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Grunderwerbsteuer (beim „fiktiven einheitlichen Leistungsgegenstand“)

Niedersächsisches Finanzgericht 7. Senat, Beschluss vom 22.03.2018, 7 K 150/17, ECLI:DE:FGNI:2018:0322.7K150.17.00

§ 1 Abs 1 Nr 1 GrEStG, § 138 FGO, § 4 Nr 9a UStG

TENOR

Die Kosten des Klageverfahrens hat das beklagte Finanzamt zu tragen.

GRÜNDE

1
Die Beteiligten haben übereinstimmend den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt. Deshalb war nunmehr gemäß § 138 der Finanzgerichtsordnung (FGO) durch Beschluss über die Kosten des Verfahrens zu entscheiden.
2
Die Kosten waren gemäß § 138 Absatz 2 FGO dem beklagten Finanzamt aufzuerlegen, da dem Begehren der Kläger durch die Änderungsbescheide vom 3.11.2017 mit Festsetzung auf jeweils 1.911 Euro (statt jeweils 4.723 Euro), in denen die Baukosten eines Gebäudes, die zur Verbreiterung der Bemessungsgrundlage für die Grunderwerbsteuer zunächst vom beklagten Finanzamt herangezogen worden waren (angeblicher einheitlicher Leistungsgegenstand), bei der gütlichen Beilegung des Rechtsstreits in vollem Umfang stattgegeben worden ist.
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Die Kosten waren auch nicht nach § 138 Absatz 2 Satz 2, § 137 FGO den Klägern aufzuerlegen. Die Kostenfolge aus diesen Normen trifft die Steuerpflichtigen dann, wenn sie letztlich das Klagebegehren erreichen, obwohl sie die zur Abhilfe durch das beklagte Finanzamt führenden Tatsachen früher hätten geltend machen oder beweisen können und sollen. Nach Ansicht des beklagten Finanzamts habe die Klägerseite erstmals mit Klageerhebung am 10.7.2017 den Sachverhalt offengelegt und in diesem Zusammenhang insbesondere Angaben zum tatsächlichen Ablauf des Grundstückskaufs gemacht. Erst hierdurch sei das beklagte Finanzamt in die Lage versetzt worden, das vormalige Einspruchs- und jetzige Klageverfahren sachgerecht zu bewerten und mit objektiv nachvollziehbaren Unterlagen abzugleichen. Dagegen sei – so die Klägerseite – den Klägern die beantragte Akteneinsicht im Vorverfahren nicht gewährt worden, so dass sie nicht im Stande gewesen seien, substantiiert vorzutragen.
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Wie auch immer – letztlich kann der Streit um angebliches verspätetes Vorbringen der Kläger dahinstehen. Denn nach den gesetzlichen Vorschriften hätte das beklagte Finanzamt den Einsprüchen der Kläger in den Vorverfahren folgen und die Grunderwerbsteuer – wie im Klageverfahren erfolgt – herabsetzen müssen.
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Nach § 1 Absatz 1 Nr. 1 des Grunderwerbsteuergesetzes (GrEStG) unterliegt der Grunderwerbsteuer ein Kaufvertrag, der sich auf ein inländisches Grundstück bezieht und der den Anspruch auf Übereignung begründet. Als Bemessungsgrundlage für die Festsetzung der Grunderwerbsteuer ist nach § 8 Absatz 1 GrEStG der Wert der Gegenleistung maßgeblich; danach gilt bei einem Kauf als Gegenleistung der Kaufpreis einschließlich der vom Käufer übernommenen sonstigen Leistungen (vgl. § 9 Absatz 1 Nr. 1 GrEStG). Dazu gehören nicht künftige Baukosten für ein unbebautes Grundstück; ein Bauvertrag vermittelt keinen „Anspruch auf Übereignung“ im Sinne des § 1 Absatz 1 Nr. 1 GrEStG. Das beklagte Finanzamt hatte zu Unrecht die Kosten für das nach Erwerb des unbebauten Grundstücks hergestellte Wohngebäude in die Bemessungsgrundlage der Grunderwerbsteuer einbezogen. Schon deshalb waren die von den Klägern angefochtenen Grunderwerbsteuerbescheide rechtswidrig.
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Dass das beklagte Finanzamt bei der Grunderwerbsteuerfestsetzung der Rechtsprechung des für Grunderwerbsteuer zuständigen II. Senats des Bundesfinanzhofs zum so genannten „fiktiven einheitlichen Leistungsgegenstand“ (auch „einheitliches Vertragswerk“ oder „einheitlicher Erwerbsgegenstand“ genannt) gefolgt ist, ändert daran nichts. Denn das Gericht ist nach Art. 20 Absatz 3 des Grundgesetzes (GG) an „Gesetz und Recht“ gebunden, nicht aber an die gesetzes- und rechtswidrige Rechtsprechung des II. Senats des Bundesfinanzhofs, die in dem Auslegungsergebnis eines „fiktiven einheitlichen Erwerbsgegenstands“ gipfelt. Das Gericht vertritt die Auffassung, dass die Rechtsprechung des II. Senats des Bundesfinanzhofs gegen das Grunderwerbsteuergesetz, gegen die Einheit der Steuerrechtsordnung, gegen das verfassungsrechtliche Gleichbehandlungsgebot, gegen das Verfahrensgrundrecht des Bürgers auf seinen gesetzlichen Richter und gegen europäisches Gemeinschaftsrecht verstößt (dazu näher die Urteile des Niedersächsischen Finanzgerichts vom 20.3.2013 7 K 223/10, 7 K 224/10 sowie vom 20.3.2010 7 K 28/10, 7 K 29/10, mit weiteren Nachweisen, juris; vgl. auch Rutemöller, DStZ 2015, S. 778 ff., Klein, DB 2014, S. 208 ff.).
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Zwar wurden die genannten Urteile des Niedersächsischen Finanzgerichts durch den II. Senat des Bundesfinanzhofs mit seinen Urteilen vom 4.12.2014 (II R 22/13) und vom 1.10.2014 (II R 32/13) aufgehoben. Überzeugend und richtig waren die höchstrichterlichen Urteile jedoch nicht. So führt der II. Senat des Bundesfinanzhofs in seiner Entscheidung vom 4.12.2014 (II R 22/13) aus, dass eine „Divergenz zu der Rechtsprechung des V. Senats des BFH, der für Zwecke der Umsatzsteuer unter bestimmten Voraussetzungen ebenfalls von einer einheitlichen Leistung ausgeht und die Umsatzsteuer durch die grunderwerbsteuerliche Beurteilung des Leistungsgegenstandes nicht betroffen sieht (vgl. BFH-Urteile vom 24. Januar 2008 V R 42/05, BFHE 221, 316, BStBl II 2008, 697; vom 19. März 2009 V R 50/07, BFHE 225, 224, BStBl II 2010, 78)“ angeblich nicht bestehe (mit Hinweis auf BFH-Urteil in BFHE 230, 154, BStBl II 2013, 86, Rz 14). Diese Aussage des II. Senats des Bundesfinanzhofs ist falsch. Denn die umsatzsteuerrechtliche Rechtsprechung des V. und XI. BFH-Senats weicht erkennbar von der Rechtsprechung des für Grunderwerbsteuer zuständigen II. Senats des Bundesfinanzhofs ab. Während nach Auffassung des II. BFH-Senats eine Einheit zwischen dem Grundstückskauf- und Bauerrichtungsvertrag auch angenommen werden kann, wenn – wie hier – auf der Veräußererseite mehrere Personen auftreten, kann ein einheitliches Vertragswerk nach Auffassung des V. sowie des XI. Senats nur vorliegen, wenn Personenidentität zwischen dem Veräußerer und dem Bauunternehmer besteht (so BFH vom 30.1.2008 V B 120/07, juris, mit weiteren Nachweisen, vom 12.2.2009 XI B 76/08, juris). Die zwei vom II. Senat des Bundesfinanzhofs herangezogenen Urteile des V. Senats des Bundesfinanzhofs zum Beweis der angeblichen Nicht-Divergenz sind Ausnahmeentscheidungen; hier hatte der V. Senat des Bundesfinanzhofs ausnahmsweise keine Umsatzsteuer auf Baukosten anfallen lassen, weil auf der Veräußererseite nicht mehrere – wie hier -, sondern nur ein Veräußerer bzw. eine Organschaft handelte.
8
Die divergierende BFH-Rechtsprechung führt dazu, dass in sehr vielen Fällen die nachfolgenden Baukosten beim Erwerb eines (noch) unbebauten Grundstücks sowohl mit Umsatzsteuer (zu Recht) und mit Grunderwerbsteuer (zu Unrecht) belastet werden. Nach alledem folgt das Gericht der höchstrichterlichen Rechtsprechung des V. und XI. BFH-Senats, nicht der höchstrichterlichen Rechtsprechung des II. BFH-Senats, die die Grunderwerbs-Besteuerung einer Fiktion („fiktiver einheitlicher Leistungsgegenstand“) zulässt und die die dazu divergierende höchstrichterliche Rechtsprechung der ebenfalls mit der hier einschlägigen Rechtsfrage (im Rahmen der Beurteilung von Umsätzen, „die unter das Grunderwerbsteuergesetz fallen“ – vgl. § 4 Nr. 9a des Umsatzsteuergesetzes) befassten Umsatzsteuersenate (V. und XI. BFH-Senat) unzutreffend darstellt.

Keine Freistellung von Kapitalertragsteuer und Solidaritätszuschlag trotz Steuerbefreiung nach § 5 Abs. 1 Nr. 8 KStG.

Niedersächsisches Finanzgericht 6. Senat, Urteil vom 24.11.2017, 6 K 150/15, ECLI:DE:FGNI:2017:1124.6K150.15.00

Art 3 GG, § 5 Abs 1 Nr 8 KStG, § 5 Abs 2 Nr 1 KStG

TATBESTAND

1
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Belastung der Klägerin als steuerbefreiter Körperschaft mit Kapitalertragsteuer auf der Grundlage des § 5 Abs. 2 Nr. 1 KStG verfassungsgemäß ist.
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Die Klägerin ist ein gem. § 1 Abs. 1 Nr. 6 KStG unbeschränkt steuerpflichtiges, jedoch nach § 5 Abs. 1 Nr. 8 KStG steuerbefreites berufsständisches Versorgungswerk. Rechtsgrundlagen ihrer Errichtung sind § 12 Abs. 1 des Kammergesetzes für Heilberufe (HKG) sowie die Alterssicherungsordnung der Ärztekammer Niedersachsen (ASO). Der Zweck der Klägerin ist die Sicherung der Kammerangehörigen im Alter und bei Berufsunfähigkeit sowie die Sicherung der Hinterbliebenen. Nach § 1 ASO ist die Klägerin eine unselbständige Anstalt der Ärztekammer Niedersachen, kann jedoch im Rechtsverkehr unter eigenem Namen handeln, klagen und verklagt werden.
3
Im Streitjahr 2010 erzielte die Klägerin – u.a. – die folgenden Kapitalerträge:
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5
Am … 2014 beantragte die Klägerin die Erteilung eines Bescheides über die Freistellung von der Kapitalertragsteuer und dem Solidaritätszuschlag gem. § 155 AO hinsichtlich der im Kalenderjahr 2010 bezogenen Kapitalerträge.
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Der Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom … ab.
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Zur Begründung führte er aus, der Klägerin seien Kapitalerträge im Sinne des § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG zugeflossen, für die gem. §§ 31 Abs. 1 Satz 1 KStG, 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG, 32 Abs. 1 Nr. 1 KStG, 5 Abs. 2 Nr. 1 KStG Kapitalertragsteuer (und Solidaritätszuschlag) mit Abgeltungswirkung einbehalten und abgeführt worden sei. Eine Abstandnahme vom Steuerabzug sei nur gem. § 44a Abs. 8 EStG vorzunehmen. Eine Freistellung nach anderen Vorschriften scheide aus. Insbesondere lägen die Voraussetzungen der § 44a Abs. 1, § 44a Abs. 4, § 44a Abs. 7 oder § 44b Abs. 5 EStG nicht vor. Insoweit wird wegen der Begründung im Einzelnen Bezug genommen auf die Ausführungen im Ablehnungsbescheid vom …
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Die (einfach-) gesetzlich vorgeschriebene Abgeltungswirkung verletze die Klägerin nicht in ihren Grundrechten und verstoße insbesondere nicht gegen Art. 3 des Grundgesetzes. Der Gesetzgeber habe mit der Ausgestaltung der Vorschriften den ihm eingeräumten weiten Entscheidungsspielraum nicht überschritten. Hinsichtlich der Begründung des Beklagten im Einzelnen wird Bezug genommen auf die Ausführungen im Ablehnungsbescheid vom 27.3.2015.
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Hiergegen hat die Klägerin Sprungklage erhoben. Der Beklagte hat der Sprungklage fristgemäß zugestimmt.
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Die Klägerin führt zunächst aus, die Erhebung der Sprung-Verpflichtungsklage sei zulässig. Ein Vorverfahren sei entbehrlich, da der Beklagten der Sprungklage innerhalb eines Monats nach Zustellung der Klageschrift zugestimmt habe.
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Verfahrensrechtlich sei für die Klägerin nur der Weg einer Verpflichtungsklage möglich. Ein Einspruch (und damit nachfolgend eine Anfechtungsklage) gegen die Kapitalertragsteueranmeldung sei nicht erfolgversprechend, denn nach der Rechtsprechung des BFH könne der Vergütungsgläubiger im Wege der Drittanfechtung nur prüfen lassen, ob der Vergütungsschuldner die Steueranmeldung vornehmen durfte. Dies sei jedoch bereits dann zu bejahen, wenn die Voraussetzungen für den Steueranspruch zweifelhaft seien. Die Steueranmeldung könne daher nicht mit dem Argument der Verfassungswidrigkeit angegriffen werden. Zudem komme auch ein Änderungsantrag nach § 164 Abs. 2 AO nicht in Betracht. Hier gelte das zum Einspruch gegen die Steueranmeldung Ausgeführte. Ebenfalls sei ein Antrag nach § 44b Abs. 5 EStG nicht möglich, weil die Klägerin hier nicht antragsberechtigt sei. Anträge nach § 50d EStG, nach § 50d EStG analog sowie gem. §32 Abs. 5 KStG analog schieden ebenfalls aus. Hinsichtlich der weiteren Begründung im Einzelnen wird insoweit Bezug genommen auf die umfangreichen Ausführungen in der Klageschrift vom 23.4.2015.
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Daher komme nur ein Erstattungsanspruch gem. § 37 Abs. 2 AO in Betracht. Ein solcher Anspruch setze voraus, dass der Steuerpflichtige erfolgreich die Aufhebung / Änderung der Kapitalertragsteueranmeldung betreibe oder den Erlass eines Freistellungsbescheides gem. § 155 Abs. 1 Satz 3 AO erreiche. Wie ausgeführt sei hier nur der Weg des Freistellungsbescheides möglich. Die Klägerin als Steuerpflichtige könne den Erlass eines derartigen Steuerbescheides beantragen.
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Zur Begründung ihrer Klage führt die Klägerin aus, nach den einfachgesetzlichen Vorschriften unterlägen die Gewinnausschüttungen, die Einkünfte im Sinne des § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG seien, dem Steuerabzug für Kapitalerträge (§ 43 Abs. 1 Nr. 1 bzw. 1a EStG). Die Höhe der Kapitalerträge betrage grundsätzlich 25 % (§ 43 Abs. 1 Satz 1Nr. 1 EStG). Der Steuerabzug sei jedoch nur in Höhe von drei Fünfteln (also im Ergebnis i.H.v. 15 %) vorzunehmen, wenn die Gewinnausschüttung von einer nach § 5 Abs. 1 KStG befreien Körperschaft vereinnahmt werde (§ 44a Abs. 8 Nr. 1 KStG). Auf die Kapitalertragsteuer werde zudem ein Solidaritätszuschlag von 5,5 % erhoben, so dass eine Gesamtbelastung von 15,825 % entstehe. Da der Steuerabzug eine abgeltende Wirkung habe (§ 32 Abs. 1 Nr. 1 KStG), könne die Kapitalertragsteuer weder auf die Körperschaftsteuer angerechnet noch erstattet werden. Die Belastung durch die Kapitalertragsteuer werde so für die berufsständischen Versorgungseinrichtungen endgültig. Da dem Steuerabzug die vollen Kapitalerträge unterlägen und aufgrund der Abgeltungswirkung keine Veranlagung stattfinde, kann der Empfänger der Gewinnausschüttung auch keine Aufwendungen steuermindernd geltend machen.
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Hinsichtlich dieser gesetzlich normierten Steuerfolgen bestehe zwischen den Beteiligten kein Streit. Die Klägerin ist jedoch der Rechtsauffassung, die Besteuerung von Gewinnausschüttungen und Entgelten aus Wertpapierleihgeschäften, die nach § 1 Abs. 1 Nr. 6 KStG unbeschränkt steuerpflichtige, aber nach § 5 Abs. 1 Nr. 8 KStG von der Körperschaftsteuer befreite berufsständische Versorgungseinrichtungen bezogen haben, verstoße gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG.
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Zur Begründung ihrer Auffassung nimmt die Klägerin Bezug auf das Gutachten von Prof Dr. … Danach verstoße die Besteuerung von Gewinnausschüttungen (und Wertpapierleihgeschäften) bei einem nach § 5 Abs. 1 Nr. 8 KStG steuerbefreitem Versorgungswerk unter vier Aspekten gegen Art. 3 Abs. 1 GG:
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1. Gewinnausschüttungen, die berufsständische Versorgungseinrichtungen wie die Klägerin vereinnahmten, würden definitiv mit 15,825 % Kapitalertragsteuer und Solidaritätszuschlag belastet, während Gewinnausschüttungen an nicht steuerbefreite Körperschaften mit lediglich 0,79125 % belastet würden. Hinsichtlich der Berechnungen der Klägerin zur Steuerbelastung wird Bezug genommen auf die Ausführungen im Gutachten. Diese Ungleichbehandlung sei verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt.
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Sie lasse sich nicht mit dem Ziel rechtfertigen, dass durch die niedrigere Besteuerung der unbeschränkt steuerpflichtigen und nicht befreiten Körperschaften eine Einmalbesteuerung bei den letzten Anteilseignern hergestellt werden solle. Denn dieses Ziel könne schon nicht rechtfertigen, dass auch die thesaurierten Gewinne begünstigt würden. Auch hinsichtlich der ausgeschütteten Gewinne greife der Rechtfertigungsgrund nicht ein, weil nicht nur Gewinnausschüttungen von Kapitalgesellschaften, sondern auch Versorgungsleistungen von berufsständischen Versorgungseinrichtungen bei den Empfängern einkommensteuerlich nachbelastet würden. Die Ungleichbehandlung lasse sich zudem nicht mit dem Ziel rechtfertigen, eine Gewerbesteuerbelastung auf die Gewinnausschüttung zu kompensieren, die bei berufsständischen Versorgungseinrichtungen nicht entstehen könne. Andernfalls würde die gesetzgeberische Entscheidung konterkariert, berufsständische Versorgungseinrichtungen von der Gewerbesteuer frei zu stellen. Auch eine Rechtfertigung mit den außersteuerlichen Zielen, betriebliche Investitionen zu fördern und die Innenfinanzierung zu verbessern, greife nicht.
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2. Es verstoße gegen Art. 3 Abs. 1 GG, dass Gewinnausschüttungen bei einem nach § 5 Abs. 1 Nr. 8 KStG steuerbefreiten Versorgungswerk im Vergleich mit anderen Kapitaleinkünften (vor allem Zinsen) höher belastet würden (15,825 % gegenüber 0 %), obwohl beide gleichermaßen aus Vermögensanlagen stammten, die vom Förderzweck des § 5 Abs. 1 Nr. 8 KStG erfasst seien. Diese Ungleichbehandlung könne nicht durch Praktikabilitätserwägungen gerechtfertigt werden. Zudem habe noch unter Geltung des Anrechnungsverfahrens die Ungleichbehandlung den Hintergrund gehabt, eine Gleichbelastung hinsichtlich der Gesamtbelastung bei Gewinnausschüttungen herzustellen. Mit dem Systemwechsel zum Teileinkünfteverfahren greife dieser Rechtfertigungsgrund jedoch nicht mehr, denn seitdem würden die Gewinnausschüttungen in der Regelbesteuerung gegenüber der Besteuerung der berufsständischen Versorgungseinrichtungen günstiger behandelt.
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3. Es verstoße gegen Art. 3 Abs. 1 GG, dass Gewinnausschüttungen, die berufsständische Versorgungseinrichtungen vereinnahmten, mit 15,825 % Kapitalertragsteuer und Solidaritätszuschlag belastet würden, während Steuerpflichtigen im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 9 KStG Gewinnausschüttungen steuerfrei vereinnahmen könnten.
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Diese Ungleichbehandlung könne nicht durch Unterschiede in den förderungswürdigen Zwecken gerechtfertigt werden. Ebenso lasse sich der Begünstigungsausschluss nicht mit dem Ziel rechtfertigen, die berufsständischen Versorgungseinrichtungen mit den Trägern der gesetzlichen Sozialversicherung gleichzustellen.
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4. Der Klägerin seien im VZ 2010 tatsächlich Beteiligungsaufwendungen in Höhe von … Euro entstanden. Es verstoße gegen Art. 3 Abs. 1 GG, dass berufsständische Versorgungseinrichtungen diese tatsächlich entstandenen Beteiligungsaufwendungen, die im wirtschaftlichen Zusammenhang mit den steuerpflichtigen Gewinnausschüttungen stünden, nicht geltend machen könnten. Die Ungleichbehandlung ergebe sich einerseits aus dem Vergleich zwischen zwei berufsständischen Versorgungseinrichtungen, die Beteiligungsaufwendungen in unterschiedlicher Höhe hätten sowie andererseits aus dem Vergleich zwischen einer berufsständischen Versorgungseinrichtung und einer nicht steuerbefreiten Körperschaft mit jeweils gleichen Beteiligungsaufwendungen.
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Hinsichtlich der weiteren Begründungen der gerügten Verfassungsverstöße auf die Ausführungen im Gutachten von Prof. Dr. … Bezug genommen.
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Hinsichtlich der geltend gemachten Verfassungswidrigkeit regt die Klägerin an, nach Art. 100 GG die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen.
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Die Klägerin beantragt,
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den Beklagten unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom …. zu verpflichten, einen Bescheid über die Freistellung von der Kapitalertragsteuer und dem Solidaritätszuschlag für die im Jahr 2010 zugeflossenen Kapitalerträge zu erteilen.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Er beruft sich zur Begründung auf seine Ausführungen im Ablehnungsbescheid vom …

