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Arbeitslosengeld II-Sanktionen teilweise verfassungswidrig

Sanktionen zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten bei Bezug von Arbeitslosengeld II teilweise verfassungswidrig.
Der Gesetzgeber kann die Inanspruchnahme existenzsichernder Leistungen an den Nachranggrundsatz binden, solche Leistungen also nur dann gewähren, wenn Menschen ihre Existenz nicht selbst sichern können. Er kann erwerbsfähigen Bezieherinnen und Beziehern von Arbeitslosengeld II auch zumutbare Mitwirkungspflichten zur Überwindung der eigenen Bedürftigkeit auferlegen, und darf die Verletzung solcher Pflichten sanktionieren, indem er vorübergehend staatliche Leistungen entzieht. Aufgrund der dadurch entstehenden außerordentlichen Belastung gelten hierfür allerdings strenge Anforderungen der Verhältnismäßigkeit; der sonst weite Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers ist hier beschränkt. Je länger die Regelungen in Kraft sind und der Gesetzgeber damit deren Wirkungen fundiert einschätzen kann, desto weniger darf er sich allein auf Annahmen stützen. Auch muss es den Betroffenen möglich sein, in zumutbarer Weise die Voraussetzungen dafür zu schaffen, die Leistung nach einer Minderung wieder zu erhalten.

Mit dieser Begründung hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts mit am 05. November 2019 verkündetem Urteil zwar die Höhe einer Leistungsminderung von 30 % des maßgebenden Regelbedarfs bei Verletzung bestimmter Mitwirkungspflichten nicht beanstandet. Allerdings hat er auf Grundlage der derzeitigen Erkenntnisse die Sanktionen für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt, soweit die Minderung nach wiederholten Pflichtverletzungen innerhalb eines Jahres die Höhe von 30 % des maßgebenden Regelbedarfs übersteigt oder gar zu einem vollständigen Wegfall der Leistungen führt. Mit dem Grundgesetz unvereinbar sind die Sanktionen zudem, soweit der Regelbedarf bei einer Pflichtverletzung auch im Fall außergewöhnlicher Härten zwingend zu mindern ist und soweit für alle Leistungsminderungen eine starre Dauer von drei Monaten vorgegeben wird. Der Senat hat die Vorschriften mit entsprechenden Maßgaben bis zu einer Neuregelung für weiter anwendbar erklärt.

Sachverhalt

1. Nach § 31 Abs. 1 SGB II verletzen erwerbsfähige Empfänger von Arbeitslosengeld II, die keinen wichtigen Grund für ihr Verhalten darlegen und nachweisen, ihre Pflichten, wenn sie sich trotz Rechtsfolgenbelehrung nicht an die Eingliederungsvereinbarung halten, wenn sie sich weigern, eine zumutbare Arbeit, Ausbildung, Arbeitsgelegenheit oder ein gefördertes Arbeitsverhältnis aufzunehmen, fortzuführen oder deren Anbahnung durch ihr Verhalten verhindern oder wenn sie eine zumutbare Maßnahme zur Eingliederung in Arbeit nicht antreten, abbrechen oder Anlass für den Abbruch gegeben haben. Rechtsfolge dieser Pflichtverletzungen ist nach § 31a SGB II die Minderung des Arbeitslosengeldes II in einer ersten Stufe um 30 % des für die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person maßgebenden Regelbedarfs. Bei der zweiten Pflichtverletzung mindert sich der Regelbedarf um 60 %. Bei jeder weiteren wiederholten Pflichtverletzung entfällt das Arbeitslosengeld II vollständig. Die Dauer der Minderung beträgt nach § 31b SGB II drei Monate.

2. Das zuständige Jobcenter verhängte gegen den Kläger des Ausgangsverfahrens zunächst eine Sanktion der Minderung des maßgeblichen Regelbedarfes in Höhe von 30 %, nachdem dieser als ausgebildeter Lagerist gegenüber einem ihm durch das Jobcenter vermittelten Arbeitgeber geäußert hatte, kein Interesse an der angebotenen Tätigkeit im Lager zu haben, sondern sich für den Verkaufsbereich bewerben zu wollen. Nachdem der Kläger einen Aktivierungs- und Vermittlungsgutschein für eine praktische Erprobung im Verkaufsbereich nicht eingelöst hatte, minderte das Jobcenter den Regelbedarf um 60 %. Nach erfolglosem Widerspruch erhob er Klage vor dem Sozialgericht. Dieses setzte das Verfahren aus und legte im Wege der konkreten Normenkontrolle dem Bundesverfassungsgericht die Frage vor, ob die Regelungen in § 31a in Verbindung mit § 31 und § 31b SGB II mit dem Grundgesetz vereinbar seien.

Wesentliche Erwägungen des Senats

I. Die zentralen Anforderungen für die Ausgestaltung der Grundsicherungsleistungen ergeben sich aus der grundrechtlichen Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG. Der Gesetzgeber verfügt bei den Regeln zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums über einen Gestaltungsspielraum.

Die eigenständige Existenzsicherung des Menschen ist nicht Bedingung dafür, dass ihm Menschenwürde zukommt; die Voraussetzungen für ein eigenverantwortliches Leben zu schaffen, ist vielmehr Teil des Schutzauftrags des Staates aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG. Das Grundgesetz verwehrt dem Gesetzgeber jedoch nicht, die Inanspruchnahme sozialer Leistungen zur Sicherung der menschenwürdigen Existenz an den Nachranggrundsatz zu binden, solche Leistungen also nur dann zu gewähren, wenn Menschen ihre Existenz nicht selbst sichern können. Damit gestaltet der Gesetzgeber das Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG aus.

Der Nachranggrundsatz kann nicht nur eine Pflicht zum vorrangigen Einsatz aktuell verfügbarer Mittel aus Einkommen, Vermögen oder Zuwendungen Dritter enthalten. Das Grundgesetz steht auch der gesetzgeberischen Entscheidung nicht entgegen, von denjenigen, die staatliche Leistungen der sozialen Sicherung in Anspruch nehmen, zu verlangen, an der Überwindung ihrer Hilfebedürftigkeit selbst aktiv mitzuwirken oder die Bedürftigkeit gar nicht erst eintreten zu lassen. Solche Mitwirkungspflichten beschränken allerdings die Handlungsfreiheit der Betroffenen und müssen sich daher verfassungsrechtlich rechtfertigen lassen. Verfolgt der Gesetzgeber mit Mitwirkungspflichten das legitime Ziel, dass Menschen die eigene Hilfebedürftigkeit insbesondere durch Erwerbsarbeit vermeiden oder überwinden, müssen sie dafür auch geeignet, erforderlich und zumutbar sein.

