegen Framing getroffen oder veranlasst hat, die Einbettung eines Werks in eine Website eines Dritten im Wege der Framing-Technik eine „Zugänglichmachung dieses Werks für ein neues Publikum“ darstellt. Diese öffentliche Wiedergabe bedarf daher der Erlaubnis der betreffenden Rechtsinhaber.


Ansonsten würde nämlich eine Regel der Erschöpfung des Rechts der Wiedergabe aufgestellt. Diese Regel nähme dem Urheberrechtsinhaber die Möglichkeit, eine angemessene Vergütung für die Nutzung seines Werks zu verlangen. Damit liefe ein solcher Ansatz dem angemessenen Ausgleich zuwider, den es zwischen den Interessen der Inhaber von Urheber- und verwandten Rechten am Schutz ihres Rechts am geistigen Eigentum einerseits und dem Schutz der Interessen und Grundrechte der Nutzer von Schutzgegenständen andererseits im Umfeld der Digitaltechnik zu sichern gilt.

Schließlich stellt der Gerichtshof klar, dass der Urheberrechtsinhaber seine Zustimmung zum Framing nicht auf andere Weise als durch wirksame technische Maßnahmen beschränken kann. Ohne solche Maßnahmen könnte es nämlich schwierig sein, zu überprüfen, ob sich der Rechtsinhaber dem Framing seiner Werke widersetzen wollte.

Fußnoten

  1. Die Framing-Technik besteht darin, dass eine Internetseite eines Webauftritts in mehrere Rahmen unterteilt wird und in einem dieser Rahmen mittels eines anklickbaren oder eingebetteten Internetlinks (Inline Linking) ein einer anderen Website entstammender Bestandteil angezeigt wird, damit den Nutzern dieses Webauftritts die ursprüngliche Umgebung dieses Bestandteils verborgen bleibt.
  2. Die Verwertungsgesellschaften sind nach deutschem Recht verpflichtet, jedermann auf Verlangen zu angemessenen Bedingungen eine Lizenz zur Nutzung der ihnen übertragenen Rechte einzuräumen. Jedoch besteht nach der deutschen Rechtsprechung ausnahmsweise keine Abschlusspflicht der Verwertungsgesellschaft, wenn im Einzelfall eine missbräuchliche Ausnutzung der Monopolstellung auszuscheiden ist und die Verwertungsgesellschaft dem Verlangen auf Einräumung von Nutzungsrechten vorrangige berechtigte Interessen entgegenhalten kann.
  3. Nach Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft (ABl. 2001, L 167, S. 10) sehen die Mitgliedstaaten vor, dass den Urhebern das ausschließliche Recht zusteht, die öffentliche Wiedergabe ihrer Werke zu erlauben oder zu verbieten.

Quelle: EuGH, Pressemitteilung vom 09.03.2021 zum Urteil C-392/19 vom 09.03.2021

Erste Entscheidung zum Software-Update der Volkswagen AG bei einem Kauf nach Bekanntwerden des „Dieselskandals“

Der u. a. für das Recht der unerlaubten Handlungen zuständige VI. Zivilsenat hat sich erstmals zu der Frage geäußert, ob dem Käufer eines mit einem Dieselmotor der Baureihe EA189 ausgestatteten Gebrauchtwagens, der sein Fahrzeug erst nach Bekanntwerden des sog. Dieselskandals gekauft hat, Schadensersatzansprüche gegen die Volkswagen AG zustehen, weil in dem zur Beseitigung einer unzulässigen Prüfstandserkennungssoftware entwickelten Software-Update nach der Behauptung des Käufers ein „Thermofenster“ implementiert ist und das Update negative Auswirkungen auf den Kraftstoffverbrauch und den Verschleiß hat. Der Senat hat in diesem Fall Schadensersatzansprüche verneint.

Sachverhalt

Der Kläger erwarb am 16. September 2016 einen gebrauchten VW Tiguan 2.0 TDI, der mit einem Dieselmotor des Typs EA189, Schadstoffnorm Euro 5 ausgestattet ist. Die Beklagte ist Herstellerin des Wagens. Der Motor war mit einer Software versehen, die erkennt, ob sich das Fahrzeug auf einem Prüfstand im Testbetrieb befindet, und in diesem Fall in einen Stickoxid-optimierten Modus schaltet. Es ergaben sich dadurch auf dem Prüfstand geringere Stickoxid-Emissionswerte als im normalen Fahrbetrieb. Die Stickoxidgrenzwerte der Euro 5-Norm wurden nur auf dem Prüfstand eingehalten.