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE

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Die Klage hat keinen Erfolg.
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I. Die Klage ist ohne Vorverfahren als Sprungklage gem. § 45 Abs. 1 FGO zulässig. Der Beklagte hat innerhalb der Frist des § 45 Abs. 1 Satz 1 FGO mit Schriftsatz vom 28.5.2015 zugestimmt.
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II. Die Klage ist jedoch unbegründet.
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Der Beklagte hat zu Recht die Erteilung eines Freistellungsbescheides gem. § 155 Abs. 1 Satz 3 AO abgelehnt.
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Nach § 155 Abs. 1 Satz 1 AO werden Steuern, soweit nichts anderes vorgeschrieben ist, von der Finanzbehörde durch Steuerbescheid festgesetzt. Nach Satz 3 der Vorschrift gilt dies auch für die volle oder teilweise Freistellung von einer Steuer. Freistellungsbescheide im Sinne des § 155 Abs. 1 Satz 3 AO sind daher begrifflich Steuerbescheide, die nach dem Willen des FA den Steuerpflichtigen verbindlich davon unterrichten, dass eine Steuer von ihm aufgrund des geprüften Sachverhalts dem Grunde nach überhaupt nicht oder für einen bestimmten Veranlagungs- oder Erhebungszeitraum nicht gefordert werde (Urteil des Bundesfinanzhofs –BFH– vom 16.10.1991 I R 65/90, BStBl. 1992, 322 m.w.N.).
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Im Streitfall kann ein derartiger Freistellungsbescheid hinsichtlich der streitgegenständlichen Kapitalertragsteuer einschließlich des Solidaritätszuschlages nicht erlassen werden, denn die Steuer ist zu Recht einbehalten und abgeführt worden.
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1. Die Klägerin ist als berufsständische Versorgungseinrichtung gem. § 5 Abs. 1 Nr. 1 KStG von der Körperschaftsteuer befreit. Dies gilt jedoch gem. § 5 Abs. 2 Nr. 1 KStG nicht für inländische Einkünfte, die dem Steuerabzug unterliegen; Entsprechendes gilt für die in § 32 Abs. 3 Satz 2 zweiter Halbsatz genannten Einkünfte (Wertpapierleihe). Gewinnausschüttungen, die Einkünfte im Sinne des § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG sind, unterliegen dem Steuerabzug für Kapitalerträge (§ 43 Abs. 1 Nr. 1 EStG). Die Höhe der Kapitalertragsteuer beträgt grundsätzlich 25 %, der Steuerabzug ist jedoch nur in Höhe von drei Fünfteln (d.h. mit 15%) vorzunehmen, wenn die Ausschüttung – wie im Streitfall – von einer nach § 5 Abs. 1 KStG steuerbefreiten Körperschaft vereinnahmt wird (§§ 43a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG, 44a Abs. 2 Nr. 1 EStG). Auf die Kapitalertragsteuer wird ein Solidaritätszuschlag von 5,5 % erhoben (§§ 1 Abs. 3 SolZG, 3 Nr. 5 SolZG). Der Steuerabzug hat gem. § 32 Abs. 1 Nr. 1 KStG abgeltende Wirkung.
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Der Klägerin sind im Streitjahr derartige Einkünfte, die dem Steuerabzug unterliegen zugeflossen. …
37
Mithin ist gem. § 5 Abs. 2 Nr. 1 KStG zutreffend Kapitalertragsteuer in Höhe von insgesamt … Euro (sowie Solidaritätszuschlag in Höhe von insgesamt … Euro) einbehalten und abgeführt worden. Eine Abstandnahme vom Steuerabzug kommt nur insoweit in Betracht, als sie bereits gem. § 44a Abs. 2 EStG durchgeführt worden ist und die Kapitalerträge (nur) mit 15% belastet worden sind.
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Die dargestellte Besteuerung im Abzugsverfahren nach einfachgesetzlichen Vorschriften ist im Übrigen zwischen den Beteiligten nicht streitig.
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b) Eine Aussetzung des Verfahrens und Vorlage an das Bundesverfassungsgericht gem. Art. 100 Abs. 1 GG kommt nicht in Betracht. Nach dieser grundgesetzlichen Regelung ist das Verfahren auszusetzen und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen, wenn ein Gericht ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig hält.
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Eine Vorlage kommt nur dann in Betracht, wenn das Gericht von der Verfassungswidrigkeit der entscheidungserheblichen Norm überzeugt ist, Zweifel genügen demgegenüber nicht.
41
Auch unter Berücksichtigung der seitens der Klägerin vorgebrachten Argumente, die einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 GG begründen sollen, ist der erkennende Senat nicht von der Verfassungswidrigkeit des hier streitgegenständlichen § 5 Abs. 2 Nr. 1 KStG Norm überzeugt.
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(1) Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebietet, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Aus ihm ergeben sich je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen.
43
Im Bereich des Steuerrechts hat der Gesetzgeber einen weit reichenden Entscheidungsspielraum sowohl bei der Auswahl des Steuergegenstandes als auch bei der Bestimmung des Steuersatzes. Die mit der Wahl des Steuergegenstandes einmal getroffene Belastungsentscheidung hat der Gesetzgeber allerdings unter dem Gebot möglichst gleichmäßiger Belastung aller Steuerpflichtigen bei der Ausgestaltung des steuerrechtlichen Ausgangstatbestands folgerichtig umzusetzen. Ausnahmen von einer solchen folgerichtigen Umsetzung bedürfen eines besonderen sachlichen Grundes.
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Dabei ist zu berücksichtigen, dass Steuergesetze in der Regel Massenvorgänge des Wirtschaftslebens betreffen. Sie müssen, um praktikabel zu sein, Sachverhalte, an die sie diese steuerrechtlichen Folgen knüpfen, typisieren und dabei in weitem Umfang die Besonderheiten des einzelnen Falles vernachlässigen. Die wirtschaftlich ungleiche Wirkung auf die Steuerzahler darf allerdings ein gewisses Maß nicht übersteigen. Vielmehr müssen die steuerlichen Vorteile der Typisierung im rechten Verhältnis zu der mit der Typisierung notwendig verbundenen Ungleichheit der steuerlichen Belastung stehen. Außerdem darf eine gesetzliche Typisierung keinen atypischen Fall als Leitbild wählen, sondern muss sich realitätsgerecht am typischen Fall orientieren.
45
Die Entscheidung darüber, ob die Einbeziehung einer Personengruppe oder eines Sachverhalts in den Anwendungsbereich eines Steuergesetzes zur Auswahl und damit zur Bestimmung des Umfangs des Steuergegenstandes zählt, bei der dem Gesetzgeber ein weiter Spielraum zusteht, oder ob dies eine Frage der Differenzierung innerhalb des Steuergegenstandes ist mit der Folge einer engeren Bindung des Gesetzgebers an die Grundsätze der Folgerichtigkeit und Belastungsgleichheit, kann nicht nach abstrakten Kriterien getroffen werden, sondern muss jeweils in Ansehung der konkreten Umstände des in Rede stehenden Steuergegenstandes und der betreffenden Vergleichsgruppen erfolgen. Dabei kommt es regelmäßig wesentlich darauf an, inwieweit die Gruppe oder der Sachverhalt, um deren oder dessen Einbeziehung es geht, durch Merkmale geprägt ist, die gerade den Steuergegenstand, dessen Ausgestaltung in Frage steht, unter dem Gesichtspunkt des steuerbaren Vorteils kennzeichnen (vgl. insgesamt dazu Urteil des BVerfG vom 15.1.2008 1 BvL 2/04, -juris – zur Gewerbesteuer mit weiteren Nachweisen zur verfassungsrechtlichen Rechtsprechung).
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Bei der Prüfung der Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung ist auch zu berücksichtigen, ob es sich um eine personenbezogene oder eine bloß verhaltensbezogene Ungleichbehandlung handelt. Für die gleichheitsrechtliche Abwägung fällt hierbei insbesondere ins Gewicht, wieweit dem Steuerpflichtigen die Möglichkeit eröffnet ist, zwischen verschiedenen Begünstigungs- oder Belastungsalternativen zu wählen. Ist letzteres der Fall ist ein weniger strenger Maßstab anzulegen als bei einer personenbezogenen Ungleichbehandlung, denn die Steuerpflichtigen können sich der jeweiligen Rechtsfolge durch entsprechende Sachverhaltsgestaltung entziehen. (Beschluss des BVerfG vom 26.10.2004 2 BvR 246/98, juris, ebenso BFH vom 12.12.1990 I R 43/89, BStBl II 1991, 427).
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Allerdings kann eine Ausweichoption gegenüber einem belastenden Steuergesetz, die ein bestimmtes steuerlich relevantes Verhalten des Steuerpflichtigen voraussetzt, im Rahmen der verfassungsrechtlichen Überprüfung dieses Steuergesetzes aus rechtsstaatlichen Gründen nur dann als belastungsmindernd berücksichtigt werden, wenn das in Frage kommende Verhalten zweifelsfrei legal ist, keinen unzumutbaren Aufwand für den Steuerpflichtigen bedeutet und ihn auch sonst keinem nennenswerten finanziellen oder rechtlichen Risiko aussetzt (Urteil des BVerfG vom 15.1.2008 a.a.O.).
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(2) Unter Berücksichtigung dieser Maßgaben begegnet die Regelung des § 5 Abs. 2 Nr. 1 KStG keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Mit der Einschränkung der Steuerbefreiung für Einkünfte, die dem Steuerabzug unterliegen, bewegt sich der Gesetzgeber innerhalb des ihm zustehenden weiten Gestaltungsspielraums in Bezug auf die Auswahl des Steuergegenstandes. Die Ausgestaltung der Besteuerung bestimmter Kapitaleinkünfte als Objektsteuer ist zur Überzeugung des Senates nicht gleichheitswidrig.
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(a) Soweit die Klägerin eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung mit unbeschränkt steuerpflichtigen und nicht steuerbefreiten Körperschaftsteuersubjekten rügt, ist dies vor dem Hintergrund der möglichen Ausweichoptionen der Klägerin eine hinnehmbare Belastung, die sich nach Auffassung des erkennenden Senates innerhalb des Rahmens des weiten Gestaltungsspielraumes des Gesetzgebers bewegt.
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Bei der Prüfung einer Ungleichbehandlung mit steuerpflichtigen Körperschaften ist dabei nicht nur auf die (von der Steuerbefreiung) ausgeschlossenen Gewinnausschüttungen abzustellen. Vielmehr ist auch zu berücksichtigen, dass die Klägerin als berufsständische Versorgungseinrichtung bei den Einkünften, die nicht dem Steuerabzug unterliegen, gegenüber den steuerpflichtigen Körperschaften durch die allgemeine Steuerbefreiung privilegiert ist.
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b) Dies gilt ebenso vor dem Hintergrund der von der Klägerin angesprochenen Ungleichbehandlung der Gewinnausschüttungen, die nach § 5 Abs. 2 Nr. 1 KStG von der Steuerbefreiung ausgenommen sind, mit Zinseinkünften, die bei der Klägerin von der Steuerbefreiung gem. § 5 Abs. 1 Nr. 8 KStG erfasst werden. Auch insoweit hat es die Klägerin in der Hand, Einnahmen zu erzielen, die nicht dem Steuerabzug unterliegen. Im Übrigen hat hier der Gesetzgeber mit der Einführung der abgeltenden Wirkung des Steuerabzugs gerade die Voraussetzungen für eine verfassungsgemäße Besteuerung geschaffen (Steuerabzug zur Vermeidung eines strukturellen Vollzugsdefizites).
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c) Soweit die Klägerin in Bezug auf die Regelung in § 44a Abs. 7 EStG eine Ungleichbehandlung der berufsständischen Versorgungswerke gegenüber Körperschaftsteuersubjekten im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 9 KStG rügt, sieht der Senat hier bereits keine wesentlich gleichen Sachverhalte. Die nach dieser Vorschrift befreiten Körperschaften sind – im Gegensatz zu der Klägerin gemeinnützig. Die Entscheidung des Gesetzgebers, gemeinnützigen Körperschaften durch § 44a Abs. 7 EStG eine weitergehende Befreiung von der Kapitalertragsteuer zu gewähren als berufsständischen Versorgungseinrichtungen – ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
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d) Der Senat sieht weiterhin keine sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung in der fehlenden Möglichkeit, tatsächliche Beteiligungsaufwendungen geltend zu machen.
54
Steuerrechtliche Regelungen sind so auszugestalten, dass Gleichheit im Belastungserfolg für alle Steuerpflichtigen hergestellt werden kann. Der Gleichheitssatz fordert jedoch nicht eine immer mehr individualisierende und spezialisierende Gesetzgebung, die letztlich die Gleichmäßigkeit des Gesetzesvollzugs gefährdet, sondern die Regelung eines allgemein verständlichen und möglichst unausweichlichen Belastungsgrundes. Deshalb darf der Gesetzgeber, wie etwa bei der einkommensteuerlichen Verschonung des Existenzminimums einen steuererheblichen Vorgang um der materiellen Gleichheit willen im typischen Lebensvorgang erfassen und individuell gestaltbare Besonderheiten unberücksichtigt lassen. Er darf auch die Verwirklichung des Steueranspruchs verfahrensrechtlich erleichtern und dabei die für den Staat verfügbaren personellen und finanziellen Mittel berücksichtigen. Außerdem kann eine Tatbestandstypisierung dazu dienen, komplizierte Lebenssachverhalte übersichtlicher und verständlicher zu machen, um so den steuerlichen Belastungsgrund zu verdeutlichen und in das Bewusstsein zu rücken (BVerfG vom 10.4.1992 2 BvL 77/92, juris). Vor diesem Hintergrund ist die Besteuerung durch Vornahme eines Steuerabzuges ohne die Möglichkeit, tatsächliche Aufwendungen geltend zu machen, nicht zu beanstanden. Dies gilt insbesondere deshalb, weil der Gesetzgeber den berufsständischen Versorgungswerken im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 8 KStG eine typisierende steuerliche Entlastung dadurch gewährt, dass gem. § 44a Abs. 8 EStG bei den berufsständischen Versorgungseinrichtungen im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 8 KStG der Kapitalertragsteuerabzug nur in Höhe von 3/5 durchzuführen ist und somit mithin eine Entlastung von 2/5 (= 10 Prozentpunkte) gewährt wird.
55
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
56
3. Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung gem. § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zuzulassen. Diese ist auch dann gegeben, wenn vernünftige Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit bestehen.

Keine Saldierung von Zinserträgen und Zinsaufwendungen im Rahmen des § 8 Abs. 1 Nr. 1a GewStG

Niedersächsisches Finanzgericht 6. Senat, Urteil vom 14.09.2017, 6 K 243/14, ECLI:DE:FGNI:2017:0914.6K243.14.00

§ 8 Abs 1 Nr 1a GewStG

TATBESTAND

1
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob bei der Hinzurechnung von Entgelten für Schulden gem. § 8 Satz 1 Nr. 1a GewStG (i.d.F. des Unternehmensteuerreformgesetzes 2008 vom 14.8.2007 – BGBl. I, 1912) Zinserträge und Zinsaufwendungen innerhalb eines „Cash-Pooling-Systems“ zu saldieren sind.
2
Die Klägerin ist als Kapitalgesellschaft mit beschränkter Haftung Teil der .. Unternehmensgruppe, deren Mutterkonzern die …AG mit Sitz in Österreich ist. Die Anteile an der Klägerin werden zu 100 % von der Muttergesellschaft gehalten. Unternehmensgegenstand der Klägerin ist die Erbringung von Dienstleistungen an andere Unternehmen der … Gruppe.
3
Die Gesellschaften der … Firmengruppe, auch die Klägerin, beteiligen sich zur Zins- und Finanzierungsoptimierung an einer Liquiditätsbündelung ihrer Konten (sog. Cash-Pooling). Dazu führt die … AG als Poolführerin ein bzw. mehrere „Zielkonten“ bei verschiedenen Kreditinstituten und die Klägerin, sowie weitere Tochtergesellschaften führen sog. „Quellkonten“. Der Saldo der Quellkonten wird im Wege eines automatischen Cash-Managements bankarbeitstäglich auf Null gestellt, indem entweder ein Guthaben auf dem Quellkonto dem Zielkonto der Muttergesellschaft gutgeschrieben wird oder ein negativer Saldo auf dem Quellkonto durch Überweisung vom Zielkonto ausgeglichen wird. Der Kontenausgleich findet unabhängig davon statt, ob ein Guthaben einer Tochtergesellschaft benötigt wird, um einen Debetsaldo einer anderen Tochtergesellschaft auszugleichen.
4
Die vertragliche Gestaltung des Cash-Pooling Systems erfolgte durch einen zwischen der Klägerin und der … AG – der Muttergesellschaft – geschlossenen Rahmenkreditvertrag vom … Danach gewährt die Muttergesellschaft als Darlehensgeberin der Klägerin einen Rahmenkredit zur freien Verfügung. Nach dem Vertrag beschränkt sich die Höhe des Kredits auf die zum jeweiligen Zeitpunkt erforderlichen Mittel zur Durchführung der gewöhnlichen Geschäftstätigkeit der Klägerin. Zudem wird in dem Kreditvertrag ausgeführt: „Der Zinssatz wird auf 5,50 % p.a. festgesetzt und gilt für Guthaben des Darlehensnehmers gleichermaßen… Die technische Abwicklung des Darlehens erfolgt über ein oder mehrere ACMS-Verrechnungskonten (Automatisches Cash Management System). Darlehensgeber und Darlehensnehmer vereinbaren, dass der Darlehensgeber die Kreditinstitute und die Konten festlegt, über die die Abwicklung erfolgen soll. Es gelten die Sondervereinbarungen der Cash Concentrating Verträge der jeweiligen Kreditinstitute.“
5
Ferner schlossen die Klägerin und die … AG u.a. mit der HSBC Trinkhaus & Burkhardt AG, mit der HSH Nordbank und mit der Commerzbank Verträge über die Durchführung des automatischen Cash-Managements für die dort errichteten Ziel- und Quellkonten. Die Konten wurden in unterschiedlichen Währungen (EUR, USD, AUD, GBP) geführt. Inhalt der Verträge war jeweils der Auftrag an die Bank, die Guthaben auf den Quellkonten an jedem Arbeitstag auf das Zielkonto zu übertragen und Debetsalden auf den Quellkonten zulasten des Zielkontos auszugleichen. Hinsichtlich der Vereinbarungen im Einzelnen wird Bezug genommen auf die in den Steuerakten befindlichen Verträge.
6
Die Konzernmutter finanziert sich selber überwiegend durch Anleihen / Schuldverschreibungen auf USD Basis sowie durch kurz- und langfristige Darlehen in EUR und GBP. Der Durchschnittszinssatz lag in 2010 bei 4,16 %.
7
Zur buchmäßigen Erfassung führte die Klägerin für jedes Quellkonto ein gesondertes Verrechnungskonto. Zudem berechnete sie täglich für jedes Quellkonto die Zinsen (Aufwand oder Ertrag) und buchte diese monatlich saldiert als Zinsertrag (Konto 251000) oder Aufwand (Konto 261000). Für das Streitjahr buchte die Klägerin im Zusammenhang mit dem Cash-Pooling Zinserträge in Höhe von … Euro und Zinsaufwendungen in Höhe von Euro. In ihrem Jahresabschluss auf den 31.12.2010 nahm die Klägerin eine Saldierung vor und erfasste keine Zinsaufwendungen.
8
In der Gewerbesteuererklärung für 2010 erklärte die Klägerin Entgelte für Schulden in Höhe von … Euro. … Die Zinsaufwendungen aus dem Cash-Pool mit der … AG in Höhe von … Euro erklärte die Klägerin nicht.
9
Der Beklagte veranlagte die Klägerin zunächst erklärungsgemäß mit den unter Vorbehalt der Nachprüfung stehenden Bescheiden über den Gewerbesteuermessbetrag sowie über die gesonderte Feststellung des vortragsfähigen Gewerbeverlustes auf den 31.12.2010 jeweils vom …
10
Im Oktober 2011 begann das Finanzamt mit einer steuerlichen Außenprüfung bei der Klägerin für die Veranlagungszeiträume 2007 bis 2010, die bislang noch nicht vollständig abgeschlossen ist. Die Außenprüfer vertraten die Auffassung, eine Saldierung von Zinsaufwand und Zinsertrag sei gewerbesteuerrechtlich nicht zulässig. Dies gelte auch für die Zinsen aus dem Cash-Pool. Der Prüfer erhöhte daher für das Streitjahr 2010 die Entgelte für Schulden gem. § 8 Nr. 1a GewStG – rechnerisch fehlerhaft – um … auf … Euro. Hinsichtlich der Begründung im Einzelnen wird Bezug genommen auf den Teilbericht über die Außenprüfung vom….
11
Auf der Grundlage der Prüfungsfeststellungen erließ der Beklagte einen geänderten Bescheid über den Gewerbesteuermessbetrag 2010 und hob den Bescheid über die gesonderte Feststellung des vortragsfähigen Gewerbeverlustes auf. Die Bescheide ergingen weiterhin unter Vorbehalt der Nachprüfung.
12
Die Klägerin legte Einspruch ein und vertrat die Auffassung, es seien keine Zinsen aus dem Cash-Pool als Entgelte für Schulden im Sinne des Gewerbesteuergesetzes hinzuzurechnen. Sie führte aus, das Vertragsverhältnis bestehe allein zwischen der … AG und der Klägerin auf der Grundlage des Rahmenkreditvertrages. Die … AG besorge für die Klägerin Liquidität bzw. hole sich Liquidität, falls bei der Klägerin ein Überschuss bestehe. Es bestehe nur ein Schuldverhältnis. Die Verträge mit den Banken seien nur flankierend erforderlich, um die Voraussetzungen für den Bankenverkehr zu schaffen.
13
Während des Einspruchsverfahrens wies der Beklagte die Klägerin darauf hin, dass zu ihren Gunsten die Entgelte für Schulden bisher fehlerhaft berechnet worden seien. Richtigerweise sei ein Betrag von … Euro (statt … Euro) anzusetzen.
14
Der Beklagte wies den Einspruch mit Einspruchsbescheid vom … zurück und erhöhte den Gewerbesteuermessbetrag von … Euro auf … Euro.
15
Die Erhöhung des Messbetrages resultiert aus der Berichtigung des Rechenfehlers und damit aus der Erhöhung der Entgelte für Schulden auf den Betrag von … Euro. Zur Begründung der ablehnenden Entscheidung führte der Beklagte aus, die Verträge der Klägerin mit der … AG und den verschiedenen Kreditinstituten bildeten keine Einheit, sondern seien jeweils für sich zu betrachten. Die Entgelte für Schulden aus den Kontokorrentkonten seien dem Gewinn aus Gewerbebetrieb hinzuzurechnen. Grundsätzlich sei jedes Kreditgeschäft für sich zu betrachten. Es sei nicht zulässig, mehrere Kreditgeschäfte mit demselben Kreditgeber oder mit verschiedenen Kreditgebern als Einheit anzusehen. Die fraglichen zwischen der Klägerin und der … AG bestehenden Verrechnungskonten seien nicht als Einheit zu werten.
16
Hiergegen richtet sich die vorliegende Klage.
17
Die Klägerin führt zur Begründung aus, sie habe im Prüfungszeitraum Konten bei mehreren Banken unterhalten. Mit diesen Banken sei unter Führung der Muttergesellschaft vereinbart, das automatische Cash-Management-System (ACMS) anzuwenden. Da das ACMS – unter Führung der … AG – mit mehreren Banken abgeschlossen worden sei, seien zwischen der Klägerin und der … AG unterjährig Verrechnungskonten geführt worden, die jeweils die Bewegungen für die einzelnen Banken zeigten. So werde z.B. ein Konto ACMS-Commerzbank, ein Konto ACMS-HSH Nordbank sowie ein Konto ACMS-HSBC Bank usw. unterjährig geführt. Da Gläubiger bzw. Schuldner und Ursache der Kontoerrichtung gleich seien, würden diese Konten am Jahresende zusammengeführt. Entsprechend werde auch mit den Zinsen verfahren, Zinsaufwendungen und Zinserträge aus der Verzinsung dieser Konten seien zusammengeführt worden.
18
Maßgebend für die rechtliche Betrachtung sei der zwischen der Klägerin und der … AG in Österreich bestehende Rahmenvertrag. Unterjährig seien zwar getrennte Konten geführt worden, dadurch sei jedoch nur die Kontenabstimmung zwischen den Gesellschaften vereinfacht worden. Es bestünden jedoch keine unterschiedlichen Geschäftsbeziehungen. Alle Verrechnungskonten seien ausschließlich durch das ACMS-Verfahren entstanden und würden regelmäßig zusammengeführt. Die Verträge mit den Banken seien nur flankierend erforderlich gewesen, um die Voraussetzungen für den Bankenverkehr zu schaffen. Dass die Konten teilweise in verschiedenen Währungen geführt worden seien, beinhalte kein Hindernis, weil eine Umrechnung möglich sei. Auch eventuell unterschiedliche Zinssätze seien unproblematisch.
19
Die Führung von getrennten Verrechnungskonten in der Buchhaltung sei vertraglich nicht geregelt. Im Rahmenvertrag werde lediglich ausgeführt, die technische Abwicklung erfolge auf einem oder mehreren Konten. Die verschiedenen Verrechnungskonten würden jedoch nur zu Abstimmungszwecken geführt, dies wäre bei einem Gesamtkonto in der Buchführung äußerst zeitaufwendig. Die durch die Anwendung des ACMS-Verfahrens entstehenden Salden beruhten nur auf einem Schuldverhältnis.
20
Entgelte, die im Rahmen der Ermittlung des Gewerbeertrags hinzuzurechnen seien, ergäben sich aus den Zinsaufwendungen. Diese Zinsaufwendungen könnten unterschiedlich ermittelt werden. Im Streitfall sei die Berechnung der Zinsen anhand der Zinsstaffelmethode erfolgt. Bei der Zinsstaffelmethode erfolge eine jährliche Endabrechnung der Zinsen. In 2010 seien im Streitfall Zinserträge berechnet worden, so dass eine Hinzurechnung von Zinsaufwendungen entfalle. Dass die Zinsen monatlich gebucht worden seien, habe seine Ursache in der Abgrenzung, die erforderlich sei, um eine monatliche Ergebnisrechnung durchzuführen (betriebswirtschaftliche Auswertungen). Die monatlichen Berechnungen stellten ausschließlich einen Abschlag auf die zu erwartenden Jahreszinsen dar. Tatsächlich sei eine monatliche Berechnung aufgrund der wechselnden Salden erfolgt. Diese monatliche Saldierung habe der Prüfer nicht beanstandet. Er habe nur aus verwaltungsökonomischen Gründen auf eine Einzelermittlung der täglichen Zinsen verzichtet.
21
Die Klägerin beantragt,
22
den Bescheid über den Gewerbesteuermessbetrag 2010 sowie den Bescheid über die Feststellung des vortragsfähigen Gewerbeverlustes auf den 31.12.2010 jeweils vom … und jeweils in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom … mit der Maßgabe zu ändern, dass die Entgelte für Schulden gem. § 8 Nr. 1a GewStG um … Euro gemindert werden.
23
Der Beklagte beantragt,
24
die Klage abzuweisen.
25
Er erläutert im Klageverfahren zunächst die Ermittlung der Entgelte für Schulden der Höhe nach. Der Betrag von … Euro setze sich wie folgt zusammen:
26
27
Zur Begründung seines Klagabweisungsantrages hält der Beklagte an seinen Ausführungen im Einspruchsbescheid fest. Grundsätzlich sei jedes Kreditgeschäft für sich zu betrachten. Es sei in der Regel nicht zulässig, mehrere Kreditgeschäfte mit demselben Kreditgeber oder mit verschiedenen Kreditgebern als Einheit anzusehen. Das gelte auch dann, wenn die flüssigen Mittel in einem Guthaben auf einem anderen Konto bei demselben Kreditgeber bestünden und die Konten zu dem Zweck geführt würden, verschiedene Geschäftsbeziehungen dauernd getrennt voneinander zu halten. Eine Saldierung einer Schuld mit einem Guthaben bei demselben Kreditgeber könne nur ausnahmsweise bei Einheitlichkeit, Regelmäßigkeit oder gleichbleibender Zweckbestimmung der Kreditgeschäfte, bei regelmäßiger Verrechnung der Konten oder dann in Betracht kommen, wenn der über ein Konto gewährte Kredit jeweils zur Abdeckung der aus dem anderen Konto ausgewiesenen Schuld verwendet werde. Dies gelte auch für Verrechnungskonten zwischen verbundenen Unternehmen (FG Köln vom 27.03.2003, 10 K 6346/98) sowie bei weitergereichten Krediten (gleichlautende Ländererlasse vom 02.07.2012, BStBl I 2012, Seite 654 Rz. 11). Kontokorrentverhältnisse mit verschiedenen Kreditgebern könnten ausnahmsweise dann als ein Kreditgeschäft angesehen werden, wenn das Kreditgeschäft durch ein entsprechendes Zusammenwirken der verschiedenen Kreditgeber entstanden sei (BFH vom 16.01.1974, I R 257/70, BStBl II 1974, 388).
28
Voraussetzung für eine Saldierung sei also, dass entsprechende Vereinbarungen getroffen und durchgeführt würden, d.h. Umschichtungen und Verrechnungen zwischen den verschiedenen Kreditkonten beabsichtigt gewesen und auch tatsächlich erfolgt seien.
29
Das von der … AG als Cash-Pool-Führerin angestrebte Ziel der Liquiditäts- und Zinsoptimierung habe jedoch nur durch entsprechende Verträge mit Kreditinstituten erreicht werden können. Diese stellten die wesentlichen Grundlagen des Cash-Poolings dar und beinhalteten nicht lediglich flankierende Maßnahmen zum Rahmenvertrag. Im Streitfall seien Verträge mit verschiedenen Banken abgeschlossen worden, die in keiner Weise zusammengewirkt hätten. Neben Euro-Konten seien andere Konten in ausländischer Währung eingerichtet worden, jeweils in der Kombination Quell- und zugehöriges Zielkonto. Zum Teil seien hierfür unterschiedliche Konditionen vereinbart worden (Kreditlimit, Zinssätze). Weder der Rahmenkreditvertrag noch die Verträge mit den verschiedenen Banken sähen eine Umschichtung oder Verrechnung zwischen den verschiedenen Konten vor, abgesehen von denen zwischen den Quellkonten und dem jeweilig entsprechenden Zielkonto. Tatsächlich seien auch weder Umschichtungen noch Verrechnungen innerhalb der verschiedenen Quellkonten vorgenommen worden. Für jede Bank und jede Währung habe die Klägerin ganzjährig in der Buchführung ein entsprechendes Verrechnungskonto geführt. Die Zusammenfassung in den Bilanzen und Zwischenabschlüssen sei nicht als regelmäßige Verrechnung zu sehen. Die Führung getrennter Verrechnungskonten spiegele die vertraglichen Vereinbarungen und die tatsächliche Durchführung der von der Klägerin und der Pool-Führerin mit den verschiedenen Kreditgebern abgeschlossenen Verträge wider. Sie diene lediglich der technischen Abwicklung des Cash-Pool-Verfahrens. Auch die monatlichen Zinsabrechnungen und Saldomitteilungen seien für jedes einzelne Verrechnungskonto erfolgt. Dass gem. § 355 Abs. 2 HGB ein jährlicher Rechnungsabschluss vorgesehen sei, sei hingegen unerheblich, da tatsächlich nicht so verfahren worden sei. Gemäß § 355 Abs. 2 2. Halbsatz HGB seien andere Bestimmungen zulässig. Die Klägerin und die Pool-Führerin seien insoweit der bei Banken üblichen Verfahrensweise gefolgt. Eine Jahresabrechnung habe die Klägerin nicht erstellt. Die verschiedenen Rechnungskonten seien mangels Zusammenwirken der verschiedenen am Cash-Management beteiligten Kreditinstitute und mangels tatsächlicher regelmäßiger Umschichtungen zwischen den Konten nicht zusammen zu fassen; Guthaben- und Schuldzinsen seien daher nicht miteinander zu verrechnen.

