Archiv der Kategorie: Steuern & Recht

Bilanzierung von Verbindlichkeiten bei Rangrücktritt – Tilgung aus Bilanzgewinn und Liquidationsüberschuss

Leitsatz

  1. Eine Verbindlichkeit, die nach einer im Zeitpunkt der Überschuldung getroffenen Rangrücktrittsvereinbarung nur aus einem zukünftigen Bilanzgewinn und aus einem etwaigen Liquidationsüberschuss zu tilgen ist, unterliegt dem Passivierungsverbot des § 5 Abs. 2a EStG 2002 (insoweit Bestätigung des Senatsurteils vom 30. November 2011 I R 100/10, BFHE 235, 476, BStBl II 2012, 332).
  2. Beruht der hierdurch ausgelöste Wegfallgewinn auf dem Gesellschaftsverhältnis, ist er durch den Ansatz einer Einlage in Höhe des werthaltigen Teils der betroffenen Forderungen zu neutralisieren (insoweit Abkehr vom Senatsurteil in BFHE 235, 476, BStBl II 2012, 332).

Quelle: BFH, Urteil I R 44/14 vom 15.04.2015

Einlagekonto – kein Direktzugriff, Bindung der Steuerbescheinigung

Verfassungsmäßigkeit von so genannten materiellen Präklusionsbestimmungen

Leitsatz

  1. Es bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken, dass ein Direktzugriff auf das steuerliche Einlagekonto, d. h. dessen Minderung vor Auskehrung der ausschüttbaren Gewinne nach § 27 Abs. 1 Satz 3 KStG 2002 i. d. F. des SEStEG, auch dann nicht in Betracht kommt, wenn die Leistung der Kapitalgesellschaft auf die Auflösung von Kapitalrücklagen zurückgeht (Bestätigung der Rechtsprechung).
  2. Ebenfalls ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass nach § 27 Abs. 5 Satz 3 KStG 2002 i. d. F. des SEStEG die Berichtigung oder erstmalige Erteilung einer Steuerbescheinigung ausgeschlossen ist, wenn entweder die Minderung des Eigenkapitals zu niedrig bescheinigt oder eine Steuerbescheinigung bis zur Bekanntgabe der erstmaligen Feststellung des steuerlichen Einlagekontos nicht erteilt worden ist (§ 27 Abs. 5 Satz 1 und 2 KStG 2002 i. d. F. des SEStEG). Die (fehlerhafte) Steuerbescheinigung ist deshalb der Feststellung des steuerlichen Einlagekontos zugrunde zu legen.

Quelle: BFH, Urteil I R 3/14 vom 11.02.2015

Feststellungsverjährung bei Verlustfeststellungsbescheiden

Leitsatz

Die Feststellungsfrist für die Feststellung des vortragsfähigen Gewerbeverlustes (§ 10a Satz 6 GewStG 2002 n. F.) endet nicht vor der Festsetzungsfrist für den Erhebungszeitraum, auf dessen Schluss der vortragsfähige Gewerbeverlust festzustellen ist (§ 35b Abs. 2 Satz 4 Halbsatz 1 GewStG 2002 n. F.). Eine Feststellung nach dem Ablauf der Feststellungsfrist ist rechtswidrig. Abweichendes gilt (unter Anwendung von § 181 Abs. 5 AO), wenn die zuständige Finanzbehörde die Feststellung pflichtwidrig unterlassen hat (§ 35b Abs. 2 Satz 4 Halbsatz 2 GewStG 2002 n. F.). Diese Voraussetzung ist nur dann erfüllt, wenn eine Verlustfeststellung bisher gänzlich fehlt; die Änderung einer bereits fristgerecht ergangenen Feststellung fällt nicht darunter.

