Nichtanwendung des BFH-Urteils I R 53/09 aufgrund Schiedsentscheidung des EuGH zu Artikel 11 Abs. 2 DBA-Österreich

Forderungen mit Gewinnbeteiligung im Sinne des Artikels 11 Absatz 2 DBA-Österreich – Auswirkungen des BFH-Urteils vom 26. August 2010 (I R 53/09)

Im Einvernehmen mit den obersten Finanzbehörden der Länder sind die Grundsätze des BFH-Urteils vom 26. August 2010 (Az. I R 53/09) über den entschiedenen Einzelfall hinaus nicht auf Fälle anzuwenden, auf die das DBA-Österreich Anwendung findet und in denen die Genussscheine durch Zinsen in Höhe eines festen Prozentsatzes ihres Nennwertes vergütet werden, eine Verminderung oder Aussetzung der Ausschüttung der Zinsen eintritt, wenn der Emittent dadurch einen Bilanzverlust erleidet und ein Ausgleich in den nachfolgenden Gewinnjahren des Emittenten zu denselben Konditionen wie die reguläre Verzinsung vorgesehen ist.

In allen anderen Fällen, in denen die Forderungsvergütung zumindest teilweise von der Höhe des Gewinns des Schuldners abhängig ist, sind die Grundsätze der BFH-Rechtsprechung zu „Forderungen mit Gewinnbeteiligung“ im Sinne des Artikels 11 DBA-Österreich zu beachten.

Begründung

Am 12. September 2017 entschied der EuGH in der Rs. C-648/15 als Schiedsgericht über eine Streitfrage nach dem DBA-Österreich infolge eines gescheiterten Verständigungsverfahrens. Gegenstand des Verfahrens war die Auslegung der Begrifflichkeit „Forderungen mit Gewinnbeteiligungen“ in Artikel 11 Abs. 2 DBA-Österreich. In seiner Funktion als Schiedsgericht nach Artikel 25 Abs. 5 DBA-Österreich entschied der EuGH die anhängige Streitfrage anders als der BFH in seinem Urteil vom 26. August 2010 (Az. I R 53/09).

Im Ergebnis verneint der Gerichtshof, dass es sich bei den streitbefangenen Zinserträgen aus Genussscheinen um Erträge aus Forderungen mit Gewinnbeteiligungen handelt. Artikel 11 Abs. 2 DBA-Österreich findet daher keine Anwendung. Die Verteilung der Besteuerungsrechte richtet sich folglich nach Artikel 11 Abs. 1 DBA-Österreich, wonach Österreich als Ansässigkeitsstaat des Nutzungsberechtigten das ausschließliche Besteuerungsrecht an den fraglichen Zinserträgen zusteht.

Die Bindungswirkung des Schiedsspruchs des EuGH beschränkt sich grundsätzlich nur auf den streitbefangenen konkret-individuellen Sachverhalt. Die darüber hinausgehende Nichtanwendung des BFH-Urteils vom 26. August 2010 (Az. I R 53/09) auf zu dem vom EuGH entschiedenen Fall gleichgelagerte Sachverhalte erfolgt zur Gewährleistung eines einheitlichen Verwaltungshandelns.

Quelle: BMF, Schreiben (koordinierter Ländererlass) IV B 3 – S-1304-AUT / 11 / 10003 vom 21.02.2019

Vorbereitungen für den Brexit: EU-Kommission veröffentlicht Brexit-Leitfaden für Unternehmen

Nachdem das britische Unterhaus (House of Commons) in seiner Abstimmung vom 15.01.2019 das geplante Austrittsabkommen abgelehnt hat, steigt nunmehr die Gefahr, dass ein sog. harter Brexit das Ausscheiden des Vereinigten Königreichs aus der EU am 29.03.2019 besiegelt. Um allen Eventualitäten eines unkontrollierten Brexit vorzubeugen, hat die EU-Kommission einen Zoll- und Steuer-Leitfaden für Unternehmen veröffentlicht.

Kommt kurzfristig kein Austrittsabkommen zustande, durch das ein Übergangszeitraum bis Ende 2020 geschaffen würde, wird das Vereinigte Königreich ab dem 30.03.2019 für Zollzwecke als Drittland behandelt. Danach würde Großbritannien den allgemeinen WTO-Regeln ohne Anwendung von Präferenzen unterliegen.

Daraus entstehen Anforderungen für alle im Binnenmarkt tätigen Unternehmen, die

  • Waren in das Vereinigte Königreich liefern oder dort Dienstleistungen erbringen;
  • Waren kaufen oder Dienstleistungen aus dem Vereinigten Königreich erhalten oder
  • Waren durch das Vereinigte Königreich befördern.

Um zu prüfen, ob Unternehmen ausreichend vorbereitet sind, die neu anfallenden Verwaltungsmaßnahmen aus praktischer Sicht zu bewerkstelligen, hat die EU-Kommission eine Brexit-Checkliste erstellt und eine eigene Website mit einer Liste praktischer Tipps und Empfehlungen eingerichtet.

Auch der Zoll informiert auf einer eigens eingerichteten Website über die neu anfallenden Zollformalitäten. Für alle Unternehmen, die durch den Brexit betroffen sind gilt, dass

  • Wirtschaftsbeteiligte sich grundsätzlich bei den Zollbehörden registrieren müssen, es wird auf Antrag eine sog. EORI-Nr. erteilt.
  • Zollanmelder müssen in der Regel in der EU ansässig sein.
  • Der Informationsaustausch zwischen Wirtschaftsbeteiligten und Zollbehörden erfolgt grundsätzlich elektronisch. Für die Nutzung des hierfür bestehenden IT-Systems ATLAS bedarf es u. a. einer Anmeldung und einer zertifizierten Software.

Quelle: DStV, Mitteilung vom 21.02.2019

Bilanzsteuerrechtliche Beurteilung vereinnahmter und verausgabter Pfandgelder

Der BFH hat mit Urteil I R 33/11 vom 9. Januar 2013 umfassend zur bilanzsteuerrechtlichen Beurteilung vereinnahmter und verausgabter Pfandgelder Stellung genommen. Das diesen Grundsätzen zum Teil entgegenstehende BMF-Schreiben vom 13. Juni 2005 (BStBl I S. 715) wird aufgehoben.