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE

30
1. Die Klage ist nicht begründet.
31
Die angefochtenen Bescheide über den Gewerbesteuermessbetrag für 2010 sowie über die Feststellung des vortragsfähigen Gewerbeverlustes auf den 31.12.2010 jeweils vom … und jeweils in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom … sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten.
32
Der Beklagte hat die im Zusammenhang mit dem Cash-Pooling entstandenen Zinsaufwendungen in Höhe von … Euro zu Recht nach § 8 Nr. 1a GewStG als Entgelte für Schulden berücksichtigt.
33
a) Nach § 8 Satz 1 Nr. 1a GewStG in der im Streitjahr geltenden Fassung sind 25 % der Entgelte für Schulden dem Gewinn aus Gewerbebetrieb hinzuzurechnen, soweit sie bei der Ermittlung des Gewinns abgesetzt worden sind und soweit die Summe den Betrag von 100.000 Euro übersteigt.
34
Während nach der vorherigen Gesetzesfassung in § 8 Nr. 1 Alternative 2 GewStG nur Entgelte für sog. Dauerschulden erfasst wurden, fallen nach dem Wortlaut der Neufassung sämtliche Entgelte für Schulden in den Anwendungsbereich der Vorschrift (Güroff in Glanegger, GewStG, § 8, Rn. 2), unabhängig davon, ob es sich um lang- oder kurzfristige Verbindlichkeiten handelt und für welchen Zweck der Gegenwert der Schuld verwendet wurde (Hofmeister in Blümich, EStG/KStG/GewStG, § 8 GewStG Rn. 36; Köster in Lenski/Steinberg, GewStG § 8 Nr. 1 Buchst. a Rn. 22). Entgelt für Schulden ist dabei die Gegenleistung für die Zurverfügungstellung von Fremdkapital (BFH-Urteile vom 29.03.2007 IV R 55/05, BStBl II 2007, 655; vom 09.08.2000 I R 92/99, BStBl II 2001, 609; vom 25.02.1999 IV R 55/97, BStBl II 1999, 473). Auch die Kapitalströme im Cash-Pool zwischen dem Quell- und dem Zielkonto sind als wechselseitige Darlehensverträge zu qualifizieren, so dass auch die damit zusammenhängenden Entgelte im Rahmen des § 8 Nr. 1a GewStG zu erfassen sind (vgl. BGH-Urteil vom 16.1.2006 II RZ 75/04, GmbHR 2006, 477 m.w.N.; Köster in Lenski/Steinberg, GewStG § 8 Nr. 1 Buchst. a, Rz 71).
35
b) Die Klägerin hat für die Darlehensgewährung durch die Konzernmutter im Rahmen des Cash-Pools Zinsaufwendungen in Höhe von … Euro für die kurzfristigen Verbindlichkeiten gegenüber der … bei der Gewinnermittlung abgesetzt. Diese waren daher als Entgelte für Schulden gem. § 8 Nr. 1 a GewStG zu erfassen.
36
c) Eine Saldierung mit Zinserträgen aus dem Cash-Pool für die der Konzernmutter gewährten Darlehen kommt nicht in Betracht.
37
Bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 8 Nr. 1 a GewStG vorliegen, muss grundsätzlich jedes einzelne Schuldverhältnis für sich beurteilt werden. Die Zusammenfassung mehrerer Schuldverhältnisse ist nicht schon deshalb möglich, weil sie ohne einander nicht denkbar sind. Mehrere Verbindlichkeiten sind nur ausnahmsweise als eine einheitliche Schuld zu werten, nämlich dann, wenn die einzelnen Schuldverhältnisse wirtschaftlich zusammenhängen und es dem Zweck des § 8 Nr. 1 a GewStG widerspräche, diesen Zusammenhang unberücksichtigt zu lassen (vgl. BFH-Beschluss vom 15.09.2011 I R 51/10, BFH/NV 2012, 446 zu § 8 Nr. 1 GewStG a. F.). Eine Zusammenfassung kommt demnach nur bei Einheitlichkeit, Regelmäßigkeit oder gleichbleibender Zweckbestimmung der Kreditgeschäfte, bei regelmäßiger Verrechnung der Konten oder dann in Betracht, wenn der über ein Konto gewährte Kredit jeweils zur Abdeckung der auf dem anderen Konto ausgewiesenen Schuld verwendet wird (BFH-Urteil vom 4.10.1988 VIII R 168/83, BStBl II 1989, 299).
38
Auf dieser Grundlage lässt die Rechtsprechung u.a. eine Verrechnung der Zinsaufwendungen zu, wenn mit der empfangenen Leistung eine unmittelbare Verringerung der Zinslast beabsichtigt ist wie z. B. bei der Gewährung eines zweckgebundenen Zinsverbilligungszuschusses (vgl. BFH-Urteil vom 07.07.2004 XI R 65/03, BStBl II 2005, 102; FG Hamburg vom 15.4.2016 3 K 145/15, EFG 2016, 1460). Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes zur alten Rechtslage (Hinzurechnung von Zinsen für Dauerschulden) gelten zudem in einem Cash-Pool keine Besonderheiten bei der gewerbesteuerrechtlichen Beurteilung (Urteil vom 10.12.2001 I B 43, 44/01, BFH/NV 2002, 536).
39
d) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat der Beklagte zu Recht die Saldierung der Zinsaufwendungen und Zinserträge abgelehnt.
40
Die seitens der Rechtsprechung aufstellten Voraussetzungen für die Zusammenfassung der Schuldverhältnisse und damit für eine Saldierung der Zinsen liegen nicht vor. Dies gilt sowohl in Bezug auf die Konten bei den verschiedenen Kreditinstituten als auch in Bezug auf das Quellkonto bei einer Bank.
41
Zwar beruht die Errichtung der unterschiedlichen Quellkonten jeweils auf dem Abschluss des Rahmenkreditvertrages zwischen der Klägerin und der Muttergesellschaft, so dass ein gewisser wirtschaftlicher Zusammenhang gegeben ist. Dies reicht jedoch zur Vornahme einer Saldierung nicht aus.
42
Soweit die Klägerin die Saldierung von Zinsaufwand und -ertrag bezogen auf die Konten verschiedener Kreditinstitute begehrt, fehlt es bereits an der erforderlichen Einheitlichkeit, denn die einzelnen Cash-Management Verträge sind zu unterschiedlichen Bedingungen abgeschlossen worden. Gläubiger und Schuldner der Kapitalforderung sind durch Einschaltung der verschiedenen Kreditinstitute nicht mehr identisch. Ferner bedingen sich die Cash-Management Verträge nicht gegenseitig; so setzt der Abschluss des Vertrages mit der HSH Nordbank nicht zugleich einen Vertrag mit der Commerzbank voraus. Auch fehlt es an einer regelmäßigen tatsächlichen Verrechnung der Konten. Sämtliche Quell-Konten der Klägerin werden ganzjährig getrennt voneinander geführt, eine Verrechnung findet tatsächlich nur buchmäßig mit dem Jahresabschluss statt.
43
Wesentlich für das Saldierungsverbot ist weiterhin, dass die Kapitalbewegungen innerhalb des Cash-Pools nicht aus dem von der Klägerin behaupteten einheitlichen Schuldverhältnis „Cash-Pool“ resultieren. Vielmehr wird durch die Einrichtung der Quellkonten eine Vielzahl von Schuldverhältnissen begründet. Der Abschluss der Cash-Management Verträge und die Einrichtung der Quell- und Zielkonten stellen nicht nur die technischen Voraussetzungen für die wechselseitigen Kredite dar, sondern sie begründen erst das jeweilige Schuldverhältnis. Erst durch die Vereinbarung, den Saldo auf den Quellkonten bankarbeitstäglich auszugleichen, ergibt sich, wer Darlehensgeber und wer Darlehensnehmer ist und in welcher Höhe der jeweilige Kredit gewährt wird.
44
Dies gilt auch, soweit die Klägerin die Saldierung von Zinserträgen und Schuldzinsen bezogen auf ein Quellkonto begehrt. Auch hier liegen verschiedene Schuldverhältnisse vor, die isoliert voneinander zu erfassen sind. Durch das gewählte System, den Saldo des Kontos bankarbeitstäglich auszugleichen, liegen echte Darlehen der Konzernmutter an die Klägerin sowie der Klägerin an die Konzernmutter vor. Nach den abgeschlossenen Cash-Management Verträgen findet der Kontenausgleich unabhängig davon statt, ob die Konzernmutter einen Guthabensaldo der Klägerin benötigt, um einen Schuldsaldo einer anderen Tochtergesellschaft auszugleichen. Zudem gleicht die Konzernmutter auch dann einen negativen Saldo der Klägerin aus, wenn ihr von anderen Tochtergesellschaften kein Guthaben zur Verfügung steht. Die jeweiligen Kapitalflüsse dienen daher nicht nur zum Kontenausgleich innerhalb der Unternehmensgruppe, sondern gehen darüber hinaus. So gewährt die Klägerin ihrer Muttergesellschaft einen Kredit, den diese nutzen kann, ohne ihn an eine andere Tochter weitergeben zu müssen. Die Kredite werden mithin nicht nur – an andere Unternehmen der Konzerngruppe – weitergeleitet, sondern von der Konzernmutter auch in eigenem Interesse aufgenommen. Die Zinsen aus den wechselseitig gewährten Darlehen sind daher getrennt voneinander zu erfassen.
45
Schließlich war mit der empfangenen Leistung (Zinserträge der Klägerin) keine unmittelbare Verringerung der Zinslast beabsichtigt, vielmehr stellen die Zinserträge wie oben dargestellt das Entgelt der Muttergesellschaft für die zur Verfügung gestellte Liquidität dar. Bereits durch das gewählte System des Kontenclearings können Zinserträge nicht zur Verringerung der Zinslast verwendet werden, da ein Negativsaldo bankarbeitstäglich ausgeglichen wird.
46
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
47
3. Die Revision war gem. § 115 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 2 FGO zuzulassen. Zu der Frage der gewerbesteuerrechtlichen Hinzurechnung von Schuldzinsen in einem Cash-Pool Verfahren und der Zulässigkeit eine Saldierung mit Zinserträgen liegt nach der Neufassung des § 8 Nr. 1 a GewStG noch keine höchstrichterliche Rechtsprechung vor.

Einstufung von Nahrungsergänzungsmittel in Position 2106 der Kombinierten Nomenklatura

Niedersächsisches Finanzgericht 5. Senat, Urteil vom 19.01.2017, 5 K 128/15, ECLI:DE:FGNI:2017:0119.5K128.15.00

§ 12 Abs 2 Nr 1 UStG, Anl 2 Nr 33 UStG, § 25 UStG

TATBESTAND

1
Die Klägerin wurde im Jahr 1992 gegründet. Gegenstand ihres Unternehmens ist die Beschaffung und der Handel mit Textilien und Waren aller Art sowie die Planung und Organisation von Werbeveranstaltungen sowie Tages- und Mehrtagesfahrten. In diesem Rahmen veranstaltet die Klägerin (landläufig sog.) Kaffeefahrten.
2
Im Rahmen einer Außenprüfung traf der Beklagte folgende Feststellungen für die Streitjahre (siehe BP-Bericht vom 04.07.2014):
3
1. Steuersatz für das Nahrungsergänzungsmittel „XY plus“
4
Für das Produkt seien keine Zolltarifauskünfte vorgelegt worden. Die Nachweispflicht für die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes obliege der Klägerin. Mangels eines entsprechenden Nachweises komme der ermäßigte Steuersatz nicht zur Anwendung.
5
Die mitverkauften Lachsölkapseln hat die Außenprüfung im Rahmen einer Schätzung mit 20 % den Umsätzen zum ermäßigten Steuersatz zugeordnet.
6
Die Außenprüfung änderte die Besteuerungsgrundlagen wie folgt:
7
2001 2002 2003 2004
mehr Umsatz 16 v.H. DM
weniger Umsatz 7 v.H. DM
8
Die Ermittlung dieser Besteuerungsgrundlagen ergibt sich aus einer Aufstellung des Prüfers, die der Beklagte mit Schriftsatz vom 13.01.2017 übersandt hat. Danach hat der Prüfer – ausgehend von den erklärten Umsätzen zu 7% –  (z.B.: DM … für 2001) zunächst die Umsätze in Abzug gebracht, für die eine Bescheinigung (unverbindliche Zolltarifauskunft) mit 7% vorlag. Der sich danach ergebende Wert „ohne Bescheinigung“ (DM … für 2001) wurde entsprechend des Verhältnisses 80 % (Regelsteuersatz) zu 20 % (ermäßigter Steuersatz) aufteilt, so dass regelbesteuerte Umsätze z.B. für 2001 in Höhe von DM … ermittelt wurden (42,65 % der Gesamtumsätze). Unter Anwendung dieses Aufteilungsmaßstabs auf die Nettoumsätze „Gesundheitspaket“ ermittelte der Prüfer dann die „mehr-Umsätze“ zu 16 % bzw. die „weniger-Umsätze“ zu 7 % (z.B. für 2001: „mehr-Umsatz 16 v.H.“ in Höhe von … DM und „weniger-Umsatz 7 %“ in Höhe von … DM“).
9
2. Aufteilung von Gesamtkaufpreisen
10
Auf den Verkaufsveranstaltungen der Klägerin seien Warenpakete zu einem Gesamtverkaufspreis angeboten worden. Die Zusammenstellung dieser Warenpakete falle je nach Verkaufssprecher und Veranstaltung unterschiedlich aus. Soweit die Warenpakete Gegenstände enthielten, die dem ermäßigten und dem vollen Steuersatz unterlagen, habe die Klägerin der Wareneinsatz nach den folgenden Aufschlagsätzen aufgeteilt:
11
Nahrungsergänzungsmittel (XY) 7 %: 650 %
Verkaufsartikel 16 %: 476 %
Zugaben 16 % 100 %.
12
Im Rahmen der Außenprüfung vertrat die Klägerin nunmehr die Auffassung, dass der Verkaufserlös bei solchen Warenpakete hauptsächlich für die ermäßigt zu besteuern Waren entrichtet wurden, während die übrigen lediglich als Zugabe anzusehen seien.
13
Nach den Feststellungen der Außenprüfung seien dieser Artikel bei den Verkaufsveranstaltungen jedoch auch einzeln bzw. als Hauptartikel veräußert worden. Ein einheitlicher Aufschlagsatz für einzelne Artikel sei kaum zu ermitteln, da dieser stark von den Verkaufsteams und der Verkaufssituation (Teilnehmerkreis, Kauflaune, etc.) der einzelnen Verkaufsveranstaltung abhängig sei.
14
Einen Antrag auf Trennung der Entgelte nach § 63 UStDV habe die Klägerin für den Prüfungszeitraum nicht gestellt. Die Überprüfung der Aufschlagssätze durch die Außenprüfung habe ergeben, dass bei Einzelverkäufen von Nahrungsergänzungsmittel ein Aufschlagsatz in Höhe von 549 % bzw. 564 % erzielt wurde. Bei (isolierten) Verkäufen von sog. Zugabeartikeln habe die Klägerin Aufschlagsätze von 191 % bis 781 % erzielt, wobei ein Aufschlagsatz von unter 300 % eher die Ausnahme gewesen sei.
15
Die Außenprüfung sah es als fraglich an, ob die bisher angewandte Methode als „einfachstmögliche“ Aufteilungsmethode angesehen werden könne. Angesichts der langen Verfahrensdauer und des weit zurückliegenden Prüfungszeitraums erscheine es aber sachgerecht, den bisherigen Aufteilungsmaßstab beizubehalten, da sich die von der Klägerin angesetzten Aufschlagsätze noch im Rahmen der von der Außenprüfung ermittelten Aufschlagsätze bewegten.
16
3. Busleistungen als Reisevorleistungen
17
Die Klägerin ist der Auffassung, dass Vorsteuern aus den eingekauften Bus- und Verpflegungsleistungen zu gewähren seien. Die Tagesausflüge hätten nur der Förderung des Warenverkaufs gedient (Nebenleistungen zum Verkauf). Selbst wenn § 25 UStG anzuwenden wäre, stünden ihr die Vorsteuern aus den Buskosten zu, da sie die Busse mit Busfahrern anmiete und die Busunternehmer keinerlei Einfluss auf die Route und das Reiseziel hätten.
18
Die Außenprüfung sah es demgegenüber als unerheblich an, dass einziger Zweck der durchgeführten Tagesausflüge die Förderung des Warenverkaufs auf den Verkaufsveranstaltungen sei. Die Leistungen, die die Klägerin im Rahmen ihrer Bustouren erbringe, seien nach den Grundsätzen des § 25 UStG zu besteuern.
19
Nach Abschn. 272 Abs. 8 UStR 2008 gelte § 25 UStG nur bei der Inanspruchnahme von Reisevorleistungen durch den Reiseunternehmer, nicht jedoch, soweit dieser Reiseleistungen durch den Einsatz eigener Mittel (Eigenleistungen) erbringe.
20
Das Finanzamt habe die beauftragten Busunternehmen angeschrieben und gebeten, unter Verwendung eines von der Klägerin gefertigten Vordrucks zu bescheinigen, ob es sich hinsichtlich der durchgeführten Busfahrten um eine Anmietung von Bussen (Gestellung von Bussen) oder um eine Beförderungsleistung gehandelt habe. Ausweislich der abgegebenen Bestätigungen der Busunternehmer habe es sich nicht um „Beförderungsleistungen“, sondern um die „Anmietung von Bussen“ gehandelt.
21
Trotz der Bestätigungen der Busunternehmen hielt das Finanzamt daran fest, die Busleistungen als Reisevorleistungen (Beförderungsleistungen) und nicht als (vorsteuerabzugsberechtigte) Eigenleistungen zu bewerten. Als Begründung führt die Außenprüfung an:
22
– die Eingangsrechnungen wiesen i.d.R. ein konkretes Fahrziel aus,
23
– für Fahrten ins Ausland erfolgte eine Aufteilung des auf das Inland entfallenden Entgeltanteils (vgl.  § 3b Abs. 1 Satz 4 UStG),
24
– die Klägerin sei nicht im Besitz einer Genehmigung nach § 4 Abs. 1 Nr. 4 Personenbeförderungsgesetz (PBefG),
25
– die Klägerin mache Ausfallentschädigung im Fall nicht ordnungsgemäß durchgeführter Reisen geltend,
26
– die Klägerin hafte nicht für Unfälle; Reparaturen und Schäden an den Bussen seien von ihr nicht getragen worden.
27
Dementsprechend kürzte die Außenprüfung die Vorsteuern aus den Busleistungen in folgender Höhe:
28
2001 2002 2003 2004 2005 2006
… DM … € … € … € … € … €
29
Das Finanzamt wertete diese Feststellungen mit entsprechenden Änderungsbescheiden vom 05.08.2014 aus.
30
Hiergegen richtet sich die Klage.
31
1. Steuersatz für die Kur „XY plus
32
Die Klägerin ist der Auffassung, dass die von ihr verkaufte Kur „XY plus“ als Nahrungsergänzungsmittel anzusehen sei und die Umsätze daher nur mit 7 % zu besteuern seien.
33
Das streitgegenständliche Nahrungsergänzungsmittel sei von dem benannten Zeugen A. entwickelt wurden. Es sei zunächst durch das Unternehmen Georg G. GmbH, …, später durch das Unternehmen S. GmbH … nach der Rezeptur des Entwicklers hergestellt wurden. Es enthalte folgende Inhaltsstoffe: … .
34
Das Nahrungsergänzungsmittel sei nach Angaben des Entwicklers nicht unmittelbar trinkbar, sondern müsse laut Verzehrempfehlung mit Wasser verdünnt zu sich genommen werden, da der Säuregehalt des Produkts zu hoch und daher eine unverdünnte Zusichnahme ausgeschlossen sei.
35
Auf der Grundlage der o.g. Inhaltsstoffe habe die zolltechnische ZPLA München am 06.06.2008 eine unverbindliche Zolltarifauskunft für Umsatzsteuerzwecke erteilt und das Nahrungsergänzungsmittel als „Lebensmittelzubereitung anderweitig weder genannt noch inbegriffen“ in die Position 2016 KN (7 %) eingeordnet. Grund für die Einordnung sei der hohe Säuregehalt des Inhalts der Trinkfläschchen, der eine unmittelbare Verwendung als Getränk ausschließe. So enthalte die Zolltarifauskunft des ZLPA München vom 06.06.2008 den ausdrücklichen Hinweis: „Aufgrund des hohen Säuregehalts (8% Zitronensäure) ist der Inhalt der Trinkflasche für die unmittelbare Verwendung als Getränk nicht geeignet und eine Einreihung in Kap. 22 der KN (Kombinierte Nomenklatura) ausgeschlossen“. Bestätigt werde die Zolltarifauskunft des ZLPA München durch die eidesstattliche Versicherung des Herrn A., wonach die „Trinkbarkeit des Produkts in Reinform stets ausgeschlossen und die Konsumenten darauf auch hingewiesen worden seien“.
36
Zwar ergebe sich aus der vom Finanzamt vorgelegten Zolltarifauskunft der ZLPA Berlin vom 07.07.2003 ein Umsatzsteuersatz von 16% für das Produkt „XY plus“. Die unterschiedliche steuerliche Behandlung in den Zolltarifauskünften sei indes darauf zurückzuführen, dass es unterschiedliche Rezepturen für eine bestimmte Kur gebe. Die Klägerin habe nachweislich nur Kuren von der Fa. G. erworben, die mit Hilfe der Rezeptur von der Fa. L. GmbH hergestellt worden seien. Hierfür liege dem Gericht eine entsprechende eidesstattliche Versicherung vom 06.01.2015 vor, die von Herrn A., dem Projektentwickler und Prokurist der mittlerweile aufgelösten L. GmbH abgegeben worden sei.
37
Die Tarifauskunft ZLPA Berlin vom 07.07.2003 sei mangels vollständiger Auflistung der verwendeten Zutaten als Nachweis ungeeignet. Ausweislich der unter Ziff. 7 „Warenbeschreibung“ befindlichen Angaben sei in der Tarifauskunft vom 07.07.2003 der Verpackungsaufdruck des Nahrungsergänzungsmittels lediglich auszugsweise zitiert. Ein Anspruch auf Vollständigkeit lasse sich daraus nicht herleiten. Ob ein Säuerungsmittel in der Probe tatsächlich enthalten gewesen sei, sei mangels vollständiger Auflistung der Inhaltsstoffe nicht mehr aufklärbar.
38
Die Klägerin benennt Herrn A. und Frau B. (Leitung, Vertrieb und Produktmanagement der S. GmbH, …) als Zeugen dafür, dass die Klägerin nur die von Herrn A. entwickelte Kur „XY plus“ mit den o.g. Inhaltsstoffen verkauft habe. Sie führt hierzu in ihrem Schriftsatz vom 09.01.2017 folgendes aus:
39
 „c) die Rezeptur für das streitige Nahrungsergänzungsmittel wurde von dem Zeugen A. vor dem Jahr 1998 entwickelt. Diese Tatsache ergibt sich aus der dem Finanzgericht vorliegenden eidesstattlichen Versicherung vom 06.01.2015. Das Unternehmen G., …, das vormals auch eigene Nahrungsergänzungsmittel nach eigenen Rezepturen herstellte und vertrieb, wurde beauftragt, als Lohnunternehmen u.a. das streitbefangene Nahrungsergänzungsmittel nach der Rezeptur des Zeugen A. herzustellen.
40