Quelle: BFH, Urteil I R 5/13 vom 11.02.2015

Hinzurechnung eines sog. negativen Aktiengewinns aus der Rückgabe von Anteilsscheinen an einem Wertpapier-Sondervermögen (Rechtslage 2002)

Leitsatz

  1. § 40a Abs. 1 Satz 2 KAGG i. d .F. des sog. Korb II-Gesetzes vom 22. Dezember 2003 führt durch den Verweis auf § 8b Abs. 3 KStG 1999 i. d. F. des UntStFG vom 20. Dezember 2001 zu einem Abzugsverbot für alle Gewinnminderungen, die im Zusammenhang mit Anteilsscheinen an einem Wertpapier-Sondervermögen stehen. Hierzu gehören auch sog. negative Aktiengewinne in Verbindung mit einer Rückgabe der Anteilsscheine. Allerdings entfaltet § 43 Abs. 18 KAGG i. d. F. des Korb II-Gesetzes für die Veranlagungszeiträume 2001 und 2002 eine verfassungsrechtlich unzulässige echte Rückwirkung, soweit die Vorschrift Festsetzungen für diese Veranlagungszeiträume umfasst, die noch nicht bestandskräftig sind (Bestätigung des Senatsurteils vom 25. Juni 2014 I R 33/09, BFHE 246, 310).
  2. § 40a Abs. 1 KAGG i. d. F. des StSenkG vom 23. Oktober 2000 ist keine Rechtsgrundlage für die Hinzurechnung eines sog. negativen Aktiengewinns aus der Rückgabe von Anteilsscheinen an einem Wertpapier-Sondervermögen. Die Vorschrift rechtfertigt auch nicht die Saldierung von positiven und negativen Teilbeträgen des sog. Aktien-Anlegergewinns (Bestätigung und Fortführung des Senatsurteils in BFHE 246, 310).

Die Entscheidung wurde nachträglich zur amtlichen Veröffentlichung bestimmt – sie war seit dem 19.11.2014 als NV-Entscheidung abrufbar

Quelle: BFH, Urteil I R 74/12 vom 30.07.2014

Verfassungsmäßigkeit der Neuregelung zur Umgliederung des vEK beim Übergang vom Anrechnungsverfahren zum Halbeinkünfteverfahren

Leitsatz

Die in § 36 Abs. 4 KStG 2002 i. d. F. des § 34 Abs. 13f KStG 2002 i. d. F. des JStG 2010 getroffene Regelung zur Umgliederung der Teilbeträge des verwendbaren Eigenkapitals (vEK) in ein Körperschaftsteuerguthaben ist mit dem Grundgesetz vereinbar (Bestätigung des Senatsurteils vom 20. April 2011 I R 65/05, BFHE 234, 385, BStBl II 2011, 983).

Quelle: BFH, Urteil I R 86/12 vom 25.02.2015

Grunderwerbsteuer beim Erwerb eines erbbaurechtsbelasteten Grundstücks

Leitsatz

Beim Kauf eines erbbaurechtsbelasteten Grundstücks durch den Erbbauberechtigten oder einen Dritten unterliegt lediglich der nach Abzug des Kapitalwerts des Erbbauzinsanspruchs vom Kaufpreis verbleibende Unterschiedsbetrag der Grunderwerbsteuer. Der Kaufpreis ist nicht nach der sog. Boruttau’schen Formel aufzuteilen (Änderung der Rechtsprechung).

Quelle: BFH, Urteil II R 8/14 vom 06.05.2015

Bescheidberichtigung bei fehlerhafter elektronischer Übermittlung des Arbeitslohns

Die Beteiligten stritten um die Befugnis des Finanzamts, einen Einkommensteuerbescheid zu ändern. Die Kläger deklarierten einen Bruttoarbeitslohn von 1.180.000 Euro in der Anlage N zur Steuererklärung. Aus den beigefügten Ausdrucken elektronischer Lohnsteuerbescheinigungen ergaben sich Bruttoarbeitslöhne von 200.000 Euro und 960.000 Euro. Zudem lag der Steuererklärung eine ausländische Lohnbescheinigung bei, in der ein Betrag von 20.000 Euro ausgewiesen war.