Vor dem Erwerb des Fahrzeugs hatte die Beklagte in einer Ad-hoc-Mitteilung die Öffentlichkeit über Unregelmäßigkeiten der Software bei Dieselmotoren vom Typ EA189 informiert und mitgeteilt, dass sie daran arbeite, die Abweichungen zwischen Prüfstandswerten und realem Fahrbetrieb mit technischen Maßnahmen zu beseitigen, und dass sie hierzu mit dem Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) in Kontakt stehe. Das KBA wertete die Programmierung als unzulässige Abschalteinrichtung und verpflichtete die Beklagte, die Vorschriftsmäßigkeit der betroffenen Fahrzeuge durch geeignete Maßnahmen wiederherzustellen. In der Folge stellte die Beklagte bei Fahrzeugen mit dem betroffenen Motortyp ein Software-Update bereit, das im Dezember 2016 auch bei dem Fahrzeug des Klägers aufgespielt wurde.

Der Kläger behauptet, dass mit dem Software-Update eine neue unzulässige Abschaltvorrichtung in Form eines „Thermofensters“ implementiert worden sei. Außerdem habe das Update negative Auswirkungen auf den Kraftstoffverbrauch und den Verschleiß des Fahrzeugs.

Mit seiner Klage verlangt der Kläger von der Beklagten im Wesentlichen die Erstattung des gezahlten Kaufpreises abzüglich einer Nutzungsentschädigung, Zug um Zug gegen Herausgabe und Übereignung des Fahrzeugs.

Bisheriger Prozessverlauf

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen und die Revision nicht zugelassen. Mit der Nichtzulassungsbeschwerde will der Kläger die Zulassung der Revision erreichen.

Entscheidung des Senats

Der VI. Zivilsenat hat die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers zurückgewiesen.

Das Berufungsgericht hat einen Schadensersatzanspruch aus §§ 826, 31 BGB zu Recht verneint, weil das Verhalten der Beklagten gegenüber dem Kläger nicht als sittenwidrig anzusehen ist. Wie der Senat bereits mit Urteil vom 30. Juli 2020 (Az. VI ZR 5/20, Rn. 30 ff.) entschieden hat, ist für die Bewertung eines schädigenden Verhaltens als sittenwidrig im Sinne von § 826 BGB in einer Gesamtschau dessen Gesamtcharakter zu ermitteln und das gesamte Verhalten des Schädigers bis zum Eintritt des Schadens beim konkreten Geschädigten zugrunde zu legen. Dies wird insbesondere dann bedeutsam, wenn die erste potenziell schadensursächliche Handlung und der Eintritt des Schadens zeitlich auseinanderfallen und der Schädiger sein Verhalten zwischenzeitlich nach außen erkennbar geändert hat. Durch die vom Berufungsgericht festgestellte Verhaltensänderung der Beklagten wurden wesentliche Elemente, die das Unwerturteil ihres bisherigen Verhaltens gegenüber bisherigen Käufern begründeten (vgl. hierzu Senatsurteil vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19, Rn. 16 ff.), derart relativiert, dass der Vorwurf der Sittenwidrigkeit bezogen auf ihr Gesamtverhalten gerade gegenüber dem Kläger nicht mehr gerechtfertigt ist.