In der verwendeten Rezeptur ist unter anderem Zitronensäure als Antioxidationsmittel enthalten. Zitronensäure dient u.a. dazu, Vitamine und Farbe der Trinkemulsion zu erhalten. Die wesentlichen Bestandteile der Rezeptur wurden im Laufe der Jahre nicht verändert. Es gab lediglich kleinere Optimierungen, um das Produkt zu verbessern. Nachdem das Unternehmen G. die Herstellung des Nahrungsergänzungsmittels eingestellt hatte, übernahm das Unternehmen S. GmbH, … die weitere Herstellung. Verwendet wurde für die Herstellung des Nahrungsergänzungsmittels ausschließlich die Rezeptur des Zeugen A..“
41
Im Ergebnis sei festzustellen, dass die Angaben der Klägerin und des Entwicklers in analoger Anwendung des EuGH-Urteils vom 28.04.2016 (C-233/15 – Oniors Bio) als Nachweis dafür geeignet seien, dass die fragliche Lebensmittelzubereitung nicht als „unmittelbar trinkbar“ eingestuft werden könne. Diese Angaben würden durch die unverbindliche Zolltarifauskunft der ZLPA Berlin vom 07.07.2003 nicht in Frage gestellt, weil diese Zolltarifauskunft offensichtlich unvollständig sei. Maßgebend sei vielmehr die Zolltarifauskunft der ZLPA München vom 06.06.2008.
42
Im Übrigen berufe sich das Finanzamt zu Unrecht auf die BFH-Rechtsprechung (Urteil vom 16.8.2012 VII R 8/11 und vom 30.03.2010 VII R 35/09). Nach der dort geäußerten Ansicht des BFH komme die Einreihung eines Produkts in die KN als Getränk (Regelsteuersatz) nur dann in Betracht, wenn es ohne Verdünnung oder sonstiger Beigabe „trinkbar und zum unmittelbaren menschlichen Verzehr geeignet“ sei. Die Kur „XY plus“ sei in den streitgegenständlichen Jahren aber zu keiner Zeit „unmittelbar trinkbar bzw. zum menschlichen Verzehr bestimmt“ gewesen.
43
Ungeachtet dessen führten die beiden BFH-Urteile zu einer nicht hinzunehmenden Rechtsanwendungspraxis, wonach jede irgendwie trinkbare Flüssigkeit von einer der Auffangpositionen für Getränke (2202 oder 2208 KN) subsumiert werden könne. Richtigerweise seien Nahrungsergänzungsmittel aber in die speziellere begünstigte Position 2106 KN zu tarifieren.
44
2. Aufteilung von Gesamtkaufpreisen
45
a) Aufteilung des Warenpakets („XY plus“ zuzüglich Lachsölkapseln)
46
Die Klägerin wendet sich gegen die vom Finanzamt im Einspruchsbescheid ermittelte Quote der 7 %-Umsätze.
47
Zunächst sei anzumerken, dass das Finanzamt sich an der Preisliste der Firma G., nicht aber an den Einkaufsrechnungen der Klägerin orientiert habe.
48
Geliefert worden seien in einem Warenpaket jeweils 84 Fläschchen („XY plus“) x 15 ml sowie 3 Dosen mit jeweils 60 Lachsölkapseln (insg. 180 Kapseln – Kapsel mit jeweils 500 mg Lachsöl-Konzentrat). Im Rahmen der Kalkulation der Einzelpreise habe der Beklagte dann fälschlicherweise nicht das Produkt „XY plus“, sondern ein komplett anderes Produkt, nämlich Geleé Royal (26,99 DM/30 Fläschchen) in Bezug genommen und sei so zu unzutreffenden Werten gelangt.
49
Außerdem betrage der Gesamtpreis für dieses Warenpaket ausweislich der vorgelegten Eingangsrechnungen 72,00 DM, während der Prüfer einen Einkaufspreis von 90,72 DM errechnet habe.
50
Richtigerweise sei aufgrund der vorgelegten Einkaufsrechnung folgende Preisfindung maßgebend:
51
tatsächlicher EK Kur „XY plus“ zuzügl. Lachsölkapsel (s. Rechnung) DM 72,00
Lachsölkapseln einfach lt. BP 60 Stück DM   5,04
3 × 60  = 180 Stück DM 15,12
DM 15,12 : DM 72,00 entspricht        21 %
52
Das Finanzamt habe sich bei der Kostenaufteilung an den Preisen normaler Lachsölkapseln orientiert. Dies sei unzutreffend, da die Klägerin ausschließlich Kapseln mit Lachsöl-Konzentrat verkauft habe. Die Kosten für den Einkauf von Lachsöl-Konzentratkapseln seien naturgemäß höher als die Kosten für normale Lachsölkapseln. Nach den vorgelegten Unterlagen von Stiftung Warentest sei von einem Faktor von 2,4 auszugehen. Multipliziere man den o.g. Wareneinkauf für die normalen Lachsölkapseln in Höhe von 15,12 DM mit dem Faktor 2,4, so ergebe sich für das Lachsöl-Konzentrat ein Betrag von DM 63,29 der im Rahmen der Kur „XY plus“ anzusetzen sei. Auf die Lachsöl-Kapseln als Konzentrat entfielen DM 63,29, was zu einem Faktor von über 50 % bei der Aufteilung des Gesamtpreises führe. Im Ergebnis unterfielen damit mindestens die Hälfte der Umsätze aus den Warenpaketen („XY plus“ zuzüglich Lachsölkapseln) dem ermäßigten Steuersatz.
53
b) Abgabe von Zugabeartikeln
54
Die Zugabeartikel, die zusammen mit den Hauptprodukten der Klägerin in Warnpaketen zu einem einheitlichen Gesamtkaufpreis verkauft wurden, seien als durchlaufende Posten zu behandeln.
55
Das Finanzamt sei dem nicht gefolgt und habe bei der Aufteilung des Gesamtpreises die  Zugabeartikel mit einem zu hohen Aufschlagsatz versehen. Dies sei unzutreffend, weil es sich bei den Zugabeartikeln lediglich um sog. „Verkaufshilfen“ gehandelt habe. Verkaufshilfen dienten der Förderung des Verkaufs der Hauptprodukte der Klägerin, insbesondere des Nahrungsergänzungsmittels „XY plus“. Die Teilnehmer der Verkaufsveranstaltungen der Klägerin sollten durch die „ Gratis-Zugaben“ zum Kauf bewegt werden. Der Schwerpunkt der Verkaufstätigkeit habe damit auf dem margenträchtigen Verkauf des Nahrungsergänzungsmittels gelegen. Nur um den noch unentschlossenen Kunden das Angebot schmackhaft zu machen, sei zusätzlich z.B. ein Topf-set in das Paket gelegt worden. Es stehe somit außer Frage, dass es den Teilnehmern der Verkaufsveranstaltungen beim Kauf der Warenpakete gerade nicht um den Erwerb der Zugabeartikel, sondern um das Hauptprodukt (Nahrungsergänzungsmittel) gegangen sei.
56
Mithin sei es sachgerecht, den Anteil der Verkaufs- und Zugabeartikel am Gesamtverkaufspreis der Warenpakete nur mit dem Einkaufspreis zu bemessen und damit im Ergebnis als durchlaufende Posten zu behandeln.
57
Auf dieser Grundlage hat die Klägerin eine entsprechende Aufteilung der Gesamtentgelte vorgenommen (Schriftsatz vom 10.01.2017 – Anlagen 12k a-f). Dabei ist die Klägerin von den Umsätzen ausgegangen, die von den Verkaufsteams insgesamt jährlich erzielt wurden (Umsätze „Gesundheitspaket“ zuzgl. Zugaben). Wegen der Einzelheiten wird auf den weiteren Schriftsatz der Klägerin vom 17.01.2017 Bezug genommen, in welchem die Umsätze im Einzelnen angegeben sind.
58
3. Busleistungen als Reisevorleistungen
59
Das Finanzamt sei der Auffassung, dass die Bus- und Verpflegungsleistungen als Reisevorleistungen i.S.d. § 25 UStG vom Vorsteuerabzug ausgeschlossen seien. Diese Rechtsauffassung beruhe auf der rechtsirrigen Annahme des Finanzamts, die Bustransferleistungen nicht als Eigenleistung der Klägerin anzusehen.
60
Nach § 25 Abs. 4 Satz 1 UStG sei der Unternehmer nicht berechtigt, die ihm für die Reisevorleistungen gesondert in Rechnung gestellten Steuerbeträge als Vorsteuer abzuziehen. Es komme also im vorliegenden Streitverfahren darauf an, ob die Gestellung der Busse seitens der Omnibusunternehmung als Reisevorleistungen oder als Eigenleistungen der Klägerin anzusehen seien.
61
Nach Abschn. 25.1 Abs. 8 Satz 4 UStAE seien eigene Mittel auch dann gegeben, wenn der Unternehmer einen Omnibus ohne Fahrer oder im Rahmen eines Gestellungsvertrages ein bemanntes Beförderungsmittel anmiete. Nach Satz 8 erbringe der Unternehmer dagegen keine Reiseleistung unter Einsatz eigener Mittel, wenn er sich zur Ausführung einer Beförderung eines Omnibusunternehmers bediene, der die Beförderung im eigenen Namen unter eigener Verantwortung und für eigene Rechnung ausführe.
62
Bei Anwendung dieser – den Beklagten bindenden Verwaltungsauffassung – sei in den Streitverfahren davon auszugehen, dass die Busunternehmer die Gestellung eines bemannten Beförderungsmittels schuldeten. Hierfür sprächen insbesondere die folgenden Aspekte:
63
– Die Klägerin miete jeweils im Rahmen eines Gestellungsvertrages die Busse nebst Fahrer und aller erforderlichen Genehmigungen zu einem kilometerunabhängigen Pauschalpreis und trete gegenüber ihren Kunden stets eigenverantwortlich auf. In diesem Zusammenhang sei besonders darauf hinzuweisen, dass die Abrechnung über die Busanmietungen – typisch für Fahrzeugvermietungen – stets zu einem konstanten Festpreis erfolgte, völlig ungeachtet des Reiseziels, auch wenn ein solches gelegentlich in der Rechnung mit angegeben worden sei. Der in Rechnung ausgewiesene Festpreis oder auch Tagespreis incl. Fahrer habe seinerzeit regelmäßig … DM (später: … €) betragen. Aus der Festpreisvereinbarung folge, dass die Klägerin berechtigt sei, ohne zeitliches Limit und ohne Kilometerbeschränkung (aber unter Beachtung der Lenk- und Ruhezeiten) den Bus nebst Fahrer nach dem von ihr gewünschten Ablauf für ihre unternehmerischen Aktivitäten einzusetzen.
64
– Wenn bei mangelhaften Busleistungen, z.B. weil der Fahrer verschlafen oder eine Haltestelle nicht angefahren habe, ein pauschaler Betrag als Schadensersatz gegen den Busunternehmer geltend gemacht worden sei, ergebe sich diese Rechtsfolge bereits aus dem Mietrecht. So stünden dem Mieter Minderungsansprüche zu, wenn die Mietsache nicht in vertragsgemäßen Zustand übergeben worden sei.
65
– Für etwaige von Kunden erlittene Schäden bei einem solchen Transfer (z.B. infolge eines Unfalls) wäre die Klägerin aufgekommen.
66
– Der jeweils beauftragte Busunternehmer habe vollständig den Weisungen der Klägerin unterlegen. Eigens hierfür sei ein Mitarbeiter der Klägerin abgestellt worden, der eine Bustour von Anfang an überwache und dem jeweiligen Busfahrer Weisungen erteile. In dem Erörterungstermin vom 12.10.2006 habe die Klägerin diesbezüglich unwidersprochen ausgeführt: „Der Busfahrer bekommt den entsprechenden Plan erst am Tag der Reise. Erst bei Aufnahme der Reise werden die endgültigen Haltestellen bestimmt. So kann es sein, dass die Kunden auch zu diesem Zeitpunkt telefonische Änderungswünsche angegeben haben.“ Die Klägerin sei also in der Lage, während der Dauer der Anmietung des bemannten Fahrzeugs den Halter (Omnibusunternehmer) von jeglicher Einflussnahme auszuschließen. Leistungsprägend sei somit die entgeltliche Zurverfügungstellung des Beförderungsmittels nebst Fahrer.
67
Die vom Finanzamt angeführten Argumente für die Annahme einer „Vermietungsleistung“ überzeugten nicht:
68
– Irreführend sei die Behauptung des Finanzamts, dass die Busunternehmen, bei denen die Klägerin ihre Busse anmiete, keine „Vermietungsgesellschaften“ seien. Richtig und allgemein üblich sei vielmehr, dass Anbieter von Busreisen ihre Reisebusse auch vermieten.
69
– Separate schriftliche Mietverträge zwischen der Klägerin und den Busunternehmen gebe es nicht. Schriftliche Verträge seien in der Branche unüblich und unter Berücksichtigung der regelmäßigen Geschäftsbeziehungen der Klägerin zu den Busunternehmen auch nicht erforderlich. Streitfragen könnten unter Heranziehung der gesetzlichen Regelungen zu Mietverträgen gelöst werden.
70
– Die streitgegenständliche Frage „Busanmietung“ sei zivilrechtlicher Natur und unabhängig vom Vorliegen einer möglichweise erforderlichen Genehmigung nach Personenbeförderungsgesetz (PBefG) zu beurteilen.
71
Unabhängig davon seien die Bustranfer- und Verpflegungsleistungen im Rahmen der Verkaufsveranstaltungen ohnehin „nur“ Nebenleistungen zur Hauptleistung „Warenverkauf“. Hauptleistung der Klägerin sei stets und ohne jeden Zweifel der Verkauf von Waren im Rahmen von sog. Kaffeefahrten gewesen. Bustranfer- und Verpflegungsleistungen seien ausschließlich Mittel zum Zweck, die Hauptleistung der Klägerin unter optimalen Bedingungen (Stichwort: Wohlfühlatmosphäre) zu erbringen. Diese Nebenleistungen zum „Warenverkauf“ können mithin nicht als eigenständige Reisevorleistungen i.S.d. § 25 UStG angesehen werden.
72
Ungeachtet der Trennung zwischen Haupt- und Nebenleistung fehle es bei den sog. Kaffeefahrten der Klägerin auch an einer für die Annahme einer Reiseleitung erforderlichen Unterbringungsleistung.
73
Zudem sei zu berücksichtigen, dass keine touristischen Zwecke verfolgt würden. Im Vordergrund einer jeden von der Klägerin durchgeführten Fahrt habe vielmehr einzig und allein der Verkauf von Waren im Rahmen von mehrstündigen Verkaufsveranstaltungen gestanden.
74
Die Klägerin beantragt,
75
– den Umsatzsteuerbescheid für 2001 vom 27.02.2015,
76
– die Umsatzsteuerbescheide für 2002-2005 vom 26.10.2009, zuletzt geändert durch die Bescheide vom 05.08.2014 und
77
– den Untersteuerbescheid 2006 vom 22.11.2007, zuletzt geändert durch den Bescheid vom 05.08.2014,
78
jeweils in der Fassung des Einspruchsbescheides vom 16.04.2015 aufzuheben, soweit
79
a) auf Umsätze aus dem Verkauf von Nahrungsergänzungsmittel namens „XY plus“ der Regelsteuersatz gemäß § 12 Abs. 1 UStG angewandt wurde und beantragt die Umsatzsteuer auf diese Umsätze mit dem ermäßigten Steuersatz gemäß § 12 Abs. 2 UStG neu festzusetzen,
80
b) bei der Ermittlung des dem Regelsteuersatz gemäß § 12 Abs. 1 UStG unterliegenden Umsatzanteils der in Warenpaketen zu einem Gesamtverkaufspreis mitverkaufen Zugabeartikel nicht der Einkaufspreis der Zugabeartikel, sondern der Einkaufspreis zuzüglich eines Aufschlags zugrunde gelegt wurde,
81
c) der Vorsteuerabzug auf Leistungen im Zusammenhang mit Verkaufsveranstaltungen – insbesondere Bustransfer- und Verpflegungskosten – versagt wurde, weil diese Leistungen als Reisevorleistungen i.S.d.       § 25 UStG qualifiziert wurden.
82
Der Beklagte beantragt,
83
die Klage abzuweisen.
84
Der Beklagte trägt folgendes vor:
85
1. Steuersatz für die Kur „XY plus
86
Die von der Klägerin vorgelegte „Eidesstattliche Versicherung“ eines Produktentwicklers des Nahrungsergänzungsmittel „XY plus“ (Fa. L. GmbH) führe zu keiner anderen Beurteilung. Aus dem Schriftstück ergebe sich insbesondere nicht, dass die streitgegenständliche Flüssigkeit ungenießbar sei. Vielmehr sei der „Eidesstattlichen Versicherung“ lediglich zu entnehmen, dass in einem Begleitschreiben die Einnahme der Trinkemulsion (XY) durch Auflösung in 200-250 ml Flüssigkeit empfohlen werde.
87
Die objektive Beschaffenheit als Getränk, insbesondere die unmittelbare Trinkbarkeit, werde aber nicht durch Verzehrempfehlungen aufgehoben (BFH-Urteil vom 30.03.2010 VII R 35/09, BStBl II 2011, 74). Diese Rechtsprechung des BFH stehe auch im Einklang mit der der Rechtsprechung des EuGH.  So habe der EuGH mit Urteil vom 26.03.1981 (114/80, Slg 1981, 895) entschieden:
88
„Nach dem System des Gemeinsamen Zolltarifs muss der Ausdruck „andere Getränke“ in der Tarifnummer 22.02 als Gattungsbegriff verstanden werden, mit dem alle zum menschlichen Genuss bestimmten Flüssigkeiten gemeint sind, soweit sie nicht von einer anderen spezifischen Einteilung erfasst werden.“
89
Der Inhalt dieses Begriffs sei nach objektiven und nachprüfbaren Kriterien zu bestimmen. Folglich dürfe seine Tragweite nicht von rein subjektiven und veränderlichen Faktoren abhängig gemacht werden, wie zum Beispiel von der Art und Weise, in der ein Erzeugnis eingenommen wird, oder vom Zweck seiner Einnahme.
90
Der in der „Eidesstattlichen Versicherung“ behauptete Säuregehalt ergebe sich außerdem nicht aus der Zolltarifauskunft vom 07.07.2003, der – anders als der Zolltarifauskunft vom 06.06.2008 – eine vorgelegte Warenprobe zugrunde gelegen habe. Danach sei die unmittelbar trinkbare Flüssigkeit „schwach süß, säuerlich, bitter und fruchtig schmeckend“ und nicht ungenießbar.
91
2. Aufteilung von Gesamtkaufpreisen
92
Das verkaufte Warenpaket bestehe aus 84 Fläschchen einer Flüssigkeit und 180 Lachsölkapseln. Diese Menge sei unstreitig.
93
Die Flüssigkeit bestehe lt. der unverbindlichen Zolltarifauskunft u.a. aus den Zutaten Gelee Royal und Coenzym XY. Aus dem seinerzeitigen (Stand Oktober 2001) Bestellschein der Firma G. ergebe sich der Preis des Produkts „ABC“ im Einkauf. Eine zutreffendere Flüssigkeit sei weder aus der Preisliste noch aus dem Vortrag der Klägerin ersichtlich.
94
Nach dem Bestellschein werde das Produkt „ABC“ in einer Menge von 30 Flaschen á 15 ml angeboten. Das Produkt „Lachsöl-Kapseln“ werde u.a. in Dosen á 60 Kapseln angeboten. Nach diesen Zahlen sei zunächst der rechnerische Preis für ein Fläschchen und eine Kapsel ermittelt worden, um anschließend den rechnerischen Preis für 84 Fläschchen und 180 Kapseln zu ermitteln.
95
Der sich hieraus ergebende prozentuale Anteil der Fläschchen und der Kapseln an den Einzeleinkaufspreisen sei dann auf den Gesamtverkaufspreis angewendet worden. Diese Aufteilungsmethode sei „einfachstmöglich“ im Sinne des BFH Urteils vom 03.04.2013 (V B 125/12).
96
In den von der Klägerin vorgelegten Einkaufsrechnungen sei nur ein Gesamteinkaufspreis in Höhe von 72 DM für beide Waren (XY plus und Lachsöl-Kapseln) benannt. Einzelverkaufspreise seien aus der Rechnung nicht ersichtlich.
97
Hinsichtlich der Zugabeartikel bleibt der Beklagte bei seiner Auffassung, dass eine Aufteilung des Gesamtkaufpreises unter Berücksichtigung des Einkaufswerts dieser Artikel nicht sachgerecht wäre.
98
3. Busleistungen als Reisevorleistungen
99
Der Beklagte geht weiterhin von nicht zum Vorsteuerabzug berechtigenden Reisevorleistungen aus.
100
Die Busunternehmer hätten gegenüber der Klägerin Personenbeförderungen mit Mietomnibussen i.S.v. § 49 des Personenbeförderungsgesetzes (PBefG) durchgeführt. Verkehr mit Mietomnibussen sei die Beförderung von Personen mit Kraftomnibussen, die nur im Ganzen zur Beförderung angemietet würden und mit denen der Unternehmer Fahrten ausführe, deren Zweck, Ziel und Ablauf der Mieter bestimme. Die Teilnehmer müssten ein zusammengehöriger Personenkreis und über Ziel und Ablauf der Fahrt einig sein (§ 49 Abs. 1 PBefG).
101
Nach dem BGH-Beschluss vom 18.06.1985 (4 StR 772/83, NJW 1985, 3084) könnten Werbefahrten mit Ausschlusscharakter auch als Mietwagenverkehr im Sinne des § 49 Abs. 1 PBefG durchgeführt werden, sodass der Vertriebsunternehmer bei entsprechendem Auftreten nach außen als Veranstalter dieser Fahrten anzusehen sei (OFD Koblenz, Verfügung vom 08.04.2013, S 7419 A-St 44 3).
102
In § 49 PBefG werde zwar von „Mietomnibus“, „Mietwagen“, „Mieter“, „mieten“ gesprochen, tatsächlich habe diese Vertragsform zwischen dem Fahrgast und dem Beförderungsunternehmen mit der Miete nach §§ 535 ff BGB aber nichts zu tun. Es läge nämlich keine Gebrauchsüberlassung und keine Besitzeinräumung vor. Besitzer bleibe der „Vermieter“, also der Beförderungsunternehmer. Der Unternehmer stelle den Fahrer des Fahrzeugs. Für das vom „Mieter“ geleistete Entgelt werde eine Beförderung zu einem bestimmten Ziel oder Zweck, eventuell auch die Rückfahrt geboten. Es handele sich bei dem Vertrag über die Personenbeförderung mit Mietomnibussen und Mietwagen daher um einen Werkvertrag (Fielitz/Grätz, Kommentar zum Personenbeförderungsrecht, § 49 PBefG, Rz. 3).
103
Im vorliegenden Fall habe die Klägerin als Veranstalter der sog. Kaffeefahrten sich lediglich der Beförderungsleistung der Busunternehmen bedient. Infolgedessen sei eine Betankung der Busse durch die Busunternehmer erfolgt. Schäden seien durch die Kaskoversicherung der Busse abgedeckt gewesen. In Fällen mangelhafter Erfüllung des Beförderungsvertrages (Bus mangelhaft oder Verschulden des Fahrers) sei ein pauschaler Betrag als Schaden gegenüber dem Busunternehmer geltend gemacht worden.
104
Im Übrigen wären die Aufwendungen für die Busreisen auch dann vom Vorsteuerabzug ausgeschlossen, wenn die Margenbesteuerung nach § 25 UStG nicht zur Anwendung komme. So habe der BFH mit Urteil vom 19.03.2009 (XI B 84/08) entschieden, dass die unentgeltliche Zuwendung eines Tagesausflugs, in dessen Rahmen eine Verkaufsveranstaltung stattfinde, ein Geschenk im Sinne des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 EStG sei. Sofern die spezialgesetzliche Regelung des § 25 UStG nicht anwendbar sei, sei der Ausschluss des Vorsteuerabzugs nach § 15 Abs. 1a UStG i.v.m. § 4 Abs. 5 Nr. 1 EStG einschlägig, weil die Klägerin ihren Aufzeichnungspflichten nach § 4 Abs. 5 Nr. 1 und § 4 Abs. 7 EStG nicht nachgekommen sei.