Im Rahmen der Veranlagung erledigte der Sachbearbeiter des Finanzamts mehrere Prüf- und Risikohinweise zur Erfassung des ausländischen Arbeitslohns. Zudem kam die für die zentrale Bearbeitung von Auslandssachverhalten zuständige Stelle zu der Erkenntnis, dass die Auslandseinkünfte in Deutschland steuerpflichtig sind. Im Einkommensteuerbescheid wurden indes nur 1.160.000 Euro erfasst; darin war der ausländische Arbeitslohn nicht enthalten. Nach Bestandskraft des Bescheids erließ das beklagte Finanzamt einen Änderungsbescheid und berief sich auf eine offenbare Unrichtigkeit. Es sei allein der elektronisch übermittelte Arbeitslohn in Höhe von 1.160.000 Euro erfasst worden. Der dagegen gerichtete Einspruch der Kläger blieb ohne Erfolg.

Das Finanzgericht Düsseldorf hat die Klage abgewiesen. Im Streitfall liege eine offenbare Unrichtigkeit in der Übernahme des elektronisch übermittelten Arbeitslohns in dem Glauben, dass dieser dem erklärten Arbeitslohn entspreche. Der Fehler sei darauf zurückzuführen, dass der Sachbearbeiter bei der Erfassung der Daten keinen Abgleich des elektronisch gespeicherten Arbeitslohns mit dem erklärten Arbeitslohn vorgenommen habe. Eine Eintragung der Kläger habe er hingegen nicht übersehen. Er sei bei der Übernahme des Arbeitslohns davon ausgegangen, den richtigen Gesamtbetrag, d. h. die Summe aus in- und ausländischem Arbeitslohn, erfasst zu haben. Dagegen ließen sich der Akte keinerlei Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass der Fehler auf einem Rechtsirrtum oder auf einer unvollständigen Sachverhaltsaufklärung beruhe. Insbesondere gebe es keine Hinweise darauf, dass der Sachbearbeiter die im Ausland erzielten Einkünfte nicht habe erfassen wollen.

Quelle: FG Düsseldorf, Mitteilung vom 08.07.2015 zum Urteil 13 K 553/14 vom 24.03.2015

 

Depotübergreifende Verrechnung laufender Verluste

Streitig war die Höhe der Einkünfte aus Kapitalvermögen. Der Kläger erzielte im Streitjahr 2010 Kapitaleinkünfte aus einem Depot bei der A-Bank (137.899 Euro laufende Erträge und 11.109 Euro Veräußerungsgewinne), aus einem Depot bei der B-Bank (30.836 Euro laufende Erträge, 194.840 Euro Veräußerungsgewinne und 141.466 Euro Veräußerungsverluste) sowie aus einem Privatdarlehen (545 Euro). Für die Berechnung der abzuführenden Kapitalertragsteuer verrechnete die B-Bank die Veräußerungsverluste zunächst mit den laufenden Erträgen und sodann mit den Veräußerungsgewinnen. Die A-Bank berechnete die Kapitalertragsteuer auf der Grundlage der Kapitalerträge von 149.008 Euro.

Im Rahmen seiner Einkommensteuererklärung beantragte der Kläger für seine Kapitalerträge die Günstigerprüfung, die Überprüfung des Steuereinbehalts und die Festsetzung der Kirchensteuer. Zudem stellte er den Antrag, die Verlustvorträge aus privaten Veräußerungsgeschäften zum 31.12.2009 in Höhe von 1,28 Mio. Euro zu verrechnen.