Dieses Schreiben wird im Bundessteuerblatt Teil I veröffentlicht.

Quelle: BMF, Schreiben IV C 6 – S-2133 / 13 / 10002 vom 19.02.2019

Nichtbeanstandungsregelung im Zusammenhang mit der Einführung von § 22f UStG und § 25e UStG

Haftung für Umsatzsteuer beim Handel mit Waren im Internet

Gesetz zur Vermeidung von Umsatzsteuerausfällen beim Handel mit Waren im Internet und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften

Unter Bezugnahme auf die Erörterungen mit den obersten Finanzbehörden der Länder gilt in Ergänzung des BMF-Schreibens vom 28. Januar 2019 Folgendes:

Bis zum 15. April 2019 wird es nicht beanstandet, wenn dem Betreiber eines elektronischen Marktplatzes anstelle der Bescheinigung über die Erfassung als Steuerpflichtiger (Unternehmer) nach § 22f Abs. 1 Satz 2 UStG für die in § 22f Abs. 1 Satz 4 UStG genannten Unternehmer der beim zuständigen Finanzamt bis zum 28. Februar 2019 gestellte Antrag auf Erteilung der o. g. Bescheinigung (in elektronischem Format oder als Abdruck) vorliegt.

Dieses Schreiben wird im Bundessteuerblatt Teil I veröffentlicht.

Hintergrund

Durch Artikel 9 des Gesetzes zur Vermeidung von Umsatzsteuerausfällen beim Handel mit Waren im Internet und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften vom 11. Dezember 2018 (BGBl. I S. 2338) wurden

  • § 22f (Besondere Pflichten für Betreiber eines elektronischen Marktplatzes) und
  • § 25e (Haftung beim Handel auf einem elektronischen Marktplatz)

in das Umsatzsteuergesetz (UStG) eingefügt.

Zudem wurde in § 27 UStG (Allgemeine Übergangsvorschriften) ein neuer Abs. 25 eingefügt.

Die vorgenannten Regelungen traten gemäß Artikel 20 Abs. 3 des o. g. Gesetzes am 1. Januar 2019 in Kraft.

Dieses Schreiben ergänzt das BMF-Schreiben vom 28. Januar 2019 (Az. III C 5 – S-7420 / 19 / 10002 :002).

Quelle: BMF, Schreiben (koordinierter Ländererlass) III C 5 – S-7420 / 19 / 10002 :002 vom 21.02.2019

Steuerfreiheit einer Ausschüttung einer luxemburgischen SICAV trotz vorangegangenem Bond-Stripping

Das Finanzgericht Düsseldorf hat in einem Zwischenurteil vom 17.12.2018 (Az. 2 K 3874/15 F) zu der steuerlichen Behandlung einer Ausschüttung einer luxemburgischen Investmentgesellschaft mit variablem Grundkapital (SICAV) an eine deutsche Kapitalgesellschaft nach einem vorangegangenen Bond-Stripping Stellung genommen.

Die klagende GmbH & Co. KG war persönlich haftende Gesellschafterin einer deutschen KGaA. Die KGaA war die einzige Anlegerin einer in Luxemburg errichteten SICAV. Alle drei Gesellschaften waren Ende des Jahres 2011 gegründet worden.

Die SICAV erwarb mehrere deutsche Bundesanleihen mit mehrjährigen Laufzeiten. Diese Anleihen teilte sie im Wege des sog. Bond-Strippings in die Anleihemäntel und Zinsscheine auf. Den Erlös aus der anschließenden Veräußerung der Zinsscheine schüttete die SICAV noch im Jahr 2011 an die KGaA aus.

Die Beteiligten stritten darüber, ob der Anteil der Klägerin am Beteiligungsertrag der KGaA steuerfrei ist. Die Klägerin berief sich hierzu auf das mit dem Ablauf des 29.09.2013 außer Kraft getretene deutsch-luxemburgische Doppelbesteuerungskommen. Das beklagte Finanzamt lehnte eine Steuerfreistellung als sog. Schachteldividende ab.

Dagegen hat sich die Klägerin erfolgreich zur Wehr gesetzt. In seinem Zwischenurteil hat das Finanzgericht entschieden, dass der Gewinnanteil der Klägerin steuerfrei ist. Der Senat bejahte die Voraussetzungen des abkommensrechtlichen Schachtelprivilegs. Die der Ausschüttung vorangegangene Durchführung des Bond-Strippings sei insofern unschädlich. Die SICAV sei durch die Veräußerung der Zinsscheine erwerbswirtschaftlich tätig geworden und habe einen ausschüttbaren Veräußerungsgewinn erzielt. Eine vorangegangene Vermögenssteigerung bei der ausschüttenden Gesellschaft sei für die Annahme einer Dividende nicht erforderlich. Der Senat sah in dem Vorgang auch keine Rückzahlung von Nennkapital.

Mit seinem Zwischenurteil hat der Senat über entscheidungserhebliche Vorfragen des Klageverfahrens vorab entschieden.

Die Entscheidung ist nicht rechtskräftig; die vom Finanzgericht zugelassene Revision wurde eingelegt und ist unter dem Az. I R 8/19 anhängig.

Quelle: FG Düsseldorf, Pressemitteilung vom 26.02.2019 zum Zwischenurteil 2 K 3874/15 vom 17.12.2018 (nrkr – BFH-Az.: I R 8/19)

BFH: Steuerliches Aus für bedingungslose Firmenwagennutzung bei „Minijob“ im Ehegattenbetrieb

Die Überlassung eines Firmen-Pkw zur uneingeschränkten Privatnutzung ohne Selbstbeteiligung ist bei einem „Minijob“-Beschäftigungsverhältnis unter Ehegatten fremdunüblich. Der Arbeitsvertrag ist daher steuerlich nicht anzuerkennen, wie der Bundesfinanzhof (BFH) mit Urteil vom 10. Oktober 2018 X R 44-45/17 entschieden hat.

