Archiv der Kategorie: Steuern & Recht

BFH hält Verlustverrechnung bei Aktien für verfassungswidrig

Richter machen Kapitalanlegern Hoffnung

Nachdem der Bundesfinanzhof am 31.05.2021 dem Gesetzgeber aufgegeben hatte, die Regeln zur Rentenbesteuerung nachzubessern, um eine Doppelbesteuerung künftiger Rentenjahrgänge zu vermeiden, folgt nun der zweite Paukenschlag: Diesmal profitieren Kapitalanleger von der Gerichtsentscheidung.

So profitieren Sie!

Bisher lassen sich Verluste aus Aktiengeschäften nicht mit Gewinnen aus anderen Kapitalanlagen steuerlich verrechnen. Der Bundesfinanzhof (BFH) hält das für verfassungswidrig und legt die Frage deshalb dem Bundesverfassungsgericht vor (Az. VIII R 11/18). Geklagt hatte ein Ehepaar aus Schleswig-Holstein, das Kapitalerträge aus dem Jahr 2012 mit Verlusten aus der Veräußerung von Aktien im selben Jahr verrechnen will. Nachdem das Finanzamt dies ablehnte, klagte sich das Paar zum Bundesfinanzhof durch. Mit Erfolg. Die BFH-Richter folgten der Argumentation der Anleger, sodass nun das Bundesverfassungsgericht die Frage abschließend beurteilen muss. Betroffene Steuerzahler sollten sich auf dieses Verfahren berufen und Einspruch gegen ihren Steuerbescheid einlegen, wenn das Finanzamt die Verlustverrechnung verweigert.

Quelle: BdSt, Mitteilung vom 04.06.2021

Stellungnahme: EU-Richtlinienvorschlag zur nachhaltigkeitsbezogenen Unternehmensberichterstattung

Die WPK hat am 4. Juni 2021 ihre Stellungnahme zum EU-Richtlinienvorschlag zur nachhaltigkeitsbezogenen Unternehmensberichterstattung (Corporate Sustainability Reporting Directive) an das BMJV übermittelt.

Der EU-Richtlinienvorschlag trägt den Zielen der europäischen Sustainable-Finance-Strategie Rechnung und soll die nichtfinanzielle Berichterstattung der Finanzberichterstattung gleichsetzen. In diesem Zusammenhang wird das Berufsbild der Wirtschaftsprüfer und vereidigten Buchprüfer an die Anforderungen der Nachhaltigkeitsberichterstattung angepasst. Der Richtlinienvorschlag sieht dazu weitreichende Änderungen an Bilanzrichtlinie, Transparenzrichtlinie sowie an Abschlussprüferrichtlinie und -verordnung vor.

Die WPK adressiert in der Stellungnahme vor allem folgende Punkte:

Vorgesehener Zeitplan gestaltet sich sehr ambitioniert

Die Neuregelungen zur Nachhaltigkeitsberichterstattung sollen ab dem Geschäftsjahr 2023 Anwendung finden. Da die finale Richtlinie bis Juni 2022 zu verabschieden ist, verbleiben den Mitgliedsstaaten nur sechs Monate für die nationale Umsetzung.

Die zu entwickelnden europäischen Standards zur Nachhaltigkeitsberichterstattung sollen bis Oktober 2022 von der EU-Kommission angenommen werden. Die rund 15.000 in Deutschland betroffenen Unternehmen, viele davon erstmalig mit der Thematik konfrontiert, hätten nur zwei Monate, um sich mit den komplexen neuen Anforderungen auseinanderzusetzen.

Internationale Rahmenwerke sollten bei der Entwicklung europäischer Nachhaltigkeitsberichterstattungsstandards einbezogen werden

Die von EFRAG zu erarbeitenden europäischen Nachhaltigkeitsberichterstattungsstandards sollten auf internationalen Rahmenwerken aufbauen, da eine Reihe von europäischen Unternehmen bereits heute Nachhaltigkeitsinformationen auf Grundlage internationaler Standards veröffentlicht.

WPK begrüßt Prüfungspflicht zur Förderung der Verlässlichkeit der Nachhaltigkeitsberichterstattung

Um die beabsichtigte Gleichstellung der Nachhaltigkeitsberichterstattung mit der finanziellen Berichterstattung zu erreichen, ist eine Prüfungspflicht erforderlich. Die Prüfung mit zunächst begrenzter Sicherheit gesteht dem berichtenden Unternehmen und dessen Prüfer für einen Übergangszeitraum höhere Freiheitsgrade zu, als eine Prüfung mit hinreichender Sicherheit. Die Prüfungspflicht erhöht insgesamt die Verlässlichkeit der Nachhaltigkeitsberichterstattung.

Mit der Erweiterung der Abschlussprüferrichtlinie u. a. in den Bereichen Aus- und Fortbildung, Examen, Berufsrecht und Qualitätskontrolle werden die hohen, qualitätssichernden Anforderungen an eine Abschlussprüfung auf die Prüfung der Nachhaltigkeitsberichterstattung übertragen. Die WPK begrüßt, dass die Prüfung der Nachhaltigkeitsberichterstattung als Aufgabe des Berufsstandes der Wirtschaftsprüfer und vereidigten Buchprüfer angesehen wird.

Mitgliedstaatenwahlrecht zur Prüfung der Nachhaltigkeitsberichterstattung durch „unabhängige Prüfungsdienstleister“ erfordert die Schaffung eines entsprechenden regulatorischen Umfeldes

Um eine einheitlich hohe Qualität der Prüfung zu gewährleisten, haben die Mitgliedstaaten bei Ausübung des Wahlrechtes dafür zu sorgen, dass „unabhängige Prüfungsdienstleister“ und Abschlussprüfer den gleichen strengen Regelungen unterliegen.

Für die unabhängigen Prüfungsdienstleister wären demnach auf nationaler Ebene regulatorische Anforderungen und Strukturen zu schaffen, die denen des Berufsstandes der Wirtschaftsprüfer und vereidigten Buchprüfer entsprechen (bspw. Berufsgrundsätze zu Unabhängigkeit und Verschwiegenheit, Aus- und Fortbildungsanforderungen, Qualitätssicherung, Berufsaufsicht, Haftung).