Das beklagte Finanzamt ging in Anknüpfung an die Verlustverrechnung der B-Bank von laufenden Erträgen von 138.444 Euro und Veräußerungsgewinnen bzw. -verlusten von 95.318 Euro aus. Letzteren Betrag verrechnete es sodann in vollem Umfang mit dem Verlustvortrag aus privaten Veräußerungsgeschäften, so dass sich nach Abzug des Sparerfreibetrags verbleibende Kapitalerträge von 137.643 Euro ergaben. Der Kläger wandte sich gegen diese depotbezogene Verrechnung und beantragte, nur Kapitalerträge von 27.814 Euro der Abgeltungsteuer zu unterwerfen.

Die Klage hatte Erfolg. Nach Auffassung des Gerichts hat das Finanzamt zu Unrecht die Verlustverrechnung in der Weise vorgenommen, dass es zunächst die von den verschiedenen Banken vorgenommenen unterjährigen Verlustverrechnungen der Veranlagung als unabänderlich zugrunde gelegt und hierauf die Verlustverrechnung der „Altverluste“ aus privaten Veräußerungsgeschäften bezogen hat. Im Rahmen der Veranlagung sei eine depotübergreifende Verrechnung der laufenden Verluste zu ermöglichen; hieran sei mit der Verlustverrechnung der „Altverluste“ anzuknüpfen.

Zwar spreche die amtliche Begründung des Unternehmensteuerreformgesetzes 2008 für die Gesetzesinterpretation der Finanzverwaltung. Diese führe im Ergebnis allerdings zu einer nicht nur einkunftsbezogenen, sondern sogar depotbezogenen Schedulenbesteuerung, wodurch sich je nach Anzahl und Art des Depots bei gleich hohen Kapitaleinkünften völlig unterschiedliche Besteuerungsergebnisse ergeben könnten. Die Besteuerung erfolge letztlich durch das Kreditinstitut, dessen depotbezogene Verrechnungen im Veranlagungsverfahren bindend blieben.

Das gesetzgeberische Ziel, „Altverluste“ aus privaten Veräußerungsgeschäften wenigstens übergangsweise mit Veräußerungsgewinnen ausgleichen zu können, werde unter Umständen erheblich erschwert, was die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen diese beschränkte Verlustausgleichsmöglichkeit noch verstärke. Dies sei nicht hinnehmbar, zumal der Gesetzeswortlaut diese Interpretation nicht erfordere.

Das Finanzgericht Düsseldorf hat die Revision zum Bundesfinanzhof zugelassen.

Quelle: FG Düsseldorf, Mitteilung vom 08.07.2015 zum Urteil 16 K 4467/12 vom 19.03.2015

 

Erheblicher Spielraum für höhere Besteuerung von hohen Einkommen und Gewinnen

Steuersätze über viele Jahre stark gesunken, Ungleichheit gestiegen

Die Steuersätze für Unternehmen und die Spitzensätze der Einkommensteuer sind in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland und vielen anderen Industrieländern sehr stark gesenkt worden. Der Spielraum für eine höhere Besteuerung von Besserverdienenden und Unternehmen ist größer als vielfach behauptet. Wenn die Steuer- und Finanzpolitik künftig wieder stärker zugunsten einkommensschwacher Haushalte umverteilen würde, kann davon die gesamte Volkswirtschaft profitieren. Zu diesen Ergebnissen kommt eine aktuelle, von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte, Untersuchung.

Bei der Besteuerung von Unternehmensgewinnen habe es in den vergangenen drei Jahrzehnten einen „internationalen Wettlauf nach unten“ gegeben, schreiben die Forscher Sarah Godar, Christoph Paetz und Prof. Dr. Achim Truger von der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin. In den Ländern, für die OECD-Daten verfügbar sind, sei der Durchschnitt der Steuersätze seit 1981 um mehr als 20 Prozentpunkte gesunken – von 47,5 Prozent auf 27,3 Prozent. In Deutschland betrug der Rückgang sogar gut 30 Prozentpunkte – von 60 auf 30,2 Prozent.