Im Streitfall beschäftigte der gewerblich tätige Kläger seine Ehefrau als Büro- und Kurierkraft mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von neun Stunden mit einem Monatslohn von 400 Euro. Im Rahmen des Arbeitsvertrages überließ er ihr einen Pkw zur uneingeschränkten Privatnutzung. Den darin liegenden geldwerten Vorteil, der nach der sog. 1 %-Methode ermittelt wurde, rechnete der Kläger auf den monatlichen Lohnanspruch von 400 Euro an und zog seinerseits den vereinbarten Arbeitslohn als Betriebsausgabe bei seinen Einkünften aus Gewerbebetrieb ab. Das Finanzamt (FA) erkannte das Arbeitsverhältnis steuerlich jedoch nicht an, da die Entlohnung in Gestalt einer Pkw-Überlassung im Rahmen eines „Minijobs“ einem Fremdvergleich nicht standhalte. Das Finanzgericht (FG) gab der Klage dagegen statt.

Auf die Revision des FA hob der BFH die FG-Entscheidung auf und ging von einer fremdunüblichen Ausgestaltung des Arbeitsverhältnisses aus. Arbeitsverträge zwischen nahen Angehörigen müssen für die steuerrechtliche Beurteilung sowohl hinsichtlich der wesentlichen Vereinbarungen als auch der Durchführung denjenigen Maßstäben entsprechen, die fremde Dritte vereinbaren würden. Nach diesen Grundsätzen hielt der BFH jedenfalls eine uneingeschränkte und zudem selbstbeteiligungsfreie Nutzungsüberlassung eines Firmenwagens für Privatfahrten an einen familienfremden „Minijobber“ für ausgeschlossen. Denn ein Arbeitgeber werde im Regelfall nur dann bereit sein, einem Arbeitnehmer die private Nutzung eines Dienstfahrzeugs zu gestatten, wenn die hierfür kalkulierten Kosten (u. a. Kraftstoff für Privatfahrten) zuzüglich des Barlohns in einem angemessenen Verhältnis zum Wert der erwarteten Arbeitsleistung stünden. Bei einer lediglich geringfügig entlohnten Arbeitsleistung steige das Risiko des Arbeitgebers, dass sich die Überlassung eines Firmenfahrzeugs für ihn wegen einer nicht abschätzbaren Intensivnutzung durch den Arbeitnehmer nicht mehr wirtschaftlich lohne. Unerheblich war insoweit für den BFH, dass die Ehefrau für ihre dienstlichen Aufgaben im Betrieb auf die Nutzung eines Pkw angewiesen war.

Quelle: BFH, Pressemitteilung Nr. 8/19 vom 26.02.2019 zum Urteil X R 44-45/17 vom 10.10.2018

BFH: Kein allgemeinpolitisches Mandat für gemeinnützige Körperschaften – BFH entscheidet gegen attac-Trägerverein

Die Verfolgung politischer Zwecke ist im Steuerrecht nicht gemeinnützig. Gemeinnützige Körperschaften haben kein allgemeinpolitisches Mandat, wie der Bundesfinanzhof (BFH) mit Urteil vom 10. Januar 2019 V R 60/17 zu Lasten des attac-Trägervereins entschieden hat.

Gemeinnützig ist im Steuerrecht die Verfolgung der in § 52 der Abgabenordnung (AO) ausdrücklich genannten Zwecke. Hierzu gehört nicht die Verfolgung politischer Zwecke. Allerdings dürfen sich Körperschaften nach ständiger BFH-Rechtsprechung zur Förderung ihrer nach § 52 AO steuerbegünstigten satzungsmäßigen Zwecke in gewissen Grenzen auch betätigen, um z. B. zur Förderung des Umweltschutzes Einfluss auf die politische Willensbildung und die öffentliche Meinung zu nehmen.

Mit seinem Urteil verwarf der BFH die Entscheidung der Vorinstanz. Das Hessische Finanzgericht (FG) war davon ausgegangen, dass die nach § 52 AO steuerbegünstigte Förderung der Volksbildung eine Betätigung in beliebigen Politikbereichen zur Durchsetzung eigener politischer Vorstellungen ermögliche.

Demgegenüber ist nach dem Urteil des BFH für die zur Volksbildung gehörende politische Bildung wesentlich, politische Wahrnehmungsfähigkeit und politisches Verantwortungsbewusstsein zu fördern. Dabei können auch Lösungsvorschläge für Problemfelder der Tagespolitik erarbeitet werden. Politische Bildungsarbeit setzt aber ein Handeln in geistiger Offenheit voraus. Daher ist eine Tätigkeit, die darauf abzielt, die politische Willensbildung und die öffentliche Meinung im Sinne eigener Auffassungen zu beeinflussen, nicht als politische Bildungsarbeit gemeinnützig.

Im Streitfall ging es nicht um die inhaltliche Berechtigung der von attac erhobenen Forderungen. Entscheidungserheblich war vielmehr, inwieweit sich Vereine unter Inanspruchnahme der steuerrechtlichen Förderung der Gemeinnützigkeit politisch betätigen dürfen. Nach dem Urteil des BFH ist der attac-Trägerverein nicht im Rahmen gemeinnütziger Bildungsarbeit berechtigt, Forderungen zur Tagespolitik bei „Kampagnen“ zu verschiedenen Themen öffentlichkeitswirksam zu erheben, um so die politische Willensbildung und die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Dabei ging es z. B. um ein Sparpaket der Bundesregierung, die Finanztransaktionensteuer, die Bekämpfung der Steuerflucht, ein Doppelbesteuerungsabkommen, ein Bahnprojekt, die wöchentliche Arbeitszeit oder das sog. bedingungslose Grundeinkommen.

Der BFH verwies die Sache an das FG zurück. Das FG hatte nicht festgestellt, ob die für die Gemeinnützigkeit unzulässigen Betätigungen dem attac-Trägerverein selbst oder anderen Mitgliedern der attac-Bewegung zuzurechnen sind. Dies ist in einem zweiten Rechtsgang nachzuholen. Dabei hat das FG auch die Selbstdarstellung des attac-Trägervereins auf seiner Internetseite zu berücksichtigen. Ein Verlust der Gemeinnützigkeit führt insbesondere dazu, dass keine Spendenbescheinigungen (Bestätigungen über nach § 10b Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes als Sonderausgaben abziehbare Zuwendungen) ausgestellt werden dürfen. Der endgültige Ausgang des Verfahrens kann auch für die steuerrechtliche Beurteilung des Klägers in Folgejahren von Bedeutung sein.