Der Gesetzgeber darf verhältnismäßige Mitwirkungspflichten auch durchsetzbar ausgestalten. Er kann für den Fall, dass Menschen eine ihnen klar bekannte und zumutbare Mitwirkungspflicht ohne wichtigen Grund nicht erfüllen, belastende Sanktionen vorsehen, um so ihre Pflicht zur Mitwirkung an der Überwindung der eigenen Hilfebedürftigkeit durchzusetzen. Solche Regelungen berücksichtigen die Eigenverantwortung, da die Betroffenen die Folgen zu tragen haben, die das Gesetz an ihr Handeln knüpft.

Entscheidet sich der Gesetzgeber für die Sanktion der vorübergehenden Minderung existenzsichernder Leistungen, fehlen der bedürftigen Person allerdings Mittel, die sie benötigt, um die Bedarfe zu decken, die ihr eine menschenwürdige Existenz ermöglichen. Mit dem Grundgesetz kann das dennoch vereinbar sein, wenn diese Sanktion darauf ausgerichtet ist, dass Mitwirkungspflichten erfüllt werden, die gerade dazu dienen, die existenzielle Bedürftigkeit zu vermeiden oder zu überwinden. Es gelten jedoch strenge Anforderungen der Verhältnismäßigkeit. Der sonst bestehende weite Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers ist enger, wenn er auf existenzsichernde Leistungen zugreift. Je länger eine solche Sanktionsregelung in Kraft ist, umso tragfähigerer Erkenntnisse bedarf es, um ihre Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit zu belegen.

Bei der Ausgestaltung der Sanktionen sind zudem weitere Grundrechte zu beachten, wenn ihr Schutzbereich berührt ist.

II.1. Die Regelungen staatlicher Sozialleistungen sind mit dem Grundgesetz vereinbar, soweit sie erwerbsfähige Erwachsene zu einer zumutbaren Mitwirkung verpflichten, um ihre Hilfebedürftigkeit zu überwinden oder zu verhindern.

Der Gesetzgeber verfolgt mit den in § 31 Abs. 1 SGB II geregelten Mitwirkungspflichten legitime Ziele, denn sie sollen Menschen wieder in Arbeit bringen. Diese Pflichten sind auch im verfassungsrechtlichen Sinne geeignet, die erwähnten Ziele zu erreichen. Der Gesetzgeber überschreitet auch nicht seinen Einschätzungsspielraum zur Erforderlichkeit, denn es ist nicht evident, dass weniger belastende Mitwirkungshandlungen oder positive Anreize dasselbe bewirken könnten. Die Ausgestaltung der Mitwirkungspflichten ist auch zumutbar. Der Gesetzgeber muss hier – anders als im Recht der Arbeitsförderung – keinen Berufsschutz normieren, denn das Recht der Sozialversicherung und das Grundsicherungsrecht unterscheiden sich strukturell. Es ist daher nicht zu beanstanden, dass hier andere als bislang ausgeübte und auch geringerwertige Tätigkeiten zumutbar sind. Darüber hinaus ist nicht erkennbar, dass eine der in § 31 Abs. 1 SGB II benannten Mitwirkungspflichten gegen das Verbot der Zwangsarbeit (Art. 12 Abs. 2 GG) verstoßen würde. Es ist verfassungsrechtlich auch nicht zu beanstanden, wenn die Mitwirkungspflicht eine Erwerbstätigkeit betrifft, die nicht dem eigenen Berufswunsch entspricht. In den allgemeinen Zumutbarkeitsregelungen, die auch für die Mitwirkungspflichten gelten, ist auch der grundrechtliche Schutz der Familie (Art. 6 GG) berücksichtigt.

2. Die Entscheidung des Gesetzgebers, legitime Pflichten mit Sanktionen durchzusetzen, ist verfassungsrechtlich im Ausgangspunkt nicht zu beanstanden, denn damit verfolgt er ein legitimes Ziel. Die hier zu überprüfenden gesetzlichen Regelungen genügen allerdings dem in diesem Bereich geltenden strengen Maßstab der Verhältnismäßigkeit nicht.

a) Die in § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II normierte Höhe einer Leistungsminderung von 30 % des maßgebenden Regelbedarfs ist nach den derzeitigen Erkenntnissen verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Zwar ist schon die Belastungswirkung dieser Sanktion außerordentlich und die Anforderungen an ihre Verhältnismäßigkeit sind entsprechend hoch. Doch kann sich der Gesetzgeber auf plausible Annahmen stützen, wonach eine solche Minderung der Grundsicherungsleistungen auch aufgrund einer abschreckenden Wirkung dazu beiträgt, die Mitwirkung zu erreichen, und er kann davon ausgehen, dass mildere Mittel nicht ebenso effektiv wären. Zumutbar ist eine Leistungsminderung in Höhe von 30 % des maßgebenden Regelbedarfs jedoch nur, wenn in einem Fall außergewöhnlicher Härte von der Sanktion abgesehen werden kann und wenn die Minderung nicht unabhängig von der Mitwirkung der Betroffenen starr drei Monate andauert.

aa) Der in § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II geregelten Leistungsminderung in Höhe von 30 % des Regelbedarfs ist im Ergebnis eine generelle Eignung zur Erreichung ihres Zieles, durch Mitwirkung die Hilfebedürftigkeit zu überwinden, nicht abzusprechen. Der gesetzgeberische Einschätzungsspielraum ist zwar begrenzt, weil das grundrechtlich geschützte Existenzminimum berührt ist. Doch genügt die Annahme, die Sanktion trage zur Erreichung ihrer Ziele bei, den verfassungsrechtlichen Anforderungen, weil der Gesetzgeber jedenfalls von einer abschreckenden ex ante-Wirkung dieser Leistungsminderung ausgehen kann. Zudem hat er Vorkehrungen getroffen, die den Zusammenhang zwischen der Mitwirkungspflicht zwecks eigenständiger Existenzsicherung und der Leistungsminderung zu deren Durchsetzung stärken.