Auch die persönlichen Einkommensteuern seien stark zurückgegangen. So lag der Spitzensteuersatz im Jahr 1981 in den OECD-Ländern bei durchschnittlich 65,7 Prozent, im Jahr 2010 nur noch bei 45,8 Prozent. In Deutschland sank er im selben Zeitraum um immerhin 8,5 Punkte von 56 auf 47,5 Prozent (inkl. Solidaritätszuschlag). Zudem seien viele Regierungen dazu übergegangen, Kapitaleinkommen geringer zu besteuern als Arbeitseinkommen – in Deutschland etwa durch die umstrittene Abgeltungsteuer. Dadurch sei die Steuergerechtigkeit „zunehmend in Frage gestellt“ worden, schreiben die Forscher.

Angesichts der wachsenden Ungleichheit und der angespannten Lage der öffentlichen Haushalte gebe es zwar Anzeichen für ein Umdenken in der Steuerpolitik, so die Forscher. In den vergangenen Wochen haben etwa sowohl die Industrieländerorganisation OECD als auch der Internationale Währungsfonds Studien vorgelegt, die vor negativen wirtschaftlichen Folgen zu großer Ungleichheit warnen und zu mehr Umverteilung im Steuersystem raten.

Dennoch schreckten die meisten Länder vor höheren Spitzensteuersätzen zurück, weil diese als schädlich für Beschäftigung und Wachstum gelten. Empirisch lasse sich ein negativer Effekt jedoch nicht belegen, konstatieren Godar, Paetz und Truger auf Grundlage eines umfangreichen Überblicks über den Forschungsstand. Gerade die jüngere Literatur komme zur Einschätzung, dass „die ökonomischen Argumente gegen eine progressive Besteuerung wesentlich schwächer sind als zumeist behauptet“. Am Beispiel Deutschland zeigen die Wissenschaftler, dass eine regressive Steuerpolitik mehr Schaden anrichten kann: Steuersenkungen und damit verbundene Einnahmeausfälle seien ein wesentlicher Grund für die Stagnation der Wirtschaft am Beginn der 2000er-Jahre gewesen und für die hartnäckige Investitionsschwäche der öffentlichen Hand.

Ein höherer Grad an Progression – also ein Steuersystem, das hohe Einkommen und Gewinne stärker belastet als bisher – könne sogar vorteilhaft für die Volkswirtschaft sein. Der Grund: Der Staat könne höhere Einnahmen für mehr öffentliche Investitionen nutzen, was sich positiv auf das Wachstum auswirke. Außerdem steigere eine stärkere Umverteilung zugunsten einkommensschwacher Haushalte den privaten Konsum und damit die Nachfrage. Es gebe aktuell „erheblichen Spielraum“ zur Erhöhung des Spitzensteuersatzes auf Einkommen, der Unternehmenssteuersätze und der Steuern auf Kapital und Vermögen. Die Regierungen sollten diese Möglichkeiten nutzen, empfehlen die Wissenschaftler. Auf europäischer Ebene halten sie eine Harmonisierung der Unternehmensbesteuerung für sinnvoll. Diese sollte auch eine allgemeine Mindestbesteuerung vorsehen, um Steuerdumping zu verhindern.

Weitere Informationen finden Sie auf der Homepage der Hans-Böckler-Stiftung

Quelle: Hans-Böckler-Stiftung, Pressemitteilung vom 02.07.2015

 