Den EU-Richtlinienvorschlag finden Sie auf der Internetseite der Europäischen Kommission. Weitergehende Informationen zum EU-Richtlinienvorschlag finden Sie auch auf „Neu auf WPK.de“ vom 29. April 2021.

Quelle: WPK, Mitteilung vom 04.06.2021

Mitgliedstaaten müssen EU-Urheberrechtsregeln bis 7. Juni umsetzen

Am 07.06.2021 endet die Frist, in der die Mitgliedstaaten die neuen EU-Urheberrechtsvorschriften in nationales Recht umgesetzt haben müssen. Die neue Urheberrechtsrichtlinie schützt kreatives Schaffen im digitalen Zeitalter und bringt konkrete Vorteile für die Bürgerinnen und Bürger, die Kreativwirtschaft, die Presse, Forscherinnen und Forscher, Lehrkräfte und Einrichtungen des Kulturerbes in der gesamten EU. Gleichzeitig wird die neue Richtlinie über Fernseh- und Hörfunkprogramme europäischen Rundfunkveranstaltern die grenzüberschreitende Bereitstellung bestimmter Programme über ihre Online-Dienste erleichtern. Darüber hinaus hat die Kommission am 04.06.2021 ihre Leitlinien zu Artikel 17 der neuen Urheberrechtsrichtlinie veröffentlicht, der neue Vorschriften für Plattformen für das Teilen von Online-Inhalten vorsieht.

Die beiden Richtlinien, die im Juni 2019 in Kraft getreten sind, zielen darauf ab, das EU-Urheberrecht zu modernisieren und es Verbrauchern und Kreativschaffenden zu ermöglichen, das gesamte Potenzial der digitalen Welt auszuschöpfen, in der der Zugriff auf kreative Inhalte und Presseartikel vor allem über Musik-Streamingdienste, Video-on-Demand-Plattformen, Satellit und IPTV, Nachrichtenaggregatoren und Plattformen mit von Nutzern hochgeladenen Inhalten erfolgt. Die neuen Vorschriften werden die Schaffung und stärkere Verbreitung hochwertiger Inhalte fördern und mehr digitale Nutzungsmöglichkeiten in für die Gesellschaft zentralen Bereichen ermöglichen und gleichzeitig die Meinungsfreiheit und andere Grundrechte gewährleisten. Mit ihrer Umsetzung auf nationaler Ebene können EU-Bürgerinnen und -Bürger und Unternehmen von ihnen profitieren.

Margrethe Vestager, die für das Ressort „Ein Europa für das digitale Zeitalter“ zuständige Exekutiv-Vizepräsidentin, erklärte: „Die Urheberrechtsrichtlinie und die Richtlinie über Fernseh- und Hörfunkprogramme werden es ermöglichen, dass mehr Inhalte EU-weit verfügbar sind. Die Kreativschaffenden erhalten eine faire Vergütung für ihre Arbeit, und die Nutzer können sich auf klare Regeln zum Schutz der Meinungsfreiheit verlassen. Mit der Umsetzung der beiden Richtlinien in nationales Recht werden allen neue Möglichkeiten zur Verfügung stehen, sodass wir das Internet und die Fernseh- und Hörfunkprogramme in vollem Umfang nutzen können, und zwar auch grenzüberschreitend.“

Der für den Binnenmarkt zuständige EU-Kommissar Thierry Breton ergänzte: „Mit den neuen Urheberrechtsvorschriften setzt Europa einen Standard für die Online-Nutzung kreativer Inhalte. Die neuen Vorschriften gewährleisten, dass Kreativschaffende gerecht vergütet werden und gleichzeitig die Meinungsfreiheit, ein Grundwert unserer Demokratien, geschützt wird. Sie zeigen, dass wir entschlossen sind, sicherzustellen, dass das, was offline illegal ist, auch im Internet illegal ist. Insbesondere werden die Leitlinien zu Artikel 17 den Markt für die Vergabe von Lizenzen fördern und zwar zugunsten der Kreativschaffenden und der Nutzer, die größere Rechtsicherheit haben, wenn sie ihre Online-Inhalte hochladen.“

Die neue Urheberrechtsrichtlinie

Die Richtlinie über das Urheberrecht im digitalen Binnenmarkt enthält neue Vorschriften für eine gerechtere Vergütung von Kreativschaffenden und Rechteinhabern, Presseverlagen und Journalisten, insbesondere wenn ihre Werke online genutzt werden, und erhöht die Transparenz in ihren Beziehungen zu Online-Plattformen. Sie enthält auch neue Garantien für den uneingeschränkten Schutz der Meinungsfreiheit der EU-Bürgerinnen und -Bürger im Internet, die ihre Inhalte rechtmäßig teilen können. Mit den neuen Vorschriften werden außerdem weitere Möglichkeiten geschaffen, urheberrechtlich geschütztes Material online und grenzüberschreitend für Bildungs- und Forschungszwecke und die Erhaltung des Kulturerbes zu nutzen.

Leitlinien zu Artikel 17 der Urheberrechtsrichtlinie

Mit den Leitlinien zu Artikel 17 der neuen Urheberrechtsrichtlinie soll eine kohärente Anwendung dieser wichtigen Bestimmung der neuen EU-Urheberrechtsvorschriften in allen Mitgliedstaaten unterstützt werden. Artikel 17 sieht vor, dass Diensteanbieter für das Teilen von Online-Inhalten für die auf ihre Website hochgeladenen Inhalte von den Rechteinhabern eine Erlaubnis einholen müssen. Wird keine Erlaubnis erteilt, so müssen sie Maßnahmen treffen, um ein unerlaubtes Hochladen zu vermeiden. Die Leitlinien enthalten praktische Hinweise zu den wichtigsten Bestimmungen des Artikel 17 und helfen den Marktteilnehmern, die nationalen Rechtsvorschriften bei der Umsetzung besser einzuhalten.