Dies gilt auch, wenn die Behauptung des Klägers als zutreffend zugrunde gelegt wird, mit dem Software-Update sei eine neue unzulässige Abschaltvorrichtung in Form eines Thermofensters implementiert worden, die die Abgasrückführung bei Außentemperaturen unter 15 und über 33 Grad Celsius deutlich reduziere. Der darin liegende – unterstellte – Gesetzesverstoß reicht in der gebotenen Gesamtbetrachtung nicht aus, um das Gesamtverhalten der Beklagten als sittenwidrig zu qualifizieren. Die Applikation eines solchen Thermofensters ist nicht mit der Verwendung der Prüfstandserkennungssoftware zu vergleichen, die die Beklagte zunächst zum Einsatz gebracht hatte. Während letztere unmittelbar auf die arglistige Täuschung der Typgenehmigungsbehörde abzielte und einer unmittelbaren arglistigen Täuschung der Fahrzeugerwerber in der Bewertung gleichsteht, ist der Einsatz einer temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems nicht von vornherein durch Arglist geprägt. Sie führt nicht dazu, dass bei erkanntem Prüfstandsbetrieb eine verstärkte Abgasrückführung aktiviert und der Stickoxidausstoß gegenüber dem normalen Fahrbetrieb reduziert wird, sondern arbeitet in beiden Fahrsituationen im Grundsatz in gleicher Weise.

Bei dieser Sachlage hätte sich die Verwerflichkeit des Verhaltens der Beklagten durch die Implementation des Thermofensters nur dann fortgesetzt, wenn zu dem – unterstellten – Verstoß gegen Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung 715/2007/EG weitere Umstände hinzuträten, die das Verhalten der für sie handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen ließen. Dies würde jedenfalls voraussetzen, dass diese Personen bei der Entwicklung und/oder Verwendung der temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems in dem Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen. Anhaltspunkte hierfür waren aber nicht dargetan. Es war insbesondere nicht dargetan, dass die Beklagte das KBA im Zusammenhang mit der Entwicklung und Genehmigung des Software-Updates arglistig getäuscht haben könnte.

Eine abweichende Beurteilung war auch nicht deshalb geboten, weil das von der Beklagten entwickelte Software-Update nach der – unterstellten – Behauptung des Klägers negative Auswirkungen auf den Kraftstoffverbrauch und den Verschleiß der betroffenen Fahrzeuge hat. Dieser Umstand führt in der gebotenen Gesamtbetrachtung nicht dazu, dass das Gesamtverhalten der Beklagten als sittenwidrig zu werten wäre.

Hinweis zur Rechtslage

§ 826 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB)

Wer in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise einem anderen vorsätzlich Schaden zufügt, ist dem anderen zum Ersatz des Schadens verpflichtet.

Artikel 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007

Die Verwendung von Abschalteinrichtungen, die die Wirkung von Emissionskontrollsystemen verringern, ist unzulässig. Dies ist nicht der Fall, wenn:

a) die Einrichtung notwendig ist, um den Motor vor Beschädigung oder Unfall zu schützen und um den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten; […]

Quelle: BGH, Pressemitteilung vom 11.03.2021 zum Beschluss VI ZR 889/20 vom 09.03.2021

(Schein-)Selbstständigkeit: Hinweise der BRAK zur Abgrenzung

Freie Mitarbeit ist ein gebräuchliches Modell in Kanzleien, um flexibel auf Auslastungsschwankungen zu reagieren oder um neue Mitarbeiter zu erproben. Ob ein freier Mitarbeiter der eigenen Kanzlei oder man selbst als Rechtsanwältin oder Rechtsanwalt tatsächlich frei oder abhängig beschäftigt ist, lässt sich nicht immer leicht bestimmen. Der BRAK-Ausschuss Sozialrecht hat Hinweise erarbeitet, die die nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts maßgeblichen Abgrenzungskriterien erläutern und praktische Fallstricke aufzeigen. Enthalten sind auch Erläuterungen zum Statusfeststellungsverfahren, mit dessen Hilfe Zweifel ausgeräumt werden können.

Quelle: BRAK, Mitteilung vom 10.03.2021

Corona-Arbeitsschutzverordnung bis 30. April 2021 verlängert

Bisherige Regelungen zum betrieblichen Infektionsschutz werden fortgeschrieben und optimiert

Das Bundeskabinett hat am 10. März 2021 die am 15. März 2021 auslaufende SARS-CoV-2-Arbeitsschutzverordnung bis einschließlich 30. April 2021 verlängert. Damit bleiben die bisherigen Bestimmungen zur Reduzierung betriebsbedingter Personenkontakte weitgehend unverändert in Kraft. Dies umfasst:

  • Die Verpflichtung der Arbeitgeber zum Angebot von Homeoffice, sofern nicht zwingende betriebliche Gründe entgegenstehen.
  • Die Reduktion der Personenbelegung in gemeinsam genutzten Räumen durch Vorgabe einer Mindestfläche von 10 m² pro Person.
  • Die Einteilung in feste, möglichst kleine Arbeitsgruppen in Betrieben mit mehr als 10 Beschäftigten.
  • Die Verpflichtung zur Bereitstellung und Benutzung hochwertiger Masken.