Drei Verfassungsbeschwerden gegen das Mindestlohngesetz unzulässig

Mit am 01.07.2015 veröffentlichten Beschlüssen hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts drei Verfassungsbeschwerden gegen das Mindestlohngesetz nicht zur Entscheidung angenommen, da sie sich als unzulässig erwiesen haben. Eine Verfassungsbeschwerde von 14 ausländischen, auch im Inland tätigen Transportunternehmen genügt nicht dem Grundsatz der Subsidiarität, denn die Unternehmen sind gehalten, sich zunächst an die Fachgerichte zu wenden (1 BvR 555/15). Gleiches gilt für einen 17-jährigen Arbeitnehmer in der Systemgastronomie, der eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG rügt, weil Volljährige für dieselbe Tätigkeit den gesetzlichen Mindestlohn erhalten (1 BvR 37/15); auch darüber müssen zunächst die Fachgerichte entscheiden. Eine Verfassungsbeschwerde gegen die zeitlich verzögerte Einführung des Mindestlohnes für Zeitungszustellerinnen und Zeitungszusteller ist mangels hinreichender Angaben zur tatsächlichen Situation nicht hinreichend substantiiert und deswegen ebenfalls unzulässig (1 BvR 20/15).
Sachverhalt

Das Mindestlohngesetz vom 11. August 2014 sieht vor, dass abhängig Beschäftigte ab dem 1. Januar 2015 einen Anspruch auf Zahlung eines Arbeitsentgelts von mindestens 8,50 Euro brutto je Zeitstunde haben (§ 1 MiLoG).

Im Verfahren 1 BvR 555/15 wenden sich 14 auch in Deutschland tätige Transport- und Logistikunternehmen aus Österreich, Polen und Ungarn gegen § 16, § 17 Abs. 2 und § 20 MiLoG. Zugleich beantragen sie den Erlass einer einstweiligen Anordnung, um die Vorschriften bis zur Hauptsacheentscheidung vorläufig außer Kraft zu setzen. Nach § 20 MiLoG sind Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber mit Sitz im In- und Ausland verpflichtet, ihren im Inland beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ein Arbeitsentgelt mindestens in Höhe des Mindestlohns zu bezahlen; §§ 16 und 17 Abs. 2 MiLoG enthalten Meldepflichten gegenüber der Zollverwaltung sowie Dokumentationspflichten.

Der 17-jährige Beschwerdeführer des Verfahrens 1 BvR 37/15, der mit einem Stundenlohn von 7,12 Euro in der Systemgastronomie beschäftigt ist und im September 2015 eine Ausbildung beginnen wird, wendet sich gegen § 22 Abs. 2 MiLoG, wonach Kinder und Jugendliche ohne abgeschlossene Berufsausbildung keinen Anspruch auf Mindestlohn haben.

Im Verfahren 1 BvR 20/15 wendet sich die Beschwerdeführerin gegen § 24 Abs. 2 MiLoG, der für Zeitungszustellerinnen und Zeitungszusteller nach einer schrittweisen Anhebung einen Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro brutto erst ab 1. Januar 2017 vorgibt.

Wesentliche Erwägungen der Kammer

  1. Die Beschwerdeführenden des Verfahrens 1 BvR 555/15 sind gehalten, zunächst den fachgerichtlichen Rechtsweg zu beschreiten.
    1. Nach dem Grundsatz der Subsidiarität ist eine Verfassungsbeschwerde unzulässig, wenn in zumutbarer Weise Rechtsschutz durch die Anrufung der Fachgerichte erlangt werden kann. Die Pflicht zur Anrufung der Fachgerichte besteht nur in Ausnahmefällen nicht, insbesondere wenn die Anrufung der Fachgerichte unzumutbar ist.
    2. Dies ist hier nicht der Fall. Es ist zwar unzumutbar, zur Eröffnung des fachgerichtlichen Rechtswegs zunächst gegen die bußgeldbewehrten Pflichten aus dem Mindestlohngesetz zu verstoßen, um auf diese Weise eine Prüfung der angegriffenen Normen in einem Ordnungswidrigkeitenverfahren zu ermöglichen. Der Grundsatz der Subsidiarität reicht jedoch weiter. Hier besteht die Möglichkeit, vor den Fachgerichten auf Feststellung zu klagen, nicht zu den nach § 16, § 17 Abs. 2 und § 20 MiLoG gebotenen Handlungen verpflichtet zu sein. Derartige negative Feststellungsklagen sind nicht von vornherein unzulässig, denn es liegt nahe, dass die Fachgerichte ein Feststellungsinteresse als gegeben ansehen würden.