In den Leitlinien werden die Ansichten der Interessenträger und der Mitgliedstaaten berücksichtigt, die an von der Kommission organisierten Sitzungen teilgenommen haben, um bewährte Verfahren für die Zusammenarbeit zwischen Plattformen für das Teilen von Online-Inhalten und Rechteinhabern zu erörtern.

Die neue Richtlinie über Fernseh- und Hörfunkprogramme

Die neuen Vorschriften der Richtlinie über Fernseh- und Hörfunkprogramme stellen sicher, dass die EU-Bürgerinnen und -Bürger online und grenzüberschreitend Zugang zu einer größeren Auswahl an Programmen erhalten können. Die Richtlinie erleichtert es den Rundfunkveranstaltern, bestimmte Programme in ihren Live-Fernseh- oder Nachholdiensten in allen Mitgliedstaaten zugänglich zu machen, und stellt gleichzeitig sicher, dass die Kreativschaffenden für die Nutzung ihrer Inhalte angemessen bezahlt werden. Außerdem können Weiterverbreitungsdienste Hörfunk- und Fernsehprogramme einfacher übertragen.

Quelle: EU-Kommission, Pressemitteilung vom 04.06.2021

Datentransfers innerhalb und außerhalb der EU: Kommission gibt Unternehmen Standardvertragsklauseln an die Hand

Die Europäische Kommission hat am 04.06.2021 Standardvertragsklauseln angenommen, die bei EU-weiten sowie internationalen Datentransfers angewendet werden können. Dabei hat sie auch die neuen Anforderungen der Datenschutz-Grundverordnung sowie die Vorgaben aus dem Schrems-II-Urteil vom Juli 2020 berücksichtigt. „Die modernisierten Standardvertragsklauseln bieten Unternehmen ein nützliches Instrument, um sicherzustellen, dass sie die Datenschutzvorschriften einhalten, sowohl für ihre Aktivitäten innerhalb der EU als auch für internationale Datenübermittlungen“, so Kommissionsvizepräsidentin Vera Jourová. Eine Standardvertragsklausel bezieht sich auf die Übermittlung personenbezogener Daten in Drittländer, eine zweite zur Verwendung zwischen Verantwortlichen und Auftragsverarbeitern.

Die neuen Instrumente bieten europäischen Unternehmen mehr Rechtssicherheit und helfen insbesondere KMU, die Anforderungen an eine sichere Datenübermittlung zu erfüllen. Sie stellen außerdem sicher, dass die Daten der Bürger geschützt werden. Die Klauseln berücksichtigen die gemeinsame Stellungnahme des Europäischen Datenschutzausschusses und des Europäischen Datenschutzbeauftragten, die Rückmeldungen der Interessenträger im Rahmen einer breit angelegten öffentlichen Konsultation sowie die Stellungnahme der Vertreter der Mitgliedstaaten.

Der EU-Kommissar für Justiz, Didier Reynders, sagte: „In unserer modernen digitalen Welt ist es wichtig, dass Daten mit dem nötigen Schutz weitergegeben werden können – innerhalb und außerhalb der EU. Mit diesen verschärften Klauseln geben wir den Unternehmen mehr Sicherheit und Rechtssicherheit für die Datenübermittlung. Nach dem Schrems-II-Urteil war es unsere Pflicht und Priorität, benutzerfreundliche Instrumente zu entwickeln, auf die sich Unternehmen voll und ganz verlassen können. Diese Aufgabe ist erfüllt. Dieses Paket wird Unternehmen maßgeblich dabei helfen, die Datenschutz-Grundverordnung einzuhalten.“

Quelle: EU-Kommission, Pressemitteilung vom 04.06.2021

EuGH zur grenzüberschreitenden Arbeitnehmerüberlassung

Um als in einem Mitgliedstaat „gewöhnlich tätig“ angesehen werden zu können, muss ein Leiharbeitsunternehmen einen nennenswerten Teil seiner Tätigkeit der Überlassung von Arbeitnehmern für entleihende Unternehmen verrichten, die im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats niedergelassen und dort tätig sind.

Die Tätigkeit der Auswahl und der Einstellung von Leiharbeitnehmern im Mitgliedstaat des Sitzes des Leiharbeitsunternehmens reicht nicht aus, um annehmen zu können, dass dieses Unternehmen dort „nennenswerte Tätigkeiten“ ausübt.

Im Jahr 2018 schloss ein bulgarischer Staatsangehöriger einen Arbeitsvertrag mit Team Power Europe, einer Gesellschaft bulgarischen Rechts, deren Gesellschaftszweck in der Verschaffung von Leiharbeit und der Vermittlung von Arbeitsuchenden in diesem Mitgliedstaat und in anderen Ländern besteht. Aufgrund dieses Vertrags wurde er einem in Deutschland ansässigen entleihenden Unternehmen überlassen. Vom 15. Oktober bis 21. Dezember 2018 hatte er seine Arbeit unter der Leitung und Aufsicht dieses deutschen Unternehmens zu verrichten.

Da die Einnahmenverwaltung der Stadt Varna der Ansicht war, dass zum einen die direkte Bindung zwischen Team Power Europe und dem fraglichen Arbeitnehmer nicht aufrechterhalten worden sei und zum anderen dieses Unternehmen keine nennenswerte Tätigkeit im bulgarischen Hoheitsgebiet ausübe, lehnte sie den Antrag von Team Power Europe auf Ausstellung einer A 1-Bescheinigung ab, mit der bescheinigt werden sollte, dass die bulgarischen Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit während des Zeitraums der Überlassung dieses Arbeitnehmers anwendbar seien. Die Situation dieses Arbeitnehmers fiel nach Auffassung der Einnahmenverwaltung nicht in den Anwendungsbereich von Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/20041, wonach die bulgarischen Rechtsvorschriften anwendbar gewesen wären. Der von Team Power Europe gegen diese Entscheidung der Einnahmenverwaltung eingelegte Widerspruch wurde zurückgewiesen.