Auch die Einschätzung des Gesetzgebers, dass eine solche Sanktion zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten erforderlich ist, hält sich noch in seinem Einschätzungsspielraum. Die gesetzgeberische Annahme, dass mildere, aber gleich wirksame Mittel nicht zur Verfügung stehen, ist hinreichend tragfähig. Es erscheint jedenfalls plausibel, dass eine spürbar belastende Reaktion die Betroffenen dazu motivieren kann, ihren Pflichten nachzukommen, und eine geringere Sanktion oder positive Anreize keine generell gleichermaßen wirksame Alternative darstellen.

Die Regelung verletzt insgesamt auch nicht die hier strengen Anforderungen der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne.

bb) Hingegen genügt die weitere Ausgestaltung dieser Sanktion zur Durchsetzung legitimer Mitwirkungspflichten den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht. Die Vorgabe in § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II, den Regelbedarf bei einer Pflichtverletzung ohne weitere Prüfung immer zwingend zu mindern, ist jedenfalls unzumutbar. Der Gesetzgeber stellt derzeit nicht sicher, dass Minderungen unterbleiben können, wenn sie außergewöhnliche Härten bewirken, insbesondere, weil sie in der Gesamtbetrachtung untragbar erscheinen. Er muss solchen Ausnahmesituationen Rechnung tragen, in denen es Menschen zwar an sich möglich ist, eine Mitwirkungspflicht zu erfüllen, die Sanktion aber dennoch im konkreten Einzelfall aufgrund besonderer Umstände unzumutbar erscheint.

cc) Nach der hier vorzunehmenden Gesamtabwägung ist es auch unzumutbar, dass die Sanktion der Minderung des Regelbedarfs nach § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II unabhängig von der Mitwirkung, auf die sie zielt, immer erst nach drei Monaten endet. Der starr andauernde Leistungsentzug überschreitet die Grenzen des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums. Da der Gesetzgeber an die Eigenverantwortung der Betroffenen anknüpfen muss, wenn er existenzsichernde Leistungen suspendiert, weil zumutbare Mitwirkung verweigert wird, ist dies nur zumutbar, wenn eine solche Sanktion grundsätzlich endet, sobald die Mitwirkung erfolgt. Die Bedürftigen müssen selbst die Voraussetzungen dafür schaffen können, die Leistung tatsächlich wieder zu erhalten. Ist die Mitwirkung nicht mehr möglich, erklären sie aber ihre Bereitschaft dazu ernsthaft und nachhaltig, muss die Leistung jedenfalls in zumutbarer Zeit wieder gewährt werden. Auch hier ist der sonst weite Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers begrenzt, weil die vorübergehende Minderung existenzsichernder Leistungen im durch Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG grundrechtlich geschützten Bereich harte Belastungen schafft, ohne dass sich die existenziellen Bedarfe der Betroffenen zu diesem Zeitpunkt verändert hätten.

b) Die im Fall der ersten wiederholten Verletzung einer Mitwirkungspflicht nach § 31a Abs. 1 Satz 2 SGB II vorgegebene Minderung der Leistungen des maßgebenden Regelbedarfs in einer Höhe von 60 % ist nach den derzeit vorliegenden Erkenntnissen nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. In der Gesamtabwägung der damit einhergehenden gravierenden Belastung mit den Zielen der Durchsetzung von Mitwirkungspflichten zur Integration in den Arbeitsmarkt ist die Regelung in der derzeitigen Ausgestaltung auf Grundlage der derzeitigen Erkenntnisse über die Eignung und Erforderlichkeit einer Leistungsminderung in dieser Höhe verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen. Zwar ist es nicht ausgeschlossen, erneut zu sanktionieren, wenn sich eine Pflichtverletzung wiederholt und die Mitwirkungspflicht tatsächlich nur so durchgesetzt werden kann. Doch ist die Minderung in der Höhe von 60 % des Regelbedarfs unzumutbar, denn die hier entstehende Belastung reicht weit in das grundrechtlich gewährleistete Existenzminimum hinein.

aa) Der Gesetzgeber hat zwar Vorkehrungen getroffen, um zu verhindern, dass Menschen durch eine Sanktion die Grundlagen dafür verlieren, überhaupt wieder in Arbeit zu kommen. Sie beseitigen aber die verfassungsrechtlichen Bedenken nicht. Der Gesetzgeber kann sich bei der Minderung um 60 % des maßgebenden Regelbedarfs nicht auf tragfähige Erkenntnisse dazu stützen, dass die erwünschten Wirkungen bei einer Sanktion in dieser Höhe tatsächlich erzielt und negative Effekte vermieden werden. Die Wirksamkeit dieser Leistungsminderung ist bisher nicht hinreichend erforscht. Wenn sich die Eignung tragfähig belegen lässt, Betroffene zur Mitwirkung an der Überwindung der Hilfebedürftigkeit durch Erwerbsarbeit zu veranlassen, mag der Gesetzgeber ausnahmsweise auch eine besonders harte Sanktion vorsehen. Die allgemeine Annahme, diese Leistungsminderung erreiche ihre Zwecke, genügt aber angesichts der gravierenden Belastung der Betroffenen dafür nicht. Es ist im Übrigen auch zweifelhaft, dass einer wiederholten Pflichtverletzung nicht durch mildere Mittel hinreichend effektiv entgegengewirkt werden könnte, wie durch eine zweite Sanktion in geringerer Höhe oder längerer Dauer.