Das Infektionsgeschehen in Deutschland hat sich stabilisiert, liegt jedoch weiterhin auf einem hohen Niveau. Homeoffice ist ein wichtiges Element, um Kontakte zu reduzieren und die Pandemie einzuschränken. Die Arbeitsschutz-Verordnung wirkt und hat den Anteil der Menschen, die im Homeoffice arbeiten, noch einmal gesteigert. Darüber hinaus stärkt sie den Arbeitsschutz in den Betrieben. Das hilft, die corona-bedingten Gefährdungen für die Beschäftigten, die weiterhin in den Betrieben arbeiten, gering zu halten. Mit der Verlängerung der geltenden Arbeitsschutz-Verordnung stärken wir den Arbeitsschutz und leisten einen wichtigen Beitrag, um das Infektionsgeschehen weiter einzudämmen.

Bundesminister Hubertus Heil

Die Änderungsverordnung enthält redaktionelle Überarbeitungen und Klarstellungen, um die Verständlichkeit und die praktische Umsetzung in den Betrieben zu erhöhen. Neu aufgenommen wurde eine Bestimmung zu betrieblichen Hygienekonzepten. Hierdurch wird sichergestellt, dass bei den stufenweise vorgesehenen Lockerungen wirtschaftlicher Aktivitäten die Maßnahmen des betrieblichen Infektionsschutzes aufeinander abgestimmt und an die aktuellen betrieblichen Anforderungen angepasst werden. Durch eine weitere Änderung wird klargestellt, dass im Regelfall medizinische Gesichtsmasken bereitgestellt und getragen werden müssen. FFP2-Atemschutzmasken und vergleichbare Typen sind erforderlich, wenn Beschäftigte aufgrund spezifischer Anforderungen zusätzlich geschützt werden müssen.

Im Grundsatz hat sich die Corona-Arbeitsschutzverordnung bewährt. Laut einer aktuellen IZA-Umfrage für das BMAS hat die Nutzung von Homeoffice von Januar bis Februar 2021 um 22 % zugenommen. Die Beschäftigten stellen den Arbeitgebern ein gutes Zeugnis aus: Nur 11 % sehen Verbesserungsbedarf beim betrieblichen Infektionsschutz. Angesichts der unvermindert angespannten Infektionslage und den stufenweise vorgesehenen Lockerungen sind auch weiterhin die in der Verordnung beschriebenen Beiträge zum betrieblichen Infektionsschutz erforderlich, um das Infektionsgeschehen im Griff zu haben.

Quelle: BMAS, Pressemitteilung vom 10.03.2021

Zum Versicherungsschutz nach Betriebsschließungen aufgrund der Corona-Pandemie

Die für Sachversicherungen zuständige 8. Zivilkammer des Landgerichts Frankfurt am Main hat in zwei Verfahren die Klagen von Diskotheken- bzw. Kinobetreibern auf Entschädigung aus sog. Betriebsschließungsversicherungen nach behördlich angeordneten Schließungen zum Schutz vor einer Infektion mit Sars-CoV-2 abgewiesen.

In einem Verfahren hatte die Betreiberin zweier Diskotheken in Frankfurt am Main geklagt, im anderen Fall die Inhaberin zweier Kinos in Nordrhein-Westfalen. Die Klägerinnen forderten jeweils Entschädigungen aus Betriebsschließungsversicherungen. Sie hatten infolge der coronabedingt angeordneten Schließungen ihrer Einrichtungen erhebliche Gewinnausfälle.

Die Richterinnen und Richter der Versicherungskammer haben in zwei Urteilen die Klagen abgewiesen, weil die dort jeweils vereinbarten Versicherungsbedingungen eine Betriebsschließung wegen einer Infektion mit Sars-CoV-2 nicht erfassten.