Der attac-Trägerverein hat den BFH unter Verzicht auf das Steuergeheimnis ermächtigt, seinen Namen in Pressemitteilungen zu offenbaren.

Quelle: BFH, Pressemitteilung Nr. 9/19 vom 26.02.2019 zum Urteil V R 60/17 vom 10.01.2019

Mindestlöhne in den meisten EU-Mitgliedstaaten kräftig angehoben – neue Ansätze für europäische Koordination

Die Mindestlöhne in den 22 EU-Mitgliedstaaten, die über eine gesetzliche Lohnuntergrenze verfügen, sind zuletzt im Mittel kräftig angehoben worden – nominal um 4,8 und nach Abzug der Inflation um 2,7 Prozent. 20 EU-Mitgliedstaaten haben ihre Mindestlöhne zum 1. Januar, zum 1. Februar 2019 oder in der zweiten Hälfte 2018 erhöht, in Großbritannien ist eine Anhebung des National Minimum Wage für April beschlossen. Erstmals seit sieben Jahren stieg zum 1. Februar auch der griechische Mindestlohn wieder. Lediglich in Lettland gibt es aktuell keine Erhöhung. Die nominalen Steigerungen waren die zweitstärksten seit 2009. Das zeigt der neue Mindestlohnbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Der deutsche Mindestlohn ist mit 9,19 Euro pro Stunde weiterhin spürbar niedriger als die Lohnuntergrenzen in den westeuropäischen Euro-Staaten, die alle 9,66 Euro und mehr Stundenlohn vorsehen, in Frankreich erstmals über zehn und in Luxemburg sogar 11,97 Euro.

„Insgesamt ist innerhalb der EU bereits seit einigen Jahren ein Trend zu deutlich höheren Mindestlohnsteigerungen zu beobachten, der sich auch 2019 weiter fortgesetzt hat“, schreiben die WSI-Tarifexperten Prof. Dr. Thorsten Schulten und Dr. Malte Lübker. Die höchste Dynamik beobachten die Wissenschaftler in den mittel- und osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten, wo die Zuwachsraten aktuell meist zwischen sieben und zehn Prozent liegen. In den west- und südeuropäischen Mitgliedsländern reichen die Anhebungen von 1,4 Prozent in den Niederlanden bis 4,0 Prozent in Deutschland (allerdings für zwei Jahre, da 2018 nicht erhöht wurde), 4,4 Prozent in Großbritannien und 11 Prozent in Griechenland. Spanien und Litauen stechen besonders heraus: Dort wurden die Lohnuntergrenzen zum 1. Januar sogar um gut 22 bzw. um 38 Prozent angehoben – jeweils mit dem erklärten Vorsatz der Regierungen, den Mindestlohn im Verhältnis zu den mittleren Löhnen im Land strukturell zu erhöhen. In Großbritannien hat die konservative Regierung das Ziel ausgegeben, bis 2020 die Lohnuntergrenze auf 60 Prozent des mittleren (Median-)Lohns zu bringen.

Ab diesem Niveau, gemessen am jeweiligen nationalen Median, können Löhne nach Ansicht von Armutsforschern als einigermaßen „existenzsichernd“ gelten, weil Alleinstehende dann in der Regel ohne spezielle Sozialtransfers von ihrer Arbeit leben können und das Risiko von Altersarmut sinkt. Vorschläge, europaweit ein entsprechendes Mindestniveau zu verankern, finden nach Analyse der WSI-Experten zunehmend Unterstützer. So ist im Koalitionsvertrag der Bundesregierung vereinbart, dass sich die deutsche Ratspräsidentschaft im kommenden Jahr um einen „europäischen Rechtsrahmen für Mindestlöhne“ bemühen soll. Die Bundesminister Katarina Barley, Olaf Scholz und Hubertus Heil haben das kürzlich bekräftigt und für 2020 eine entsprechende Initiative angekündigt. Eine europäische Koordinierung mit dem Ziel, in allen Mitgliedsländern beim Mindestlohn „ein angemessenes, existenzsicherndes Niveau“ zu erreichen, könne nationale Initiativen unterstützen und „der Idee eines sozialeren Europas praktische Gestalt verleihen“, schreiben die WSI-Experten Schulten und Lübker.

Trotz der aktuellen Erhöhungen sei der Mindestlohn in den meisten Ländern aber noch ein erhebliches Stück vom 60-Prozent-Ziel entfernt, betonen die Forscher. Das gelte gerade auch für Deutschland, wo der Mindestlohn aktuell nicht einmal die Hälfte des Medianlohns erreicht. Bei 60 Prozent müsste der deutsche Mindestlohn auf annähernd 12 Euro angehoben werden.

In Westeuropa fast überall mehr als 9,60 Euro

In den westeuropäischen Ländern mit Mindestlohn betragen die niedrigsten erlaubten Brutto-Stundenlöhne mit Ausnahme von Großbritannien und Deutschland mehr als 9,60 Euro. In Belgien müssen mindestens 9,66 Euro gezahlt werden, in Irland 9,80 Euro, in den Niederlanden 9,91 Euro und in Frankreich 10,03 Euro. Den mit Abstand höchsten Mindestlohn hat Luxemburg mit 11,97 Euro. Der Mindestlohn in Großbritannien liegt umgerechnet mit aktuell 8,85 Euro und 9,28 Euro ab dem 1. April etwas niedriger, wäre ohne die starke Abwertung des Britischen Pfundes aber deutlich höher. Keinen Mindestlohn haben Österreich, die nordischen Länder und Italien. In diesen Staaten besteht aber meist eine sehr hohe Tarifbindung, die auch vom Staat stark unterstützt wird. Faktisch setzen dort also Tarifverträge eine allgemeine Untergrenze, die, so Schulten und Lübker, „in der Regel oberhalb der gesetzlichen Mindestlöhne in Westeuropa liegt“.