Vor diesem Hintergrund hat der Administrativen sad – Varna (Verwaltungsgericht Varna, Bulgarien), bei dem eine Klage auf Aufhebung der Zurückweisung dieses Widerspruchs anhängig ist, beschlossen, den Gerichtshof nach den maßgebenden Kriterien zu fragen, die zu berücksichtigen sind, um zu beurteilen, ob ein Leiharbeitsunternehmen im Sinne von Art. 14 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/20092, durch den Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 präzisiert wird, gewöhnlich andere nennenswerte Tätigkeiten als reine interne Verwaltungstätigkeiten im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats seines Sitzes ausübt. Von der Erfüllung dieser Voraussetzung durch Team Power Europa hängt nämlich die Anwendbarkeit der letztgenannten Bestimmung in der vorliegenden Rechtssache ab.

In seinem Urteil hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Leiharbeitsunternehmen die Tragweite des in dieser Bestimmung enthaltenen und in Art. 14 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 präzisierten Begriffs des Arbeitgebers, der in einem Mitgliedstaat „gewöhnlich tätig ist“, erläutert.

Würdigung durch den Gerichtshof

Der Gerichtshof hat zunächst eine wörtliche Auslegung des genannten Art. 14 Abs. 2 vorgenommen und festgestellt, dass ein Leiharbeitsunternehmen dadurch gekennzeichnet ist, dass es eine Reihe von Tätigkeiten ausübt, die in der Auswahl, der Einstellung und der Überlassung von Leiharbeitnehmern an entleihende Unternehmen bestehen. In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass zwar die Tätigkeiten der Auswahl und der Einstellung von Leiharbeitnehmern nicht als „reine interne Verwaltungstätigkeiten“ im Sinne dieser Bestimmung eingestuft werden können, dass aber die Ausübung dieser Tätigkeiten in dem Mitgliedstaat, in dem ein solches Unternehmen ansässig ist, nicht ausreicht, um annehmen zu können, dass es dort „nennenswerte Tätigkeiten“ ausübt. Einziger Zweck der Tätigkeiten der Auswahl und der Einstellung von Leiharbeitnehmern ist nämlich deren spätere Überlassung an entleihende Unternehmen. Der Gerichtshof hat insoweit darauf hingewiesen, dass die Auswahl und die Einstellung von Leiharbeitnehmern zwar dazu beitragen, den von einem Leiharbeitsunternehmen erzielten Umsatz zu generieren, da diese Tätigkeiten eine unerlässliche Voraussetzung für die spätere Überlassung solcher Arbeitskräfte sind, dass dieser Umsatz tatsächlich aber nur durch die Überlassung dieser Arbeitnehmer an entleihende Unternehmen in Erfüllung der zu diesem Zweck mit diesen Unternehmen geschlossenen Verträge erwirtschaftet wird. Denn die Einkünfte eines Leiharbeitsunternehmens hängen von der Höhe der Vergütung ab, die den Leiharbeitnehmern, die entleihenden Unternehmen überlassen wurden, gezahlt wird.

Was sodann den Zusammenhang betrifft, in dem die in Rede stehende Bestimmung steht, hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass der Fall, dass ein Arbeitnehmer, der zur Ausführung einer Arbeit in einen anderen Mitgliedstaat entsandt wird, weiterhin den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats unterliegt, eine Ausnahme von der allgemeinen Regel3 darstellt, wonach eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt, den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats unterliegt. Folglich ist die Bestimmung, die einen solchen Fall regelt, eng auszulegen. Unter diesem Blickwinkel kann diese Ausnahme nicht auf ein Leiharbeitsunternehmen angewandt werden, das im Mitgliedstaat seines Sitzes in keiner oder allenfalls in zu vernachlässigender Weise diese Arbeitnehmer an ebenfalls dort ansässige entleihende Unternehmen überlässt. Im Übrigen stützen die Definitionen der Begriffe „Leiharbeitsunternehmen“ und „Leiharbeitnehmer“ in der Richtlinie 2008/1044, da sie den Zweck der Tätigkeit eines Leiharbeitsunternehmens zum Ausdruck bringen, ebenfalls die Auslegung, dass bei einem solchen Unternehmen nur dann angenommen werden kann, dass es in dem Mitgliedstaat, in dem es ansässig ist, „nennenswerte Tätigkeiten“ ausübt, wenn es dort in nennenswertem Umfang Tätigkeiten der Überlassung dieser Arbeitnehmer für im selben Mitgliedstaat tätige entleihende Unternehmen ausübt.

Was schließlich das mit der in Rede stehenden Bestimmung verfolgte Ziel betrifft, hat der Gerichtshof festgestellt, dass die in Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 enthaltene Ausnahme, die einen Vorteil für Unternehmen darstellt, die von der Freiheit des Dienstleistungsverkehrs Gebrauch machen, nicht von Leiharbeitsunternehmen beansprucht werden kann, die ihre Tätigkeiten der Überlassung von Leiharbeitnehmern ausschließlich oder hauptsächlich auf einen oder mehrere andere Mitgliedstaaten als den ihres Sitzes ausrichten. Die gegenteilige Lösung könnte für diese Leiharbeitsunternehmen einen Anreiz für ein „forum shopping“ schaffen, indem sie sich in dem Mitgliedstaat niederlassen würden, dessen Rechtsvorschriften im Bereich der sozialen Sicherheit für sie am günstigsten wären. Auf längere Sicht könnte eine solche Lösung zu einer Verringerung des von den Systemen der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten gebotenen Schutzniveaus führen. Der Gerichtshof hat zudem hervorgehoben, dass die Gewährung dieses Vorteils an solche Unternehmen zwischen den verschiedenen möglichen Beschäftigungsbedingungen eine Wettbewerbsverzerrung zugunsten des Einsatzes von Leiharbeit gegenüber Unternehmen erzeugen würde, die ihre Arbeitnehmer direkt einstellen, die dann dem System der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem sie arbeiten, angeschlossen wären.

