Keine quasi voraussetzungslose „Organschaft über die Grenze“

In seinem Urteil vom 13. März 2019 hatte der 1. Senat des FG sich mit der Frage auseinanderzusetzen, unter welchen Voraussetzungen im EU-Raum eine Verlustverrechnung zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft „über die Grenze“ hinweg erfolgen kann.

Die Klägerin hatte sich auf den Standpunkt gestellt, die Berücksichtigung der Verluste der französischen Tochtergesellschaft bei der deutschen Muttergesellschaft sei europarechtlich geboten. Zwar komme eine interpersonelle Verlustverrechnung nach deutschem Recht nur bei Vorliegen der Voraussetzungen der §§ 14 ff. KStG in Betracht. Diese könne die französische Tochtergesellschaft aber nicht erfüllen. Zum einen fehle es ihr am erforderlichen (doppelten) Inlandsbezug, weil sie weder über eine inländische Geschäftsleitung noch über einen Sitz im Inland verfügte. Zum anderen kenne das französische Recht keinen GAV i. S. d. § 291 Abs. 1 AktG, sodass ein solcher zwischen den Gesellschaften nicht wirksam habe abgeschlossen werden können. Dadurch, dass §§ 14 ff. KStG eine Verlustverrechnung von diesen Voraussetzungen abhängig machten, beschränkten sie in europarechtswidriger Weise insbesondere die Niederlassungsfreiheit (Art. 49, 54 AEUV) der beteiligten Gesellschaften. Wie sich aus einer Reihe von EuGH-Entscheidungen ergebe, sei die Berücksichtigung von Verlusten einer ausländischen Tochtergesellschaft bei der inländischen Muttergesellschaft – auch um dem Gesichtspunkt einer Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit Rechnung zu tragen – immer dann geboten, wenn – wie hier – feststehe, dass die Tochtergesellschaft die von ihr erwirtschafteten Verluste weder in der Vergangenheit habe steuerlich nutzen können, noch in der Zukunft dazu in der Lage sein werde, die Verluste also in diesem Sinne „final“ seien. Die §§ 14 ff. KStG seien daher in der Weise geltungserhaltend zu reduzieren, dass auf den normierten doppelten Inlandsbezug und auf das GAV-Erfordernis vollständig verzichtet werde. Ausreichend sei es, wenn Mutter- und Tochtergesellschaft eine „Organschaft auf faktischer Grundlage gelebt“ hätten. Vorliegend sei das der Fall gewesen.

Das FG ist der Sichtweise der Klägerin nicht gefolgt. Der auch von der Klägerin angeführten einschlägigen EuGH-Rechtsprechung lasse sich entnehmen, dass eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit vorliegen könne, wenn eine nationale Regelung die interpersonelle Verlustverrechnung zwischen einer gebietsansässigen Muttergesellschaft und einer ebenfalls gebietsansässigen Tochtergesellschaft zulasse, zwischen einer gebietsansässigen Muttergesellschaft und einer im sonstigen Gemeinschaftsgebiet ansässigen Tochtergesellschaft aber nicht. Aus dieser Einschränkung könne eine gemeinschaftsrechtswidrige Ungleichbehandlung resultieren, wenn sich die inländische und die ausländische Tochtergesellschaft in einer objektiv vergleichbaren Situation befänden, wobei sich eine fehlende Vergleichbarkeit nicht allein daraus ergeben könne, dass hinsichtlich der Gewinne der ausländischen Tochtergesellschaft keine Besteuerung durch den Ansässigkeitsstaat der Muttergesellschaft (also des Staates, in dem ggf. die Verlustverrechnung erfolgen soll) erfolgt.