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE

105
Die Klage ist unbegründet.
106
Die angefochtenen Umsatzsteuerbescheide 2001 bis 2006 in der Fassung des Einspruchsbescheides vom 16.04.2014 sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtordnung – FGO -).
107
1. Steuersatz für das Nahrungsergänzungsmittel „XY plus
108
Zu Recht hat der Beklagte die streitgegenständlichen Erzeugnisse in die Pos. 2202 KN eingereiht, so dass auf sie nach § 12 Abs. 1 UStG der Regelsteuersatz anzuwenden ist.
109
Die von der Klägerin in flüssiger Form vertriebenen Nahrungsergänzungsmittel sind nicht in die Pos. 2106 KN einzureihen und unterfallen damit nicht dem ermäßigten Steuersatz nach § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG in der in den Streitjahren geltenden Fassung i.V.m. Nr. 33 der Anlage zu dieser Vorschrift.
110
a) Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ist das entscheidende Kriterium für die zollrechtliche Tarifierung von Waren allgemein in deren objektiven Merkmalen und Eigenschaften zu suchen, wie sie im Wortlaut der Positionen und Unterpositionen der KN und in den Anmerkungen zu den Abschnitten oder Kapiteln festgelegt sind (vgl. AV 1 und 6). Dazu gibt es nach dem Übereinkommen zum Harmonisierten System Erläuterungen und Einreihungsavise (Tarifavise), die ebenso wie die Erläuterungen zur KN ein wichtiges, wenn auch nicht verbindliches Erkenntnismittel für die Auslegung der einzelnen Tarifpositionen sind (vgl. EuGH-Urteile vom 14. Juli 2011 C-196/10 –Paderborner Brauerei Haus Cramer– Zeitschrift für Zölle und Verbrauchsteuern –ZfZ– 2011, 242; vom 27. November 2008 C-403/07 –Metherma–, ZfZ 2009, 15 und BFH-Urteil vom 17. November 1998 VII R 50/97, BFH/NV 1999, 688).
111
Nach dem Wortlaut der Unterpos. 2208 90 69 KN fallen darunter „andere alkoholhaltige Getränke“. Nach der Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 26.03.1981, C-114/80, Slg. 1981, 895), der sich der BFH (Urteile vom 16. August 2012 VII R 8/11, BFH/NV 2013, 99; 30. März 2010 VII R 35/09, BStBl II 2011, 74) ausdrücklich angeschlossen hat, handelt es sich bei dem Ausdruck „andere Getränke“ der Tarifnr. 22.02 des Gemeinsamen Zolltarifs um einen Gattungsbegriff, mit dem alle zum menschlichen Genuss geeigneten und bestimmten Flüssigkeiten gemeint sind, soweit sie nicht von einer anderen spezifischen Einteilung erfasst werden.
112
Der Inhalt dieses Begriffs ist nach objektiven Kriterien zu bestimmen, ohne dass es auf die Art und Weise der Einnahme, die eingenommene Menge oder die besonderen Zwecke ankommt, denen die verschiedenen Arten genießbarer Flüssigkeiten dienen können. Die flüssige Beschaffenheit der Ware und ihre Bestimmung zum menschlichen Genuss müssen als die objektive Beschaffenheit der Ware bestimmende Eigenschaften im Zeitpunkt der Überführung der Ware in den zollrechtlich freien Verkehr vorhanden und feststellbar sein (BFH-Urteil vom 11. März 2004 VII R 20/01, BFH/NV 2004, 1305).
113
In Bezug auf eine in Trinkfläschchen oder Ampullen abgefüllte Flüssigkeit, die aufgrund ihrer Zusammensetzung –evtl. nach einer Verdünnung mit Wasser– zum menschlichen Verzehr geeignet und bestimmt war, hat der BFH (Urteil vom 16. August 2012 VII R 8/11, BFH/NV 2013, 99; vom 30. März 2010 VII R 35/09, BStBl II 2011, 74) ausdrücklich ausgeführt, der Annahme der Trinkbarkeit und der Einreihung in Kap. 22 KN stehe der Umstand nicht entgegen, dass eine Verdünnung der Flüssigkeit vor dem Verbrauch empfehlenswert sei. Ein Erzeugnis könne nur dann als nicht trinkbar angesehen werden, wenn es jedem Durchschnittsverbraucher unmöglich wäre –aus gesundheitlichen oder geschmacklichen Gründen– das Erzeugnis unmittelbar, ohne Verdünnung oder sonstige Beigabe zu trinken. Aus alledem folgt, dass es für die Qualifizierung einer Ware als Getränk auf ihre Eigenschaft „flüssig“ und ihre objektive Eignung zum Verzehr ankommt, nicht aber auf die Art und Weise, wie sie verzehrt wird.
114
Der BFH hat diese Rechtsprechung mit Urteil vom 24. September 2014 (VII R 54/11, BStBl II 2015, 169) noch einmal ausdrücklich bestätigt und ausgeführt, dass die Lieferung von diätischen Lebensmitteln in flüssiger Form (sog. Sondennahrung) in die Pos. 2202 KN einzureihen sind. Auch der besondere Verwendungszweck der Produkte und ihre der menschlichen Ernährung dienenden Inhaltsstoffe rechtfertigten die Einreihung in die Pos. 2106 KN nicht.
115
b) Der erkennende Senat ist unter Anwendung der oben genannten Rechtsgrundsätze zu der Überzeugung gelangt, dass es sich bei der streitgegenständliche Kur „XY plus“ um eine zum menschlichen Genuss geeignete und bestimmten Flüssigkeit i.S.d. der Tarifnr. 22.02 des Gemeinsamen Zolltarifs handelt.
116
Der besondere Verwendungszweck der Produkte als Nahrungsergänzungsmittel und ihre der menschlichen Ernährung dienenden Inhaltsstoffe rechtfertigten die Einreihung in die Pos. 2106 KN entgegen der Auffassung der Klägerin nicht.
117
Die streitgegenständliche Kur „XY plus“ stimmt in den entscheidungserheblichen Eigenschaften, nämlich
118
– XY-Mittel in flüssiger Form in Trinkfläschchen vertrieben,
119
– als Nahrungsergänzungsmittel gekennzeichnet,
120
– unmittelbar zum Trinken geeignet,
121
– auch wenn es nach den Empfehlungen des Herstellers nur in kleinen Mengen oder mit einer bestimmten Menge Wasser einzunehmen ist,
122
mit dem Nahrungsergänzungsmittel überein, über die der BFH mit Urteil vom 30.03.2010 (VII R 35/09, BStBl II 2010, 74) zu entscheiden hatte. Entscheidendes Kriterium für die Abgrenzung einer Ware als Getränk i.S. des Kap. 22 KN von „Lebensmittelzubereitungen“ des Kap. 21 KN ist danach allein die Darreichung in trinkbarer Form. Unerheblich ist insoweit, ob das Getränk nur in verdünnter Form eingenommen werden soll oder kann.
123
Bestätigt wird dies Ergebnis durch die unverbindliche Zolltarifauskunft der ZLPA Berlin vom 07.07.2003. Darin wird das Nahrungsergänzungsmittel „XY plus“ in den Zolltarif 2208 9069 (Umsatzsteuersatz: 16 %) eingeordnet. Zur Beschaffenheit der vorgelegten Warenprobe wird ausgeführt: „orangefarbene, trübe, unmittelbar trinkbare Flüssigkeit, schwach süß säuerlich, bitter und fruchtig schmeckend“.
124
Der Vortrag der Klägerin führt im Ergebnis zu keiner anderen Beurteilung. Selbst wenn in der streitgegenständlichen Kur „XY plus“ 8 % Citronensäure enthalten gewesen sein sollte, wäre es weiterhin als Getränk i.S. des Kap. 22 KN anzusehen. Entscheiden ist insoweit allein die Darreichung in trinkbarer Form unabhängig davon, ob das Getränk nur in verdünnter Form eingenommen werden soll.
125
Die entgegenstehende unverbindliche Zolltarifauskunft der ZLPA München vom 08.06.2008 hat den Charakter eines Sachverständigengutachtens und bindet als Verwaltungsauffassung das Gericht nicht (BFH-Beschluss vom 11.02.2010 VII B 234/09, BFH/NV 2010, 1139).
126
Die „Eidesstattliche Versicherung“ von Herrn A. als Entwickler von „XY plus“, wonach das Nahrungsergänzungsmittel mit 8 % Zitronensäure versetzt und stets nur mit Flüssigkeit verdünnt eingenommen werden dürfe, ist daher nicht entscheidungsrelevant.
127
Insofern war auch dem Beweisantrag der Klägerin, Herrn A. und Frau B. (Vertrieb und Produktmanagement der S. GmbH) als Zeugen darüber zu vernehmen, dass in der streitgegenständlichen Kur „XY plus“ 8 % Citronensäure enthalten war, nicht nachzugehen. Vielmehr kann diese in Frage stehende Tatsache als wahr unterstellt werden (z.B. BFH-Urteil vom 24.04.2007 I R 64/06, BFH/NV 2007, 1893; weitere Nachweise siehe Gräber/Herbert, FGO, § 76 Rz. 28).
128
2. Aufteilung von Gesamtkaufpreisen
129
Die Klägerin hat für den Verkauf der Warenpakete („XY plus“ + Lachsölkapseln) ein einheitliches Entgelt erhalten. Der Beklagte hat dies – wie vom BFH gefordert –  „einfachstmöglich“ auf die zutreffenden Steuersätze aufgeteilt. Für eine weitere – von der Klägerin begehrte – Erhöhung der 7 %-Umsätze besteht keine sachliche Rechtfertigung.
130
a) Durch die Zusammenstellung der Kur „XY plus“ (84 Fläschchen) und der Lachsölkapseln (180 Kapseln) zu einem sog. „Waren- bzw. Gesundheitspaket“ kommt es umsatzsteuerrechtlich nicht zu einer einzigen Lieferung; es ist vielmehr von zwei unterschiedlich zu besteuernden Lieferungen auszugehen. Dementsprechend ist der einheitliche Preis für das Warenpaket in zwei Entgeltbestandteile aufzuteilen, die ihrerseits mit dem ermäßigten Steuersatz (Lachsölkapseln) bzw. mit dem Regelsteuersatz (XY plus) zu besteuern sind.
131
Wie der EuGH in seinem Urteil vom 25. Februar 1999 (C-349/96, CPP, Slg. 1999, I-973 Rdnr. 31) entschieden hat, ist, wenn „Kunden trotz des einheitlichen Preises aus ihrer Sicht zwei gesonderte Dienstleistungen erwerben, nämlich eine Versicherungsdienstleistung und eine Kartenregistrierungsdienstleistung, … der Teil des einheitlichen Preises, der sich auf die Versicherungsdienstleistung bezieht und jedenfalls von der Steuer befreit bliebe, herauszurechnen“. Dabei ist die „einfachstmögliche Berechnung- oder Bewertungsmethode“ zu verwenden.
132
Nach dieser Rechtsprechung, der sich der BFH angeschlossen hat (Beschluss vom 03. April 2013, BStBl II 2013, 973), ist ein einheitliches Entgelt, das für zwei unterschiedlich zu besteuernde Leistungen entrichtet wird, zum einen aufzuteilen, wobei zum anderen die Aufteilungsmethode zu verwenden ist, die „einfachstmöglich“ ist. Dementsprechend hat der BFH im Fall eines Schnellrestaurantbetreibers, der sog. „Spar-Menüs“ verkauft, entschieden, dass der Gesamtverkaufspreis grundsätzlich nach Maßgabe der Einzelverkaufspreise aufzuteilen ist.
133
b) Im vorliegenden Streitfall liegen keine Einzelverkaufspreise vor. Die Klägerin hat die streitgegenständlichen Warenpakete zu einem einheitlichen Preis erworben, sodass auch keine Einzeleinkaufspreise vorliegen.
134
Die Klägerin hat auch keine Aufzeichnungen nach § 22 UStG über die Aufteilung der Gesamteinkaufs- und Gesamtverkaufspreise geführt.
135
Sie veräußerte ausweislich der vorliegenden Kaufverträge u.a. gemeinsam mit Produkten, die dem ermäßigten Steuersatz unterlagen, auch Gegenstände, die eine eigenständige Lieferung darstellen, weil sie nicht als Sachgesamtheit, verbundene Sachen, Naturalrabatt, Werbegeschenk, bloße Zugabe, Zubehör zum Kaufgegenstand oder unselbständige Nebenleistung angesehen werden können, und die dem Regelsteuersatz unterliegen. Dies betrifft insbesondere Betten jeglicher Art, Fernseher, Bügeleisen, Uhren, Fahrräder, DVD-Player, Sessel, Staubsauger, Töpfe, Grills, Werkzeugen, Öfen, Bohrmaschinen etc.
136
Die Kaufverträge enthalten separate Spalten für Menge, Artikel-Bezeichnung, Farbe/Größe, Einzelpreis und Gesamtpreis.
137
Die Unterlagen haben die folgenden Gemeinsamkeiten:
138
– Die Spalten „Menge und Artikelbezeichnung“ sind ausgefüllt.
139
– Die Spalte „Gesamtpreis“ ist ausgefüllt, weist aber überwiegend nur einen Preis für alle von den Verträgen betroffenen Waren aus (häufig markiert mit geschweifter Klammer -{-).
140
– Preise i.S.d. Preisangabenverordnung (PAngV) für einzelne Waren ergeben sich aus den Unterlagen nicht.
141
– Der jeweils in der Spalte „Gesamtpreis“ ausgewiesene Preis für alle von den Verträgen betroffenen Gegenstände ist oftmals ein Schwellenpreis (z.B. DM 2.998,– oder DM 998,–).
142
c) Vor diesem Hintergrund ist die vom Finanzamt vorgenommene Aufteilung des Gesamtkaufpreises nicht zu beanstanden.
143
aa) Aufteilung des Warenpakets („XY plus“ zuzüglich Lachsölkapseln)
144
Die Klägerin hat die streitbefangenen Warenpakete von der Firma G. bezogen. Das Finanzamt hat sich bei der Aufteilung des Gesamtkaufpreises an der damaligen Preisliste der Firma G. (Stand Oktober 2001) orientiert. Dabei hat es – mangels anderer vergleichbarer Produkte – den Preis des Produkts „…“ und für Lachölkapsel (500 mg) zugrunde gelegt. Auf dieser Grundlage wurde der anteilige Preis für die 84 Fläschchen Q10 (DM 75,50 = 83.33 %) und die 180 Lachsölkapseln (DM 15,12 = 16,67 %) ermittelt.
145
Aus den von der Klägerin vorgelegten Einkaufsrechnungen ergibt sich lediglich, dass die Klägerin die Warenpakete günstiger (72,00 DM statt 90,72 DM) erworben hat. Einzeleinkaufspreise sind diesen Einkaufsrechnungen aber nicht zu entnehmen, sodass es bei der vom Finanzamt vorgenommene Aufteilung verbleibt.
146
Der Einwand der Klägerin, sie habe ausschließlich höherwertige Ware, nämlich Kapseln mit „Lachskonzentrat“ in dem Warenpaket abgegeben, überzeugt das Gericht nicht. Zum einen ergibt sich aus der unverbindlichen Zolltarifauskunft der ZPLA Hamburg vom 13.06.2003 (Bl. 69 der Einspruchsheftung), dass die Kapseln „nur“ jeweils 500 mg Lachsöl enthielten. Ihr Vortrag, dass er sich dabei um besonders wertvolles und hochkonzentriertes Lachsölkonzentrat gehandelt haben soll, ist nicht nachvollziehbar. Maßgebend für die Konzentration ist allein die Menge des Wirkstoffs (gemessen in mg), der sich in den Kapseln befindet. Dies sind im Streitfall 500 mg.
147
bb) Abgabe von Zugabeartikeln
148
Die umsatzsteuerlichen Aufzeichnungsvorschriften gehen vom Grundsatz der Einzelaufzeichnung aus. Es muss ersichtlich sein, wie sich die einzelnen Entgelte auf steuerfreie und steuerpflichtige Umsätze und auf Waren mit verschiedenen Steuersätzen verteilen.
149
Einen Antrag auf Erleichterung bei der Trennung der Bemessungsgrundlagen nach § 22 Abs. 6 UStG, § 62 Abs. 4 UStDV hat die Klägerin weder gestellt noch das Finanzamt eine entsprechende Genehmigung erteilt.
150
Erbringt ein Unternehmer Lieferungen oder sonstige Leistungen, ist die Kassenführung nicht ordnungsgemäß, wenn die Umsätze zum ermäßigten und zum vollen Steuersatz nicht getrennt aufgezeichnet werden. Erfasst er die Entgelte ohne Aufzeichnungen gemäß § 22 UStG, unterlässt er die vorgeschriebene Aufzeichnung. Mangels nachprüfbare Aufzeichnung im Sinne des § 158 AO muss geschätzt werden (BFH-Urteil vom 14. Dezember 2011 XI R 5/10, BFH/NV 2012,1921).
151
Bei der Aufteilung des Gesamtentgelts hat der Prüfer im Schätzungswege die von der Klägerin zunächst erklärten Aufschlagsätze übernommen (siehe Tz. 23.1 des BP Berichts vom 04.07.2014: Nahrungsergänzungsmittel 7 % = 650 %; Verkaufsartikel 16 % = 476 %; Zugaben 16 % = 100 %).
152
Im Rahmen der Außenprüfung hatte der Prüfer das Jahr 2005 zur Verprobung der Vollständigkeit der Einnahmen kalkuliert. Er hat zu diesem Zweck zunächst die Wareneinkäufe des Jahres 2005 erfasst und einen durchschnittlichen Einkaufspreis für jeden eingekauften Gegenstand ermittelt. Er hat sodann – getrennt nach Sprecherteams – punktuell ermittelt, welche Aufschlagsätze für den Gesamtkaufpreis einzelner Verträge erzielt wurden. Hiernach schwankten die Aufschlagsätze für jeden Vertrag und für jedes Team. Der Prüfer ermittelte Aufschlagsätze in einer Bandbreite zwischen 191-781 %.
153
Aus den vom Prüfer punktuell ermittelten Verträgen mit Verkäufen des Nahrungsergänzungsmittel („Warenpaket Gesundheit“) ergibt sich ein Aufschlagsatz von 459,17 %; aus dem Verträgen ohne Verkäufe des Nahrungsergänzungsmittels („nur“ Verkaufsartikel) ergab sich denn auch Schlusssatz von 418,16 % (vgl. die vom Beklagten mit Schriftsatz vom 10.01.2017 vorgelegten BP-Berechnungsunterlagen).
154
Vor diesem Hintergrund ist es nicht zu beanstanden, wenn der Prüfer in den Streitjahren 2001-2006 aus Vereinfachungsgründen die von der Klägerin zunächst selbst ermittelten Aufschlagsätze übernimmt.
155
Eine weitere Reduzierung des Aufschlagsatzes für die Verkaufsartikel und Zugaben kommt entgegen der Auffassung der Klägerin nicht in Betracht. Die von ihr als „Verkaufshilfe“ bezeichnete Abgabe von Verkaufsartikel und Zugaben zum Einstandspreis ist vom Prüfer in keinen einzigen Fall festgestellt worden.
156
Es ist auch keinesfalls zwingend, dass es den Kunden „nur“ um den Kauf des „Gesundheitspakets“ ging und sie nicht auch an dem Erwerb der Verkaufs- bzw. Zugabeartikel (Toaster, Bohrmaschine, Kaffeeservice etc.) interessiert und auch bereit waren, hierfür ein Entgelt oberhalb des Einkaufspreises der Waren zu zahlen.
157
Im Ergebnis kann daher der von der Klägerin favorisierten Aufteilungsmethode nach dem „Restwert“ nicht gefolgt werden. Sofern sie zu Aufteilungszwecken die Verkaufspreise für die Verkaufsartikel und die Zugaben mit den Einkaufspreisen kalkuliert und diese von den Gesamtumsätzen in Abzug bringt, mit der Folge, dass die restlichen Umsätze den Kuren („Warenpakete Gesundheit“) zugeordnet werden, ist eine solche Aufteilung weder angemessen noch sachgerecht.
158
3. Busleistungen als Reisevorleistungen
159
Die von der Klägerin durchgeführten sog. Kaffeefahrten sind als Reiseleistungen einzustufen. Die aus diesem Anlass durchgeführten Busreisen stellen Reisevorleistungen dar, die nicht zum Vorsteuerabzug berechtigen.
160
a) § 25 UStG gilt für Reiseleistungen eines Unternehmers, die nicht für das Unternehmen des Leistungsempfängers bestimmt sind, soweit der Unternehmer dabei gegenüber dem Leistungsempfänger im eigenen Namen auftritt und Reisevorleistungen in Anspruch nimmt (§ 25 Abs. 1 Satz 1 UStG).
161
Reisevorleistungen sind Leistungen Dritter (sog. Leistungsträger), die den Reisenden unmittelbar zugute kommen (§ 25 Abs. 1 Satz 5 UStG).
162
Eine Reiseleistung des Unternehmers ist als sonstige Leistung anzusehen (§ 25 Abs. 1 Satz 2 UStG). Erbringt der Unternehmer an einen Leistungsempfänger im Rahmen einer Reise mehrere Leistungen dieser Art, gelten sie als eine einheitliche sonstige Leistung (§ 25 Abs. 1 Satz 3 UStG). Die sonstige Leistung bemisst sich nach dem Unterschied zwischen dem Betrag, den der Leistungsempfänger aufwendet, um die Leistung zu erhalten, und dem Betrag, den der Unternehmer für die Reisevorleistungen aufwendet (§ 25 Abs. 3 Satz 1 UStG). Abweichend von § 15 Abs. 1 UStG ist der Unternehmer nicht berechtigt, die ihm für die Reisevorleistungen gesondert in Rechnung gestellten Steuerbeträge als Vorsteuer abzuziehen (§ 25 Abs. 4 Satz 1 UStG).
163
Bei § 25 UStG handelt es sich um eine Sonderregelung nur für die Versteuerung der von Dritten bezogenen und vom Unternehmer an seine Leistungsempfänger weitergeleisteten Reisevorleistungen.
164
b) Der Begriff der Reise, der die Reiseleistung zugeordnet werden kann, oder der Reiseleistung selbst ist weder in § 25 UStG noch in der MwStSystRL definiert. Der EuGH (Urteil vom 13.10.2005, C-200/04 – iSt, BFH/NV Beilage 06, 34, Rn. 26, 34) spricht von „mit Reisen verbundenen Dienstleistungen“.
165
Als Reiseleistungen werden daher die im Zusammenhang mit einer Reise üblicherweise anfallenden Leistungen der Reiseunternehmen angesehen. Insbesondere zählen zu den Reiseleistungen die Beförderung mit Flugzeug, Schiff, Bahn oder Bus zum Zielort (einschließlich Transfer), Unterbringung und Verpflegung, Betreuung der Reisenden durch Reiseleiter sowie Durchführung von Veranstaltungen für die Reisenden, wie z. B. Besichtigungsfahrten, Führungen, Sprachkurse (Schüler-Täsch in Sölch/Ringleb, UStG, § 25 Rz. 38). Danach sind die Leistungen in Gestalt der Bustouren, Bewirtungen und Besichtigungen, die die Klägerin gegenüber den Teilnehmern der Tagesausflüge erbracht hat, Reiseleistungen i. S. von § 25 UStG. Empfänger dieser Reiseleistungen waren Endverbraucher.
166
Zweck und Dauer einer Reise spielen für die Anwendbarkeit des § 25 keine Rolle (Schüler-Täsch in Sölch/Ringleb, UStG, § 25 Rz 34 mwN.). Es ist daher unerheblich, welcher Zweck mit der Inanspruchnahme von Reiseleistungen verfolgt wird (Urlaub, Bildung, Sport, Erholung) oder ob ein Zweck überhaupt feststellbar ist. Die Einwendung der Klägerin, dass den von ihr durchgeführten Reisen kein touristischer Zweck zugrunde liege, ist daher unerheblich. Die Anwendung des § 25 UStG ist gerade nicht dadurch ausgeschlossen, dass der alleinige Zweck der von einem Verkaufsveranstalter durchgeführten Reiseleistungen darin besteht, den Warenverkauf bei der Verkaufsveranstaltungen zu fördern (FG Bremen, Urteil vom 09.07.2008 2 K 220/07, EFG 2008, 1493).
167
c) Warenlieferungen und Tagesausflüge stellen auch bei Verkaufsfahrten keine unselbständigen Nebenleistungen zur jeweils anderen Leistung dar (FG Bremen, Urteil vom 09.07.2008 2 K 220/07, EFG 2008, 1493). Demnach liegen zwei Hauptleistungen vor, die Lieferung von Waren und die Durchführung von Reisen, die der Besteuerung nach § 25 UStG unterliegen
168
Etwas anderes ergibt sich für den Streitfall auch nicht aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und des BFH zur einheitlichen Beurteilung von Leistungen, die zueinander im Verhältnis von Haupt- und (unselbständiger) Nebenleistung stehen. Danach darf eine wirtschaftlich einheitliche Leistung nicht künstlich aufgespaltet werden (z.B. EuGH-Urteil vom 25. Februar 1999 Rs. C-349/96, Card Protection Plan Ltd., Slg. 1999, I-973; BFH-Urteil vom 6. Dezember 2007 V R 66/05, BFH/NV 2008, 716, m.w.N.).
169
Eine unselbständige Nebenleistung liegt vor, wenn eine Leistung im Vergleich zur Hauptleistung nebensächlich ist, sie wirtschaftlich ergänzt, abrundet und üblicherweise zusammen mit der Hauptleistung ausgeführt wird. Eine Leistung ist auch dann als Nebenleistung zu einer Hauptleistung anzusehen, wenn sie für den Leistungsempfänger keinen eigenen Zweck hat, sondern das Mittel darstellt, um die Hauptleistung des Leistungserbringers unter optimalen Bedingungen in Anspruch zu nehmen (BFH-Urteile vom 7. März 1995 XI R 46/93, BStBl II 1995, 429; vom 29. April 1999 V R 72/98, BFH/NV 1999, 1523; vom 24. Januar 2008 V R 12/05, BFH/NV 2008, 909).
170
Aus der Sicht eines Verbrauchers steht ein ihm zugewendeter Tagesausflug als selbständige Leistung neben der etwaigen Lieferung von Waren, bei der es sich nicht um eine Reiseleistung handelt. Der Tagesausflug hat für den Verbraucher eine eigenständige Bedeutung. Er verliert für ihn nicht deshalb seine Selbständigkeit, weil er im Rahmen des Tagesausflugs die Möglichkeit hat, bei einer Verkaufsveranstaltung Waren zu kaufen. Die beiden Leistungen sind auch nicht dergestalt miteinander verbunden, dass der Tagesausflug den Warenkauf inhaltlich oder wirtschaftlich ergänzt. Hierfür reicht es nicht aus, dass die Verkaufsveranstaltung im Rahmen des Tagesausflugs stattfindet. Für einen Verbraucher ist es zudem nicht optimal, Waren während eines Tagesausflugs zu kaufen, da die Vergleichs- und Auswahlmöglichkeiten schlechter sind als beispielsweise bei einem Kauf im Warenhaus oder im Internet. Die Reiseleistungen bilden daher jedenfalls aus Sicht des Durchschnittsverbrauchers keine wirtschaftliche Einheit mit etwaigen Käufen von Waren. Dass aus Sicht des Direktvertriebsunternehmers die Tagesausflüge Hilfscharakter zu den Verkaufsveranstaltungen haben und ein untrennbarer wirtschaftlicher Zusammenhang zwischen beiden besteht, ist unerheblich. Denn maßgeblich ist nicht die Sicht des Unternehmers, sondern die Sicht des Durchschnittsverbrauchers (BFH-Urteil vom 06.12.2007 V R 66/05, BStBl II 2008, 638).
171
In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass die Klägerin in den Einladungsflyern ihre Verkaufsveranstaltung selbst als Reise bewarb und dabei Begriffe verwendete wie z.B. „herrlichste Reisezeit des Jahres“, „romantische Busfahrt“, „traumhafte Landschaft“, „herrlicher Urlaubstag“, „Ausflugsfahrt“, etc.
172
d) Der Anwendung des § 25 UStG steht nicht entgegen, dass die Empfänger der Reiseleistungen keine oder nur geringe Geldbeträge aufgewendet haben, um an den Tagesausflügen teilzunehmen.
173
§ 25 UStG enthält die Entgeltlichkeit nicht als Tatbestandsmerkmal. Anders als in § 25a Abs. 1 UStG wird in § 25 UStG nicht auf § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG verwiesen. Daher ist davon auszugehen, dass Vertriebsunternehmen, die Reisen als sog. Kaffeefahrten unentgeltlich durchführen, Reiseleistungen erbringen, für die die Sonderregelungen der Besteuerung nach § 25 UStG einschließlich des Ausschlusses des Vorsteuerabzugs aus den Reisevorleistungen gelten (FG Bremen, Urteil vom 09.07.2008 2 K 220/07, EFG 2008, 1493, ebenso OFD Koblenz vom 08.04.2003, UR 2003, 562 – Ziff. 5 zu unentgeltlichen Gewinnreisen).
174
Bei Anwendung des § 25 UStG auch auf unentgeltliche Reiseleistungen ist der Klägerin in allen Streitjahren der Vorsteuerabzug aus den Rechnungen über die Bustouren, Bewirtungen und Besichtigungen zu versagen. § 25 Abs. 4 Satz 1 UStG schließt das Recht des Unternehmers, die ihm für Reisevorleistungen gesondert in Rechnung gestellten Steuerbeträge als Vorsteuer abzuziehen, unabhängig davon aus, ob die Verrechnung der Summe der für Reisevorleistungen aufgewendeten Beträge mit der Summe der Umsatzerlöse, die aus der Erbringung von Reiseleistungen erzielt werden, zu einer Bemessungsgrundlage i.S.v. § 25 Abs. 3 UStG führt, bei der Umsatzsteuer anfällt. Ist die Summe der für Reisevorleistungen aufgewendeten Beträge höher als die Summe der Umsatzerlöse (negative Marge) hat dies lediglich zur Folge, dass keine Umsatzsteuer anfällt (FG Bremen, Urteil vom 09.07.2008 2 K 220/07, EFG 2008, 1493). Eine Erstattung des fiktiven Steuerbetrags, der sich aus einer negativen Marge errechnen lässt, ist in § 25 UStG nicht vorgesehen (Schüler-Täsch in Sölch/Ringleb, UStG, § 25 Rz. 193).
175
e) Die Vorsteuern aus den Rechnungen der Busunternehmen waren nicht zum Abzug zuzulassen, weil es sich um Reisevorleistungen (Beförderungsleistungen) und nicht um Eigenleistungen handelt.
176
Nach § 25 Abs. 4 Satz 1 UStG ist der Unternehmer nicht berechtigt, die ihm für die Reisevorleistungen gesondert in Rechnung gestellten Steuerbeträge als Vorsteuer abzuziehen.
177
Es kommt also vorliegend darauf an, ob die Gestellung der Busse seitens der Omnibusunternehmung als Reisevorleistungen anzusehen ist. Abzugrenzen sind die Reisevorleistungen von den Eigenleistungen.
178
Nach Abschnitt 25.1 Abs. 8 Satz 4 UStAE sind eigene Mittel (Eigenleistung) auch dann gegeben, wenn der Unternehmer einen Omnibus ohne Fahrer oder im Rahmen eines Gestellungsvertrages ein bemanntes Beförderungsmittel anmietet. Nach Satz 8 erbringt der Unternehmer dagegen keine Reiseleistung unter Einsatz eigener Mittel, wenn er sich zur Ausführung einer Beförderung eines Omnibusunternehmers bedient, der die Beförderung im eigenen Namen unter eigener Verantwortung und für eigene Rechnung ausführt.
179
aa) Befördern ist die räumliche Fortbewegung von Personen oder Gegenständen, wobei die Art des Beförderungsmittels nicht von Bedeutung ist (z.B. BFH-Urteile vom 2. März 2011 XI R 25/09, BStBl II 2011, 737; vom 1. August 1996 V R 58/94, BStBl II 1997, 160, m.w.N.).
180
Durch die Rechtsprechung ist bereits geklärt, dass die Art des Beförderungsmittels nicht von Bedeutung ist (BFH-Urteil vom 2. März 2011 XI R 25/09, BStBl II 2011, 737) und dass Taxifahrten Beförderungsleistungen sind (BFH-Urteile vom 31. Mai 2007 V R 18/05, BStBl II 2008, 206; vom 19. Juli 2007 V R 68/05, BStBl II 2008, 208). Auch steht der Beurteilung als Beförderungsleistung nicht entgegen, dass das Taxi vereinbarungsgemäß zwischen mehreren Beförderungen auf den Kunden wartet. Die Beurteilung als Beförderungsleistung ist nach der Rechtsprechung weiter nicht deswegen ausgeschlossen, weil dem Kunden während der Beförderung zusätzliche Annehmlichkeiten geboten werden. So beeinflusst z.B. die Qualität der Verpflegung und Unterbringung auf einem Schiff grundsätzlich nicht die Art der Personenbeförderung, sondern nur die Umstände, unter denen sie durchgeführt wird (BFH-Urteil vom 2. März 2011 XI R 25/09, BStBl II 2011, 737). Die Verschaffung eines angenehmen Reiseerlebnisses steht der Beurteilung als Beförderung nicht entgegen (BFH-Urteil vom 08. September 2011 V R 5/10, BStBl II 2012, 620 – Chauffeurservice).
181
bb) Bei Anwendung dieser Rechtsgrundsätze ist im Streitfall von Beförderungsleistungen auszugehen.
182
Die Klägerin hat die Reisenden zu im Voraus festgelegten Abfahrtzeiten an den vereinbarten Haltestellen abgeholt, zu den jeweiligen Verkaufsstellen (Cafe, Lokal o.ä.) befördert und anschließend wieder an den vereinbarten Haltestellen abgesetzt. Dabei macht es keinen Unterschied, ob die Klägerin dem Busunternehmer die Haltestellen am Abend vorher mitgeteilt hat, oder ob der „Sprecher“ (Verkäufer vor Ort) den Busfahrer hinsichtlich der Haltestellen bzw. Zusteigestationen noch am Reisetag angewiesen bzw. sich die Klägerin das Recht zur Erweiterung der Haltestellen vorbehalten hat.
183
Die vereinbarte Qualität der Fahrzeuge (Busse) und die Auswahl der Fahrer waren für die Klägerin von wesentlicher Bedeutung. Die Klägerin hat hierzu ausgeführt, dass sie großen Wert auf saubere und moderne Reisebusse und darauf gelegt habe, dass nur zuverlässige Busfahrer die Reisen durchführen. Sofern dies ausnahmsweise nicht der Fall war, also z.B. der Bus den vorherigen Absprachen oder vereinbarten Standards nicht entsprach oder der Busfahrer erst verspätet erschien, wurde der Reisepreis entsprechend gemindert.
184
Der von der Klägerin vorgetragene Umstand der streckenunabhängigen Vergütung führt zu keiner anderen Beurteilung. Zwar kann die streckenunabhängige Vergütung für die Annahme eines Mietvertrages sprechen, weil der Preis für Beförderungsleistungen regelmäßig von der Länge der zu fahrende Strecke abhängt.
185
Im Streitfall steht jedoch fest für den Senat fest, dass die Beteiligten die „Festpreisabrede“ nur aus Vereinfachungsgründen geschlossen haben. Vereinbart wurde regelmäßig das Fahrtziel und ein Festpreis pro Tag für Bus und Fahrer (in den Streitjahren … DM, anschließend … €), unabhängig von den tatsächlich gefahrenen Kilometerzahl. Die Klägerin hat diese „Festpreisabrede“ damit begründet, dass sie nicht in jedem Fall habe prüfen können und wollen, wieviele Kilometer der Busunternehmer tatsächlich gefahren sei. Insofern sei statt einer Abrechnung nach gefahrenen Kilometern aus Vereinfachungsgründen eine „Festpreisabrede“ getroffen worden.
186
Zudem handelt es sich bei Verträgen über eine Personenbeförderung mit Mietomnibussen gerade nicht um Miete im Sinne der §§ 535 ff. sondern um einen Werkvertrag handele (Fielitz/Grätz, Kommentar zum Personenbeförderung, § 49 PBefG, Rz. 3; Heinze/Fehling/Fiedler, Personenbeförderungsgesetz, § 49 Rz. 2). Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Omnibusunternehmen – und nicht die Klägerin – den Bus auftankten. Auch spricht der Umstand, dass für den Fall der Schlechterfüllung des Vertrages (Bus nicht die vereinbarte Qualität / Fahrer hat verschlafen oder Bushaltestelle nicht angefahren) ein pauschaler Betrag von der Klägerin bei Rechnungszahlung abgezogen bzw. einbehalten wurde, für die Annahme eines Beförderungsvertrages.
187
Schließlich fällt auf, dass in den Abrechnungen bei Fahrten ins Ausland (z.B. Holland) regelmäßig die Gesamtkilometer sowie die inländischen Kilometer angegeben wurden, wobei nur die inländischen Kilometer vom Busunternehmer der Umsatzsteuer unterworfen wurden. Auch dies spricht für die Annahme einer Beförderungsleistung, da bei einer Beförderungsleistung die Steuerbarkeit auf die Bewirkung der Strecke im Inland beschränkt ist.
188
Festzuhalten ist damit, dass im Streitfall nicht zeitbezogene Gestellungsverträge abgeschlossen wurden, sondern streckenbezogene Beförderungsverträge.
189
f) Selbst wenn § 25 UStG vorliegend ausgeschlossen sein sollte, weil er auf unentgeltliche Reiseleistungen keine Anwendung finden (so Stadie, UStG, § 25 Rz. 35) oder jedenfalls insofern unanwendbar wäre, als Reisen im Unternehmen eingesetzt werden, z.B. als Geschenk für Kunden oder Geschäftsfreunde (so z.B. Schüler-Täsch in Sölch/Ringleb, UStG, § 25 Rz. 98) oder die Beförderungsleistungen entgegen der oben vertretenen Auffassung nicht als Beförderungsleistungen, sondern als Eigenleistungen der Klägerin anzusehen und der Vorsteuerabzug nicht nach § 25 Abs. 4 Satz 1 UStG ausgeschlossen wäre, könnte die Klägerin wegen der Vorsteuerabzugsbeschränkung gem. § 15 Abs. 1a Nr. 1 UStG i. V. m. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1, Abs. 7 EStG dennoch keine Vorsteuern abziehen.
190
§ 3 Abs. 9a Satz 1 Nr. 2 1. Alternative UStG stellt nur die unentgeltliche Erbringung einer sonstigen Leistung durch den Unternehmer für Zwecke, die außerhalb des Unternehmens liegen, einer sonstigen Leistung gegen Entgelt i.S.v. § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG gleich. Anders als unentgeltliche Lieferungen i.S. des § 3 Abs. 1b Satz 1 Nr. 3 UStG sind unentgeltliche sonstige Leistungen für Zwecke des Unternehmens nicht steuerbar.
191
Die von der Klägerin durchgeführten Tagesausflüge bestanden aus mehreren sonstigen Leistungen (Busfahrt, Bewirtung und ggf. Besichtigung). Die Klägerin verfolgte mit der unentgeltlichen Erbringung dieser sonstigen Leistungen unternehmerische Zwecke. Gegenstand des gewerblichen Unternehmens der Klägerin war der Vertrieb von Waren aller Art. Sie sah in den Teilnehmern der Tagesausflüge potentielle Käufer der von ihr vertriebenen Waren. Alle Teilnehmer sollten auch an den Verkaufsveranstaltungen im Rahmen der Tagesausflüge teilnehmen.
192
Da die von der Klägerin für Zwecke ihres Unternehmens unentgeltlich erbrachten sonstigen Leistungen nicht unter § 3 Abs. 9a Satz 1 Nr. 2 1. Alternative UStG fallen, sind sie nicht steuerbar. Dennoch bleibt der Vorsteuerabzug für die Klägerin erhalten, wenn die Vorsteuerbeträge die Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 UStG erfüllen und außerdem nicht das Vorsteuerabzugsverbot in § 15 Abs. 1a UStG eingreifen.
193
Die Klägerin hat dem Beklagten Rechnungen über Bustouren mit offenem Umsatzsteuerausweis vorgelegt und den Vorsteuerabzug geltend gemacht. Sie hat diese Leistungen nach § 15 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG für Zwecke ihres Unternehmens bezogen, um damit Tagesausflüge für eine Vielzahl von Personen durchführen zu können. Die Tagesausflüge dienten erkennbar dazu, möglichst viele Personen als potentielle Käufer bei ihren Verkaufsveranstaltungen zu haben und dadurch möglichst hohe Verkaufsumsätze zu erzielen. Ein Leistungsbezug für das Unternehmen der Klägerin scheitert nicht daran, dass die Teilnehmer der Tagesausflüge die Busfahrten zu nichtunternehmerischen Zwecken in Anspruch nahmen. Vielmehr bleibt der vom Unternehmer verfolgte Zweck auch dann maßgebend, wenn der Bedachte die erhaltene Leistung zu nichtunternehmerischen Zwecken verwendet. Gerade die private Verwendung durch den Bedachten kann im unternehmerischen Interesse liegen (ebenso FG Bremen, Urteil vom 09.07.2008 2 K 220/07, EFG 2008, 1493)
194
Nach § 15 Abs. 1a Nr. 1 UStG sind Vorsteuerbeträge nicht abziehbar, die auf Aufwendungen entfallen, für die das Abzugsverbot des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 bis 4, 7, Abs. 7 EStG gilt. Diese Beschränkung des Vorsteuerabzugs greift im Streitfall hinsichtlich der Aufwendungen der Klägerin zur Durchführung der Tagesausflüge ein. Denn bei den Tagesausflügen handelte es sich um Geschenke i.S. des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 EStG, für die die Klägerin Aufwendungen getätigt hat, die mangels Erfüllung der Aufzeichnungspflicht gemäß § 4 Abs. 7 EStG nicht als Betriebsausgaben abzugsfähig sind.
195
Die Klägerin wendete den Teilnehmern die jeweiligen Tagesausflüge aus betrieblichen Gründen unentgeltlich zu. Dies führte zu einer objektiven Bereicherung der Bedachten. Denn ein Tagesausflug, der – wie hier – Busfahrt, Bewirtung und ggf. Besichtigung einschließt, wird in dieser Form auch gegen Entgelt angeboten und besitzt damit im Wirtschaftsverkehr einen Geldwert. Die Bereicherung stammte aus dem Vermögen der Klägerin, da diese die Tagesausflüge finanzierte. Die Zuwendung einer Reise in Gestalt eines Tagesausflugs ist als Sachleistung nicht anders zu beurteilen als die Zuwendung eines Gutscheins für einen von einem Reisebüro durchgeführten Tagesausflug oder die Zuwendung von Geld mit der Auflage, den betreffenden Tagesausflug durchzuführen (FG Bremen, Urteil vom 09.07.2008 2 K 220/07, EFG 2008, 1493 unter Hinweis auf BFH-Urteil vom 23.06.1993 I R 14/93, BStBl II 1993, 806).
196
Ob eine Vermögenszuwendung unentgeltlich als Geschenk oder entgeltlich im Hinblick auf eine Gegenleistung des Empfängers gemacht wird, entscheidet nach bürgerlichem Recht die hierüber zwischen den Beteiligten getroffene Vereinbarung. Als Gegenleistungen kommen im vorliegenden Zusammenhang alle Handlungen in Betracht, die im betrieblichen Interesse des Zuwendenden liegen. Die erwartete oder bereits erbrachte Gegenleistung muss hinreichend konkretisiert sein. Daran fehlt es, wenn die Zuwendung nur die Aufgabe hat, Geschäftsverbindungen anzuknüpfen, zu sichern oder zu verbessern (BFH-Urteil vom 23.06.1993 I R 14/93, BStBl II 1993, 806). Der vom Zuwendenden verfolgte Zweck – nämlich das Wohlwollen des Bedachten zu erringen, um daraus Vorteile für den eigenen Betrieb zu ziehen – steht der Unentgeltlichkeit der Zuwendung nicht entgegen. Auch auf Zweckgeschenke sind die zivilrechtlichen Bestimmungen über die Schenkung uneingeschränkt anwendbar (vgl. BFH-Urteil vom 18. Februar 1982 IV R 46/78, BStBl II 1982, 394, m.w.N.).
197
Im Streitfall wurden die Tagesausflüge den Teilnehmern im Hinblick auf die im Rahmen der Tagesausflüge durchgeführten Verkaufsveranstaltungen zugewendet. Hierdurch sollte erreicht werden, dass möglichst viele Personen an den Verkaufsveranstaltungen teilnahmen und es zu möglichst vielen Verkäufen kam. Die Tagesausflüge waren typische Zweckgeschenke im Vorfeld von Geschäftsabschlüssen. Die Teilnahme des Ausflugsteilnehmers an den Verkaufsveranstaltungen war keine Gegenleistung für die Gewährung des Tagesausflugs. Denn die Verkaufsveranstaltung war Bestandteil des zugewendeten Tagesausflugs und minderte allenfalls dessen Wert. Etwaige Käufe von Waren bei den Verkaufsveranstaltungen waren ebenfalls keine Gegenleistung des Teilnehmers für die Gewährung des Tagesausflugs. Aus Sicht sowohl des Teilnehmers eines Tagesausflugs als auch der Klägerin handelte es sich bei jedem Warenkauf um ein selbständig neben dem Tagesausflug stehendes entgeltliches Rechtsgeschäft, bei dem ein Austauschverhältnis nur zwischen der jeweils gekauften Ware und dem dafür hingegebenen Geld vorlag.
198
Die Vorsteuern wären mithin auch dann vom Abzug ausgeschlossen, wenn – entgegen der vom Senat vertretenen Auffassung – keine Reiseleistungen nach § 25 UStG anzunehmen wären.
199
4. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 135 Abs. 1 FGO.

