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Abgabenordnung: Zinssatz von 6 Prozent p. a. gem. § 238 Abs. 1 AO bei Aussetzungszinsen verfassungswidrig?

Finanzgericht Hamburg  v. 23.05.2013 – 2 K 50/12

Leitsatz

Die Anwendung des Zinssatzes von 6 % per anno gem. § 238 Abs. 1 AO auf ausgesetzte Steuerbeträge gem. § 237 AO verstößt trotz kontinuierlich gesunkenen Zinsniveaus jedenfalls für einen Zinslauf von 2004 bis 2011 nicht gegen die Verfassung.

 

Gesetze: AO § 237 AO § 238 GG Art. 19 Abs. 4 GG Art. 20 Abs. 3

Verfahrensstand: Revision eingelegt

Streitig ist die Festsetzung von Aussetzungszinsen.

Die Kläger sind Eheleute, die im Veranlagungszeitraum 2002 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt wurden. Sie hatten am … 1996 eine Eigentumswohnung erworben, die sie am … 2002 wieder veräußerten. Mit Bescheid vom 08.10.2004 setzte der Beklagte die Einkommensteuer für 2002 insoweit unter Berücksichtigung eines Veräußerungsgewinns von 61.539 € als Einkünfte aus einem privaten Veräußerungsgeschäft i. S. von § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) fest. Hiergegen richtete sich der Einspruch vom 14.10.2004, mit dem sich die Kläger auf die Verfassungswidrigkeit der rückwirkenden Verlängerung der Spekulationsfrist beriefen. Auf den am selben Tag gestellten Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gewährte der Beklagte am 26.10.2004 Aussetzung der Vollziehung in Höhe der auf den Veräußerungsgewinn entfallenden Steuer von 29.632 €. Am 28.10.2004 ordnete der Beklagte das Ruhen des Verfahrens gem. § 363 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO) bis zur Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) in der Sache IX R 46/02 an. Dieses Verfahren hatte der BFH mit Beschluss vom 16.12.2003 ausgesetzt und das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) angerufen zu der Frage, ob § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 EStG i. V. m. § 52 Abs. 39 Satz 1 EStG in der Fassung des StEntlG 1999/2000/2002 vom 24.03.1999 mit dem Grundgesetz (GG) insoweit unvereinbar ist, als danach auch private Grundstücksveräußerungsgeschäfte nach dem 31.12.1998, bei denen zu diesem Stichtag die zuvor geltende Spekulationsfrist von zwei Jahren (§ 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a EStG a. F.) bereits abgelaufen war, übergangslos der Einkommensbesteuerung unterworfen werden.

Nachdem das BVerfG am 07.07.2010 entschieden hatte (2 BvL 2/04), behandelte der Beklagte nur noch einen Betrag von 34.078 € als steuerpflichtigen Veräußerungsgewinn und setzte mit geändertem Einkommensteuerbescheid für 2002 vom 15.02.2011 die Einkommensteuer entsprechend niedriger fest. Zugleich wurde die gewährte Aussetzung der Vollziehung aufgehoben. Mit Bescheid vom 30.03.2011 setzte der Beklagte auf den ausgesetzten Betrag gem. § 237 Abs. 1 Satz 1 AO i. V. m. § 238 AO Aussetzungszinsen für die Zeit vom 11.11.2004 bis zum 21.03.2011, mithin für 76 Monate, in Höhe von 6.023,00 € fest. Hiergegen richtete sich der Einspruch vom 14.04.2011, mit dem sich die Kläger darauf beriefen, dass die Festsetzung der Zinsen wegen der extrem langen Verfahrensdauer von 6 Jahren und vier Monaten nicht nur überraschend, sondern auch willkürlich und verfassungswidrig sei. Im Einklang mit der Verfassung könne allenfalls eine Verzinsung für die Dauer eines Jahres sein. Mit Entscheidung vom 02.12.2011 wies der Beklagte den Einspruch zurück. Die Zinsfestsetzung sei nach Maßgabe der gesetzlichen Regelung erfolgt.