Die südeuropäischen EU-Mitgliedstaaten setzen Lohnuntergrenzen von 3,61 Euro in Portugal und 3,76 Euro in Griechenland bis 5,45 Euro in Spanien. Fast gleichauf liegt mit 5,10 Euro Slowenien. In den meisten anderen mittel- und osteuropäischen Staaten sind die Mindestlöhne noch niedriger. Allerdings haben sie durch die stärkeren Zuwächse weiter aufgeholt. So müssen etwa in Litauen jetzt umgerechnet 3,39 Euro pro Stunde bezahlt werden, in Tschechien 3,11 Euro, in Polen 3,05 Euro und in Rumänien 2,68 Euro. Der niedrigste EU-Mindestlohn gilt in Bulgarien mit 1,72 Euro.

Zudem spiegeln die Niveauunterschiede zum Teil unterschiedliche Lebenshaltungskosten wider. Legt man Kaufkraftstandards (KKS) zugrunde, reduziert sich das Verhältnis zwischen den EU-Mitgliedstaaten mit niedriger und relativ hoher Untergrenze von 1 zu 4 auf 1 zu 2,3. Rumänien liegt bei dieser Betrachtungsweise beispielsweise vor Portugal und Griechenland. Mindestlohnempfänger in Deutschland profitieren etwas vom im westeuropäischen Vergleich niedrigeren Preisniveau. Allerdings bleibt ihre Kaufkraft trotzdem hinter der von Mindestlohnempfängern in Luxemburg, Frankreich und den Niederlanden zurück, Belgien liegt gleichauf.

Deutscher Mindestlohn weiter moderat

Der deutsche Mindestlohn ist auch gemessen am allgemeinen Lohnniveau im Land moderat. Das zeigt ein Blick auf den Medianlohn. Hierzulande entsprach der Mindestlohn 2017, dem letzten Jahr, für das internationale Vergleichsdaten vorliegen, knapp 48 Prozent des Medianlohns. 12 EU-Mitgliedstaaten kamen auf höhere Werte, darunter Portugal, Polen, Großbritannien oder Luxemburg. Weit vorne im EU-Vergleich rangiert Frankreich, wo die Untergrenze bei 61,8 Prozent des Medians liegt.

Auch außerhalb der EU sind Mindestlöhne weit verbreitet, und sie wurden fast überall zum Jahresanfang spürbar angehoben. Exemplarisch betrachtet das WSI die Mindestlöhne in 15 Ländern mit ganz unterschiedlichen Mindestlohnhöhen. Sie reichen von umgerechnet 78 Cent in Moldawien und der Ukraine, 88 Cent landesweit in Russland und 1,05 Euro in Brasilien über 2,30 Euro in der Türkei, 6,14 Euro in den USA und 6,70 Euro in Japan bis zu 9,67 Euro in Neuseeland und 11,98 Euro in Australien. Insbesondere in den USA gibt es neben dem nationalen Mindestlohn höhere regionale Untergrenzen. Der höchste Mindestlohn auf der Ebene von Bundesstaaten gilt in Kalifornien, Massachusetts und Washington (12 Dollar, umgerechnet 10,16 Euro). Darüber hinaus führen immer mehr Städte lokale Mindestlöhne ein, die weit über dem nationalen und regionalen Niveau liegen. So müssen Arbeitnehmer in Seattle mindestens 16 Dollar (13,55 Euro) erhalten, in New York City und San Francisco umgerechnet 12,70 Euro.

Quelle: Hans-Böckler-Stiftung, Pressemitteilung vom 14.02.2019

Bundesrat will Brexit-Steuergesetz ändern

Der Bundesrat hat Änderungswünsche an dem von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über steuerliche und weitere begleite Regelungen zum Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union ( 19/7377 ) angemeldet. In der von der Bundesregierung als Unterrichtung ( 19/7916 ) vorgelegten Stellungnahme der Länder heißt es, es seien ergänzende Regelungen bei der Erbschaftsteuer notwendig. Die Steuerbegünstigungen bei der Erbschaft- und Schenkungsteuer würden auch für Vermögen gewährt, welches sich innerhalb der Europäischen Union befinde. „In Fällen, in denen eine gewährte Steuerbefreiung beim Eintritt bestimmter Ereignisse nachträglich entfällt, lässt es sich nicht rechtfertigen, wenn allein der Brexit zu einer Nachversteuerung führt“, heißt es in der Stellungnahme. In bestimmten Fällen des Erbschaftsteuerrechts, etwa bei der Anwendung der Lohnsummenregelung bei der Steuerbegünstigung für Unternehmensvermögen, soll sichergestellt werden, das Großbritannien weiterhin wie ein Mitgliedstaat der EU behandelt wird. Auf diese Weise könne der Status quo gewahrt werden.

Ein weiterer Änderungsvorschlag betrifft das Pfandbriefgesetz. Die Deckungsfähigkeit britischer Vermögenswerte soll auch weiterhin und dauerhaft anerkannt werden. Damit werde vermieden, dass für deutsche Pfandbriefbanken durch den Brexit sachlich nicht gerechtfertigte Nachteile entstehen würden. Die bisher vorgesehene Altfallregelung reiche nicht aus: „Demnach wären deutsche Pfandbriefbanken zukünftig gehindert, Kredite mit britischen Deckungswerten über einen Pfandbrief zu refinanzieren.“ Großbritannien soll nach dem Vorschlag des Bundesrates daher wie die Schweiz oder die USA in den Kreis der Drittstaaten aufgenommen werden. Aus diesen Ländern sind Deckungswerte zugelassen. „Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass etwa britische Hypotheken in ihrer Werthaltigkeit und Durchsetzbarkeit gegenüber Sicherheiten aus den anderen Staaten künftig negativ abfallen würden“, argumentiert der Bundesrat. Ohne eine Gesetzesänderung könnten deutsche Pfandbriefbanken ab dem Austrittstermin auf dem britischen Markt nur noch deutlich schlechtere Finanzierungskonditionen im Wettbewerb mit Instituten aus Großbritannien und anderen Staaten anbieten. Das attraktive britische Kreditgeschäft würde unwiederbringlich wegfallen.