Die Zweifel an der Eignung dieser Leistungsminderung in Höhe von 60 % des maßgebenden Regelbedarfs beseitigt die Regelung zu möglichen ergänzenden Leistungen in § 31a Abs. 3 Satz 1 SGB II nicht, da ihre Ausgestaltung den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht hinreichend Rechnung trägt.

bb) Im Übrigen ergeben sich auch bei der Minderung in Höhe von 60 % des Regelbedarfs nach § 31a Abs. 1 Satz 2 SGB II die genannten Zweifel daran, dass die Sanktion auch in erkennbar ungeeigneten Fällen zwingend vorgegeben ist und unabhängig von jeder Mitwirkung starr drei Monate andauern muss.

c) Der vollständige Wegfall des Arbeitslosengeldes II nach § 31a Abs. 1 Satz 3 SGB II ist auf Grundlage der derzeitigen Erkenntnisse mit den verfassungsrechtlichen Maßgaben nicht vereinbar. Hier entfallen neben den Geldzahlungen für den maßgebenden Regelbedarf hinaus auch die Leistungen für Mehrbedarfe und für Unterkunft und Heizung sowie die Beiträge zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung. Daher bestehen bereits Zweifel, ob damit die Grundlagen der Mitwirkungsbereitschaft erhalten bleiben. Es liegen keine tragfähigen Erkenntnisse vor, aus denen sich ergibt, dass ein völliger Wegfall von existenzsichernden Leistungen geeignet wäre, das Ziel der Mitwirkung an der Überwindung der eigenen Hilfebedürftigkeit und letztlich der Aufnahme von Erwerbsarbeit zu fördern.

aa) Auch gegen die Erforderlichkeit dieser Sanktion bestehen erhebliche Bedenken. Der grundsätzliche Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers ist hier eng, weil die Sanktion eine gravierende Belastung im grundrechtlich geschützten Bereich der menschenwürdigen Existenz bewirkt. Er ist überschritten, weil in keiner Weise belegt ist, dass ein Wegfall existenzsichernder Leistungen notwendig wäre, um die angestrebten Ziele zu erreichen. Es ist offen, ob eine Minderung der Regelbedarfsleistungen in geringerer Höhe, eine Verlängerung des Minderungszeitraumes oder auch eine teilweise Umstellung von Geldleistungen auf Sachleistungen und geldwerte Leistungen nicht genauso wirksam oder sogar wirksamer wäre, weil die negativen Effekte der Totalsanktion unterblieben.

bb) Schon angesichts der Eignungsmängel und der Zweifel an der Erforderlichkeit einer derart belastenden Sanktion zur Durchsetzung der Mitwirkungspflichten ergibt sich in der Gesamtabwägung, dass der völlige Wegfall aller Leistungen auch mit den begrenzten Möglichkeiten ergänzender Leistungen bereits wegen dieser Höhe nicht mit den hier strengen Anforderungen der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist.

Unabhängig davon hat der Gesetzgeber auch im Fall eines vollständigen Wegfalls des Arbeitslosengeldes II dafür Sorge zu tragen, dass die Chance realisierbar bleibt, existenzsichernde Leistungen zu erhalten, wenn zumutbare Mitwirkungspflichten erfüllt werden oder, falls das nicht möglich ist, die ernsthafte und nachhaltige Bereitschaft zur Mitwirkung tatsächlich vorliegt. Anders liegt dies, wenn und solange Leistungsberechtigte es selbst in der Hand haben, durch Aufnahme einer ihnen angebotenen zumutbaren Arbeit ihre menschenwürdige Existenz tatsächlich und unmittelbar durch die Erzielung von Einkommen selbst zu sichern. Wird eine solche tatsächlich existenzsichernde und zumutbare Erwerbstätigkeit ohne wichtigen Grund verweigert, obwohl im Verfahren die Möglichkeit bestand, dazu auch etwaige Besonderheiten der persönlichen Situation vorzubringen, kann ein vollständiger Leistungsentzug zu rechtfertigen sein.

III. Bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung bleibt die – für sich genommen verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende – Leistungsminderung in Höhe von 30 % nach § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II mit der Maßgabe anwendbar, dass eine Sanktionierung nicht erfolgen muss, wenn dies im konkreten Einzelfall zu einer außergewöhnlichen Härte führen würde. Die gesetzlichen Regelungen zur Leistungsminderung um 60 % sowie zum vollständigen Leistungsentzug (§ 31a Abs. 1 Sätze 2 und 3 SGB II) sind bis zu einer Neuregelung mit der Maßgabe anwendbar, dass wegen wiederholter Pflichtverletzung eine Leistungsminderung nicht über 30 % des maßgebenden Regelbedarfs hinausgehen darf und von einer Sanktionierung auch hier abgesehen werden kann, wenn dies zu einer außergewöhnlichen Härte führen würde. § 31b Abs. 1 Satz 3 SGB II zur zwingenden dreimonatigen Dauer des Leistungsentzugs ist bis zu einer Neuregelung mit der Einschränkung anzuwenden, dass die Behörde die Leistung wieder erbringen kann, sobald die Mitwirkungspflicht erfüllt wird oder Leistungsberechtigte sich ernsthaft und nachhaltig bereit erklären, ihren Pflichten nachzukommen.

Quelle: BVerfG, Pressemitteilung vom 05.11.2019 zum Urteil 1 BvL 7/16 vom 05.11.2019

Befreiung von der Rundfunkbeitragspflicht wegen eines besonderen Härtefalls

Die Absolventin eines Zweitstudiums, die keine Berufsausbildungsförderung und deshalb auch keine anderen Sozialleistungen erhält, ist von der Entrichtung des Rundfunkbeitrags wegen eines besonderen Härtefalls zu befreien, wenn ihr nach Abzug der Wohnkosten ein Einkommen zur Verfügung steht, das in seiner Höhe mit demjenigen Einkommen der Empfänger von Sozialleistungen nach dem SGB XII vergleichbar ist, und kein verwertbares Vermögen vorhanden ist. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig entschieden.

Die Klägerin ist Inhaberin einer Wohnung und damit grundsätzlich zur Entrichtung des Rundfunkbeitrags verpflichtet. Sie absolvierte im Anschluss an ein abgeschlossenes Bachelor-Studium ein Zweitstudium, für das sie mangels Förderungsfähigkeit keine Leistungen nach dem Bundessausbildungsförderungsgesetz und deshalb auch keine Sozialleistungen erhielt. Sie lebte von Unterhaltsleistungen der Eltern und Wohngeld. Nach Abzug der Mietkosten standen ihr 337 Euro für ihren Lebensunterhalt zur Verfügung. Sie beantragte daher eine Befreiung von der Entrichtung des Rundfunkbeitrags. Den Antrag lehnte der Beklagte ab und setzte mit gesondertem Bescheid rückständige Rundfunkbeiträge fest. Die hiergegen gerichteten Widersprüche sowie die anschließend gegen die Beitragsfestsetzung und auf Befreiung von der Rundfunkbeitragspflicht gerichtete Klage blieben in den Vorinstanzen erfolglos.