Am 04.01.2012 haben die Kläger Klage erhoben. Sie berufen sich weiterhin darauf, dass die Zinsfestsetzung wegen der überlangen Verfahrensdauer verfassungs- und menschenrechtswidrig sei. § 237 AO müsse verfassungskonform dahin ausgelegt werden, dass er bei überlanger Verfahrensdauer nicht anzuwenden sei und schon gar nicht Zinsen in Höhe von 6 Prozent per anno festgesetzt werden dürften. Sie, die Kläger, dürften auch nicht gezwungen werden, zur Vermeidung der Zinslast den streitigen Steuerbetrag erst einmal zu zahlen.

Die Kläger beantragen sinngemäß,

den Bescheid über Aussetzungszinsen vom 30.03.2011 und die Einspruchsentscheidung vom 06.12.2011 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte weist darauf hin, dass die Zinsfestsetzung dem geltenden Recht ebenso entspreche wie dem Sinn und Zweck der Verzinsungspflicht, die den Nutzungsvorteil abschöpfen solle, den der Steuerpflichtige durch die Aussetzung der Vollziehung derjenigen Steuerbeträge erlange, die im Ergebnis dem Fiskus zustünden.

Die die Kläger betreffende Einkommensteuerakte nebst Beiakten zur Steuernummer …/…/… hat vorgelegen.

Die Beteiligten haben übereinstimmend auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

Das Gericht entscheidet gem. § 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung.

I. Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg. Die Festsetzung der Zinsen entspricht der geltenden Rechtslage (dazu 1.), durchgreifende verfassungsrechtliche Zweifel an der Zinshöhe bestehen für den streitigen Zeitraum nicht (dazu 2.).

1. Nach § 237 Abs. 1 Satz 1 AO ist, soweit ein Einspruch oder eine Anfechtungsklage gegen einen Steuerbescheid, eine Steueranmeldung oder einen Verwaltungsakt, der einen Steuervergütungsbescheid aufhebt und ändert, oder gegen eine Einspruchsentscheidung über einen dieser Verwaltungsakte endgültig keinen Erfolg gehabt hat, der geschuldete Betrag, hinsichtlich dessen die Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts ausgesetzt wurde, zu verzinsen. Zinsen werden nach Absatz 2 dieser Vorschrift erhoben vom Tag des Eingangs des außergerichtlichen Rechtsbehelfs bei der Behörde, deren Verwaltungsakt angefochten wird, oder vom Tag der Rechtshängigkeit beim Gericht an bis zum Tag, an dem die Aussetzung der Vollziehung endet. Die Zinsen betragen nach § 238 Abs. 1 AO für jeden Monat einhalb Prozent. Sie sind von dem Tag an, an dem der Zinslauf beginnt, nur für volle Monate zu zahlen; angefangene Monate bleiben außer Ansatz.

Der Beklagte hat am 26.10.2004 Aussetzung der Vollziehung der Einkommensteuer 2002 in Höhe von 29.632,00 € gewährt. Der Einspruch hatte endgültig keinen Erfolg in Höhe eines Steuerbetrages von 15.850 €. Für die Verzinsung dieses Betrages begann der Zinslauf mit der Fälligkeit der Steuer am 11.11.2004 und endete am 21.03.2011. Die hierauf entfallenden, mit dem angegriffenen Zinsbescheid festgesetzten Zinsen betragen 6.023,00 €. Die Zinsfestsetzung entspricht der geltenden Rechtslage.

Die Frage eines eventuellen Zinsverzichts als Billigkeitserweis gem. § 237 Abs. 4 AO i. V. m. § 234 Abs. 2 AO, der für die Kläger wirtschaftlich auf dasselbe Ergebnis hinausliefe, kann nicht in diesem Anfechtungsverfahren geltend gemacht werden, sondern wäre in einem gesonderten Verfahren zu klären.

2. Das Gericht ist nicht gehalten, das Verfahren gem. Art. 100 Abs. 1 GG auszusetzen und eine Entscheidung des BVerfG zu der Frage einzuholen, ob die Festsetzung von Aussetzungszinsen entsprechend § 238 AO i. V. m. § 237 Abs. 1 AOverfassungswidrig ist, weil die vorhandenen verfassungsrechtlichen Zweifel gegenwärtig für eine Vorlage nicht ausreichen.