Der Gerichtshof ist zu dem Ergebnis gelangt, dass ein in einem Mitgliedstaat ansässiges Leiharbeitsunternehmen nur dann als in diesem Mitgliedstaat „gewöhnlich tätig“ angesehen werden kann, wenn es einen nennenswerten Teil seiner Tätigkeit der Überlassung von Leiharbeitnehmern für entleihende Unternehmen ausübt, die im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats niedergelassen und dort tätig sind.

Fußnoten

1 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1, und Berichtigung, ABl. 2004, L 200, S. 1) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 465/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 geänderten Fassung (ABl. 2012, L 149, S. 4) (im Folgenden: Verordnung Nr. 883/2004). Genauer bestimmt Art. 12 Abs. 1 dieser Verordnung: „Eine Person, die in einem Mitgliedstaat für Rechnung eines Arbeitgebers, der gewöhnlich dort tätig ist, eine Beschäftigung ausübt und die von diesem Arbeitgeber in einen anderen Mitgliedstaat entsandt wird, um dort eine Arbeit für dessen Rechnung auszuführen, unterliegt weiterhin den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats, sofern die voraussichtliche Dauer dieser Arbeit 24 Monate nicht überschreitet und diese Person nicht eine andere entsandte Person ablöst.“
2 Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2009, L 284, S. 1). Art. 14 Abs. 2 dieser Verordnung bestimmt: „Bei der Anwendung von Artikel 12 Absatz 1 der Grundverordnung beziehen sich die Worte ‚der gewöhnlich dort tätig ist‘ auf einen Arbeitgeber, der gewöhnlich andere nennenswerte Tätigkeiten als reine interne Verwaltungstätigkeiten [im] Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, in dem das Unternehmen niedergelassen ist, ausübt, unter Berücksichtigung aller Kriterien, die die Tätigkeit des betreffenden Unternehmens kennzeichnen; die maßgebenden Kriterien müssen auf die Besonderheiten eines jeden Arbeitgebers und die Eigenart der ausgeübten Tätigkeiten abgestimmt sein.“
3 Die in Art. 11 Abs. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004 enthalten ist.
4 Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über Leiharbeit (ABl. 2008, L 327, S. 9).

Quelle: EuGH, Pressemitteilung vom 03.06.2021 zum Urteil C-784/19 vom 03.06.2021

Arbeitnehmer können sich auf Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen berufen

Arbeitnehmer können sich in Rechtsstreitigkeiten zwischen Privaten sowohl bei „gleicher“ als auch bei „gleichwertiger Arbeit“ unmittelbar auf den unionsrechtlich verankerten Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen berufen.

Tesco Stores ist ein Einzelhändler, der seine Waren sowohl online als auch in Ladengeschäften im Vereinigten Königreich vertreibt. In diesen Ladengeschäften, die unterschiedlich groß sind, sind insgesamt rund 250.000 Arbeitnehmer beschäftigt. Sie üben verschiedene Arten von Tätigkeiten aus. Tesco Stores verfügt auch über ein Vertriebsnetz mit rund 11.000 Arbeitnehmern, die ebenfalls verschiedene Arten von Tätigkeiten ausüben. Rund 6.000 Arbeitnehmer oder ehemalige Arbeitnehmer von Tesco Stores, die in deren Ladengeschäften beschäftigt sind oder waren und bei denen es sich sowohl um Frauen als auch um Männer handelt, erhoben gegen Tesco Stores beim Watford Employment Tribunal (Arbeitsgericht Watford, Vereinigtes Königreich) ab Februar 2018 Klagen. Sie machen geltend, dass Männer und Frauen für die gleiche Arbeit nicht das gleiche Entgelt erhalten hätten. Dies verstoße gegen die nationalen Rechtsvorschriften und gegen Art. 157 AEUV1. Die Verfahren betreffend die Klagen der männlichen Kläger der Ausgangsverfahren hat das vorlegende Gericht ausgesetzt, weil die Entscheidung über diese Klagen von der Entscheidung über die Klagen der Klägerinnen der Ausgangsverfahren abhänge.

Letztere machen geltend, dass ihre Arbeit und die der Männer, die in den Vertriebszentren des Vertriebsnetzes von Tesco Stores beschäftigt seien, gleichwertig seien und dass es, obwohl die Arbeit in unterschiedlichen Betrieben verrichtet werde, nach Art. 157 AEUV zulässig sei, ihre Arbeit mit der dieser Männer zu vergleichen. Nach Art. 157 AEUV ließen sich ihre Arbeitsbedingungen und die der in den Vertriebszentren beschäftigten Männer auf eine einheitliche Quelle zurückführen, nämlich Tesco Stores. Tesco Stores hält dem entgegen, dass Art. 157 AEUV bei Klagen, die auf eine gleichwertige Arbeit gestützt würden, keine unmittelbare Wirkung habe. Die Klägerinnen der Ausgangsverfahren könnten sich vor dem vorlegenden Gericht daher nicht auf Art. 157 AEUV berufen. Im Übrigen könne Tesco Stores nicht als „einheitliche Quelle“ angesehen werden.

Zu Art. 157 AEUV führt das vorlegende Gericht aus, dass bei den Gerichten des Vereinigten Königreichs Unsicherheit hinsichtlich der unmittelbaren Wirkung dieses Artikels bestehe. Dies hänge insbesondere mit der Unterscheidung zusammen, die der Gerichtshof zwischen den Diskriminierungen, die sich schon an Hand der Merkmale „gleiche Arbeit“ und „gleiches Entgelt“ allein feststellen ließen, und denjenigen, die nur nach Maßgabe eingehenderer Durchführungsvorschriften festgestellt werden könnten, vorgenommen habe.2 Die Klagen, die Gegenstand der Ausgangsverfahren seien, könnten unter diese zweite Kategorie von Diskriminierungen fallen, bei denen Art. 157 AEUV keine unmittelbare Wirkung habe.

Vor diesem Hintergrund hat das vorlegende Gericht den Gerichtshof angerufen. Der Gerichtshof hat entschieden, dass Art. 157 AEUV in Rechtsstreitigkeiten zwischen Privaten, in denen ein Verstoß gegen den Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei „gleichwertiger Arbeit“ im Sinne der Vorschrift geltend gemacht wird, unmittelbare Wirkung entfaltet.