      Die vorherige Klärung der aufgeworfenen Rechtsfragen durch die Fachgerichte erscheint auch geboten. Deren Entscheidungen sind geeignet, die in der fachrechtlichen Diskussion bereits aufgeworfenen Unklarheiten bezüglich der Reichweite des Mindestlohngesetzes aufzubereiten; sie können damit auch die Bewertung des Gesetzes in verfassungs- wie unionsrechtlicher Hinsicht beeinflussen. Klärungsbedürftig ist insbesondere, ob die Voraussetzung einer Beschäftigung im Inland wie im Sozialversicherungsrecht zu verstehen ist, ob ausnahmslos jede, auch nur kurzfristige Tätigkeit auf dem Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland eine Inlandsbeschäftigung darstellt oder ob etwa eine bestimmte Dauer oder ein Bezug zu den deutschen Sozialversicherungssystemen und zu den Lebenshaltungskosten in Deutschland vorauszusetzen ist. Dabei stellt sich auch die Frage, ob eine Mindestlohnpflicht bei kurzzeitigen Einsätzen in Deutschland erforderlich ist, um die mit dem Mindestlohngesetz verfolgten Ziele zu erreichen. Die Fachgerichte sind darüber hinaus aufgerufen, von den Beschwerdeführenden aufgeworfene unionsrechtliche Fragen aufzuarbeiten, soweit diese entscheidungserheblich sind.

      Die Beschreitung des fachgerichtlichen Rechtswegs ist nicht deshalb unzumutbar, weil die Beschwerdeführenden den Eintritt schwerer Nachteile bei Fortgeltung des Mindestlohngesetzes befürchten. Es bestehen Zweifel an einer hinreichenden Substantiierung, soweit Insolvenzrisiken der betroffenen Unternehmen behauptet, aber nicht mit Bilanzen belegt werden. Jedenfalls kann zur Vermeidung von Nachteilen insoweit vorläufiger Rechtsschutz der Fachgerichte in Anspruch genommen werden.

    3. Eine Vorabentscheidung ist auch nicht wegen allgemeiner Bedeutung der Verfassungsbeschwerde angezeigt, da dem Vorteil einer vorherigen Befassung der Fachgerichte nur verhältnismäßig geringe Belastungen der Beschwerdeführenden durch die Verweisung auf den fachgerichtlichen Rechtsweg gegenüberstehen.
    4. Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde erledigt sich zugleich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
  2. Auch im Verfahren 1 BvR 37/15 ist dem Grundsatz der Subsidiarität nicht genügt. Dem Beschwerdeführer ist zumutbar, vor Anrufung des Bundesverfassungsgerichts zunächst fachgerichtlichen Rechtsschutz zu erlangen. Zudem hat der Beschwerdeführer nicht dargelegt, dass ihm hierdurch ein schwerer und unabwendbarer Nachteil droht.
  3. Im Verfahren 1 BvR 20/15 hat die Beschwerdeführerin nicht substantiiert geltend gemacht, durch die angegriffene Norm selbst, gegenwärtig und unmittelbar verletzt zu sein. Es fehlen Angaben dazu, ob die Beschwerdeführerin die Voraussetzungen einer Zeitungszustellerin erfüllt, wie sie in § 24 Abs. 2 Satz 3 MiLoG genannt sind, und zu einer aktuellen Vergütung, die unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns in Höhe von 8,50 Euro brutto je Zeitstunde liegen müsste.

Quelle: BVerfG, Pressemitteilung vom 01.07.2015 zu den Beschlüssen 1 BvR 20/15, 1 BvR 37/15 und 1 BvR 555/15 vom 25.06.2015