a) Aussetzungszinsen sind erstmals durch das Steueränderungsgesetz vom 13.07.1961 ( BGBl 1961 I S. 981) eingeführt worden. Seit Inkrafttreten der Abgabenordnung am 01.01.1977 regelt § 237 AO die Verzinsung im Falle der Aussetzung der Vollziehung. Der gesetzliche Zinssatz entspricht der bereits zuvor bestehenden Rechtslage nach § 5 Steuersäumnisgesetz. Danach betrugen die Zinsen für jeden Monat einhalb vom Hundert. Sie waren von dem Tag an, an dem der Zinslauf begann, nur für volle Monate zu zahlen; angefangene Monate blieben außer Ansatz. Sinn und Zweck der Verzinsungspflicht gem. § 237 AO ist es, den Nutzungsvorteil wenigstens zum Teil abzuschöpfen, den der Steuerpflichtige dadurch erhält, dass er während der Dauer der Aussetzung über eine Geldsumme verfügen kann, die nach dem im angefochtenen Steuerbescheid konkretisierten materiellen Recht „an sich” dem Steuergläubiger zusteht (vgl. z. B. BFH vom 24.07.1979 VII R 67/76, BStBl 1979 II S. 712; vom 20.09.1995 X R 86/94, BStBl 1996 II S. 53). Aussetzungszinsen sind das Gegenstück zu den Prozesszinsen. Wenn von Beginn der Rechtshängigkeit Überzahlungen verzinst werden, soll das Gleiche auch für Nachzahlungen gelten, zumal durch die Einführung von Zinsen für die Aussetzung der Vollziehung erreicht werde sollte, unnötige Steuerprozesse zu vermeiden (so bereits BT-Drucks III/2573 <S. 37> zum Entwurf des Steueränderungsgesetzes 1961 betreffend § 251a RAO 1931 n. F., auf den § 237 AO zurückgeht). Das Gesetz zielt insoweit auf einen gerechten Ausgleich zwischen den Zinsvorteilen des Steuerpflichtigen und dem Zinsverlust des Steuergläubigers ab; die Aussetzungszinsen haben den Zweck, dem Steuergläubiger den Nutzungsvorteil zuzuwenden, der ihm für einen nach dem materiellen Steuergesetz geschuldeten Betrag gebührt (vgl. BFH vom 31.03.2010 II R 2/09, BFH/NV 2010, 1602). Der Gedanke des angemessenen Ausgleichs für die erlangten Liquiditätsvorteile durchzieht auch die übrigen Verzinsungsvorschriften, sei es nach der Abgabenordnung (insbesondere § 233a AO) oder anderer Verfahrensordnungen wie der Zivilprozessordnung. Vor diesem Hintergrund bestehen dem Grunde nach keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen eine Verzinsung des im Fall eines späteren endgültigen Unterliegens zu zahlenden und von der Vollziehung zunächst ausgesetzten Betrages.

b) Durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken mit Blick auf den typisierten Zinssatz von 6 Prozent per anno bestehen für den hier streitigen Verzinsungszeitraum November 2004 bis März 2011 im Ergebnis nicht.

In der Rechtsprechung ist die Verzinsungsregelung der AO bislang nicht als verfassungswidrig angesehen worden. Das BVerfG hat mit Kammerbeschluss vom 03.09.2009 (1 BvR 2539/07, BFH/NV 2009, 2115) im Zusammenhang mit der Beurteilung der Verfassungswidrigkeit von Nachzahlungszinsen gem. § 233a AO, betreffend den Zeitraum 2001 bis 2006, erkannt, dass ein Zinssatz von einhalb Prozent pro Monat nicht wegen Verstoßes gegen das Übermaßverbot zu einer Verletzung des Rechtsstaatsprinzips nach Art. 20 Abs. 3 GG führe. Bei der Verzinsung handele es sich nicht um eine steuerliche Sanktion. Vielmehr solle nur der potentielle Liquiditätsvorteil des Steuerpflichtigen abgeschöpft werden. Zwar ermögliche der aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG folgende Anspruch des Steuerpflichtigen, nur im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung zur Leistung von Steuern und steuerlichen Nebenleistungen (wie Zinsen) herangezogen zu werden, es ihm auch, hierbei die Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsprinzips einzufordern. Der Steuerpflichtige dürfe nicht zu einer unverhältnismäßigen Abgabe herangezogen werden. In der Verzinsung mit 6 Prozent pro Jahr liege indes keine Verletzung des Übermaßverbots.