Das Bundesverwaltungsgericht hat die vorinstanzlichen Urteile teilweise geändert und die öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt zur Befreiung der Klägerin von der Rundfunkbeitragspflicht verpflichtet. Die Festsetzung rückständiger Rundfunkbeiträge ist rechtmäßig, weil die Klägerin zum damaligen Zeitpunkt als Beitragsschuldnerin noch nicht von der Entrichtung des Rundfunkbeitrags für den Zeitraum der Beitragsfestsetzung befreit gewesen ist. Gleichzeitig hat ihre Klage auf Befreiung von der Rundfunkbeitragspflicht Erfolg. Die Klägerin erhält zwar keine Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz oder eine andere Sozialleistung, die nach den Katalogtatbeständen des Rundfunkbeitragsstaatsvertrags zu einer Befreiung führen. Eine erweiternde Anwendung dieser Katalogtatbestände auf Empfänger von Wohngeldleistungen und Absolventen von nicht förderungsfähigen Zweitstudiengängen scheidet aus, weil die Landesgesetzgeber bewusst und insoweit abschließend die Befreiung an die bundesgesetzlichen Regelungen der im Katalog genannten Sozialleistungen zur Vereinfachung geknüpft haben. Jedoch sieht der Rundfunkbeitragsstaatsvertrag hierneben auch eine Befreiung in besonderen Härtefällen vor. Der Begriff des besonderen Härtefalls erfasst vor allem diejenigen Fälle, in denen der Beitragsschuldner eine mit den Empfängern von Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII vergleichbare Bedürftigkeit nachweisen kann. Hierzu zählen einkommensschwache Beitragsschuldner wie die Klägerin, die nach Abzug ihrer Wohnkosten weniger Einkommen zur Verfügung haben als ein Bezieher von derartigen Leistungen, und kein verwertbares Vermögen haben. Gründe der Verwaltungsvereinfachung rechtfertigen es nicht, einkommensschwachen Personen, die mit ihrem Einkommen unter den sozialhilferechtlichen Regelsätzen liegen und dieses zur Deckung ihres Lebensbedarfs benötigen, eine Befreiung zu versagen, während die Empfänger von Hilfe zum Lebensunterhalt nicht auf ihr Einkommen zur Entrichtung des Rundfunkbeitrags zurückgreifen müssen. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten müssen in solchen Fällen anhand der vom Beitragspflichtigen vorzulegenden Nachweise das Vorliegen einer vergleichbaren Bedürftigkeit prüfen.

Erfasst die zu erteilende Befreiung rückwirkend einen Zeitraum, für den die öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt bereits rückständige Rundfunkbeiträge festgesetzt hat, ist diese verpflichtet, den Festsetzungsbescheid insoweit aufzuheben.

Quelle: BVerwG, Pressemitteilung vom 01.11.2019 zum Urteil 6 C 10.18 vom 30.10.2019

BFH: EuGH-Vorlage zum Apothekenrabatt im Umsatzsteuerrecht

Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) soll entscheiden, ob eine Apotheke, die verschreibungspflichtige Arzneimittel an gesetzliche Krankenkassen liefert, aufgrund einer Rabattgewährung an die gesetzlich krankenversicherte Person umsatzsteuerrechtlich zu einer Steuervergütung für die an die Krankenkasse ausgeführte Lieferung berechtigt ist. Der Vorlagebeschluss des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 06.06.2019 – V R 41/17 betrifft grenzüberschreitende Arzneimittellieferungen im Binnenmarkt.

Im Streitfall lieferte die Klägerin aus den Niederlanden Arzneimittel an gesetzliche Krankenkassen im Inland für die bei diesen gesetzlich versicherten Personen. Sie gewährte den gesetzlich Versicherten für deren Bestellungen zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung Rabatte und macht geltend, deshalb zu Umsatzsteuerminderungen (Steuervergütungen) berechtigt zu sein. Für die Entscheidung hierüber kommt es auf das europäische Mehrwertsteuerrecht an, das bei der Auslegung des nationalen Umsatzsteuerrechts zu berücksichtigen ist, so dass insoweit bestehende Zweifelsfragen eine Vorabentscheidung durch den EuGH erforderlich machten.

In seinem Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH weist der BFH darauf hin, dass die Klägerin als Apotheke aus den Niederlanden an die jeweilige gesetzliche Krankenkasse im Inland geliefert habe. Diese wiederum verschaffte den bei ihr Versicherten die verschreibungspflichtigen Arzneimittel im Rahmen des Versicherungsverhältnisses und damit außerhalb eines umsatzsteuerbaren Leistungsaustausches. Damit fehlt es an einer bis zum Rabattempfänger reichenden Umsatzkette. Dies könnte gegen den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch sprechen.

Der BFH weist auch darauf hin, dass Apotheken im Inland anders als die Klägerin einem Rabattverbot unterliegen. Zudem habe die Klägerin in Bezug auf die streitigen Lieferungen (an die gesetzlichen Krankenkassen) im Inland keinen Steuertatbestand verwirklicht, so dass es an einer inländischen Steuer fehlt, die gemindert werden könne. Im Hinblick auf die Schaffung des Binnenmarkts könnte das Erfordernis einer Steuerschuld im Inland aber als unionsrechtswidrig anzusehen sein.

Quelle: BFH, Pressemitteilung Nr. 71/19 vom 31.10.2019 zum Beschluss V R 41/17 vom 06.06.2019

Berliner Bundesratsinitiative zu Steuerprüfungen bei Steuerpflichtigen mit bedeutenden Einkünften

Der Berliner Senat wird im Bundesrat einen Entschließungsantrag zur Stärkung des Steuervollzugs einbringen. Konkret geht es um Mindestintervalle bei Steuerprüfungen von Steuerpflichtigen mit bedeutenden Einkünften. Ein entsprechender Senatsbeschluss wurde am 29.10.2019 auf Vorlage von Finanzsenator Dr. Matthias Kollatz gefasst. Dieser wird dem Abgeordnetenhaus zur Kenntnisnahme zugeleitet.