Investitionsabzugsbetrag für Werkzeuge

Niedersächsisches Finanzgericht 3. Senat, Gerichtsbescheid vom 15.05.2018, 3 K 74/18, ECLI:DE:FGNI:2018:0530.3K74.18.00

§ 7g Abs 1 S 2 Nr 2 Buchst b EStG

TATBESTAND

1
Streitig ist die Berücksichtigung eines Investitionsabzugsbetrages und der Sonderabschreibungen für sogenannte „Werkzeuge“ (mehrere Spritzgussformen).
2
Die Klägerin ist eine Kommanditgesellschaft und stellt selbst … Produkte her. Sie hat eine einzige Betriebsstätte und zwar am Sitz der Gesellschaft. Sie ermittelt ihren Gewinn durch Betriebsvermögensvergleich. Vorprodukte kauft sie teilweise zu bzw. lässt diese durch andere Unternehmen herstellen. Sie benötigt für die Herstellung eines ihrer Produkte u.a. Kunststoffformteile, die im Spritzgussverfahren hergestellt werden. Sie selbst verfügt nicht über die Maschinen, um solche Spritzgussteile selbst herstellen zu können. Dazu bedient die Klägerin sich anderer Unternehmen. Im Einzelnen:
3
Für ein neu entwickeltes Produkt benötigte die Klägerin im Jahr 2013 die entsprechenden Spritzgussformen für die verschiedenen Teile. Solche Spritzgussformen werden in der Produktion als „Werkzeuge“ in universelle Spritzgussmaschinen eingesetzt und produzieren dann die gewünschten Kunststoffformteile. Die Klägerin beauftragte im Jahr 2013 ein darauf spezialisiertes Unternehmen, die A, mit der Planung und Herstellung der entsprechenden Spritzgussformen für rund 75.000 €. Die A sollte später auch die Spritzgussteile – wie bei Kleinserien branchenüblich unter Zurverfügungstellung der benötigten Werkzeuge – nach Staffelpreisen liefern und deshalb die Werkzeuge im Besitz behalten. Die neuen Werkzeuge, Konstruktionszeichnungen und Datenblätter gingen nach Abnahme und Bezahlung in das Eigentum der Klägerin über.
4
Die A vergab den Auftrag zur Herstellung der Werkzeuge tatsächlich an einen Subunternehmer in Italien, der diese auftragsgemäß herstellte. Die neuen Werkzeuge blieben auch nach dem Eigentumserwerb durch die Klägerin zunächst bei diesem Subunternehmen der A in Italien (Y). Später beauftragte/bestellte die Klägerin die Herstellung der Kunststoffformteile in der benötigten Anzahl im Einverständnis mit der A bei der B; dabei handelt es sich um eine Schwestergesellschaft der A mit identischem Geschäftsführer. Die B beauftragte ihrerseits ein anderes italienisches Unternehmen (Z) mit der Produktion und Lieferung der bestellten Kunststoffformteile nach Deutschland. A und B veranlassten, dass der Z dafür die erforderlichen Werkzeuge zur Verfügung standen und wiesen die Y an, die Werkzeuge dorthin zu liefern. Nach Abschluss der ersten Produktion der Kunststoffformteile verblieben die zugelieferten Werkzeuge auf Wunsch der Klägerin im Lager der Z, um dort – wie es branchenüblich ist – für evtl. Folgeaufträge zur Verfügung zu stehen; die Werkzeuge durfte Z nicht anderweitig einsetzen. Die bestellten Kunststoffformteile wurden aus Italien über die B der Klägerin geliefert. Nach den zwischen der Klägerin und der A abgeschlossenen Vereinbarungen müssen die A bzw. deren Subunternehmen die Werkzeuge auf Verlangen der Klägerin auch ohne einen gerichtlichen Titel herausgeben.
5
Seither bestellt die Klägerin jährlich einmal die Kunststoffformteile bei der B, die diese bei der Z herstellen und von dieser liefern lässt. Die Werkzeuge werden dafür für etwa eine Woche pro Jahr tatsächlich genutzt und in der übrigen Zeit bei der Z für die Klägerin gelagert.
6
Die Klägerin berücksichtigte im Streitjahr 2012 für die anzuschaffenden bzw. herzustellenden Werkzeuge gewinnmindernd einen Investitionsabzugsbetrag nach § 7g des Einkommensteuergesetzes (EStG) in Höhe von 28.000 €. Nach der Anschaffung der Werkzeuge aktivierte sie die Werkzeuge als Anlagevermögen und nahm Sonderabschreibungen nach § 7g Abs. 2 Satz 2 EStG sowie nach § 7g Abs. 5 EStG vor und berücksichtigte daneben die AfA nach § 7 Abs. 1 EStG.
7
Im Zuge einer Außenprüfung wurde streitig, ob die Verbleibensvoraussetzungen nach § 7g EStG eingehalten worden seien, da sich die Werkzeuge seit Jahren in Italien befänden. Der Betriebsprüfer vertrat schließlich die Ansicht, es läge eine „unentgeltliche Überlassung der Werkzeuge“ an die Z in Italien vor, so dass die erforderliche Nutzung in einer inländischen Betriebsstätte der Klägerin nicht vorliege. Er machte den Investitionsabzugsbetrag im Streitjahr 2012 in Höhe von 28.000 € rückgängig und kürzte die Abschreibungen für 2013 entsprechend mit einem Saldo in Höhe von 37.483 €. Das FA übernahm nach Abschluss der Außenprüfung diese Rechtsansicht. Dagegen richtet sich nach erfolglosem Einspruch die Klage.
8
Die Klägerin stellt heraus, dass die Werkzeuge nicht nur ihr Eigentum, sondern ausschließlich für ihren Betrieb eingesetzt worden seien. Es habe zu keinem Zeitpunkt eine betriebsfremde oder private Nutzung der Werkzeuge stattgefunden. Dies schließe eine (schädliche) Nutzungsüberlassung an Dritte aus.
9
Sie ist überdies der Ansicht, dass das FA im Streitfall bei der Anwendung des § 7g EStG unberechtigt der örtlichen Lagerung der Werkzeuge einen höheren Wert beimesse als der funktionalen Zuordnung der Werkzeuge. Dies sei mit den Regelungen in § 7g EStG nicht vereinbar. Eine jeweilige Rücklieferung der Werkzeuge nach Deutschland sei zwar möglich aber unwirtschaftlich und setze die Werkzeuge unnötig dem Risiko von Transportschäden aus.
10
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
11
die Bescheide für 2012 und 2013 über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen und über den Gewerbesteuermessbetrag, jeweils vom 22. März 2017, in Gestalt des Einspruchsbescheides vom 23. Februar 2018 dahingehend zu ändern, dass der Gewinn der Klägerin jeweils um 28.000 € (2012) und um 37.483 € (2013) gemindert wird.
12
Der Beklagte beantragt,
13
die Klage abzuweisen.
14
Das FA hält daran fest, dass die unentgeltliche Überlassung der Wirtschaftsgüter (Werkzeuge) an das italienische Unternehmen Z dazu führe, dass die Wirtschaftsgüter im Sinne des § 7g EStG nicht in der inländischen Betriebsstätte genutzt worden seien.
15
Nach § 7g EStG sei ein Verbleiben des Wirtschaftsgutes in einer dauerhaften räumlichen Beziehung zur Betriebsstätte vorausgesetzt. Davon habe die Rechtsprechung nur begrenzt Ausnahmen zugelassen. So dürften die zur Vermietung angeschafften Fahrzeuge auch außerhalb des Betriebes eingesetzt werden. Entscheidend sei dann aber, wie lange der Unternehmer von der Einwirkung auf das Fahrzeug ausgeschlossen sei. Bei längerfristigen Vermietungen über 3 Monate verbleibe ein solches Wirtschaftsgut nicht im Betrieb des Investors bzw. Vermieters (BFH-Urteil vom 23. Mai 1986 III R 66/85, BFHE 147, 193, BStBl II 1986, 916 zur Investitionszulage). Im Streitfall hätten sich die Werkzeuge jedenfalls nicht weniger als 3 Monate außerhalb des Betriebes der Klägerin befunden und die Klägerin habe die tatsächliche Gewalt über die Wirtschaftsgüter nicht kurzfristig erlangen können.
16
Auch reiche nach der Rechtsprechung bei einem Ausstellungsbus, der als Werbeträger seine betriebliche Funktion nur außerhalb der Betriebsstätte erfüllen könne, eine reine funktionale Bindung an den Betrieb aus (BGH-Urteil vom 20. November 1970 VI R 151/69, BFHE 100, 558, BStBl II 1971, 155 zum Berlinförderungsgesetz). Anders als ein solcher Ausstellungsbus könnten die die streitigen Werkzeuge nach ihrer Wesensart und Zweckbestimmung auch im räumlich abgegrenzten Bereich der Betriebsstätte der Klägerin eingesetzt werden, wenn sich die Klägerin eine mit den Werkzeugen kompatible Spritzgussmaschine anschaffen und im Betrieb aufstellen würde. Für die Anwendung des § 7g EStG sei nicht zu berücksichtigen, ob die Anschaffung einer Spritzgussmaschine wirtschaftlich oder logistisch sinnvoll sei.
17
Die Klägerin könne einen Investitionsabzugsbetrag für derartige Wirtschaftsgüter nur beanspruchen, wenn sie tatsächlich (z.B. bis auf eine Woche im Jahr) in ihrem Betrieb gelagert gewesen wären. Daran fehle es.

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE

18
Die Klage ist begründet.
19
Die Klägerin kann sowohl den Investitionsabzugsbetrag im Streitjahr 2012 als auch die Sonderabschreibungen im Streitjahr 2013 nach § 7g EStG gewinnwirksam vornehmen, da die Wirtschaftsgüter (Werkzeuge) in einer inländischen Betriebsstätte ausschließlich betrieblich genutzt worden sind. Die entgegenstehenden Bescheide des Beklagten verletzen die Klägerin in ihren Rechten.
20
1. Nach § 7g Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Buchst. b EStG in der bis 2015 geltenden Fassung (jetzt insoweit wortidentisch in § 7g Abs. 1 Satz 1 EStG) ist die Anschaffung oder Herstellung von abnutzbaren beweglichen Wirtschaftsgütern des Anlagevermögens begünstigt, wenn die Wirtschaftsgüter „in einer inländischen Betriebsstätte des Betriebes ausschließlich oder fast ausschließlich betrieblich“ genutzt werden. In Bezug genommen ist dabei der Betrieb, zu dessen Anlagevermögen das Wirtschaftsgut gehört (BFH-Urteil vom 6. April 2016 X R 28/14, BFHE 254, 218, BStBl II 2017, 302, Rn. 28).
21
a) Die hier streitigen Werkzeuge gehören unstreitig als abnutzbare bewegliche Wirtschaftsgüter zum Anlagevermögen des Betriebes der Klägerin. Auch das FA lässt insoweit nach der Außenprüfung eine Abschreibung nach § 7 Abs. 1 EStG zu.
22
b) Die Werkzeuge sind schließlich im Streitfall sogar ausschließlich in der inländischen Betriebsstätte der Klägerin genutzt worden, da eine außerbetriebliche Nutzung nicht erfolgt ist bzw. es bei funktionaler Betrachtung der Nutzung ausreicht, wenn das Wirtschaftsgut außerhalb der räumlichen Grenzen des Betriebes benutzt wird, aber die tatsächliche Gewalt über das Wirtschaftsgut regelmäßig innerhalb kurzer Frist wiedererlangt werden kann und damit im Einflussbereich des Steuerpflichtigen verbleibt.
23
(1) Grundsätzlich setzt die von Gesetz vorgegebene „fast ausschließliche Nutzung“ in diesem Sinne einen betrieblichen Nutzungsanteil von mindestens 90% voraus. Unterschreitet die Nutzung in dem Betrieb, zu dessen Anlagevermögen das Wirtschaftsgut gehört, diesen Anteil, liegt nach der bisherigen Rechtsprechungmithin der Anteil der außerbetrieblichen Nutzung bei über 10 %, ist dieses Tatbestandsmerkmal dem Grunde nach nicht erfüllt (ebenso BFH-Urteil 6. April 2016, aaO.). Zu den außerbetrieblichen Nutzungen gehört danach der Einsatz in einer ausländischen Betriebsstätte, für einen fremden Betrieb oder die private Nutzung. Im Streitfall hat indes eine solche außerbetriebliche Nutzung nicht stattgefunden. Die Klägerin verfügt über keine ausländische Betriebsstätte, der die Wirtschaftsgüter zuzurechnen sein könnten, denn in Italien produziert lediglich ein fremdes Unternehmen – wie für viele andere Auftraggeber – mit dem Werkzeug der Klägerin, das diese für die Produktion bereitzustellen hat. Aus dem Einsatz der Werkzeuge selbst erlangt dieses Unternehmen kein Entgelt, sondern nur aus dem Spritzvorgang unter Nutzung der eigenen Spritzgussmaschine und des eingesetzten Materials. Die Werkzeuge werden auch nicht in diesem (fremden italienischen) Betrieb für dessen eigene betriebliche Zwecke genutzt. Das wäre nur anders, wenn dieser Betrieb das Werkzeug auch für Produkte anderer Unternehmen oder eine Eigenproduktion benutzen dürfte. Das wäre bei der Nutzung eines angemieteten Werkzeugs oder Fahrzeugs für alle Zwecke des Betriebes der Fall. Im Streitfall ist dies anders, denn allen anderen Unternehmen ist im Gegenteil die Nutzung der Werkzeuge sogar vertraglich untersagt. Das Eigentum blieb die ganze Zeit bei der Klägerin. Sie durfte jederzeit die Herausgabe verlangen. Sie hat lediglich aus nachvollziehbaren wirtschaftlichen Erwägungen gestattet, dass das italienischen Unternehmen insoweit den Fremdbesitz innehatte. Eine private Nutzung scheidet sowieso aus.
24
(2) Die Verwaltung betrachtet regelmäßig die Erfassung eines Wirtschaftsgutes im Bestandsverzeichnis (Anlageverzeichnis) als Anhaltspunkt für die betriebliche Nutzung (BMF-Schreiben vom 2. November 2015, BGBl I 2015, 1834, Rn. 38). Die „Verbleibens- und Nutzungsvoraussetzungen“ sollen dann nicht mehr erfüllt sein, wenn das Wirtschaftsgut veräußert oder entnommen wird, einem Anderen für mehr als drei Monate entgeltlich oder unentgeltlich zur Nutzung überlassen wird oder in einem anderen Betrieb, in eine ausländische Betriebsstätte oder in das Umlaufvermögen überführt wird (BMF, aaO.). Nach den Maßstäben dieser Verwaltungsanweisung hat die Klägerin die Werkzeuge weder veräußert noch entnommen oder in einen anderen Betrieb, eine ausländische Betriebsstätte oder in das Umlaufvermögen überführt. Der Außenprüfer hat aber angenommen, dass die Werkzeuge einem Anderen für mehr als drei Monate unentgeltlich zur Nutzung überlassen habe. Insoweit kann aber dahinstehen, ob durch die Worte „zur Nutzung“ insoweit nur die eigennützige Nutzung durch ein fremdes Unternehmen im Sinne der vom FA zitierten Rechtsprechung (wie bei angemieteten Fahrzeugen) angesprochen ist, da für das Gericht eine Auslegung von Verwaltungsvorschriften schon wegen der fehlenden Bindungswirkung nicht in Betracht kommt.
25
(3) In der Literatur wird für die räumliche Beziehung der Wirtschaftsgüter zum Betrieb neben einer funktionalen Bindung an den Betrieb darüber hinaus die tatsächliche Einflussmöglichkeit des Betriebsinhabers auf das Wirtschaftsgut vorausgesetzt. Danach sind auch Wirtschaftsgüter begünstigt, die außerhalb des Betriebsgeländes zum Einsatz kommen (Baugeräte, Fahrzeuge zur Personen- oder Güterbeförderung, an Arbeitnehmer überlassene Fahrzeuge und etwa Automaten, die in Gaststätten oder Betrieben aufgestellt sind, wenn die tatsächliche Gewalt des Steuerpflichtigen bestehen bleibt (Kulosa in Schmidt, EStG, § 7g Rn. 7; Brandis in Blümich, EStG, § 7g Rn. 47; Meyer in Herrmann/ Heuer/ Raupach, EStG, § 7g Rn. 23; Bugge in Kirchhof/ Söhn/ Mellinghoff, EStG, § 7g Rn. E 16). Mit Blick auf den Kreis der begünstigten WG (bewegliche Wirtschaftsgüter; z. B. Fahrzeuge) liegt es nach Kulosa nahe, das Merkmal „Verbleiben“ nicht streng örtlich („Betriebshof“), sondern vielmehr „funktional“ aufzufassen (Kulosa in Schmidt, aaO.). In Sinne dieses Verständnisses der Regelungen in § 7g EStG sind im Streitfall die Verbleibens- und Nutzungsvoraussetzungen hinsichtlich der Werkzeuge von der Klägerin beachtet worden. Die Werkzeuge waren funktional ausschließlich ihrem eigenen Betrieb zugeordnet. Sie hatte jederzeit die Einflussmöglichkeit, die Werkzeuge herausverlangen zu können. Dies hat sie sich sogar vertraglich zusichern lassen.
26
Insgesamt steht der reinen Lagerung des Wirtschaftsgutes bei einem fremden Unternehmen die Steuerbegünstigung im Streitfall nicht entgegen.
27
2. Ob daneben bei einem Einsatz der Wirtschaftsgüter außerhalb des Betriebs aber im EU-Ausland und zugleich einer Besteuerung der Erträge aus den Halbfertigprodukten im Inland die Steuervergünstigung aus Gründen des Europarechts verweigert werden dürfte, kann hier deshalb dahinstehen. Dies wird jedenfalls vielfach als kritisch beurteilt (Kulosa in Schmidt, EStG, § 7g Rn. 9, Broemel/ Endert in Ubg 11, 722 und Vogel/ Cortez in FR 15, 443).
28
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
29
4. Die Revision wird gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO zugelassen, da eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs zur Fortbildung des Rechts erforderlich ist. Höchstrichterlich ist bisher nicht abschließend geklärt, ob – wie von der Literatur vertreten – für die Verbleibensvoraussetzungen nach § 7g EStG nicht eine streng örtliche (so das FA), sondern daneben auch eine funktionale Betrachtung entscheidend ist.

Kindergeld: Nachweisanforderungen bei mehraktiger Ausbildung

Niedersächsisches Finanzgericht 3. Senat, Gerichtsbescheid vom 04.04.2018, 3 K 152/17, ECLI:DE:FGNI:2018:0530.3K152.17.00

§ 32 Abs 4 S 1 Nr 2 EStG, § 63 EStG

TATBESTAND

1
Streitig ist, ob der Sohn der Klägerin mit dem Beginn eines Lehrgangs als „Geprüfter Technischer Betriebswirt“ noch seine Erstausbildung anstrebt und welche Nachweise dazu erforderlich sind.
2
Der Sohn der Klägerin beendete im Jahr 2009 seine Schulausbildung. Nach eigenen Angaben strebt er seitdem als Berufsziel den Abschluss als „Geprüfter Technischer Betriebswirt“ an. Er absolvierte zunächst in den Jahren 2009 bis 2012 eine Ausbildung als Industriemechaniker und schloss unmittelbar seine Meisterausbildung mit dem Abschluss „Geprüfter Industriemeister – Fachrichtung Metall“, die er Juni 2015 beendete, an. Der Sohn informierte sich im Anschluss an die Meisterausbildung bei dem Bildungsträger zu der Aufstiegsfortbildung „Geprüfter Technischer Betriebswirt“. Ein entsprechender Lehrgang, der im Übrigen die vorgenannte abgeschlossene Ausbildung voraussetzte, wurde aber unmittelbar anschließend nicht angeboten. An der nächsten erreichbaren Informationsveranstaltung am 18. Januar 2016 nahm der Sohn teil und meldete sich bereits am nächsten Tag an. Der Lehrgang begann im April 2016.
3
Die Klägerin beantragte u.a. Kindergeld für diesen Lehrgang ab April 2016. Die Familienkasse lehnte dies ab, da der Sohn seine Erstausbildung bereits im Jahr 2012 abgeschlossen und auch nicht in einem engen und zeitlichen Zusammenhang weiterverfolgt habe. Dagegen richtet sich nach erfolglosem Einspruch die Klage. Im Laufe des Klageverfahrens änderte die Familienkasse seine Rechtsansicht in Bezug auf die vorgenannte Meisterausbildung des Sohnes und stellte die Klägerin insoweit klaglos. Das Klageverfahren für den abgetrennten Zeitraum ist in der Hauptsache erledigt.
4
Die Klägerin verfolgt ihr Begehren für den Lehrgang „Geprüfter Technischer Betriebswirt“ des Sohnes für den Zeitraum ab April 2016 bis Mai 2017 weiter.
5
Sie behauptet, der weitere Lehrgang ihres Sohnes sei stets Teil seines einheitlichen Ausbildungszieles gewesen. Deshalb habe er sich stets nach den nächstmöglichen Lehrgängen erkundigt und seine Ausbildung konsequent und zielstrebig fortgesetzt. Der streitgegenständliche Lehrgang sei der nächste erreichbare Lehrgang gewesen, da derartige berufsbegleitende Lehrgänge nicht ständig angeboten würden. Dies habe weder sie noch ihr Sohn zu vertreten. Daher dürfe ihr deswegen das Kindergeld nicht verwehrt werden.
6
Soweit sich die Familienkasse zur Verneinung des Anspruchs auf eine vermeintlich abzugebende Absichtserklärung berufe, ergebe sich diese allenfalls aus einer norminterpretierenden Verwaltungsanweisung (Dienstanweisung zum Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz (DA-KG 2017)), die für die Gerichte nicht bindend sei.
7
Die Klägerin beantragt,
8
die Beklagte zu verpflichten, ihr Kindergeld in gesetzlicher Höhe für ihren Sohn C. für den Zeitraum von April 2016 bis Mai 2017 zu gewähren.
9
Die Beklagte beantragt,
10
die Klage abzuweisen.
11
Die Beklagte ist der Ansicht, die Klägerin bzw. ihr Sohn hätten nicht rechtzeitig in geeigneter Weise kundgetan, dass der Sohn sein angestrebtes Berufsziel jeweils im Sommer 2012 bzw. Sommer 2015 noch nicht erreicht hatte. Dazu seien nach der BFH-Rechtsprechung objektive Beweisanzeichen erforderlich (Urteil vom 3. Juli 2014 III R 52/13, BFHE 246, 427, BStBl II 2015, 152) und die Ausbildung müsse in einem engen zeitlichen Zusammenhang fortgesetzt werden (Urteil vom 15. April 2015 V R 27/14, BFHE 249, 500, BStBl II 2016, 163).
12
Nach Auffassung der Verwaltung müsse, wenn eine Erstausbildung nicht innerhalb eines Monats seit dem vorangegangenen berufsqualifizierenden Abschluss fortgesetzt werden könne, binnen eines Monats / im Folgemonat gegenüber der Familienkasse zwingend eine Absichtserklärung zur Fortsetzung der Ausbildung abgegeben werden. In Ergänzung der Regelungen zum Abschluss einer Erstausbildung in A 20.2.4 Abs. 2 DA-KG 2017 sei wie bei dem Nachweis von anstehenden Bewerbungen von Studierwilligen (A 17.1 Abs. 1 Satz 10 DA-KG 2017) eine schriftliche Erklärung des Kindes zur Glaubhaftmachung der fortdauernden Ausbildungsabsicht (entsprechend V 6.1 Abs. 1 Satz 8 DA-KG 2017) Anspruchsvoraussetzung. Diese müsse bei mehraktigen Ausbildungen nach dem Erreichen eines ansonsten bereits (objektiv) berufsqualifizierenden Abschlusses bis zum Ende des Folgemonats nach einem Abschluss bei der Familienkasse vorliegen. Diese Absichtserklärung hätte der Sohn der Klägerin deshalb bis Ende Juli 2015 schriftlich vorlegen müssen. Tatsächlich existiere jedoch keine solche Absichtserklärung des Sohnes. Die Klage könne allein deshalb keinen Erfolg haben, auch wenn ein enger zeitlicher und sachlicher Zusammenhang in Bezug auf die weitere Ausbildung bestanden habe.