Indem der Gesetzgeber im Interesse der Praktikabilität und der Verwaltungsvereinfachung den auszugleichenden Zinsvorteil und -nachteil typisierend auf einhalb Prozent pro Monat festgesetzt habe, sei dies jedenfalls rechtsstaatlich unbedenklich und stelle insbesondere keinen Verstoß gegen das aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende Übermaßverbot dar. Nach der Absicht des Gesetzgebers solle der konkrete Zinsvorteil- oder -nachteil für den Einzelfall nicht ermittelt werden müssen. Eine Anpassung an den jeweiligen Marktzinssatz oder an den Basiszinssatz nach § 247 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) würde wegen dessen Schwankungen auch zu erheblichen praktischen Schwierigkeiten führen, da im Einzelnen für die Vergangenheit festgestellt werden müsste, welche Zinssätze für den jeweiligen Zinszeitraum zugrunde zu legen wären (so BTDrucks 8/1410, S. 13 zur Einführung der Vollverzinsung). In vielen Fällen sei eine solche Ermittlung gar nicht möglich, weil es von subjektiven Entscheidungen des Steuerpflichtigen abhänge, in welcher Weise er Steuernachzahlungen finanziere oder das noch nicht zu Steuerzahlungen benötigte Kapital verwende. Zudem sei auch bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen, dass der hohe Zinssatz des § 233a AO i. V. m. § 238 AO gleichermaßen zugunsten wie zulasten des Steuerpflichtigen wirke.

Im Hinblick auf diese Entscheidung hat der BFH mit Urteil vom 20.04.2011 (I R 80/10, BFH/NV 2011, 1654) für den dortigen Streitzeitraum 1998 bis 2005 keine Veranlassung gesehen, die Höhe des Zinssatzes (für Nachzahlungszinsen gem. § 233a AO) in Zweifel zu ziehen. Das BVerfG sei insbesondere auf die Argumentation eingegangen, dass am Kapitalmarkt in den Jahren 2001 bis 2006 mit einer üblichen Anlageform eine Verzinsung von 6 Prozent per anno am deutschen Kapitalmarkt nicht hätte erreicht werden können.

Die maßgeblichen Grundannahmen des Kammerbeschlusses des BVerfG dürften allerdings z. T gegenwärtig nicht mehr zutreffen. Insbesondere bestehen Zweifel, ob die „erheblichen praktischen Schwierigkeiten” bei einer Anpassung des Zinssatzes an den jeweiligen Marktzinssatz oder den Basiszinssatz nach § 247 BGB angesichts der Einsatzmöglichkeiten moderner EDV noch bestehen. Zudem ist fraglich, ob die im Einzelnen nicht ausdifferenzierte Überlegung, dass der typisierende Zinssatz von 6 Prozent per anno nicht unverhältnismäßig sei, gegenwärtig noch aufrecht zu halten ist. Gestützt hat sich das BVerfG hierbei einerseits auf die Annahme, dass es von den subjektiven Entscheidungen des Steuerpflichtigen abhänge, in welcher Weise er Steuernachzahlungen finanziere oder das für Steuerzahlungen benötigte Kapital verwende und andererseits zu berücksichtigen sei, dass der hohe Zinssatz von 6 Prozent gleichermaßen zugunsten wie zulasten des Steuerpflichtigen wirke.

In diesem Zusammenhang ist aber zu beachten, dass sich das Zinnsatzniveau im letzten Jahrzehnt kontinuierlich nach unten bewegt hat, und zwar gilt dies sowohl für Haben- wie für Sollzinsen. Beispielsweise hat der Basiszinssatz gem. § 247 Abs. 2 BGB, der seit Übergang der Geldpolitik auf die Europäische Zentralbank den Diskontsatz abgelöst hat und jeweils zum 01.01. und zum 01.07. von der Deutschen Bundesbank bekannt gemacht wird, seit 2002 folgenden Verlauf genommen und bewegt sich aktuell im negativen Bereich:

 