In dem Vertrag der Frankfurter Diskothekenbetreiberin mit ihrer Versicherung waren die meldepflichtigen Krankheiten und Krankheitserreger einzeln aufgeführt, die als Ursache einer Schließung einen Versicherungsschutz auslösen konnten. Ausdrücklich hieß es dort, dass nur diese aufgeführten Krankheiten und Erreger meldepflichtig im Sinne des Vertrages seien. COVID-19 bzw. Sars-CoV-2 enthielt diese Liste nicht. Die Kammer stellte fest: „Die Versicherungsbedingungen benennen die Krankheiten und Krankheitserreger, für die Versicherungsschutz besteht, namentlich in einem als abschließend anzusehenden Katalog“. Und weiter: „Gegen eine lediglich beispielhafte Aufzählung von Krankheiten oder Krankheitserregern spricht die Verwendung des Wortes nur.“ Zwar könne es andere Fallgestaltungen geben, in welchen Versicherungsverträge mit sog. dynamischen Verweisungen arbeiteten und so auch nachträglich neu auftretende Erreger, wie etwa Sars-CoV-2, einbeziehen könnten. Bei den Bedingungen im Versicherungsvertrag der Diskothekenbetreiberin aus Frankfurt sei das aber nicht der Fall.

Nach dem weiteren Urteil der Versicherungskammer im Verfahren der Kinobetreiberin aus Nordrhein-Westfalen erfassten die Versicherungsbedingungen eine coronabedingte Schließung ebenfalls nicht. Im dortigen Vertrag hieß es, die meldepflichtigen Krankheiten und Krankheitserreger seien die im Infektionsschutzgesetz (dort Paragraphen 6 und 7) namentlich genannten, die im Folgenden aufgeführt seien; es folgte eine Aufzählung der Krankheiten und Krankheitserreger. Die Versicherungskammer entschied auch hier: „Das Coronavirus ist nicht als meldepflichtige Krankheit bzw. meldepflichtiger Erreger im Sinne der Versicherungsbedingungen zu qualifizieren.“ Indem der Vertrag ausdrücklich die folgenden Krankheiten und Erreger einzeln benenne, seien aus Sicht der Parteien nur die zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses im Infektionsschutzgesetz aufgeführten Infektionen erfasst. Da COVID-19 bzw. Sars-CoV-2 erst später, nämlich im Mai 2020 in das Infektionsschutzgesetz aufgenommen worden sei, könne eine Betriebsschließung wegen dieses Virus einen Versicherungsschutz nicht auslösen.

Die Urteile sind am 12. Februar 2021 (Diskothekenbetreiberin aus Frankfurt; Az. 2-08 O 186/20) und am 19. Februar 2021 (Inhaberin zweier Kinos aus Nordrhein-Westfalen; Az. 2-08 O 147/20) ergangen. Beide Entscheidungen sind nicht rechtskräftig und können mit der Berufung zum Oberlandesgericht Frankfurt am Main angefochten werden.

Vor der Versicherungskammer des Landgerichts Frankfurt am Main sind weitere Rechtsstreitigkeiten über sog. Betriebsschließungsversicherungen anhängig.

Quelle: LG Frankfurt, Pressemitteilung vom 10.03.2021 zu den Urteilen 2-08 O 186/20 vom 12.02.2021 und 2-08 O 147/20 vom 19.02.2021 (nrkr)

Corona: Keine FFP-2 Masken vom Jobcenter

Ein Ehepaar aus Delmenhorst ist vor dem Sozialgericht Oldenburg mit einem Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gegenüber dem Jobcenter Delmenhorst gescheitert, wöchentlich pro Person 20 FFP-2 Masken zu erhalten bzw. das Geld dafür erstattet zu bekommen.

Die Antragsteller stehen im Leistungsbezug nach dem SGB II (sog. Hartz 4). Sie beantragten Ende Februar bei dem Jobcenter eine Versorgung mit FFP-2 Masken. Sie begründeten diesen Antrag damit, dass aufgrund der Corona-Pandemie Maskenpflicht bestehen würde und die Kosten für die entsprechenden Masken nicht vom Regelbedarf nach dem SGB II gedeckt seien. Das Jobcenter lehnte diesen Antrag ab.