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE

13
Die Klage ist begründet.
14
Die Familienkasse hat die Kindergeldgewährung für den Streitzeitraum (April 2016 bis Mai 2017) zu Unrecht versagt und die Klägerin damit in ihren Rechten verletzt, denn der Sohn der Klägerin hatte (bei seiner mehraktigen Ausbildung) sein Ausbildungsziel „Geprüfter Technischer Betriebswirt“ zuvor noch nicht erreicht.
15
1. Der Sohn der Klägerin absolviert eine mehraktige Ausbildung, hat damit seine erstmalige Berufsausbildung noch nicht abgeschlossen und deshalb hat die Klägerin Anspruch auf Kindergeld.
16
Gemäß §§ 62 Abs. 1, 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a des Einkommensteuergesetzes (EStG) besteht Anspruch auf Kindergeld u.a. für Kinder, die das 18., aber noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet haben und für einen Beruf ausgebildet werden. Nach Abschluss einer erstmaligen Berufsausbildung wird ein Kind in den Fällen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 EStG nur berücksichtigt, wenn es keiner Erwerbstätigkeit nachgeht (§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG). Diese gesetzliche Regelung greift nach der Rechtsprechung des BFH aber nicht, wenn das Kind das Ausbildungsziel seiner Erstausbildung bei einer mehraktigen Ausbildung noch nicht erreicht hat.
17
Für die Frage, ob bereits der erste (objektiv) berufsqualifizierende Abschluss in einem öffentlich-rechtlich geordneten Ausbildungsgang zum Verbrauch der Erstausbildung führt oder ob bei einer mehraktigen Ausbildung auch ein nachfolgender Abschluss in einem öffentlich-rechtlich geordneten Ausbildungsgang Teil der Erstausbildung sein kann, ist nach ständiger Rechtsprechung des BFH darauf abzustellen, ob sich der erste Abschluss als integrativer Bestandteil eines einheitlichen Ausbildungsgangs darstellt (BFH, Urteile vom 03.07.2014 III R 52/13, BFHE 246, 427, BStBl. II 2015, 152, Rn. 25; vom 16.06.2015 XI R 1/14, BFH/NV 2015, 1378, Rn. 26; vom 03.09.2015 VI R 9/15, BFHE 251, 10, BStBl. II 2016, 166 Rn. 16). Insoweit kommt es vor allem darauf an, ob die Ausbildungsabschnitte in einem engen sachlichen Zusammenhang (z.B. dieselbe Berufssparte, derselbe fachliche Bereich) zueinander stehen und in engem zeitlichen Zusammenhang durchgeführt werden. Hierfür ist auch erforderlich, dass aufgrund objektiver Beweisanzeichen erkennbar wird, dass das Kind die für sein angestrebtes Berufsziel erforderliche Ausbildung nicht bereits mit dem ersten erlangten Abschluss beendet hat (BFH, Urteil vom 03.07.2014 III R 52/13, BFHE 246, 427, BStBl. II 2015, 152, Rn. 30). Beginnt das Kind eine weitere Ausbildung erst nach einer zwischenzeitlichen Berufstätigkeit, die nicht der zeitlichen Überbrückung dient, weil es mit der weiterführenden Ausbildung früher hätte beginnen können, fehlt es an dem notwendigen engen Zusammenhang. Wird somit eine Berufstätigkeit zwischen den einzelnen Ausbildungsabschnitten aufgenommen, die nicht nur der zeitlichen Überbrückung bis zum Beginn der nächsten Ausbildung dient, können die einzelnen Ausbildungsabschnitte regelmäßig nicht mehr integrative Teile einer einheitlichen Ausbildung sein (BFH, Urteil vom 04.02.2016 III R 14/15, BFHE 253, 145, BStBl. II 2016, 615, Rn. 15; in diesem Sinne auch Niedersächsisches Finanzgericht, Urteil vom 17.10.2017 13 K 76/17, juris; vgl. auch Finanzgericht des Saarlandes, Urteil vom 15.02.2017 2 K 1290/16, Rn. 28 f., juris, Revision anhängig unter V R 13/17; ebenso FG Münster, Urteil vom 17. Januar 2018 3 K 2555/17 Kg, juris).
18
a) Im Streitfall stehen – unstreitig – die Ausbildungsabschnitte in der Berufsausbildung des Sohnes der Klägerin in einem engen sachlichen Zusammenhang (z.B. dieselbe Berufssparte, derselbe fachliche Bereich) zueinander. Der Ausbildung zum Industriemechaniker (Geselle) schloss sich unmittelbar seine Meisterausbildung in derselben Berufssparte mit dem Abschluss „Geprüfter Industriemeister – Fachrichtung Metall“ an. Die Weiterbildung „Geprüfter Technischer Betriebswirt“ baut darauf auf und ergänzt die Ausbildung neben technischen Aspekten um kaufmännische und Managementelemente. Zu den Zulassungsvoraussetzungen gehören u.a. eine mit Erfolg abgelegte Prüfung zum Industriemeister.
19
b) Der Sohn der Klägerin hat seine Berufsausbildung auch in engem zeitlichen Zusammenhang durchgeführt. Er hat nämlich – ebenfalls unstreitig – die zeitlich nächste Möglichkeit zum Beginn dieser weiteren (berufsbegleitenden) Qualifizierung ergriffen und den Lehrgang im April 2016 begonnen. Einen entsprechenden Lehrgang gab es dort zuvor nicht.
20
c) Es ist im Streitfall auch durch objektive Beweisanzeichen erkennbar geworden, dass der Sohn der Klägerin die für sein angestrebtes Berufsziel erforderliche Ausbildung nicht bereits mit den Abschlüssen als Industriemechaniker und Industriemeister beendet hatte. Der Sohn hat sich nämlich, wie der Bildungsträger unstreitig bestätigt hat, sich unmittelbar im Zusammenhang mit dem Abschluss als Industriemeister im Sommer 2015 umfassend über die später begonnene Aufstiegsfortbildung informiert und damit sein Interesse dokumentiert. Die sofortige Bewerbung nach der später angebotenen Informationsveranstaltung bei diesem Bildungsträger spiegelt dies ebenfalls wieder. Der Senat hat deshalb keinen Zweifel, dass der Sohn der Klägerin sein geplantes Berufsziel erst mit dem Abschluss des aktuell absolvierten Lehrgangs erreichen wird.
21
2. Entgegen der Rechtsansicht der Familienkasse bestand (und besteht zurzeit) keine gesetzliche Verpflichtung des Sohnes der Klägerin bereits im Juni/Juli 2015 – also unmittelbar nach dem Abschluss als Industriemeister – gegenüber der Familienkasse eine anspruchsbegründende Absichtserklärung, seine Berufsausbildung noch fortsetzen zu wollen, abzugeben. Es ist vielmehr für den Anspruch auf Kindergeld ausreichend, dass die wesentlichen Sachverhaltsumstände – wie hier – spätestens im Entscheidungszeitpunkt vollständig und glaubhaft dargelegt sind (ebenso FG Düsseldorf, Urteil vom 11. Januar 2018 9 K 994/17 Kg, juris, Revision anhängig unter III R 8/18).
22
Dabei kann dahinstehen, ob die DA-KG 2017 tatsächlich wie von der Familienkasse dahingehend verstanden werden kann, dass eine solche Absichtserklärung für einen Kindergeldanspruch konstitutiv sein soll. In der speziellen Verwaltungsanweisung zu mehraktigen Berufsausbildungen unter A 20.2.4 DA-KG 2017 unter Bezugnahme auf die dazu ergangene BFH-Rechtsprechung findet sich eine solche Einschränkung jedenfalls ausdrücklich nicht. Vor allem aber fehlt es an einer gesetzlichen Regelung, auf die sich die Familienkasse insoweit berufen könnte. Die Regelungen zum Kindergeld enthalten – auch nach dem Bekanntwerden der BFH-Rechtsprechung zur mehraktigen erstmaligen Berufsausbildung – keine Regelung, die im Sinne einer Ausschlussfrist die Kindergeldberechtigten bzw. deren Kinder verpflichtet, ihr Berufsziel zu einem bestimmten Zeitpunkt verbindlich festlegen und gegenüber der Familienkasse dokumentieren zu müssen. Ohne eine solche gesetzliche Regelung, die den Kindergeldanspruch einschränken würde, steht die Verwaltungsauffassung dem Anspruch auf Kindergeld nicht entgegen.
23
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
24
4. Die Revision wird gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO zugelassen, da eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs zur Fortbildung des Rechts angesichts der zu diesem Themenbereich bereits anhängigen Revisionsverfahren (u.a. III R 8/18) erforderlich ist.

Änderung von bestandskräftigen Einkommensteuerbescheiden nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO aufgrund nacherklärter Kapitaleinkünfte

Niedersächsisches Finanzgericht 3. Senat, Urteil vom 17.05.2017, 3 K 268/15, ECLI:DE:FGNI:2017:0517.3K268.15.00

§ 173 Abs 1 Nr 1 AO, § 173 Abs 1 Nr 2 AO, § 173 Abs 1 Nr 2 S 2 AO, § 2 Abs 6 S 1 EStG, § 32d Abs 1 EStG, § 32d Abs 3 EStG, § 32d Abs 6 EStG

TATBESTAND

1
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die bestandskräftigen Einkommensteuerbescheide für die Jahre 2010 bis 2012 aufgrund nacherklärter Kapitaleinkünfte geändert werden können, wenn die nachträgliche Anrechnung der damit in Zusammenhang stehenden einbehaltenen Kapitalertragsteuern zuzüglich Solidaritätszuschlags und ausländischer Quellensteuer nach der ZIV insgesamt zu Steuererstattungen führen.
2
Der Kläger erzielte in den Streitjahren neben geringfügigen Einkünften aus gewerblicher und freiberuflicher Tätigkeit auch Einkünfte aus Kapitalvermögen. In den eingereichten Einkommensteuererklärungen erklärte er
3
– für den Veranlagungszeitraum 2010 Kapitalerträge in Höhe von insgesamt 2.160 € nebst Kapitalertragsteuer in Höhe von 333,46 €, Solidaritätszuschlag in Höhe von 18,27 € und angerechnete ausländische Steuern in Höhe von 6,40 €,
4
– für den Veranlagungszeitraum 2011 Kapitalerträge in Höhe von insgesamt 2.160 € nebst Kapitalertragsteuer in Höhe von 501,21 €, Solidaritätszuschlag in Höhe von 27,54 € und angerechnete ausländische Steuern in Höhe von 6,64 €,
5
– für den Veranlagungszeitraum 2012 Kapitalerträge in Höhe von insgesamt 5.109 € nebst Kapitalertragsteuer in Höhe von 1.071,04 €, Solidaritätszuschlag in Höhe von 58,84 € und angerechnete ausländische Steuern in Höhe von 6,02 €
6
und beantragte jeweils die Durchführung der Günstigerprüfung nach § 32d Abs. 6 EStG.
7
Die Anwendung der Günstigerprüfung führte in den Streitjahren durch die Hinzurechnung der Kapitaleinkünfte zu den übrigen Einkünften und der Unterwerfung unter die tarifliche Einkommensteuer zu einer niedrigeren Einkommensteuer einschließlich Zuschlagsteuern, da insgesamt der steuerliche Grundfreibetrag in den Streitjahren auch unter Einbeziehung der Einkünfte aus Kapitalvermögen nicht überschritten wurde.
8
Mit den Bescheiden für die Streitjahre 2010 bis 2012 über Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag vom 26.01.2012, 28.02.2013 und 05.03.2014 unterwarf der Beklagte daher die Kapitaleinkünfte der tariflichen Einkommensteuer und setzte die Einkommensteuer und den Solidaritätszuschlag jeweils mit 0 € fest. Dies führte in den Streitjahren zur Erstattung der anrechenbaren Kapitalertragsteuer und des Solidaritätszuschlags in voller Höhe.
9
Nach Eintritt der Bestandskraft der streitgegenständlichen Einkommensteuerbescheide für die Streitjahre erklärte der Kläger mit Schreiben vom 10.12.2014 gegenüber dem beklagten
Finanzamt unter anderem für diese Streitjahre – die nachfolgend dargestellten – bisher nicht erklärten Kapitalerträge, die teilweise dem inländischen Steuerabzug und teilweise nicht dem inländischen Steuerabzug unterlegen haben, nach. Unter Beifügung der insoweit geänderten Anlagen KAP und unter Vorlage der Original-Steuerbescheinigungen beantragte der Kläger die Verrechnung der anrechenbaren Steuerabzugsbeträge (Kapitalertragsteuer, Solidaritätszuschlag und anzurechnende Quellensteuern nach der ZIV) mit der persönlichen Einkommensteuer.
10
Zeile VZ 2010 VZ 2011
7 Kapitalerträge, die dem inländischen Steuerabzug unterlegen haben 4.668,67 € 8.335,13 €
15 Kapitalerträge, die nicht dem inländischen Steuerabzug unterlegen haben 7.384,44 € 6.783,15 €
16 In Zeile 15 enthaltene Gewinne aus der Veräußerung von Kapitalanlagen 1.620,41 €  
17 In Zeile 16 enthaltene Gewinne aus Aktienveräußerungen 1.620,03 €  
49 Kapitalertragsteuer 1.165,30 € 2.081,99 €
50 Solidaritätszuschlag 62,03 € 114,44 €
52 Angerechnete ausländische Steuern 1,88 € 1,83 €
53 Anrechenbare noch nicht angerechnete ausländische Steuern 91,49 € 106,80 €
58 Anzurechnende Quellensteuern nach der ZIV 972,36 € 1.847,34 €
11
Zeile VZ 2012
7 Kapitalerträge, die dem inländischen Steuerabzug unterlegen haben 8.260,21 €
16 Inländische Kapitalerträge, die nicht dem inländischen Steuerabzug unterlegen haben – 1.633,20 €
17 Ausländische Kapitalerträge, die nicht dem inländischen Steuerabzug unterlegen haben 4.514,50 €
18 In den Zeilen 16 und 17 enthaltene Gewinne aus der Veräußerung von Kapitalanlagen 176,66 €
19 In Zeile 18 enthaltene Gewinne aus Aktienveräußerungen 176,66 €
20 In den Zeilen 16 und 17 enthaltene Verluste ohne Verluste aus der Veräußerung von Aktien 6.334,88 €
50 Kapitalertragsteuer 2.065,10 €
51 Solidaritätszuschlag 113,51 €
54 Anrechenbare noch nicht angerechnete ausländische Steuern 141,10 €
59 Anzurechnende Quellensteuern nach der ZIV 2.770,00 €
12
Der Beklagte lehnte die Änderung der bestandskräftigen Einkommensteuerfestsetzungen für die Streitjahre mit der Begründung ab, dass eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht möglich sei, da die nacherklärten Kapitalerträge in den Streitjahren insgesamt zu einer Steuererstattung führen würden. Zwar würde sich die in den Streitjahren bisher festgesetzte Einkommensteuer von jeweils 0 € auf 1.486 € für den Veranlagungszeitraum 2010, 2.467 € für den Veranlagungszeitraum 2011 (Solidaritätszuschlag 85,63 €) und 1.891 € für den Veranlagungszeitraum 2012 (Solidaritätszuschlag 8,20 €) erhöhen. Zur Anwendung von § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO müsse sich die Position des Steuerpflichtigen aber insgesamt gesehen verschlechtern. Dabei seien auch die anrechenbaren Steuerabzugsbeträge zu berücksichtigen. Hiernach ergäbe sich unter Anrechnung der Kapitalertragsteuer, des Solidaritätszuschlags sowie der anrechenbaren ausländischen Quellensteuer nach der ZIV und der bereits aufgrund der bisherigen Steuerfestsetzung ausgezahlten Beträge
13
– für den Veranlagungszeitraum 2010 eine Einkommensteuererstattung in Höhe von 653,00 € nebst Solidaritätszuschlag in Höhe von 64,03 € sowie Erstattungszinsen in Höhe von 176 €;
14
– für den Veranlagungszeitraum 2011 eine Einkommensteuererstattung in Höhe von 1.463 € nebst Solidaritätszuschlag in Höhe von 28,81 € sowie Erstattungszinsen in Höhe von 305 € und
15
– für den Veranlagungszeitraum 2012 eine Einkommensteuererstattung in Höhe von 2.945 € nebst Solidaritätszuschlag in Höhe von 105,31 € sowie Erstattungszinsen in Höhe von 435 €.
16
Eine Änderung der Einkommensteuerbescheide komme auch nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO nicht in Betracht, da dem Kläger ein grobes Verschulden am nachträglichen Bekanntwerden der Kapitelerträge träfe.
17
Hiergegen wendet sich der Kläger nach erfolglosem Einspruchsverfahren mit seiner am 3. September 2015 erhobenen Klage und verfolgt sein Änderungsbegehren weiter.
18
Der Kläger beantragt,
19
unter Aufhebung des Bescheids über die Ablehnung der Änderungsanträge hinsichtlich der Einkommensteuerbescheide 2010 bis 2012 vom 12. März 2015 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 6. August 2015, den Einkommensteuerbescheid 2010 vom 26. Januar 2012 dahingehend zu ändern, dass die Einkommensteuer auf 1.486,00 € festgesetzt wird, den Einkommensteuerbescheid 2011 vom 28. Februar 2013 dahingehend zu ändern, dass die Einkommensteuer auf 2.467,00 € festgesetzt wird und den Einkommensteuerbescheid 2012 vom 5. März 2014 dahingehend zu ändern, dass die Einkommensteuer auf 1.891,00 € festgesetzt wird.
20
Der Beklagte beantragt,
21
die Klage abzuweisen.

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE

22
I. Die Klage ist unter Berücksichtigung von anrechenbaren Steuerabzugsbeträgen trotz höherer Steuerfestsetzung zulässig.
23
Zwar ist eine Klage grundsätzlich unzulässig, wenn sie auf Festsetzung einer höheren Einkommensteuer zielt. Soweit mit der Klage eine Besserstellung gegenüber der bisherigen Einkommensteuerfestsetzung mittels Anrechnung von Steuerabzugsbeträgen begehrt wird, ist sie auch insoweit unzulässig. Die Anrechnung ist Teil des Steuererhebungsverfahrens und wird durch einen selbständigen Verwaltungsakt (Anrechnungsverfügung oder Abrechnungs-bescheid) herbeigeführt. Die Anrechnung von Steuerabzugsbeträgen kann daher nicht mit einer Änderung der Einkommensteuerfestsetzung erreicht werden.
24
Gleichwohl ist die Klage zulässig, da auch eine zu niedrige Steuerfestsetzung eine Beschwer auslösen kann, wenn die Festsetzung sich in bindender Weise auf einem anderen rechtlichen Gebiet ungünstig auswirkt, weil der Regelungsgehalt des Steuerbescheids ausnahmsweise über die bloße Steuerfestsetzung hinausreicht. So verhält es sich im Streitfall, da nach § 36 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) die durch Steuerabzug erhobene Einkommensteuer auf die Einkommensteuerschuld nur angerechnet wird, soweit sie auf die bei der Veranlagung erfassten Einkünfte entfällt und nicht die Erstattung beantragt oder durchgeführt worden ist (BFH-Beschluss vom 24. August 2009 VII B 42/09, BFH/NV 2009, 198). Die Vorschrift stellt damit eine inhaltliche Verknüpfung zwischen Steuerfestsetzungs- und Steuererhebungsverfahren her, indem die im Wege des Steuerabzugs erhobene
Einkommensteuer nur angerechnet wird, „soweit sie auf die bei der Veranlagung erfassten Einkünfte … entfällt“. Die begehrte höhere Anrechnung von Steuerabzugsbeträgen ist deshalb nur möglich, wenn zunächst die nacherklärten Kapitalerträge vollständig in die Veranlagung einbezogen werden (zu alledem BFH-Urteil vom 17. Juni 2009 VI R 46/07, BStBl. II 2010, 72).
25
II. Die Klage ist auch begründet.
26
Das beklagte Finanzamt hat die vom Kläger auf § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO gestützte Änderung der bestandskräftigen Einkommensteuerbescheide für die Streitjahre 2010 bis 2012 zu
Unrecht abgelehnt.
27
Nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO sind bestandskräftige Steuerbescheide zu ändern, soweit Tatsachen nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass diese Tatsachen erst nachträglich
bekannt werden.
28
Die streitgegenständlichen Einkommensteuerbescheide für die Streitjahre 2010 bis 2012 sind bestandskräftig. Nach Eintritt der Bestandskraft ist dem beklagten Finanzamt aufgrund der Mitteilung des Klägers vom 10. Dezember 2014 nachträglich bekannt geworden, dass der Kläger über – die bisher berücksichtigten Kapitalerträge hinaus – noch weitere Kapitalerträge erzielte.
29
Bei der Prüfung, ob eine nachträglich bekannt gewordene Tatsache im Sinne des § 173 Abs. 1 AO zu einer höheren (§ 173 Abs. 1 Nr. 1 AO) oder niedrigeren (§ 173 Abs. 1 Nr. 2 AO) Steuer führt, sind Steueranrechnungsbeträge grundsätzlich unbeachtlich. Nach dem Wortlaut der Vorschrift kann nur aus einem Vergleich der ursprünglichen mit der beabsichtigten Steuerfestsetzung abgeleitet werden, ob die beabsichtigte Änderung zu einer höheren oder niedrigeren Steuer führt (vgl. hierzu BFH-Urteil vom 16. März 1990 VI R 90/86, BStBl. II 1990, 610).
30
Werden jedoch nach bestandskräftig durchgeführter Steuerfestsetzung bisher nicht erklärte, dem Steuerabzug unterworfene Kapitalerträge nachträglich bekannt und wird in diesem Zusammenhang erstmals ein Antrag auf Günstigerprüfung nach § 32d Abs. 6 EStG gestellt, so ist für die Frage, ob die nachträglich bekanntgewordenen Tatsachen nach § 173 Abs. 1 AO zu einer höheren oder niedrigeren Steuer führen, eine Gesamtbetrachtung unter Einbeziehung des Ergebnisses nach der Günstigerprüfung durchzuführen. Nach Auffassung des Bundesfinanzhofs kann der zeitlich unbefristete Antrag auf Günstigerprüfung nach der Unanfechtbarkeit eines Einkommensteuerbescheids nur dann zu einer Änderung der Einkommensteuerfestsetzung führen, wenn die Voraussetzungen einer Änderungsvorschrift erfüllt sind. Für den Fall, dass nachträglich bekannt gewordenen Kapitalerträge zwar zu einer höheren festgesetzten Steuer führen und sich der Vorteil für den Steuerpflichtigen erst aus der Anrechnung der einbehaltenen Steuerabzugsbeträge ergibt, ist daher aufgrund der anzustellenden Gesamtbetrachtung auch die mit Abgeltungssteuerwirkung einbehaltene Kapitalertragsteuer einzubeziehen, so dass in diesen Fällen als Rechtsgrundlage für die Korrektur der Einkommensteuerfestsetzung § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO einschlägig ist. Dies folgt aus der für die Günstigerprüfung vorzunehmenden Gesamtbetrachtung zwischen Abgeltungsteuer und der Einbeziehung in die tarifliche Besteuerung, die auch hinsichtlich der Frage, ob die nachträglich bekannt gewordene Tatsache der Erzielung von Kapitaleinkünften nach § 173 Abs. 1 AO zu einer höheren (Nr. 1) oder niedrigeren Steuer (Nr. 2) führt, nicht unberücksichtigt bleiben kann. Daher ist Vergleichsmaßstab aufgrund der mit der Einführung des gesonderten Tarifs für Kapitaleinkünfte als Schedule verbundenen Besonderheiten in diesem Fall nicht allein die im zu ändernden Einkommensteuerbescheid festgesetzte Steuer, sondern vielmehr ist auch die durch den Steuerabzug abgegoltene Einkommensteuer zu berücksichtigen (zu alledem BFH-Urteil vom 12. Mai 2015 VIII R 14/13, BStBl. II 2015, 806).
31
Diese Grundsätze sind im Streitfall auch ungeachtet dessen anzuwenden, dass der Kläger bereits mit seinen Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre einen Antrag auf Günstigerprüfung gestellt hat. Einerseits kann der Antrag gem. § 32d Abs. 6 S. 3 EStG für den jeweiligen Veranlagungszeitraum nur einheitlich für sämtliche Kapitalerträge gestellt werden und andererseits gilt der Antrag auf Günstigerprüfung als nicht gestellt, wenn nach der Günstigerprüfung die Kapitaleinkünfte unter Berücksichtigung des individuellen Steuersatzes insgesamt gesehen (also unter Berücksichtigung sämtlicher Kapitalerträge und sämtlichen anrechenbaren Steuerabzugsabzugsbeträgen) für den Steuerpflichtigen ungünstiger ist. Demnach bleibt es auch im Streitfall bei der anzustellenden Gesamtbetrachtung. Diese Verknüpfung entfällt nicht deshalb, weil bereits im Rahmen bestandskräftiger Einkommensteuerbescheide die Günstigerprüfung für den Steuerpflichtigen zu günstigeren Ergebnissen führte.
32
Den Kläger trifft ein grobes Verschulden am nachträglichen Bekanntwerden der nacherklärten Kapitalerträge. Dieses Verschulden ist aber gem. § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 AO unbeachtlich.
33
Ein Verschulden ist hiernach unbeachtlich, wenn die Tatsachen im Sinne des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO in einem unmittelbaren oder mittelbaren sachlichen Zusammenhang mit Tatsachen im Sinne des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO stehen. Ein derartiger unmittelbarer oder mittelbarer Zusammenhang ist gegeben, wenn eine zu einer höheren Besteuerung führende Tatsache die zu einer Steuerermäßigung führende Tatsache ursächlich bedingt, so dass der steuererhöhende Vorgang nicht ohne den steuermindernden Vorgang denkbar ist (vgl. BFH-Urteil vom 28. März 1985 IV R 159/82, BStBl. II 1986, 120). Dies gilt auch, wenn sich ein und dieselbe Tatsache sowohl zu Gunsten wie zu Ungunsten des Steuerpflichtigen auswirken (vgl. von Wedelstädt in: Beermann/Gosch, AO/FGO, § 173 AO, Rn. 107 und von Groll in H/H/Sp, AO/FGO, § 173 AO, Rn. 303; Berndt, DStR 1992, 1005).
34
Ein solch ursächlicher Zusammenhang besteht zwischen den nacherklärten Kapitalerträgen, die erst aufgrund der Günstigerprüfung zu einer niedrigeren Steuer führen, und den darin enthaltenen Kapitalerträgen, die bisher noch nicht dem inländischen Steuerabzug unterworfen wurden. Soweit neben den Kapitalerträgen mit inländischem Steuerabzug auch solche Kapitalerträge nacherklärt wurden, die bisher noch nicht der Kapitalertragsteuer unterlegen haben, ist die Einkommensteuer insoweit nicht mit dem Kapitalertragsteuerabzug nach § 43 Abs. 5 Satz 1 EStG abgegolten. Vor diesem Hintergrund ist der Steuerpflichtige zur Festsetzung der hierauf nach § 32d Abs. 1 EStG zu ermittelnden Steuer verpflichtet, solche Kapitalerträge gem. § 32d Abs. 3 EStG in seiner Einkommensteuererklärung anzugeben. Insoweit erhöht sich einerseits gem. § 2 Abs. 6 Satz 1 EStG die tarifliche Einkommensteuer und andererseits die festzusetzende Einkommensteuer um den nach § 32d Abs. 1 EStG ermittelten Betrag.
35
Somit stellen Kapitalerträge, die nicht dem inländischen Kapitalertragsteuerabzug unterworfen wurden, grundsätzlich steuererhöhende Tatsachen im Sinne des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO dar; unabhängig davon, ob zugleich auch ein Antrag auf Günstigerprüfung für sämtliche Kapitalerträge beantragt wird und sich hierdurch im Ergebnis – wie im Streitfall – eine Änderung zu Gunsten des Klägers ergibt. Denn die Günstigerprüfung zählt als Verfahrenshandlung nicht als eine Tatsache im Sinne des § 173 Abs. 1 AO.
36
Da es hierfür auch an der durch die Günstigerprüfung bewirkte Verknüpfung von Festsetzungs- und Erhebungsverfahrens fehlt und insoweit keine Gesamtbetrachtung vorzunehmen ist, kann im Streitfall auch dahinstehen, ob die Berücksichtigung der anzurechnenden Quellensteuer nach der ZIV gem. § 14 ZIV i.V.m. § 36 EStG im Streitfall zu einer Steuererstattung; mithin einer Änderung zu Gunsten des Klägers kommt.
37
Die Tatsachen nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 AO werden auch nicht gegeneinander gewichtet, so dass eine in ihrer finanziellen Auswirkung geringfügige Tatsache zu einer beträchtlichen Steuererstattung führen kann (vgl. BFH-Urteil vom 2. August 1983 VIII R 190/80 BStBl. 1984, 4).
38
II. Gründe für die Zulassung der Revision (§ 115 Abs. 2 FGO) liegen nicht vor. Die Entscheidung beruht auf einer Würdigung der Umstände des Einzelfalls.
39
III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 151 Abs. 3 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung (ZPO).