-0,13 %
01.01.2013
0,12 %
01.07.2012
0,12 %
01.01.2012
0,37 %
01.07.2011
0,12 %
01.01.2011
0,12 %
01.07.2010
0,12 %
01.01.2010
0,12 %
01.07.2009
1,62 %
01.01.2009
3,19 %
01.07.2008
3,32 %
01.01.2008
3,19 %
01.07.2007
2,70 %
01.01.2007
1,95 %
01.07.2006
1,37 %
01.01.2006
1,17 %
01.07.2005
1,21 %
01.01.2005
1,13 %
01.07.2004
1,14 %
01.01.2004
1,22 %
01.07.2003
1,97 %
01.01.2003
2,47 %
01.07.2002

 

Auch Festgeldanlagen mit einer Dauer beispielsweise von 5 Jahren erzielen gegenwärtig Zinssätze zwischen 1,3 Prozent und 2,4 Prozent[1], der Sparbuchindex fiel beispielsweise zwischen Mai 2009 und Mai 2013 von 1,116 auf 0,386.

[Die grafische Darstellung Sparbuchindex (Berechnung) entfällt hier]

Auch Sollzinsen sind stetig gefallen, beispielsweise betrugen die Refinanzierungszinsen für mittelgroße und große Industrieunternehmen im Mai 2013 durchschnittlich zwischen 1,25 Prozent und 1,9 Prozent[2]. Auch private Konsumentenkredite sind -abhängig von Bonität, Laufzeit, Höhe des Darlehens und dergl.- gegenwärtig bereits zu Zinssätzen unter 4 Prozent zu erlangen.

In Konstellationen wie denen des Streitfalls ist zudem zu beachten, dass es –anders als in dem Kammerbeschluss des BVerfG vom 03.09.2009 (a. a. O.) zugrunde liegenden Verfahren wegen Nachzahlungszinsen gem. § 333a AO– um die Festsetzung von Aussetzungszinsen geht. Der durch Art. 20 Abs. 3 und Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistete Anspruch auf effektiven Rechtsschutz und damit auch auf vorläufigen Rechtsschutz (z. B. BVerfG vom 18.07.1973 1 BvR 23/73 , 1 BvR 155/73, BVerfGE 35, 382 Rz. 54 zu § 80 Abs. 1 VwGO; BVerfG vom 25.10.1988 2 BvR 745/88 , BVerGE 79, 69) gerät in Gefahr, wenn im Falle eines späteren endgültigen Unterliegens –oder Teilunterliegens wie im Streitfall- eine übermäßige Belastung mit Zinsen auf den ausgesetzten Steuerbetrag droht. Dabei ist auch einzubeziehen, dass die Festsetzung von Aussetzungszinsen nicht nur in den Fällen der vom Steuerpflichtigen beantragten Aussetzung der Vollziehung zum Tragen kommen kann, sondern auch dann, wenn die Finanzbehörde von Amts wegen Aussetzung der Vollziehung gem. § 361 Abs. 2 Satz 1 AO gewährt, obwohl der Steuerpflichtige dies weder beantragt hat noch wünscht, um aus haushalterischen Erwägungen dem Risiko der hohen Verzinsung zu entgehen, sog. aufgedrängte Aussetzung der Vollziehung (vgl. z. B. BFH vom 09.05.2012 I R 91/10, BFH/NV 2012, 2004, vorgehend FG Köln vom 08.09.2010 13 K 960/08, EFG 2011, 105 mit Anm. Neu). Inwieweit der Steuerpflichtige letztendlich erfolgreich gegen einen späteren Bescheid über Aussetzungszinsen für einen „zwangsausgesetzten” Betrag wird vorgehen können, ist derzeit ungewiss und umstritten. Höchstrichterlich ist die Frage bislang nicht geklärt (s. a. Seer in Tipke/Kruse, AO, § 361 Rz.5; ders. Ubg 2008, 249).

c) Ungeachtet dessen sieht der Senat aber für den streitigen Zinszeitraum 2004 bis 2011 die Grenze zum verfassungswidrigen Übermaßverbot noch nicht als überschritten an.