Mit Beschluss vom 08.03.2021 (Az. S 37 AS 48/21 ER) lehnte das Sozialgericht Oldenburg den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen das Jobcenter ab. Zur Begründung führte es aus, dass zwar die Ausstattung mit Schutzmasken nicht von dem Regelbedarfssatz nach dem SGB II erfasst sei. Es bestehe aber auch kein unabweisbar, besonderer Bedarf im Sinne des § 21 SGB II zur Versorgung mit FFP-2 Masken. Die Antragsteller seien nach der Corona-Verordnung nämlich nicht verpflichtet, FFP-2 Masken zu tragen. Besondere Umstände, die für die Antragsteller das Tragen dieser Masken zwingend erforderlich machen würden, seien nicht vorgetragen.

Die Antragsteller seien zudem auch in der Lage, einen eventuell bestehenden Bedarf an FFP-2 Masken durch Einsparungen aus dem Regelbedarf zu decken. Nach einer Studie der Universität Münster könnten FFP-2 Masken nach einer 7-tägigen Trocknung wiederverwendet werden, sodass monatlich für eine Person maximal 10 FFP-2 Masken benötigt würden. Die Kosten würden sich deshalb auf nicht mehr als ca. 10 Euro pro Monat belaufen. Das SGB II sehe aber einen Regelbedarf an Ausgaben für den Verkehr (ca. 39 Euro) und für Kultur/Unterhaltung (ca. 42 Euro) vor, der während der Corona-Pandemie nicht in diesem Umfang bestehen würde. Die Kosten für FFP-2 Masken könnten aus solchen Ersparnissen gedeckt werden. Auch eventuell erforderliche medizinische Masken, die erheblich preisgünstiger als FFP-2 Masken seien, könnten durch die Antragsteller aus solchen Ersparnissen beschafft werden.

Ein eventuell bestehender Bedarf zur Versorgung mit FFP-2 Masken sei gegenwärtig aber auch aus einem anderen Grunde bereits gedeckt. Auch die Antragsteller hätten gegenüber Ihrer Krankenkasse einen Anspruch auf 10 kostenlose FFP-2 Masken, sodass die Antragsteller sich gegenwärtig ohne weitere Kosten mit den begehrten Masken versorgen könnten. Schon aus diesem Grunde bestehe für die Geltendmachung eines Anspruchs gegenüber dem Jobcenter gegenwärtig keine Eilbedürftigkeit.

Das Sozialgericht Oldenburg weicht damit von einer Entscheidung des Sozialgerichts Karlsruhe ab, das einen Anspruch eines Leistungsbeziehers nach dem SGB II auf 20 FFP-2 Masken pro Person und Woche gegenüber dem Jobcenter bejaht hatte (Az. S 12 AS 213/21 ER).

Dieser Beschluss ist nicht rechtskräftig.

Quelle: SG Oldenburg, Pressemitteilung vom 09.03.2021 zum Beschluss S 37 AS 48/21 ER vom 08.03.2021 (nrkr)

EuGH zur Bereitschaftszeit in Form von Rufbereitschaft

Eine Bereitschaftszeit in Form von Rufbereitschaft stellt nur dann in vollem Umfang Arbeitszeit dar, wenn die dem Arbeitnehmer auferlegten Einschränkungen seine Möglichkeit, während dieser Zeit seine Freizeit zu gestalten, ganz erheblich beeinträchtigen.

Organisatorische Schwierigkeiten, die eine Bereitschaftszeit infolge natürlicher Gegebenheiten oder der freien Entscheidung des Arbeitnehmers für ihn mit sich bringen kann, sind unerheblich.

In der Rechtssache C-344/19 war ein spezialisierter Techniker damit betraut, während mehrerer aufeinanderfolgender Tage den Betrieb von Fernsehsendeanlagen in den slowenischen Bergen sicherzustellen. Neben seinen zwölf Stunden regulärer Arbeitszeit leistete er täglich sechs Stunden Bereitschaftsdienst in Form von Rufbereitschaft. Während dieser Zeiträume war er nicht verpflichtet, in der betreffenden Sendeanlage zu bleiben, musste aber telefonisch erreichbar und in der Lage sein, erforderlichenfalls innerhalb einer Stunde dorthin zurückzukehren. De facto war er in Anbetracht der geografischen Lage der schwer zugänglichen Sendeanlagen gezwungen, sich während seiner Bereitschaftsdienste ohne große Freizeitmöglichkeiten in einer von seiner Arbeitgeberin zur Verfügung gestellten Dienstunterkunft aufzuhalten.