Die Bundesregierung stimmt in ihrer Gegenäußerung den Vorschlägen zum Erbschaftsteuergesetz zu. Die Wünsche zum Pfandbriefgesetz will sie prüfen.

Quelle: Deutscher Bundestag, Mitteilung vom 20.02.2019

Zu Unrecht für die Herstellung von Krebsmedikamenten gezahlte Umsatzsteuer kann unter Umständen teilweise zurückgefordert werden

Streit zwischen privaten Krankenversicherern und Krankenhäusern

Der Bundesgerichtshof hat am 20.02.2019 entschieden, dass eine – tatsächlich nicht angefallene – Umsatzsteuer, die für patientenindividuell hergestellte Zytostatika im Rahmen einer ambulanten Krankenhausbehandlung seitens der Apotheke des Krankenhauses in Übereinstimmung mit der Sichtweise der maßgeblichen Verkehrskreise als Teil der geschuldeten Vergütung berechnet worden ist, unter bestimmten Voraussetzungen – abzüglich des nachträglich entfallenden Vorsteuerabzugs der Krankenhausträger – an die Patienten beziehungsweise an deren private Krankenversicherer zurückzugewähren ist. Dies ergibt sich aus einer gebotenen ergänzenden Vertragsauslegung der getroffenen Vereinbarungen.

Sachverhalt:

Den entschiedenen vier Fällen liegen Rückforderungsbegehren privater Krankenversicherer aus übergegangenem Recht der bei ihnen versicherten Patienten zugrunde. Die Patienten haben an den jeweiligen Krankenhausträger Umsatzsteuer für die durch die hauseigenen Apotheken patientenindividuell erfolgte Herstellung von Zytostatika (Krebsmedikamenten zur Anwendung in der Chemotherapie), die im Rahmen ambulanter Krankenhausbehandlungen verabreicht wurden, gezahlt. Für die Abgabe solcher Medikamente an in den Jahren 2012 und 2013 ambulant in den Krankenhäusern behandelte Patienten stellten die beklagten Krankenhausträger jeweils Rechnungen aus, die eine Umsatzsteuer in Höhe von 19 % auf den Abgabepreis entweder gesondert auswiesen oder miteinschlossen. Die Finanzbehörden und die maßgeblichen Verkehrskreise gingen zum damaligen Zeitpunkt von einer entsprechenden Umsatzsteuerpflicht aus. Den in den Rechnungsbeträgen enthaltenen Umsatzsteueranteil führten die beklagten Krankenhausträger an die zuständigen Finanzämter ab. Dass die Umsatzsteuerfestsetzungen bestandskräftig geworden seien, haben die Beklagten nicht geltend gemacht. Die Krankenversicherer der Patienten erstatteten diesen die Rechnungsbeträge nach Maßgabe der jeweils geschlossenen Versicherungsverträge vollständig oder anteilig.

Im Jahr 2014 erging ein Urteil des Bundesfinanzhofs (im Folgenden: BFH; veröffentlicht in BFHE 247, 369), wonach die Verabreichung individuell für den einzelnen Patienten in einer Krankenhausapotheke hergestellter Zytostatika im Rahmen einer ambulant in einem Krankenhaus durchgeführten Heilbehandlung als ein mit der ärztlichen Heilbehandlung eng verbundener Umsatz gemäß § 4 Nr. 16b UStG a. F. (= § 4 Nr. 14b UStG n. F.) steuerfrei ist. Im Jahr 2016 folgte ein Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen (Az. III C 3 – S-7170 / 11 / 10004; UR 2016, 891), mit dem dieses unter entsprechender Änderung des Umsatzsteuer-Anwendungserlasses klarstellte, dass der Entscheidung des BFH in der Finanzverwaltung gefolgt werde. Zugleich wies das Bundesministerium der Finanzen in dem genannten Schreiben unter anderem auf die Möglichkeit einer Berichtigung der wegen unrichtigen Ausweises der Steuer geschuldeten Beträge nach dem Umsatzsteuergesetz und auf einen dann eintretenden rückwirkenden Ausschluss der hierauf bezogenen Vorsteuerabzüge hin.

Bisherige Prozessverläufe:

Die Berufungsgerichte sind mit verschiedenen Begründungsansätzen zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangt, wobei sie sich im Schwerpunkt damit zu befassen hatten, welchen Inhalt die jeweiligen vertraglichen Preisabreden zwischen den Krankenhausträgern und den Patienten und welche Auswirkungen die Entscheidung des BFH und das Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen auf diese Vereinbarungen haben.

In dem Verfahren VIII ZR 7/18 hat das Berufungsgericht eine stillschweigend zustande gekommene Bruttopreisabrede bejaht, also die Umsatzsteuer als unselbständigen Vergütungsanteil bewertet. Es hat dann aber eine Anpassung des Vertrags wegen Störung der Geschäftsgrundlage angenommen und den beklagten Krankenhausträger zur vollständigen Rückzahlung der entrichteten Umsatzsteueranteile verurteilt. Demgegenüber ist das Berufungsgericht in der Sache VIII ZR 66/18 von Nettopreisabreden ausgegangen und hat angenommen, dass der zu Unrecht gezahlte Umsatzsteueranteil infolge seiner Selbständigkeit von vornherein nicht geschuldet gewesen und daher nach Bereicherungsrecht zurückzugewähren sei. In dem Rechtsstreit VIII ZR 115/18 hat das Berufungsgericht dem beklagten Krankenhausträger ein bis zur Grenze der Unbilligkeit bindendes Preisbestimmungsrecht zugestanden, das dieser in Form einer Bruttopreisabrede wirksam ausgeübt habe. Dementsprechend hat es einen Rückforderungsanspruch des klagenden Krankenversicherers verneint. In dem Verfahren VIII ZR 189/18 hat sich das Berufungsgericht mit dem Charakter der Preisabreden nicht näher befasst, wegen einer Störung der Geschäftsgrundlage aber einen Rückforderungsanspruch bezüglich der zu Unrecht entrichteten Umsatzsteuer dem Grunde nach bejaht, diesen allerdings in der Höhe des drohenden Wegfalls des vorgenommenen Vorsteuerabzugs gekürzt.

Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs:

Der unter anderem für das Kaufrecht zuständige VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat sämtliche Berufungsurteile aufgehoben und die Sachen an das jeweilige Berufungsgericht zurückverwiesen.

Die jeweils getroffenen Vereinbarungen zwischen Patient und Krankenhausträger über die Vergütung für die Verabreichung von Zytostatika sind als Bruttopreisabreden einzuordnen, bei denen der darin eingeschlossene – tatsächlich aber nicht angefallene – Umsatzsteueranteil nur einen unselbständigen und damit (anders als bei einer Nettopreisabrede) nicht automatisch rückforderbaren Vergütungsbestandteil darstellt. Denn die Annahme einer Nettopreisvereinbarung setzt eine – hier nicht gegebene – unmissverständliche Übereinkunft dahin voraus, dass der Umsatzsteueranteil nur gezahlt werden muss, wenn und soweit er steuerrechtlich geschuldet ist. Über die konkrete Höhe der (Bruttopreis-)Vergütungen haben sich die Vertragsparteien hier spätestens durch Rechnungstellung und vorbehaltlose Zahlung stillschweigend geeinigt. Anders als teilweise angenommen, wurde den Krankenhausträgern nicht ein Recht zu einer – bis zur Grenze der Unbilligkeit bindenden – einseitigen Preisbestimmung eingeräumt. Ein solches widerspräche dem (wirklichen oder mutmaßlichen) Willen und den Interessen der Beteiligten.

Die getroffenen Bruttopreisabreden hindern jedoch eine (teilweise) Rückforderung des gezahlten Umsatzsteueranteils nicht. Denn im Hinblick auf das Urteil des BFH aus dem Jahr 2014 und das diese Rechtsprechung (auch) rückwirkend für anwendbar erklärende Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom September 2016 ist es den Krankenhausträgern nunmehr möglich, die zunächst an das Finanzamt abgeführten Umsatzsteuerbeträge – ohne auf eine finanzgerichtliche Durchsetzung ihrer Ansprüche angewiesen zu sein – nachträglich zurückzufordern. Dies führt unter bestimmten Umständen dazu, dass die Preisvereinbarungen eine planwidrige Regelungslücke aufweisen, die im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung zu schließen ist. Hierfür ist maßgebend, ob die Vertragsparteien bei Kenntnis der – bereits zum Zeitpunkt der Vertragsschlüsse bestandenen – wahren Steuerrechtslage sowie der daran anknüpfenden rechtstatsächlichen Entwicklungen (Änderung der Steuerpraxis) als redliche Vertragsparteien hypothetisch einen abweichenden Preis vereinbart hätten. Diese hypothetisch vereinbarte Vergütung ist, da dem Krankenhausträger bei der steuerrechtlichen Rückabwicklung auf jeden Fall ein etwaig bezüglich der eingekauften Grundstoffe vorgenommener Vorsteuerabzug rückwirkend verloren geht, nicht ohne weiteres mit dem Nettopreis gleichzusetzen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Vertragsparteien statt der angesetzten Vergütung hypothetisch einen um die Differenz zwischen Umsatzsteueranteil und vorgenommenem Vorsteuerabzug verminderten Preis vereinbart hätten.

Daher ist von den Berufungsgerichten – soweit noch nicht geschehen – zu klären, ob und in welcher Höhe auf die getätigten Umsätze bezogene Vorsteuerabzüge von den beklagten Krankenhausträgern vorgenommen worden sind. Dagegen haben die Berufungsgerichte keine Feststellungen zu dem den beklagten Krankenhausträgern bei einer Rückabwicklung entstehenden, von diesen jeweils nicht näher konkretisierten Verwaltungsaufwand zu treffen. Denn dieser hat für eine ergänzende Vertragsauslegung ebenso außer Betracht zu bleiben wie auch der Umstand, dass die Patienten die Umsatzsteuer nachträglich betrachtet für eine ungewisse Zeit „verauslagt“ haben.

In bestimmten Fällen können dem Krankenhausträger allerdings erhebliche finanzielle Nachteile aus der Festsetzung von Nachzahlungszinsen (§§ 233a, 238 AO) auf den rückwirkend entfallenden Vorsteuerabzug drohen. Dies könnte dann der Fall sein, wenn die Krankenhausträger – wie in den Verfahren VIII ZR 115/18 und VIII ZR 189/18 – Rechnungen mit den in § 14 Abs. 4 Satz 1 Nr. 7 und 8, § 14c Abs. 1 Satz 1 UStG vorgesehenen Angaben (Nettoentgelt, Steuersatz, Steuerbetrag) ausgestellt haben (gesonderter Umsatzsteuerausweis). Denn dann ist die Umsatzsteuer bis zu dem Zeitpunkt der Rechnungskorrektur und Berichtigung des Steuerbetrags gegenüber dem Finanzamt geschuldet (§ 14c Abs. 1 Satz 2, § 17 Abs. 1 Satz 7 UStG) und somit von der Finanzverwaltung bis dahin nicht zugunsten des Krankenhausträgers zu verzinsen. Demgegenüber hätten die Krankenhausträger bei strikter Anwendung der Zinsvorschriften Zinsen auf die vorgenommenen (und nun rückwirkend entfallenden) Vorsteuerabzüge bereits 15 Monate nach dem Zeitpunkt der Steuerentstehung (2012, 2013) zu entrichten. Damit kann derzeit nicht ausgeschlossen werden, dass die zulasten der Krankenhausträger auf die nachzuentrichtenden Vorsteuerabzugsbeträge vom Finanzamt festzusetzenden Zinsen der Höhe nach einen Betrag erreichen, der der Differenz zwischen gezahlter Umsatzsteuer und entfallendem Vorsteuerabzug entspricht. Bei einer solchen Sachlage hätten die Vertragsparteien aller Voraussicht nach keine abweichenden Preisvereinbarungen getroffen, sodass eine ergänzende Vertragsauslegung ausschiede.