Der typisierende Zinssatz von 6 Prozent per anno gem. § 258 AO gilt bereits seit über 50 Jahren (s. oben unter a)) und damit über einen Zeitraum, in dem erhebliche Zinsschwankungen nach oben und unten auftraten. Beispielsweise lag der Zinssatz von 6 Prozent per anno 1978 erheblich über dem seinerzeit vorgesehenen Zinssatz für Sparguthaben, sodass im Vorfeld der Einführung der Vollverzinsung befürchtet wurde, Steuerpflichtige könnten durch Gestaltungen eine zinsgünstige Anlage beim Finanzamt erreichen (vgl. BT-Drs. 8/1410, S. 12, 13, Bericht der Bundesregierung über die Möglichkeit der Einführung einer Vollverzinsung vom 06.01.1978). Der Diskontsatz als Orientierungsgröße unterlag seit den 50er Jahren regelmäßigen Schwankungen zwischen Unterwerten von 2,75 Prozent (1959) oder 2,5 Prozent (1988) und Spitzen von 7,5 Prozent (1970), 7,5 Prozent (1980/1981) und 8,75 Prozent (1992). Seit Beginn des neuen Jahrhunderts hat sich der Zinssatz dann kontinuierlich nach unten bewegt, lediglich zwischen 2007 und 2009 ist es zu einem Anstieg von 1,95 Prozent per 01.07.2006 über 2,70 Prozent per 01.01.2007 auf 3,32 Prozent per 01.01.2008 gekommen, um sodann ab Mitte 2009 unter die Ein-Prozent-Grenze zu fallen (0,12 Prozent per 01.07.2009, siehe im Übrigen oben Basiszinstabelle). Ab dem zweiten Halbjahr 2008 hat sich damit gezeigt, dass sich der Trend der sinkenden Zinsen nicht umgekehrt hatte, sondern nach einem kurzen „Zwischenhoch” fortsetzte.

Gleichwohl sieht der erkennende Senat den Gesetzgeber von Verfassungs wegen noch nicht als verpflichtet an, bereits für den hier in Rede stehenden Verzinsungszeitraum von Ende 2004 bis Anfang 2011 eine Anpassung des typisierenden Zinssatzes von 6 Prozent per anno an das gesunkene Zinsniveau vorzunehmen. Zwar bedarf eine typisierende Regelung der Korrektur, wenn sich die tatsächlichen Verhältnisse, die Grundlage einer zulässigen Typisierung waren, durchgreifend ändern (z. B. BVerfG vom 26.03.1980 1 BvR 121/76 , 1 BvR 122/76, BStBl 1980 II S. 545 zur Rentenbesteuerung; vom 28.11.1984 1 BvR 1157/82, BStBl 1985 II S. 181 zur Anhebung des Rechnungszinsfußes bei Pensionsrückstellungen). Anders als in den letzten vier Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts mit erheblichen Zinsschwankungen hat sich nunmehr ersichtlich ein Niedrigzinsniveau stabilisiert und haben sich damit die tatsächlichen Verhältnisse gegenüber den Gegebenheiten bei Einführung des Zinssatzes von 6 Prozent per anno entscheidend verändert.

Allerdings führen nach der vornehmlich zu Art. 3 GG entwickelten verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung vorhandene Ungleichheiten nicht in jedem Fall zur sofortigen Verfassungswidrigkeit und werden dem Gesetzgeber zur Beseitigung solcher Ungleichheiten in bestimmten Fällen Fristen eingeräumt. Das ist einmal dann der Fall, wenn der Gesetzgeber sich bei Neuregelung eines komplexen Sachverhaltes zunächst mit einer gröber typisierenden und generalisierenden Regelung begnügt, um diese nach hinreichender Sammlung von Erfahrungen allmählich durch eine entsprechend fortschreitende Differenzierung zu verbessern. Zum anderen gilt dies auch dann, wenn die tatsächlichen Verhältnisse sich im Rahmen einer langfristigen Entwicklung in einer Weise verändert haben, dass die Beseitigung der Unstimmigkeiten durch eine einfache und daher schnell zu verwirklichende Anpassung nicht möglich ist ( BVerfG vom 26.03.1980 1 BvR 121/76 , 1 BvR 122/76, BStBl 1980 II S. 545 m. w. N.).