Würdigung durch den Gerichtshof

Vorab stellt der Gerichtshof fest, dass er nach Art. 86 des Austrittsabkommens3 trotz des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union für das Vorabentscheidungsersuchen zuständig ist.

Im Hinblick auf die Beantwortung der Vorlagefragen führt der Gerichtshof zunächst zum Wortlaut von Art. 157 AEUV aus, dass diese Vorschrift eindeutig und bestimmt eine Ergebnispflicht auferlegt und zwingenden Charakter hat. Dies gilt sowohl in Bezug auf eine „gleiche“ als auch in Bezug auf eine „gleichwertige Arbeit“. Sodann stellt der Gerichtshof fest, dass Art. 157 AEUV nach ständiger Rechtsprechung unmittelbare Wirkung entfaltet, indem er für Einzelne Rechte begründet, die die nationalen Gerichte zu gewährleisten haben, u. a. im Fall von Diskriminierungen, die ihren Ursprung unmittelbar in Rechtsvorschriften oder in Kollektivverträgen haben, sowie in dem Fall, dass die Arbeit in ein und demselben privaten oder öffentlichen Betrieb oder Dienst verrichtet wird. Der Gerichtshof weist darauf hin, dass er festgestellt hat, dass solche Diskriminierungen zu denen zählen, die sich schon an Hand der in Art. 119 EWG-Vertrag verwendeten Merkmale „gleiche Arbeit“ und „gleiches Entgelt“ allein feststellen lassen und dass der Richter in diesen Fällen in der Lage ist, alle die Tatsachenfeststellungen zu treffen, die es ihm ermöglichen, zu beurteilen, ob eine Arbeitnehmerin ein geringeres Entgelt bezieht als ein Arbeitnehmer, der die gleiche oder eine gleichwertige Arbeit leistet.4 Somit ergibt sich aus einer ständigen Rechtsprechung, dass die unmittelbare Wirkung von Art. 157 AEUV entgegen dem Vorbringen von Tesco Stores nicht auf Fälle beschränkt ist, in denen die miteinander verglichenen Arbeitnehmer unterschiedlichen Geschlechts die „gleiche Arbeit“ verrichten, sondern sich auch auf die Fälle erstreckt, in denen diese eine „gleichwertige Arbeit“ verrichten. In diesem Zusammenhang stellt der Gerichtshof klar, dass die Frage, ob die betreffenden Arbeitnehmer die „gleiche Arbeit“ oder „gleichwertige Arbeit“ im Sinne von Art. 157 AEUV verrichten, eine Frage der Tatsachenwürdigung durch das Gericht ist.

Ferner weist der Gerichtshof darauf hin, dass die vorstehende Auslegung durch das mit Art. 157 AEUV verfolgte Ziel, bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit in Bezug auf sämtliche Entgeltsbestandteile und -bedingungen jede Diskriminierung auf Grund des Geschlechts zu beseitigen, bestätigt wird. Der Gerichtshof stellt insoweit fest, dass der in Art. 157 AEUV aufgestellte Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit zu den Grundlagen der Union gehört.

Schließlich stellt der Gerichtshof fest, dass, wenn sich die bei den Entgeltbedingungen für Arbeitnehmer, die gleiche oder gleichwertige Arbeit verrichten, festgestellten Unterschiede nicht auf ein und dieselbe Quelle zurückführen lassen, eine Einheit fehlt, die für die Ungleichbehandlung verantwortlich ist, so dass eine solche Situation nicht unter Art. 157 AEUV fällt. Lassen sich die Entgeltbedingungen hingegen auf ein und dieselbe Quelle zurückführen, können die Arbeit und das Entgelt dieser Arbeitnehmer verglichen werden, selbst wenn diese ihre Arbeit in verschiedenen Betrieben verrichten. In einem Rechtsstreit, in dem es um eine gleichwertige Arbeit geht, die von Arbeitnehmern verschiedenen Geschlechts, die denselben Arbeitgeber haben, in verschiedenen Betrieben dieses Arbeitgebers verrichtet wird, kann Art. 157 AEUV daher vor den nationalen Gerichten geltend gemacht werden, sofern der Arbeitgeber eine solche einheitliche Quelle darstellt.

Fußnoten

1 Diese Vorschrift bestimmt: „Jeder Mitgliedstaat stellt die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit sicher.”
2 Das vorlegende Gericht verweist insoweit auf Rn. 18 des Urteils vom 8. April 1976, Defrenne (43/75, EU:C:1976:56).
3 Vgl. Beschluss (EU) 2020/135 vom 30. Januar 2020 über den Abschluss des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (ABl. 2020, L 29, S. 1), mit dem der Rat der Europäischen Union dieses Abkommen im Namen der Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG) genehmigt hat. Das Abkommen ist dem Beschluss beigefügt (ABl. 2020, L 29, S. 7). Der Gerichtshof stellt fest, dass er nach Art. 86 des Austrittsabkommens für Vorabentscheidungsersuchen der Gerichte des Vereinigten Königreichs, die – wie hier – vor Ende des Übergangszeitraums (31. Dezember 2020), vorgelegt werden, weiterhin zuständig ist.
4 Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. April 1976, Defrenne, 43/75, und vom 11. März 1981, Worringham und Humphreys/Lloyds Bank, 69/80, die zu Art. 119 EWG-Vertrag (nach Änderung Art. 141 EG, jetzt Art. 157 AEUV) ergangen sind.

Quelle: EuGH, Pressemitteilung vom 03.06.2021 zum Urteil C-624/19 vom 03.06.2021

Ermäßigter Umsatzsteuersatz für Restaurations- und Verpflegungsdienstleistungen – Verlängerung des zeitlichen Anwendungsbereichs des BMF-Schreibens vom 2. Juli 2020

I.