Senator Dr. Kollatz:

„Ziel der Bundesratsinitiative ist es, bundesweit eine stärkere Verbindlichkeit zu schaffen. Mit dem Entschließungsantrag soll eine regelmäßige Überprüfung sichergestellt werden. Unsere Erfahrungen in Berlin zeigen aber auch, dass mit einer risikoorientiertenFallauswahl eine sachgerechte und erfolgreiche Steuerprüfung möglich ist. In der Regel ist den Finanzämtern die Bemessungsgrundlage bekannt. Daher ist nicht bei allen Fällen eine Steuerprüfung angezeigt. Geprüft werden zuerst diejenigen, bei denen Veränderungen zwischen den Jahren oder Inkonsistenzen zwischen verschiedenen Angaben auffällig sind.“

Grundsätzlich werden Steuerpflichtige mit bedeutenden Einkünften intensiv geprüft – im Vergleich zu Gewerbebetrieben viermal häufiger. Die Prüfdichte lag 2018 bei rund zehn Prozent. Anhand verschiedener Risikokriterien wird entschieden, ob eine Steuerprüfung erfolgt. Bei der überwiegenden Anzahl der Fälle mit bedeutenden Einkünften ist die Bemessungsgrundlage für die Steuerfestsetzung bekannt. Für Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit liegt beispielsweise eine Lohnsteuerbescheinigung vor, für Einkünfte aus Kapitalvermögen werden Steuerbescheinigungen durch die ausschüttende Gesellschaft erstellt. Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung sind regelmäßig wiederkehrende Mieteinnahmen.

Im Gegensatz zur risikoorientierten Prüfung ist die Einführung eines Mindest-prüfungsintervalls mit Personalzuwächsen verbunden. Denn die Anzahl an Prüfungen würde steigen. Die höheren Ausgaben für das Personal wären vom Land Berlin allein zu tragen. Mehreinnahmen hingegen wären wegen der grundgesetzlich geregelten Ertragskompetenzen je nach Steuerart und Wirkung des Länderfinanzausgleichs aufzuteilen. Wenn das Ziel der Initiative erreicht wird, erbringt Berlin eine Leistung, von der andere Bundesländer und der Bund mit profitieren – einen Solidarbeitrag also.

Hintergrundinformationen:

Das Abgeordnetenhaus hatte am 12. September 2019 beschlossen, dass der Senat mit einer Bundesratsinitiative die Änderung der Abgabenordnung erwirken soll. Diese Änderung zielt darauf ab, ein Mindestprüfungsintervall von drei Jahren einzuführen.

Bei Steuerpflichtigen mit bedeutenden Einkünften übersteigt die Summe der positiven Überschusseinkünfte (beispielsweise aus nichtselbstständiger Arbeit, aus Kapitalvermögen oder aus Vermietung und Verpachtung nach § 22 Einkommensteuergesetz) 500.000 Euro pro Jahr.

Quelle: Berliner Senat, Pressemitteilung vom 29.10.2019

DBA Schweiz: Ergänzung der Konsultationsvereinbarung über die Durchführung von Schiedsverfahren

Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen; Ergänzung der Konsultationsvereinbarung über die Durchführung von Schiedsverfahren gemäß Artikel 26 Absatz 5 bis 7 DBA-Schweiz um weitere Gründe für einen Ausschluss von Schiedsverfahren

Zur einheitlichen Anwendung und Auslegung des Artikels 26 Absatz 5 bis 7 des deutschschweizerischen Doppelbesteuerungsabkommens (DBA) vom 11. August 1971, zuletzt geändert durch das Änderungsprotokoll vom 27. Oktober 2010 (BGBl. 2011 II S. 1092), haben die zuständigen Behörden gestützt auf Artikel 26 Absatz 3 und 7 DBA, am 25. Oktober 2019 die nachstehende Konsultationsvereinbarung abgeschlossen:

«Ergänzung der Konsultationsvereinbarung vom 21. Dezember 2016 über die Durchführung von Schiedsverfahren gemäß Artikel 26 Absatz 5 bis 7 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen vom 11. August 1971

Gestützt auf Artikel 26 Absatz 5 bis 7 des Abkommens zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen vom 11. August 1971 haben die zuständigen Behörden der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Bundesrepublik Deutschland folgende Ergänzung der Konsultationsvereinbarung vom 21. Dezember 2016 über die Durchführung des Schiedsverfahrens (im Folgenden «Konsultationsvereinbarung») vereinbart:

1.

Buchstabe b) von Tz. 4 der Konsultationsvereinbarung wird zu Buchstabe c).

2.

Der folgende neue Buchstabe b) wird in Tz. 4 der Konsultationsvereinbarung eingefügt:

«b) Die zuständigen Behörden stimmen ungeachtet von Buchstabe a) überein, dass ein Fall nicht für das Schiedsverfahren geeignet ist, wenn der Steuerpflichtige im Besteuerungsverfahren einschließlich eines Verfahrens nach Artikel 26 Absatz 1 des Abkommens in einem oder in beiden Staaten für ihn erkennbar unwahre Angaben gemacht oder zutreffende Angaben pflichtwidrig unterlassen hat, um eine für ihn insgesamt vorteilhafte Besteuerung nach dem Abkommen herbeizuführen. Hiervon ist insbesondere auszugehen, wenn in einem Staat durch ein Gerichts-oder Verwaltungsverfahren bestandskräftig festgestellt wurde, dass der Steuerpflichtige durch dieses Verhalten einen Verstoß gegen steuerliche Vorschriften begangen hat oder er deswegen mit einer erheblichen Sanktion belegt worden ist. Dieser Buchstabe b) ist auf alle offenen Fälle anwendbar bis zum 31. Dezember 2022, sofern sich die zuständigen Behörden nicht über die Weiterführung einigen. »

Dieses Schreiben wird im Bundessteuerblatt Teil I veröffentlicht.

Quelle: BMF, Schreiben IV B 2 – S-1301-CHE / 07 / 10026-11 vom 30.10.2019

DRSC: DRÄS 9 zu Änderungen an DRS 17 und DRS 20 infolge des ARUG II verabschiedet

Am 25. Oktober 2019 verabschiedete das Deutsche Rechnungslegungs-Standards Committee e.V. (DRSC) den Deutschen Rechnungslegungs-Änderungsstandards Nr. 9 (DRÄS 9). Die Änderungen betreffen DRS 17 Berichterstattung über die Vergütung der Organmitglieder sowie DRS 20 Konzernlagebericht und ergeben sich aus dem noch nicht in Kraft getretenen Gesetz zur Umsetzung der Zweiten Aktionärsrechte-Richtlinie, kurz ARUG II. Die Fachausschüsse des DRSC gehen allerdings davon aus, dass die Wahrscheinlichkeit von Änderungen am Gesetzesentwurf mit Auswirkungen auf DRS 17 und DRS 20 sehr gering ist.