In der Rechtssache C-580/19 war ein Beamter in der Stadt Offenbach am Main (Deutschland) als Feuerwehrmann tätig. Neben seiner regulären Dienstzeit musste er regelmäßig Bereitschaftszeiten in Form von Rufbereitschaft leisten. Während dieser Zeiten war er nicht verpflichtet, sich an einem von seinem Arbeitgeber bestimmten Ort aufzuhalten, musste aber erreichbar und in der Lage sein, im Alarmfall innerhalb von 20 Minuten in seiner Einsatzkleidung und mit dem ihm zur Verfügung gestellten Einsatzfahrzeug die Stadtgrenzen zu erreichen.

Die beiden Betroffenen waren der Ansicht, dass ihre in Form von Rufbereitschaft geleisteten Bereitschaftszeiten aufgrund der mit ihnen verbundenen Einschränkungen in vollem Umfang als Arbeitszeit anzuerkennen und entsprechend zu vergüten seien, unabhängig davon, ob sie während dieser Zeiten tatsächlich tätig waren. Der erste Betroffene legte, nachdem seine Klage in erster und zweiter Instanz abgewiesen worden war, Revision beim Vrhovno sodišče (Oberster Gerichtshof, Slowenien) ein. Der zweite Betroffene erhob Klage beim Verwaltungsgericht Darmstadt (Deutschland), nachdem sein Arbeitgeber seinem Antrag nicht entsprochen hatte.

Der Gerichtshof, der mit zwei Vorabentscheidungsersuchen dieser Gerichte befasst ist, stellt in zwei Urteilen der Großen Kammer insbesondere klar, inwieweit Bereitschaftszeiten in Form von Rufbereitschaft als „Arbeitszeit“ oder als „Ruhezeit“ im Sinne der Richtlinie 2003/881 einzustufen sind.

Würdigung durch den Gerichtshof

Einleitend weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Bereitschaftszeit eines Arbeitnehmers entweder als „Arbeitszeit“ oder als „Ruhezeit“ im Sinne der Richtlinie 2003/88 einzustufen ist, da beide Begriffe einander ausschließen. Außerdem stellt eine Zeitspanne, in der ein Arbeitnehmer tatsächlich keine Tätigkeit für seinen Arbeitgeber ausübt, nicht zwangsläufig eine „Ruhezeit“ dar.

So geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs insbesondere hervor, dass eine Bereitschaftszeit automatisch als „Arbeitszeit“ einzustufen ist, wenn der Arbeitnehmer während dieser Zeit verpflichtet ist, an seinem Arbeitsplatz, der nicht mit seiner Wohnung identisch ist, zu bleiben und sich dort seinem Arbeitgeber zur Verfügung zu halten.

Nach diesen Klarstellungen entscheidet der Gerichtshof erstens, dass Bereitschaftszeiten, einschließlich Zeiten in Form von Rufbereitschaft, auch dann in vollem Umfang unter den Begriff „Arbeitszeit“ fallen, wenn die dem Arbeitnehmer während dieser Zeiten auferlegten Einschränkungen seine Möglichkeit, die Zeit, in der seine beruflichen Dienste nicht in Anspruch genommen werden, frei zu gestalten und sich seinen eigenen Interessen zu widmen, objektiv gesehen ganz erheblich beeinträchtigen. Umgekehrt ist, wenn es keine solchen Einschränkungen gibt, nur die Zeit als „Arbeitszeit“ anzusehen, die mit der gegebenenfalls tatsächlich während solcher Bereitschaftszeiten erbrachten Arbeitsleistung verbunden ist.