Es ist daher in den Verfahren VIII ZR 115/18 und VIII ZR 189/18 von den Berufungsgerichten – gegebenenfalls durch Einholung einer Auskunft der zuständigen Finanzämter – (weiter) zu klären, ob und in welcher Höhe diese im Rahmen ihrer Spielräume Nachzahlungszinsen erheben werden, die gegebenenfalls einer ergänzenden Vertragsauslegung und damit einem bereicherungsrechtlichen Rückforderungsanspruch der Patienten entgegenstünden.

Die maßgeblichen Vorschriften lauten:

§ 4 Nr. 14b UStG Steuerbefreiungen bei Lieferungen und sonstigen Leistungen

Von den unter § 1 Abs. 1 Nr. 1 fallenden Umsätzen sind steuerfrei:

[…]

14.

[…]

b) 1Krankenhausbehandlungen und ärztliche Heilbehandlungen einschließlich der Diagnostik, Befunderhebung, Vorsorge, Rehabilitation, Geburtshilfe und Hospizleistungen sowie damit eng verbundene Umsätze, die von Einrichtungen des öffentlichen Rechts erbracht werden. 2Die in Satz 1 bezeichneten Leistungen sind auch steuerfrei, wenn sie von

aa) zugelassenen Krankenhäusern nach § 108 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch,

bb) Zentren für ärztliche Heilbehandlung und Diagnostik oder Befunderhebung, die an der vertragsärztlichen Versorgung nach § 95 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch teilnehmen oder für die Regelungen nach § 115 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch gelten,

[…]

erbracht werden und es sich ihrer Art nach um Leistungen handelt, auf die sich die Zulassung, der Vertrag oder die Regelung nach dem Sozialgesetzbuch jeweils bezieht, […]

[…]

§ 14 UStG Ausstellung von Rechnungen

[…]

(4) 1Eine Rechnung muss folgende Angaben enthalten:

[…]

7. das nach Steuersätzen und einzelnen Steuerbefreiungen aufgeschlüsselte Entgelt für die Lieferung oder sonstige Leistung (§ 10) sowie jede im Voraus vereinbarte Minderung des Entgelts, sofern sie nicht bereits im Entgelt berücksichtigt ist,

8. den anzuwendenden Steuersatz sowie den auf das Entgelt entfallenden Steuerbetrag oder im Fall einer Steuerbefreiung einen Hinweis darauf, dass für die Lieferung oder sonstige Leistung eine Steuerbefreiung gilt,

[…]

§ 14c UStG Unrichtiger oder unberechtigter Steuerausweis

(1) 1Hat der Unternehmer in einer Rechnung für eine Lieferung oder sonstige Leistung einen höheren Steuerbetrag, als er nach diesem Gesetz für den Umsatz schuldet, gesondert ausgewiesen (unrichtiger Steuerausweis), schuldet er auch den Mehrbetrag. 2Berichtigt er den Steuerbetrag gegenüber dem Leistungsempfänger, ist § 17 Abs. 1 entsprechend anzuwenden. […]

[…]

§ 15 UStG Vorsteuerabzug

(1) 1Der Unternehmer kann die folgenden Vorsteuerbeträge abziehen:

1. die gesetzlich geschuldete Steuer für Lieferungen und sonstige Leistungen, die von einem anderen Unternehmer für sein Unternehmen ausgeführt worden sind. […]

[…]

(2) 1Vom Vorsteuerabzug ausgeschlossen ist die Steuer für die Lieferungen, die Einfuhr und den innergemeinschaftlichen Erwerb von Gegenständen sowie für die sonstigen Leistungen, die der Unternehmer zur Ausführung folgender Umsätze verwendet:

1.steuerfreie Umsätze;

[…]

§ 17 UStG Änderung der Bemessungsgrundlage

(1) 1Hat sich die Bemessungsgrundlage für einen steuerpflichtigen Umsatz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 1 geändert, hat der Unternehmer, der diesen Umsatz ausgeführt hat, den dafür geschuldeten Steuerbetrag zu berichtigen. […] 7Die Berichtigungen nach den Sätzen 1 und 2 sind für den Besteuerungszeitraum vorzunehmen, in dem die Änderung der Bemessungsgrundlage eingetreten ist. […]

[…]

§ 233a AO Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen

(1) 1Führt die Festsetzung der Einkommen-, Körperschaft-, Vermögen-, Umsatz- oder Gewerbesteuer zu einem Unterschiedsbetrag im Sinne des Absatzes 3, ist dieser zu verzinsen. […]

(2) 1Der Zinslauf beginnt 15 Monate nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem die Steuer entstanden ist. […] 3Er endet mit Ablauf des Tages, an dem die Steuerfestsetzung wirksam wird.

[…]

(3) 1Maßgebend für die Zinsberechnung ist die festgesetzte Steuer, vermindert um die anzurechnenden Steuerabzugsbeträge, um die anzurechnende Körperschaftsteuer und um die bis zum Beginn des Zinslaufs festgesetzten Vorauszahlungen (Unterschiedsbetrag). […] 3Ein Unterschiedsbetrag zugunsten des Steuerpflichtigen ist nur bis zur Höhe des zu erstattenden Betrags zu verzinsen; die Verzinsung beginnt frühestens mit dem Tag der Zahlung.

[…]

(5) […] 2Maßgebend für die Zinsberechnung ist der Unterschiedsbetrag zwischen der festgesetzten Steuer und der vorher festgesetzten Steuer, jeweils vermindert um die anzurechnenden Steuerabzugsbeträge und um die anzurechnende Körperschaftsteuer. […]

[…]

§ 238 AO Höhe und Berechnung der Zinsen

(1) 1Die Zinsen betragen für jeden Monat einhalb Prozent. […]

[…]

Quelle: BGH, Pressemitteilung vom 20.02.2019 zu den Urteilen VIII ZR 7/18, VIII ZR 66/18, VIII ZR 115/18 und VIII ZR 189/18 vom 20.02.2019

Steuern & Recht vom Steuerberater M. Schröder Berlin