Die Änderungen an DRS 17 und DRS 20 stehen unter dem Vorbehalt, dass die im Regierungsentwurf (BT-Drucksache 19/9739 vom 29. April 2019) enthaltenen Änderungen betreffend den (Konzern-)Anhang und (Konzern-)Lagebericht deckungsgleich in das endgültige ARUG II einfließen. Da noch ungewiss ist, welchen Erstanwendungszeitpunkt das Gesetz vorsehen wird, enthält DRÄS 9 insoweit kein konkretes Datum.

Die materiellen Änderungen betreffen im Wesentlichen:

  • Aufhebung der in DRS 17 (geändert 2010) speziell für börsennotierte Mutterunternehmen formulierten Transparenzvorgaben,
  • Erweiterung des Inhalts der in DRS 20 geregelten Konzernerklärung zur Unternehmensführung und
  • Aktualisierung der Verweise auf Paragrafen des Wertpapierhandelsgesetzes.

Auf der Internetseite des DRSC steht eine detaillierte Darstellung der gegenüber dem Entwurf vorgenommenen Änderungen zur Verfügung. Weiterführende Informationen können Sie zudem der Sitzungsunterlage des IFRS-Fachausschusses des DRSC entnehmen.

Quelle: WPK, Mitteilung vom 30.10.2019

Steuern und Sozialbeiträge im Jahr 2018 – Steuerquote im Verhältnis zum BIP in der EU auf 40,3 % gestiegen

Die Steuerquote im Verhältnis zum BIP, d. h. die Summe aller Steuern, Abgaben und Nettosozialbeiträge in Prozent des Bruttoinlandsprodukts, belief sich in der Europäischen Union (EU) im Jahr 2018 auf 40,3 %, ein leichter Anstieg gegenüber 2017 (40,2 %). Im Euroraum lag die Steuerquote im Verhältnis zum BIP im Jahr 2018 bei 41,7 %, ein Anstieg gegenüber 41,5 % im Jahr 2017.

Diese Informationen stammen aus einer Veröffentlichung von Eurostat, dem statistischen Amt der Europäischen Union. Die auf der Grundlage des Europäischen Systems Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen (ESVG 2010) erhobenen harmonisierten Steuerindikatoren ermöglichen einen genauen Vergleich der Steuersysteme und Steuerpolitik der EU-Mitgliedstaaten.

Höchste Steuerquote im Verhältnis zum BIP in Frankreich, Belgien und Dänemark. Die Steuerquote im Verhältnis zum BIP ist in den einzelnen Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich. Die höchsten Anteile von Steuern und Sozialbeiträgen in Prozent des BIP wurden 2018 in Frankreich (48,4 %), Belgien (47,2 %) und Dänemark (45,9 %) verzeichnet, gefolgt von Schweden (44,4 %), Österreich (42,8 %), Finnland (42,4 %) und Italien (42,0 %).

Die niedrigsten Quoten wurden hingegen in Irland (23,0 %) und Rumänien (27,1 %) registriert, gefolgt von Bulgarien (29,9 %), Litauen (30,5 %) und Lettland (31,4 %). Größter Anstieg der Steuerquote in Luxemburg, stärkster Rückgang in Dänemark

Im Vergleich zum Jahr 2017 ist die Steuerquote im Verhältnis zum BIP 2018 in sechzehn Mitgliedstaaten gewachsen, wobei der größte Anstieg in Luxembourg (von 39,1 % im Jahr 2017 auf 40,7 % im Jahr 2018) registriert wurde, gefolgt von Rumänien (von 25,8 % auf 27,1 %) und Polen (von 35,0 % auf 36,1 %). Rückgänge waren dagegen in sieben Mitgliedstaaten zu beobachten, insbesondere in Dänemark (von 46,8 % im Jahr 2017 auf 45,9 % im Jahr 2018), Ungarn (von 38,4 % auf 37,6 %) und Finnland (von 43,1 % auf 42,4 %).

Unterschiedliche Steuerpolitik in den EU-Mitgliedstaaten

Im Jahr 2018 hatten die Produktions- und Importabgaben den größten Anteil am Steuer- und Abgabenaufkommen in der EU (13,6 % des BIP), dicht gefolgt von den Nettosozialabgaben (13,3 %) und den Einkommen- und Vermögensteuern (13,2 %). Für den Euroraum ergibt sich eine etwas andere Reihenfolge der Abgabekategorien. Hier entfiel der größte Anteil des Steuer- und Abgabenaufkommens auf die Nettosozialabgaben (15,2 %); dahinter folgten die Produktions- und Importabgaben (13,3 %) und die Einkommen- und Vermögensteuern (13,0 %).

Bei der Betrachtung der Hauptabgabenkategorien zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen den EU-Mitgliedstaaten. Im Jahr 2018 war der Anteil der Produktions- und Importabgaben am höchsten in Schweden (mit 22,4 % des BIP), Kroatien (20,1 %) und Ungarn (18,6 %). Am geringsten war dieser Anteil dagegen in Irland (8,0 %), Rumänien (10,7 %) und Deutschland (10,8 %).

Einkommen- und Vermögensteuern waren in Dänemark mit einem Anteil von 28,9 % des BIP die größte Quelle des Steuer- und Abgabenaufkommens, dahinter folgten Schweden (18,6 %), Belgien (16,8 %) und Luxemburg (16,4 %). Am niedrigsten lag die Quote der Einkommen- und Vermögensteuern im Verhältnis zum BIP dagegen in Rumänien (4,9 %), Litauen (5,7 %) und Bulgarien (5,8 %).

Nettosozialabgaben machten in Frankreich (18,0 %) und Deutschland (17,1 %) einen beträchtlichen Anteil des BIP aus, während die niedrigsten Anteile in Dänemark (0,9 % des BIP), Schweden (3,4 %) und Irland (4,2 %) verzeichnet wurden.