Eine solche Ungleichbehandlung sei allerdings regelmäßig gerechtfertigt, weil sie erforderlich sei, um eine ausgewogene Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten aufrecht zu erhalten, der Gefahr einer doppelten Verlustberücksichtigung zu begegnen und die Kohärenz des Steuersystems zu wahren. Das gelte (nur) dann nicht, wenn es um die Verrechnung „finaler“ Verluste gehe, denn die vollumfängliche Nichtberücksichtigung von Verlusten sei unverhältnismäßig. Stellten die in Rede stehenden nationalen Regelungen danach eine nicht zu rechtfertigende Einschränkung der Niederlassungsfreiheit dar und verstießen sie folglich gegen höherrangiges (Europa-)Recht, so stelle sich die Frage nach der daraus resultierenden (Rechts-)Folge. Diese gehe regelmäßig dahin, die als gemeinschaftsrechtswidrig identifizierten Tatbestandsvoraussetzungen der Vorschriften in gemeinschaftsrechtlich konformer und normerhaltender Weise zu reduzieren.

Die einschlägigen nationalen Regelungen seien dann als solche weiter anzuwenden, wobei allerdings die gemeinschaftsrechtlichen Erfordernisse ggf. in die betroffenen Normen hineinzulesen seien. Inwieweit eine Anwendbarkeit der nationalen Regelungen erhalten bleiben könne, hänge dabei von ihrer konkreten Ausgestaltung ab. Es könne zwischen unterschiedlichen in einer nationalen gesetzlichen Regelung enthaltenen Einzelmerkmalen dergestalt zu differenzieren sein, dass einzelne dieser Merkmale vollständig zu verwerfen seien, andere wiederum lediglich im gemeinschaftsrechtlichen Licht und weitere Merkmale unverändert zur Anwendung kommen könnten. Daraus folge, dass sich der EuGH-Rechtsprechung keineswegs ein gemeinschaftsrechtlich begründetes, quasi übergeordnetes allgemeines Gebot zur Ermöglichung EU-grenzüberschreitender Verlustverrechnungen entnehmen lasse. Die Anerkennung einer grenzüberschreitenden Verrechnung (finaler) Verluste im konkreten Fall könne folglich, sie müsse aber nicht das Ergebnis einer geltungserhaltenden Reduktion nationaler Bestimmungen zur interpersonalen Ergebnisverrechnung sein, die die Niederlassungsfreiheit beschränken. Ausgehend davon komme die seitens der Klägerin begehrte Verlustverrechnung im vorliegenden Fall nicht in Betracht. Das gelte auch für den Fall, dass die oben dargestellten Grundsätze – wofür viel spreche – auch auf die Vorschriften über die deutsche Organschaft anzuwenden sein sollten und diese darüber hinaus davon auszugehen sein sollte, dass die §§ 14 ff. KStG grundsätzlich geeignet wären, eine nicht zu rechtfertigende Einschränkung der Niederlassungsfreiheit zu begründen. Denn selbst dann ergäbe sich daraus nicht, dass die §§ 14 ff. KStG so weit normerhaltend zu reduzieren wären, dass auf das GAV-Erfordernis vollständig zu verzichten sei. Vielmehr zieht das FG aus dem Umstand, dass der GAV über eine essentielle Bedeutung für die Annahme eines Organschaftsverhältnisses verfüge, den Schluss, dass an dem GAV-Erfordernis auch im Rahmen einer geltungserhaltenden Reduktion der §§ 14 ff. KStG so weit als möglich festzuhalten sei. Denn ein vollständiges Absehen von diesem Erfordernis entzöge der Organschaft einen Kernbestandteil. Als Mindestvoraussetzung auch für einen Verlustabzug „über die Grenze“ sei daher eine verbindliche schuldrechtliche Vereinbarung zwischen den beteiligten Tochter- und Muttergesellschaften zu fordern, die jedenfalls die Verpflichtung zur Verlustübernahme durch die Muttergesellschaft, beinhalten müsse. Anders als der Abschluss eines formalen GAV sei der Abschluss einer solchen schuldrechtlichen Vereinbarung auch der Klägerin und ihrer Tochter möglich gewesen. Da sie das nicht getan hätten, komme eine Verlustverrechnung nicht in Betracht.

Die Klägerin hat gegen das Urteil Revision eingelegt, das Verfahren ist beim BFH unter dem Aktenzeichen I R 26/19 anhängig.

Quelle: FG Schleswig-Holstein, Mitteilung vom 30.09.2019 zum Urteil 1 K 218/15 vom 13.03.2019 (nrkr – BFH-Az.: I R 26/19)