Durch das Dritte Corona-Steuerhilfegesetz vom 10. März 2021, BGBl. I S. 330 hat der Gesetzgeber die Gewährung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes in Höhe von sieben Prozent für erbrachte Restaurant- und Verpflegungsdienstleistungen mit Ausnahme der Abgabe von Getränken über den 30. Juni 2021 hinaus befristet bis zum 31. Dezember 2022 verlängert. Die obersten Finanzbehörden des Bundes und der Länder haben daher beschlossen, die in dem BMF-Schreiben vom 2. Juli 2020, BStBl I S. 610 enthaltenen Verwaltungsregelungen zu verlängern.

II.

Im Einvernehmen mit den obersten Finanzbehörden der Länder sind die Regelungen des BMF-Schreibens vom 2. Juli 2020, BStBl I S. 610 über den 30. Juni 2021 hinaus befristet bis zum 31. Dezember 2022 weiterhin anzuwenden.

Dieses Schreiben wird im Bundessteuerblatt Teil I veröffentlicht.

Quelle: BMF, Schreiben (koordinierter Ländererlass) III C 2 – S-7030 / 20 / 10006 :006 vom 03.06.2021

BFH hält die Verlustverrechnungsbeschränkung für Aktienveräußerungsverluste für verfassungswidrig

Vorlage an das Bundesverfassungsgericht

Der VIII. Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) hat dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Frage vorgelegt, ob es mit dem Grundgesetz (GG) vereinbar ist, dass nach § 20 Abs. 6 Satz 5 EStG i. d. F. des Unternehmensteuerreformgesetzes 2008 vom 14.08.2007 (BGBl I 2007, 1912) Verluste aus der Veräußerung von Aktien nur mit Gewinnen aus der Veräußerung von Aktien und nicht mit sonstigen positiven Einkünften aus Kapitalvermögen verrechnet werden dürfen.

Das Unternehmensteuerreformgesetz 2008 hat die Besteuerung von Kapitalanlagen, die dem steuerlichen Privatvermögen zuzurechnen sind, grundlegend neu gestaltet. Durch die Zuordnung von Gewinnen aus der Veräußerung von Kapitalanlagen (u. a. Aktien) zu den Einkünften aus Kapitalvermögen (§ 20 Abs. 2 Sätze 1 und 2 EStG) unterliegen die dabei realisierten Wertveränderungen (Gewinne und Verluste) in vollem Umfang und unabhängig von einer Haltefrist der Besteuerung. Da Einkünfte aus Kapitalvermögen grundsätzlich abgeltend mit einem speziellen Steuersatz von 25 % besteuert werden, sieht § 20 Abs. 6 Satz 2 EStG vor, dass Verluste aus Kapitalvermögen nur mit sonstigen positiven Einkünften aus Kapitalvermögen ausgeglichen werden dürfen. Eine zusätzliche Verlustverrechnungsbeschränkung gilt für Verluste aus der Veräußerung von Aktien (§ 20 Abs. 6 Satz 5 EStG). Diese dürfen nicht mit anderen positiven Einkünften aus Kapitalvermögen, sondern nur mit Gewinnen, die aus der Veräußerung von Aktien entstehen, ausgeglichen werden. Nach der Gesetzesbegründung sollen dadurch Risiken für den Staatshaushalt verhindert werden.

Im Streitfall hatte der Kläger aus der Veräußerung von Aktien ausschließlich Verluste erzielt. Er beantragte, diese Verluste mit seinen sonstigen Einkünften aus Kapitalvermögen, die nicht aus Aktienveräußerungsgewinnen bestanden, zu verrechnen.

Nach Auffassung des BFH bewirkt § 20 Abs. 6 Satz 5 EStG eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung, weil sie Steuerpflichtige ohne rechtfertigenden Grund unterschiedlich behandelt, je nachdem, ob sie Verluste aus der Veräußerung von Aktien oder aus der Veräußerung anderer Kapitalanlagen erzielt haben. Eine Rechtfertigung für diese nicht folgerichtige Ausgestaltung der Verlustausgleichsregelung für Aktienveräußerungsverluste ergibt sich weder aus der Gefahr der Entstehung erheblicher Steuermindereinnahmen noch aus dem Gesichtspunkt der Verhinderung missbräuchlicher Gestaltungen oder aus anderen außerfiskalischen Förderungs- und Lenkungszielen.

Quelle: BFH, Pressemitteilung Nr. 21/21 vom 04.06.2021 zum Beschluss VIII R 11/18 vom 17.11.2020

Rente für Erziehungszeit in den Niederlanden? – Vorlage an EuGH

Das LSG Nordrhein-Westfalen hat am 23.04.2021 beschlossen, ein Verfahren, in dem es um die Berücksichtigung von in den Niederlanden zurückgelegten Kindererziehungszeiten geht, dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen (Az. L 18 R 1114/16).

Der beklagte Rentenversicherungsträger lehnte die von der Klägerin begehrte Vormerkung von Zeiten zwischen 1986 und 1999 als Kindererziehungs- bzw. Berücksichtigungszeit wegen Kindererziehung ab. Das SG Aachen wies ihre Klage ab: Eine Anerkennung der in den Niederlanden erfolgten Kindererziehung komme nach deutschem Recht nicht in Betracht. Eine europarechtliche Gleichstellung der Kindererziehungszeiten sei nicht möglich, weil die Klägerin an den Tagen der Geburt ihrer Kinder bzw. unmittelbar zuvor weder eine Beschäftigung noch eine selbständige Erwerbstätigkeit in Deutschland bzw. nach deutschem Recht ausgeübt und keine Beiträge wegen einer Beschäftigung oder einer selbständigen Tätigkeit zur deutschen Rentenversicherung gezahlt habe. Die Zurücklegung von Zeiten in der niederländischen Rentenversicherung zeige vielmehr eine enge Verbindung der Klägerin zum niederländischen System der sozialen Sicherung.