Ordnungsmäßigkeit einer Rechtsbehelfsbelehrung

Niedersächsisches Finanzgericht 1. Senat, Urteil vom 17.04.2018, 1 K 233/17, ECLI:DE:FGNI:2018:0417.1K233.17.00

§ 110 Abs 1 AO, § 356 AO

TATBESTAND

1
Streitig ist, ob ein Einspruch zutreffend wegen Fristversäumnis als unzulässig verworfen wurde.
2
Der Kläger ist Vater dreier Töchter, für die er seit deren Geburt Kindergeld erhielt. Er ist Arzt. In den Monaten Mai bis Oktober ist er seit mehreren Jahren als selbständiger Arzt im Ausland tätig.
3
Mit Bescheid vom 3. Juli 2017 hob die Beklagte die Festsetzung des Kindergeldes für die Kinder ab November 2010 auf und forderte die Rückzahlung des für den Zeitraum November 2010 bis April 2017 gezahlten Kindergeldes.
4
Die Rechtsbehelfsbelehrung zu diesem Bescheid lautete auszugsweise wie folgt:
5
„(…) Der Einspruch ist bei der Familienkasse mit Sitz in X-Stadt schriftlich einzureichen, dieser elektronisch zu übermitteln oder dort zur Niederschrift zu erklären.(…) Bei Zusendung durch einfachen Brief oder Zustellung mittels Einschreiben durch Übergabe gilt die Bekanntgabe mit dem dritten Tag nach Aufgabe zur Post bzw. bei Übermittlung im Ausland einen Monat nach Aufgabe zur Post als bewirkt, es sei denn, dass der Bescheid zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. (…)“
6
Auf der ersten Seite des Bescheides ist als Postanschrift „Familienkasse, PLZ X-Stadt“ aufgeführt. Darunter steht unter Besuchsadresse „A-Straße 5, Y-Stadt“.
7
Gegen den Bescheid vom 3. Juli 2017 erhob der Kläger mit Schriftsatz seiner Prozessbevollmächtigten vom 18. August 2017 Einspruch und beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
8
Der Kläger verwies im Einspruch darauf, dass er urlaubsbedingt und aufgrund Aufenthaltes im Ausland erst zu dem Zeitpunkt einer Reise nach Y-Stadt am 17. August 2017 Kenntnis vom Aufhebungsbescheid erhalten habe. Die Rechtsbehelfsbelehrung des Bescheides vom 3. Juli 2017 würde zudem den gesetzlichen Anforderungen nicht genügen. Es sei nicht vermerkt, dass die Bekanntgabefiktion nach § 122 Abs. 2 Abgabenordnung (AO) dann nicht greife, wenn der Verwaltungsakt nicht zugegangen sei. Die Rechtsbehelfsbelehrung enthalte im weiteren zwar den Hinweis, dass der Einspruch auch zur Niederschrift erklärt werden könne. Unter der im Bescheid angegebenen postalischen Anschrift der Familienkasse in X-Stadt sei eine Einlegung des Widerspruchs durch Erklärung zur Niederschrift mangels Angabe einer Straße und Hausnummer jedoch nicht möglich. Zwar sei im Bescheid eine Besuchsadresse in Y-Stadt angegeben. In der Rechtsbehelfsbelehrung werde die Einlegung des Widerspruchs mittels Erklärung zur Niederschrift jedoch bei der Familienkasse in X-Stadt gefordert.
9
Mit einem weiteren Schriftsatz vom 28. August 2017 begründete der Kläger den Wiedereinsetzungsantrag. Er habe seine Wohnung in Y-Stadt, an die der streitige Bescheid gesandt wurde, letztmalig am 7. Mai 2017 aufgesucht. In der nachfolgenden Zeit bis zum 16. August 2017 habe der Kläger seine Wohnung deshalb nicht aufsuchen können, da er aufgrund der Arbeitsbelastung an seinem Arbeitsort auf Mallorca diesen nicht hätte verlassen können. Der Umstand der Abwesenheit des Klägers sei der Familienkasse aufgrund entsprechender Angaben des Klägers im Antragsverfahren wegen Kindergeld bekannt gewesen. Er habe auch die Anhörung vor dem Aufhebungsbescheid nicht erhalten und deswegen keine Veranlassung gehabt, in kürzeren Intervallen seine Wohnung in Y-Stadt aufzusuchen.
10
Mit Einspruchsentscheidung vom 6. September 2017 verwarf die Beklagte den Einspruch als unzulässig. Der Einspruch sei nicht fristgemäß erhoben worden und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand könne nicht gewährt werden.
11
Mit der Klage begehrt der Kläger die Aufhebung der Einspruchsentscheidung.
12
Der Einspruch sei nicht verspätet erhoben worden. Die Rechtsbehelfsbelehrung sei nicht ordnungsgemäß, deshalb würde die Jahresfrist gem. § 356 Abs. 2 AO gelten. In der Rechtsbehelfsbelehrung sei die Angabe der vollen postalischen Anschrift erforderlich. Daran würde der streitige Bescheid mangeln. Insbesondere hätte der Kläger die ihm zustehende Möglichkeit der Einlegung des Einspruchs durch Erklärung zur Niederschrift nicht nutzen können, da er die Behörde Familienkasse mit Sitz in X-Stadt nicht kannte. Diese hätte er nie angeschrieben und von dort auch zu keinem Zeitpunkt schriftliche Korrespondenz erhalten. Die angegebene Besucheradresse in Y-Stadt vermöge die postalische Anschrift zur Erklärung des Einspruchs zur Niederschrift nicht zu ersetzen, da in der Rechtsbehelfsbelehrung ausdrücklich die Einlegung in X-Stadt gefordert werde.
13
Der Wiedereinsetzungsantrag sei begründet. Er habe erst nach Ablauf der einmonatigen Einspruchsfrist überhaupt Kenntnis von dem Bescheid erhalten und einen rechtzeitigen Einspruch daher auch nicht einlegen können. Hierzu wiederholt er sein Vorbringen aus der Einspruchsbegründung. Üblicherweise hätte er in den Jahren zuvor die Wohnung in Y-Stadt Ende Juni oder Anfang Juli aufgesucht. Dies sei ihm im Streitjahr jedoch nicht möglich gewesen, da sein Arbeitsort sein Verlassen nicht gestattet hätte und eine Anreise über den Flughafen Hamburg wegen des G 20-Gipfels zu unsicher gewesen sei.
14
Die Beklagte habe sich jedenfalls treuwidrig verhalten, wenn sie gerade in Kenntnis des Umstandes des Auslandsaufenthalts des Klägers die Bekanntgabe des Bescheides zu einem Zeitpunkt veranlasste, zu dem er dem Adressaten nicht zur Kenntnis gelangen konnte. Es sei zu berücksichtigen, dass der Beklagten der Auslandsaufenthalt des Klägers aufgrund der von ihm zuvor gemachten Angaben bekannt gewesen sei. Hierauf habe er bereits mit Schreiben vom 9. Oktober 2007 und auch in den Folgejahren mehrfach hingewiesen.
15
Der Kläger beantragt,
16
die Einspruchsentscheidung des Beklagten vom 6. September 2017 aufzuheben,
17
hilfsweise für den Fall, dass das Gericht die isolierte Anfechtungsklage für unzulässig hält, den Bescheid der Beklagten vom 3. Juli 2017 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 6. September 2017 aufzuheben.
18
Die Beklagte beantragt,
19
die Klage abzuweisen.
20
Der angefochtene Bescheid sei mit einer ordnungsgemäßen Rechtsmittelbelehrung versehen. Wiedereinsetzungsgründe lägen nicht vor. Auch die geltend gemachte Arbeitsüberlastung sei kein hinreichender Wiedereinsetzungsgrund.
21
Auf den Inhalt der Kindergeldakte (bis Blatt 92) und die gewechselten Schriftsätze der Beteiligten wird Bezug genommen.
22
Die Beteiligten haben übereinstimmend auf eine mündliche Verhandlung verzichtet.

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE

23
I. Die Klage hat keinen Erfolg.
24
1. Die Klage ist im Hauptantrag mit ihrem eingeschränkten Antrag auf Aufhebung der Einspruchsentscheidung zulässig.
25
Gegenstand der Anfechtungsklage nach einem Vorverfahren ist nach § 44 Abs 2 Finanzgerichtsordnung (FGO) zwar grundsätzlich der ursprüngliche Verwaltungsakt in der Gestalt, die er durch die Entscheidung im Vorverfahren gefunden hat. Der Bundesfinanzhof (BFH) hat aber bereits in seinem Urteil vom 18. Oktober 1972 II R 110/69 (BFHE 107, 409, BStBl II 1973, 187) anerkannt, dass es Fälle gibt, in denen der Kläger ein berechtigtes Interesse daran haben kann, dass durch Kassation einer verfahrensfehlerhaften Einspruchsentscheidung der Weg für die im Einspruchsverfahren begehrte sachliche Nachprüfung des ursprünglichen Verwaltungsaktes wieder eröffnet wird (vgl auch BFH-Urteil vom 4. September 1959 III 286/57 U, BFHE 69, 569, BStBl 3 1959, 472, von Beckerath in Beermann/Gosch, AO/FGO, 1. Aufl. 1995, 136. Lieferung, § 44 FGO, Rz 187 m.w.N.). Der BFH hat dies insbesondere damit begründet, dass es einem berechtigten Interesse des Steuerpflichtigen entspreche, nicht infolge eines Verfahrensfehlers des Beklagten eine außergerichtliche Tatsacheninstanz zu verlieren. Dies liegt insbesondere vor, wenn ein Einspruch zu Unrecht als unzulässig verworfen wurde (vgl. Gräber/Levedag, FGO, 8. Auflage 2015 Rz 45 f.)
26
Danach ist die Klage zulässig, da die Beklagte den Einspruch des Klägers ohne sachliche Prüfung als unzulässig verworfen hat.
27
2. Die Klage ist in ihrem Hauptantrag nicht begründet.
28
Die Einspruchsentscheidung ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Die Beklagte hat den Einspruch des Klägers vom 18. August 2017 zu Recht als unzulässig verworfen, weil er verspätet erhoben wurde.
29
a) Der Einspruch wurde verspätet erhoben.
30
Gem. § 355 AO ist ein Einspruch nach § 347 Abs. 1 Satz 1 AO innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts einzulegen.
31
Der Kläger hat die Frist für die Einlegung des Einspruchs versäumt. Nach § 122 Abs.2 Nr.1 AO gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt, der, wie im vorliegenden Fall, durch die Post übermittelt worden ist, am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als zugegangen. Diese Vermutung gilt nur dann nicht, wenn der Verwaltungsakt tatsächlich nicht oder verspätet zugegangen ist. Bestehen insoweit Zweifel, muss die Behörde den Zugang und den Zeitpunkt des Zugangs nachweisen (BFH-Beschluss vom 21. Januar 1992 VII B 234/91, BFH/NV 1992, 578).
32
Der Bescheid vom 3. Juli 2017 wurde von der Beklagten spätestens am 4. Juli 2017 abgesandt, wie es der Poststempel auf dem vom Kläger übersandten Briefumschlag zeigt.
33
Nach der Zugangsvermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO gilt der Bescheid der Beklagten dem Kläger am 7. Juli 2017 als bekannt gegeben. Die Einspruchsfrist begann damit am 8. Juli 2017 zu laufen und endete mit Ablauf des 7. August 2017. Der am 18. August 2017 vom Kläger erhobene Einspruch war damit verspätet.
34
b) Die Einspruchsfrist ist auch nicht gemäß § 356 Abs. 2 Satz 1 AO auf ein Jahr seit Bekanntgabe des Bescheides verlängert worden, da die Rechtsbehelfsbelehrung des Bescheides vom 3. Juli 2017 vollständig und richtig erteilt worden ist.
35
Die Rechtsbehelfsbelehrung muss dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf wirkungsvollen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes – GG -; Art. 19 Abs. 4 GG) Rechnung tragen, soll aber auch so einfach und klar wie möglich sein (BFH-Urteil vom 7. März 2006 X R 18/05, BFHE 212, 407, BStBl II 2006, 455). Unrichtig ist eine Belehrung daher erst dann, wenn sie in wesentlichen Aussagen unzutreffend oder derart unvollständig oder missverständlich gefasst ist, dass hierdurch bei objektiver Betrachtung die Möglichkeit zur Fristwahrung gefährdet erscheint (BFH-Urteil vom 29. Juli 1998 X R 3/96, BFHE 186, 324, BStBl II 1998, 742; BFH-Beschluss vom 9. November 2009 IV B 54/09, BFH/NV 2010, 448, jeweils m.w.N. und BFH-Urteil vom 20. November 2013 X R 2/12 BFHE 243, 158, BStBl II 2014, 236). Nach der Rechtsprechung des BFH ist die Rechtsbehelfsbelehrung richtig und vollständig, wenn sie den Wortlaut des § 357 Abs. 1 AO wiedergibt (vgl. BFH-Beschlüsse vom 2. Februar 2010 III B 20/09 BFH/NV 2010, 830 und vom 12. Dezember 2012 I B 127/12, BFHE 239, 25, BStBl II 2013, 272 und BFH-Urteil vom 20. November 2013 X R 2/12, BFHE 243, 158, BStBl II 2014, 236).
36
Gem. § 356 Abs. 1 AO muss der Beteiligte neben der einzuhaltenden Frist und der Form des Einspruchs auch über den Sitz der Finanzbehörde (in diesem Fall der Familienkasse), bei der der Einspruch einzulegen ist, belehrt werden. Nach der Rechtsprechung des BFH folgt daraus, dass eine ordnungsgemäße Rechtsbehelfsbelehrung die Behörde und deren Sitz so genau bezeichnen muss, dass der Rechtsbehelf dort fristgerecht angebracht werden kann (BFH-Urteil vom 20. Februar 1976 VI R 150/73, BFHE 118, 417, BStBl II 19 76, 477). Zwar ist diese Rechtsprechung noch zu der alten Norm des § 232 Abs. 1 Satz 1 AO 1931 (Reichsabgabenordnung) ergangen. Der Anwendung dieser Rechtsprechung stehen jedoch keine Bedenken entgegen (vgl. BFH-Beschluss vom 7. Dezember 1994 I B 68/94, BFH/NV 1995, 849). Der Wortlaut des heutigen § 356 Abs. 1 AO entspricht nahezu wortgleich der vorherigen Regelung in § 237 Abs. 1 Satz 1 AO 1931. Jedenfalls wird in beiden Normen nur die Angabe des Sitzes der Behörde verlangt. Die Angaben von Straße und Hausnummer in der Rechtsbehelfsbelehrung sind ausdrücklich nicht vorgeschrieben.
37
Als Sitz der Behörde ist der geographische Ort anzugeben, an dem die Behörde räumlich untergebracht ist (BFH-Urteil vom 20. Februar 1976 VI R 51/73, a.a.O; Siegers in Hübschmann/Hepp/Spitaler – HHSp – AO/FGO, § 356 AO Rz 23).
38
In der Literatur wird teilweise die Auffassung vertreten, es sei die Angabe der vollen postalischen Anschrift erforderlich (König/Cöster, AO, 3. Auflage, § 356 Rz 13). Allerdings reicht es auch nach dieser Ansicht aus, wenn sich die Anschrift aus dem Verwaltungsakt selbst ergibt (vgl. König/Cöster a.a.O., Siegers in HHSp, a.a.O. m.w.N.).
39
Unter Berücksichtigung dieser Anforderungen ist die Rechtsbehelfsbelehrung im Bescheid vom 3. Juli 2017 nicht fehlerhaft. Insbesondere wurde die Behörde, bei der der Einspruch einzulegen ist, mit der Angabe Familienkasse mit Sitz in X-Stadt ausreichend bezeichnet.
40
Ungeachtet dessen, dass die Rechtsbehelfsbelehrung Straße und Hausnummer der Beklagten nicht ausweisen musste, ergibt sich die Hausanschrift aus dem Bescheid an sich. Dort ist auf Seite eins zunächst oben rechts vermerkt, dass Absender des Bescheides die Familienkasse ist. In der Fußzeile auf Seite eins des Bescheides ist unter Postanschrift zwar eine Adresse in X-Stadt ohne Straße und Hausnummer angegeben. Darunter wird jedoch als Besuchsadresse A-Straße 5 in Y-Stadt aufgeführt. Aus dem direkten beieinander von Postanschrift und Besucheradresse ergibt sich für den objektiven Betrachter des Briefkopfes ohne Zweifel, dass sich beide Angaben auf die den Bescheid erlassene Behörde – die Familienkasse – beziehen. Es ist für jedermann erkennbar, dass diese Behörde persönlich in Y-Stadt in der A-Straße 5 aufgesucht werden kann. Dies wird insbesondere dadurch unterstützt, dass in der Fußzeile auf der rechten Seite auch noch die Öffnungszeiten angegeben sind. Diese können sich denklogisch nur auf die Besucheradresse und nicht auf die Postanschrift beziehen, da die Postanschrift eben keine Straße und Hausnummer enthält. Aus dem Bescheid ergibt sich somit, dass die Möglichkeit besteht, bei der Familienkasse, die den Sitz in X-Stadt hat, jedoch in der A-Straße 5 in Y-Stadt besucht werden kann, persönlich zu erscheinen und den Einspruch zur Niederschrift zu erklären.
41
Dies alles war dem Kläger auch bekannt. Bereits am 9. Oktober 2007 und am 21. November 2007 hat er Schriftsätze an die Familienkasse unter der Anschrift A-Straße 5, PLZ Y-Stadt gesandt. Dies ist die Adresse, unter der er auch persönlich zur Erklärung des Einspruchs hätte erscheinen können.
42
Die Rechtsbehelfsbelehrung enthält auch keine sonstigen Mängel. Insbesondere muss sie keinen Hinweis darauf erhalten, dass eine Bekanntgabefiktion dann nicht greife, wenn der Bescheid tatsächlich nicht zugegangen sei. Wie bereits ausgeführt, soll die Rechtsbehelfsbelehrung so klar und einfach wie möglich gefasst sein. Es ist nicht nötig, dass sie jede denkbare rechtliche Alternative abbildet. Ein Adressat, dem der Bescheid tatsächlich nicht zugegangen ist, würde auch von der Rechtsbehelfsbelehrung keine Kenntnis erhalten.
43
2. Dem Kläger war keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
44
Wiedereinsetzung ist gemäß § 110 Abs. 1 Satz 1 AO zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden an der Einhaltung einer gesetzlichen Frist gehindert war. Dies setzt in formeller Hinsicht voraus, dass innerhalb einer Frist von einem Monat nach Wegfall des Hindernisses die versäumte Rechtshandlung nachgeholt und diejenigen Tatsachen vorgetragen und im Verfahren über den Antrag glaubhaft gemacht werden, aus denen sich die schuldlose Verhinderung ergeben soll. Die Tatsachen, die eine Wiedereinsetzung rechtfertigen können, sind innerhalb dieser Frist vollständig, substantiiert und in sich schlüssig darzulegen (vgl. BFH-Beschluss vom 24. Januar 2005 III R 43/03, BFH/NV 2005, 1312). Hiernach schließt jedes Verschulden die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aus. Allerdings schließt bereits jede Art fahrlässigen Verhaltens das Recht auf Wiedereinsetzung aus, wenn also die nach den jeweils gegebenen Lebensumständen und den persönlichen Verhältnissen gebotene und zumutbare Sorgfalt außer Acht gelassen wird. Ohne Verschulden handelt daher nur, wer die Fristsäumnis auch nicht bei äußerster, den Umständen des Falles angemessener und vernünftigerweise zu erwartender Sorgfalt hätte verhindern können (st. Rspr, vgl. BFH-Urteil vom 8. Oktober 1981 IV R 108/81, BStBl II 1982, 165).
45
Bei kurzfristiger Abwesenheit des Steuerpflichtigen während des Jahresurlaubs von höchstens 6 Wochen muss der Steuerpflichtige nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich keine besonderen Vorkehrungen für eventuelle Zustellungen treffen (vgl. Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Februar 1976 2 BvR 849/75, BVerfGE 41,332, Klein/Rätke, AO, 13. Aufl. 2016, § 110 Rz 11).
46
Im Streitfall steht einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ein Verschulden des Klägers an der verspäteten Kenntnisnahme von dem streitigen Bescheid entgegen.
47
Der Kläger war vom 7. Mai bis zum 16. August 2017 und damit länger als sechs Wochen von der Wohnung in Y-Stadt abwesend, ohne Vorkehrungen für eventuelle Zustellungen zu treffen.
48
Die vom Kläger für die Überschreitung der Sechs-Wochen-Frist angegebenen Gründe entschuldigen ihn nicht. Weder die – im Übrigen auch nur behauptete und nicht glaubhaft gemachte – Arbeitsüberlastung noch der G 20-Gipfel traten plötzlich und unvorhersehbar auf. Der G 20-Gipfel mag zwar für einige Tage eine Anreise über den Hamburger Flughafen nach Y-Stadt erschwert haben. Eine Anreise über andere Flughäfen wäre aber jedenfalls problemlos möglich gewesen. Erst recht kann der Kläger sich nicht darauf berufen, er sei davon ausgegangen, wegen der Betreuung der Mutter die Wohnung in Y-Stadt in kürzeren Abständen regelmäßig aufzusuchen. Wenn die Betreuung der Mutter die Anreise des Klägers mehrere Wochen nicht erforderte, hätte er nach sechs Wochen allein zur Kontrolle des Briefkastens nach Y-Stadt reisen müssen, um dem Vorwurf der schuldhaften Fristversäumung zu entgehen. Wer nicht bereit ist, der Verpflichtung, alle sechs Wochen zur Wohnung zurückzukehren, Priorität einzuräumen, muss Vorkehrungen für eventuelle Zustellungen treffen.
49
Der Kläger wusste bereits im Vorfeld seiner Abreise nach Mallorca, dass er für längere Zeit von seiner Wohnung in Y-Stadt abwesend seien und dass es sich um keine kurzfristige urlaubsbedingte Abwesenheit handeln würde. Jedenfalls musste ihm angesichts seiner Erwerbstätigkeit auf Mallorca klar sein, dass eine längere Abwesenheit zumindest möglich ist. Er konnte sich nicht darauf verlassen, dass es ihm – wie das in den Vorjahren vielleicht gewesen sein mag – möglich sein würde, regelmäßig seine Wohnung in Y-Stadt aufzusuchen. Zwar ließ es die Übernahme der Betreuung seiner in Y-Stadt wohnenden Mutter als möglich erscheinen, dass der Kläger Y-Stadt mehr oder weniger jederzeit hätte aufsuchen müssen. Ob dieser Fall eintritt oder nicht war jedoch nicht absehbar. Er trat auch tatsächlich nach dem 7. Mai 2017 bis zum 17. August 2017 nicht ein. Ein Verschulden des Klägers liegt bereits darin, dass er meinte, sich darauf verlassen zu können, seine Wohnung in Y-Stadt – wie möglicherweise in den Vorjahren geschehen – aufsuchen zu können. Der tatsächlich verwirklichte Geschehensablauf spricht eben dafür, dass er sich darauf nicht verlassen konnte. Im Übrigen war auch der G 20-Gipfel in Hamburg ein im Vorfeld bekanntes Ereignis und für Y-Stadt ist Hamburg keineswegs der am nächsten gelegene Flughafen, der von Mallorca aus angeflogen werden kann.
50
Ein Wiedereinsetzungsgrund ist auch nicht darin zu erkennen, dass die Beklagte den Einspruchsbescheid an die Anschrift in Y-Stadt gesandt hat, obwohl sie davon ausgehen konnte, der Kläger halte sich tatsächlich im Ausland auf. Sie hat die Post an die ihr vom Kläger mitgeteilte Anschrift übersandt. Es wäre Sache des Klägers gewesen, dafür zu sorgen, dass er diese Post rechtzeitig zur Kenntnis nehmen kann oder der Familienkasse eine abweichende, wenn auch möglicherweise nur für einen Teil des Jahres geltende, Anschrift mitzuteilen.
51
II. Über den Hilfsantrag ist nicht zu entscheiden, da dieser nur für den Fall gestellt wurde, dass das Gericht die isolierte Anfechtungsklage für unzulässig hält, was nicht der Fall ist.
52
III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

BFH: Kein deutsches Besteuerungsrecht für die Pension eines in Ungarn ansässigen Beamten mit deutscher Staatsangehörigkeit

Leitsatz

Eine Pension, die ein zum Zeitpunkt des Austausches der Ratifikationsurkunden zum DBA-Ungarn 2011 in Ungarn ansässiger deutscher Beamter bezieht, kann nach Art. 17 Abs. 1 DBA-Ungarn 2011 nur in Ungarn besteuert werden.

https://www.steuerschroeder.de/steuer/i-r-49-16-kein-deutsches-besteuerungsrecht-fuer-die-pension-eines-in-ungarn-ansaessigen-beamten-mit-deutscher-staatsangehoerigkeit/

 

BFH zur Erdienbarkeit bei Barlohnumwandlung

Leitsatz

  1. Werden bestehende Gehaltsansprüche des Gesellschafter-Geschäftsführers in eine Anwartschaft auf Leistungen der betrieblichen Altersversorgung umgewandelt, dann scheitert die steuerrechtliche Anerkennung der Versorgungszusage regelmäßig nicht an der fehlenden Erdienbarkeit.
  2. Wird bei einer bestehenden Versorgungszusage lediglich der Durchführungsweg gewechselt (wertgleiche Umstellung einer Direktzusage in eine Unterstützungskassenzusage), so löst allein diese Änderung keine erneute Erdienbarkeitsprüfung aus.

https://www.steuerschroeder.de/steuer/i-r-89-15-erdienbarkeit-bei-barlohnumwandlung/