Quelle: Eurostat, Pressemitteilung vom 30.10.2019

Finanzgerichte in NRW arbeiten jetzt papierlos

Das Ende der Papier-Ära in der Finanzgerichtsbarkeit des Landes NRW ist eingeläutet: Seit dem 28.10.2019 werden an den nordrhein-westfälischen Finanzgerichten für alle neu eingehenden Verfahren keine Papierakten mehr angelegt. Die Gerichtsakten werden nun ausschließlich elektronisch geführt. Damit ist die Digitalisierung der Aktenführung in dem ersten von fünf Gerichtszweigen in NRW abgeschlossen. Der Umstellung war eine Pilotierungsphase von ca. 2 ½ Jahren vorausgegangen. In dieser Zeit wurden die Gerichtsangehörigen sukzessive an die neue Arbeitsweise herangeführt.

Die verbindliche Einführung der elektronischen Akte erfolgte deutlich vor dem gesetzlich vorgegebenen Termin. Bis zum 01.01.2026 wird die elektronische Gerichtsakte in allen Gerichtszweigen bundesweit verbindlich eingeführt.

Die elektronische Gerichtsakte ermöglicht eine durchgehende digitale Bearbeitung vom Eingang eines Schriftstücks über die Sachbehandlung bis zur Zustellung von Dokumenten. Auf die elektronische Gerichtsakte kann jederzeit und von mehreren Anwendern gleichzeitig von überall zugegriffen werden.

Der Minister der Justiz NRW, Peter Biesenbach MdL, und der Staatssekretär der Justiz NRW, Dirk Wedel, besuchten am 29.10.2019 das Finanzgericht Düsseldorf, um sich bei Vertretern der Finanzgerichte Düsseldorf, Köln und Münster über die bisher gesammelten Erfahrungen zu informieren und sich einen persönlichen Eindruck von der elektronischen Aktenbearbeitung zu verschaffen. Biesenbach zeigte sich sehr erfreut über den erfolgreichen Abschluss der Pilotierungsphase. Mit der Einführung der elektronischen Gerichtsakte am Finanzgericht sei ein wichtiger Schritt in Sachen Digitalisierung der Justiz getan. Die Erfahrungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Finanzgerichte könnten für die schon begonnene Umstellung der übrigen Gerichtszweige in NRW genutzt werden.

Die drei Finanzgerichtspräsidenten erläuterten, dass die Medienumstellung eine sehr große Herausforderung gewesen sei. „Das Scannen von Schriftsätzen und das Ersetzen der richterlichen Unterschrift durch eine elektronische Signatur sind nur kleine Schritte auf dem Weg zur Einführung der elektronischen Akte. Für die elektronische Aktenbearbeitung musste besondere Software entwickelt und die technische Ausstattung angepasst werden. Dabei waren u.a. effektiver Rechtsschutz, richterliche Unabhängigkeit, Steuergeheimnis, Datenschutz, Informationssicherheit und Barrierefreiheit zu gewährleisten. Wir sind stolz, dass uns dies gemeinsam so gut gelungen ist.“

Alle Anwesenden waren sich darüber einig, dass der Abschied von gedruckten Dokumenten für die Gerichtsangehörigen eine große Veränderung darstellt. Gewohnte Arbeitsweisen mussten geändert werden. Die enormen Herausforderungen wurden durch gemeinsame Anstrengungen aller Gerichtsangehörigen hervorragend bewältigt. Mit Einführung der elektronischen Gerichtsakte wird die Finanzgerichtsbarkeit den Anforderungen an die Gewährung effektiven Rechtsschutzes in einer digitalen Welt gerecht.

Quelle: FG Münster, Pressemitteilung vom 29.10.2019

Durchschnittlicher GKV-Zusatzbeitragssatz steigt im nächsten Jahr moderat

Der durchschnittliche Zusatzbeitragssatz in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) wird für das Jahr 2020 um 0,2 Prozent auf 1,1 Prozent angehoben. Das hat am 28.10.2019 das Bundesministerium für Gesundheit mit Veröffentlichung im Bundesanzeiger bekanntgeben.

Gewollte Verbesserungen in der Versorgung, medizinischer Fortschritt und eine höhere Nachfrage nach medizinischer Versorgung in einer älter werdenden Gesellschaft führen dazu, dass die Ausgaben stärker steigen als die Einnahmen. Vor dem Hintergrund einer sich abschwächenden Konjunkturlage ist es daher angezeigt, den durchschnittlichen Beitragssatz anzuheben, um die zu erwartenden Ausgaben zu finanzieren.

Der durchschnittliche Zusatzbeitragssatz ist eine statistische Orientierungsgröße für die Haushaltsplanungen und individuellen Beitragssatzentscheidungen der Krankenkassen, die in den nächsten Wochen anstehen und von den zuständigen Aufsichtsbehörden zu genehmigen sind.

Wie hoch der individuelle Zusatzbeitragssatz einer Krankenkasse für ihre Mitglieder tatsächlich ausfällt, legt die jeweilige Krankenkasse selbst fest.

Trotz Anstieg des durchschnittlichen Zusatzbeitrags sind Senkungen bei Kassen mit zu hohen Finanzreserven ab nächstem Jahr möglich. Die Finanzreserven der Kassen sind in den letzten Jahren auf über 20 Milliarden Euro gestiegen. Mehr als die Hälfte der Krankenkassen verfügt derzeit über mehr als eine Monatsausgabe Betriebsmittel und Rücklagen. Solange sie diese Quote überschreiten, dürfen sie ihre Zusatzbeiträge nicht anheben. Einige Kassen, deren Finanzreserven deutlich über eine Grenze von einer Monatsausgabe hinausgehen, müssen diese ab 2020 innerhalb der kommenden drei Jahre schrittweise abzubauen.

Der durchschnittliche Zusatzbeitragssatz wird nach Auswertung der Prognosen des Schätzerkreises zur Einnahmen-und Ausgabenentwicklung der GKV errechnet. Dieser ergibt sich aus der Differenz der vom Schätzerkreis einvernehmlich prognostizierten Einnahmen des Gesundheitsfonds von 240,2 Milliarden Euro und der mehrheitlich vom Bundesversicherungsamt und Bundesministerium für Gesundheit erwarteten Ausgaben der GKV im kommenden Jahr von rund 256,8 Milliarden Euro.

Quelle: BGM, Pressemitteilung vom 28.10.2019