Das LSG hat sich dieser Auffassung nicht angeschlossen. Da für die staatliche Rente allein auf die in den Niederlanden zurückgelegten Wohn- bzw. Arbeitszeiten und gerade nicht auf Zeiten der Kindererziehung als rentenrechtlich relevanten Tatbestand abgestellt werde, liege es nahe, dass das niederländische Rentensystem Kindererziehungszeiten gar nicht berücksichtige. Aus der bisherigen Rechtsprechung des EuGH könne die Frage nicht zweifelsfrei beantwortet werden, ob Art. 44 Abs. 2 VO (EG) Nr 987/2009 über den Wortlaut hinaus erweiternd auch auf einen Fall wie den vorliegenden anzuwenden sei. Es spreche Vieles dafür, das von der Klägerin nur zufällig unentgeltlich – und damit nicht versicherungspflichtig – absolvierte Anerkennungsjahr als Erzieherin vor der Geburt ihrer Kinder und die nach dieser erfolgte versicherungsfreie selbständige Tätigkeit bzw. die von der Beklagten berücksichtigte geringfügige versicherungsfreie Beschäftigung ab 1999 für eine hinreichende Verbindung zum System der deutschen Rentenversicherung genügen zu lassen.

Quelle: LSG Nordrhein-Westfalen, Pressemitteilung vom 02.06.2021 zum Beschluss L 18 R 1114/16 vom 23.04.2021

Gewinnerzielungsabsicht bei kleinen Photovoltaikanlagen und vergleichbaren Blockheizkraftwerken

In Abstimmung mit den obersten Finanzbehörden der Länder gelten zur ertragsteuerlichen Behandlung kleiner Photovoltaikanlagen und vergleichbarer Blockheizkraftwerke (BHKW) die nachfolgenden Regelungen. Diese dienen der Vereinfachung des Verwaltungsverfahrens, da bei Inanspruchnahme der Vereinfachungsregelung aufwändige und streitanfällige Ergebnisprognosen für die Beurteilung der Gewinnerzielungsabsicht weder erstellt noch geprüft werden müssen.

I. Kleine Photovoltaikanlagen

1 Die nachfolgenden Regelungen gelten für Photovoltaikanlagen mit einer installierten Leistung von bis zu 10 kW, die auf zu eigenen Wohnzwecken genutzten oder unentgeltlich überlassenen Ein- und Zweifamilienhausgrundstücken einschließlich Außenanlagen (z. B. Garagen) installiert sind und nach dem 31. Dezember 2003 in Betrieb genommen wurden. Bei der Prüfung, ob es sich um ein zu eigenen Wohnzwecken genutztes Ein- und Zweifamilienhaus handelt, ist ein eventuell vorhandenes häusliches Arbeitszimmer unbeachtlich. Gleiches gilt für Räume (z. B. Gästezimmer), die nur gelegentlich entgeltlich vermietet werden, wenn die Einnahmen hieraus 520 Euro im Veranlagungszeitraum nicht überschreiten (vgl. R 21.2 Absatz 1 Satz 2 EStR).

II. Vergleichbare Blockheizkraftwerke (BHKW)

2 Vergleichbare BHKW sind solche mit einer installierten Leistung von bis zu 2,5 kW, wenn die übrigen Voraussetzungen der Ziff. I. erfüllt sind.

III. Fehlende Gewinnerzielungsabsicht

3 Bei den aufgeführten Photovoltaikanlagen und vergleichbaren BHKW i. S. v. Rn. 1 und 2 ist auf schriftlichen Antrag der steuerpflichtigen Person aus Vereinfachungsgründen ohne weitere Prüfung in allen offenen Veranlagungszeiträumen zu unterstellen, dass diese nicht mit Gewinnerzielungsabsicht betrieben werden. Bei ihnen liegt grundsätzlich eine steuerlich unbeachtliche Liebhaberei vor. Der Antrag wirkt auch für die Folgejahre.

4 Für Veranlagungszeiträume, in denen die Voraussetzungen der Rn. 1 und 2 nicht vorliegen (z. B. bei Nutzungsänderung, Vergrößerung der Anlage über die genannte Leistung), ist die Vereinfachungsregelung unabhängig von der Erklärung der steuerpflichtigen Person nicht anzuwenden. Sie hat den Wegfall der Voraussetzungen der Rn. 1 und 2 dem zuständigen Finanzamt schriftlich mitzuteilen.

5 Veranlagte Gewinne und Verluste (z. B. bei unter dem Vorbehalt der Nachprüfung oder vorläufig durchgeführten Veranlagungen) aus zurückliegenden Veranlagungszeiträumen, die verfahrensrechtlich einer Änderung noch zugänglich sind (z. B. bei unter dem Vorbehalt der Nachprüfung oder vorläufig durchgeführten Veranlagungen), sind nicht mehr zu berücksichtigen.

In diesen Fällen ist dann eine Anlage EÜR für den Betrieb der Photovoltaikanlage/des BHKW für alle offenen Veranlagungszeiträume nicht mehr abzugeben.

IV. Nachweis Gewinnerzielungsabsicht durch den Steuerpflichtigen

6 Unabhängig von den Regelungen dieses Schreibens bleibt es der steuerpflichtigen Person unbenommen, eine Gewinnerzielungsabsicht nach Maßgabe von H 15.3 EStH nachzuweisen. Macht die steuerpflichtige Person von dem Wahlrecht nach Rn. 3ff keinen Gebrauch, ist die Gewinnerzielungsabsicht nach den allgemeinen Grundsätzen (vgl. H 15.3 EStH) zu prüfen. In diesem Fall gelten die allgemeinen Regelungen in allen noch offenen und künftigen Veranlagungszeiträumen, d.h. die in Rn. 3ff beschriebene Vereinfachungsregelung kann nicht in Anspruch genommen werden.

V. Gesonderte und einheitliche Feststellungen

7 Die Rn. 1 bis 6 gelten sinngemäß für Einkünfte aus dem Betrieb einer Photovoltaikanlage oder eines BHKW, die bislang Gegenstand einer gesonderten und einheitlichen Feststellung waren.

Dieses Schreiben wird im Bundessteuerblatt Teil I veröffentlicht.

Quelle: BMF, Schreiben (koordinierter Ländererlass) IV C 6 – S-2240 / 19 / 10006 :006 vom 02.06.2021