Vor dem Hintergrund, dass Zinssätze mit Rücksicht auf wirtschaftliche und politische Implikationen Schwankungen unterliegen, wie sie sich in der Vergangenheit stets abgebildet haben, ist dem Gesetzgeber danach eine gewisse Beobachtungszeit zuzubilligen, bevor eine Anpassung an die veränderten Verhältnisse unumgänglich wird. Besonders gilt dies mit Blick darauf, dass es -wie zuvor dargestellt- Anfang 2007 bis Mitte 2008 zu einem nennenswerten Anstieg des Basiszinssatzes gekommen ist. Deshalb war auch zum Ende des hier streitgegenständlichen Verzinsungszeitraums noch keine Zinsanpassung geboten.

II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Revision ist wegen grundsätzlicher Bedeutung gem. § 115 Abs. 2 FGO zuzulassen.

[1] Zahlen lt. Internet

[2] Lt. Reuter Nachrichtendienst vom 16.05.2013

Keine Aussetzungszinsen für fehlerhaft ausgesetzte Beträge bei vollem Erfolg des Rechtsbehelfs

Keine Aussetzungszinsen für fehlerhaft ausgesetzte Beträge bei vollem Erfolg des Rechtsbehelfs

Kernaussage

Hat ein Einspruch oder eine Klage gegen einen Steuerbescheid endgültig keinen Erfolg gehabt, ist der geschuldete Betrag, hinsichtlich dessen eine Aussetzung der Vollziehung gewährt worden war, grundsätzlich zu verzinsen. Der Bundesfinanzhof (BFH) hatte sich kürzlich damit zu befassen, ob auch für fehlerhaft zu hoch ausgesetzte Beträge Aussetzungszinsen entstehen können, wenn der Rechtsbehelf in der Hauptsache vollumfänglich erfolgreich war.

Sachverhalt

Das Finanzamt hatte im Einspruchsverfahren gegen Feststellungsbescheide (Grundlagenbescheide) antragsgemäß die Aussetzung der Vollziehung bewilligt. Bei der Berechnung des Aussetzungsbetrages im Rahmen der Einkommensteuerbescheide (Folgebescheide) setzte das Finanzamt indes fehlerhaft einen zu hohen Betrag von der Vollziehung aus. Im Rechtsbehelfsverfahren gegen die Feststellungsbescheide obsiegte der Steuerpflichtige in vollem Umfang. Wegen der überhöhten Aussetzung hatte er gleichwohl Nachzahlungen zu leisten. Hierauf setzte das Finanzamt Zinsen fest. Der Steuerpflichtige hielt die Zinsfestsetzung für rechtswidrig, da die entsprechende Vorschrift der Abgabenordnung (AO) die (teilweise) Erfolglosigkeit des Rechtsbehelfs voraussetze. Der BFH hat sich dem angeschlossen.

Entscheidung

Da das Rechtsbehelfsverfahren gegen die Grundlagenbescheide in vollem Umfang Erfolg gehabt habe, sei der Tatbestand der abgabenrechtlichen Vorschrift nicht erfüllt. Der Wortlaut sei insoweit eindeutig, denn „endgültig keinen Erfolg“ gehabt habe ein Rechtsbehelf dann, wenn er durch unanfechtbare Entscheidung abgewiesen, vom Steuerpflichtigen zurückgenommen oder eingeschränkt worden sei. Das Finanzamt hilft in diesen Fällen dem Begehren nämlich nicht ab. Hierbei ist ausschließlich auf das Ergebnis des gegen den Grundlagenbescheid gerichteten Rechtsbehelfs abzustellen, während steuerliche Auswirkungen beim Folgebescheid unbeachtlich bleiben.

Konsequenz

Richtig erkannt hat der BFH, dass diese Interpretation der Norm in anderen Fällen zu scheinbar unbilligen Ergebnissen führen kann. Der Steuerpflichtige, der mit seinem Rechtsbehelf im Wesentlichen Erfolg hatte und nur zu einem Teil unterlegen blieb, hat Aussetzungszinsen für den gesamten zuviel ausgesetzten Betrag zu zahlen, während derjenige Steuerpflichtige, der vollen Erfolg hatte, hinsichtlich des zuviel ausgesetzten Betrags von der Zinspflicht verschont bleibt. Gerechtfertigt sei diese Differenzierung aber, weil derjenige, dessen Rechtsbehelf in vollem Umfang Erfolg habe, von der Zinspflicht verschont bleiben solle; der „volle Erfolg“ werde gewissermaßen durch die vollständige Entbindung von der Zinspflicht „prämiert“.