Insoweit weist der Gerichtshof darauf hin, dass bei der Beurteilung, ob eine Bereitschaftszeit „Arbeitszeit“ darstellt, nur Einschränkungen berücksichtigt werden können, die dem Arbeitnehmer durch nationale Rechtsvorschriften, durch einen Tarifvertrag oder durch seinen Arbeitgeber auferlegt werden. Dagegen sind organisatorische Schwierigkeiten, die eine Bereitschaftszeit infolge natürlicher Gegebenheiten oder der freien Entscheidung des Arbeitnehmers für ihn mit sich bringen kann, unerheblich. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn das Gebiet, das der Arbeitnehmer während einer Bereitschaftszeit in Form von Rufbereitschaft praktisch nicht verlassen kann, nur wenige Möglichkeiten für Freizeitaktivitäten bietet.

Außerdem hebt der Gerichtshof hervor, dass es Sache der nationalen Gerichte ist, eine Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, um zu prüfen, ob eine Bereitschaftszeit in Form von Rufbereitschaft als „Arbeitszeit“ einzustufen ist; dies ist nämlich, wenn keine Verpflichtung besteht, am Arbeitsplatz zu bleiben, nicht automatisch der Fall. Zu diesem Zweck ist zum einen zu berücksichtigen, ob die Frist sachgerecht ist, innerhalb deren der Arbeitnehmer nach der Aufforderung durch seinen Arbeitgeber die Arbeit aufzunehmen hat, wozu er sich in der Regel an seinen Arbeitsplatz begeben muss. Die Folgen einer solchen Frist sind jedoch anhand des konkreten Falls zu beurteilen, wobei nicht nur weitere dem Arbeitnehmer auferlegte Einschränkungen wie die Verpflichtung, mit einer speziellen Ausrüstung am Arbeitsplatz zu erscheinen, zu berücksichtigen sind, sondern auch ihm gewährte Erleichterungen. Solche Erleichterungen können beispielsweise in der Bereitstellung eines Dienstfahrzeugs bestehen, mit dem von Sonderrechten gegenüber der Straßenverkehrsordnung Gebrauch gemacht werden kann. Zum anderen müssen die nationalen Gerichte die durchschnittliche Häufigkeit der von einem Arbeitnehmer während seiner Bereitschaftszeiten geleisteten Einsätze berücksichtigen, sofern insoweit eine objektive Schätzung möglich ist.

Zweitens stellt der Gerichtshof fest, dass die Art und Weise der Vergütung von Arbeitnehmern für Bereitschaftszeiten nicht der Richtlinie 2003/88 unterliegt. Sie steht daher der Anwendung innerstaatlicher Rechtsvorschriften, eines Tarifvertrags oder einer Entscheidung des Arbeitgebers nicht entgegen, wonach bei der Vergütung Zeiten, in denen tatsächlich Arbeitsleistungen erbracht werden, und Zeiten, in denen keine tatsächliche Arbeit geleistet wird, in unterschiedlicher Weise berücksichtigt werden, selbst wenn diese Zeiten in vollem Umfang als „Arbeitszeit“ anzusehen sind. Umgekehrt steht es der Richtlinie 2003/88 ebenfalls nicht entgegen, wenn Bereitschaftszeiten, die nicht als „Arbeitszeit“ eingestuft werden können, in Form der Zahlung eines zum Ausgleich der dem Arbeitnehmer durch sie verursachten Unannehmlichkeiten dienenden Betrags vergütet werden.

Drittens führt der Gerichtshof aus, dass die Einstufung einer nicht als „Arbeitszeit“ anzusehenden Bereitschaftszeit als „Ruhezeit“ die besonderen Pflichten unberührt lässt, die den Arbeitgebern nach der Richtlinie 89/3912 obliegen. Insbesondere dürfen die Arbeitgeber keine Bereitschaftszeiten einführen, die so lang oder so häufig sind, dass sie eine Gefahr für die Sicherheit oder die Gesundheit der Arbeitnehmer darstellen, unabhängig davon, ob sie als „Ruhezeiten“ im Sinne der Richtlinie 2003/88 einzustufen sind.

Fußnoten

1 Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. 2003, L 299, S. 9).
2 Art. 5 und 6 der Richtlinie 89/391/EWG des Rates vom 12. Juni 1989 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Arbeit (ABl. 1989, L 183, S. 1).

Quelle: EuGH, Pressemitteilung vom 09.03.2021 zum Urteil C-344/19 u. a. vom 09.03.2021