Kostenfestsetzung: Keine Terminsgebühr für Telefonate mit dem Gericht oder für E-Mail-Verkehr zwischen den Beteiligten

Finanzgericht Köln, 10 Ko 2594/13

Datum:
02.09.2013
Gericht:
Finanzgericht Köln
Spruchkörper:
10. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
10 Ko 2594/13
Tenor:

Unter Änderung des Kostenfestsetzungsbeschlusses vom 9.7.2013 werden die vom Erinnerungsführer der Erinnerungsgegnerin zu erstattenden Kosten auf 1.741,21 EUR festgesetzt. Die übrigen Bestimmungen des Beschlusses bleiben bestehen.

Die Erinnerungsgegnerin trägt die Kosten des Erinnerungsverfahrens.

1Gründe:

2I.

3Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob E-Mail-Verkehr oder Telefonate zwischen dem Bevollmächtigten der Erinnerungsgegnerin und dem Berichterstatter im Ausgangsverfahren eine Terminsgebühr auslösen.

4Die Erinnerungsgegnerin führte, vertreten durch ihre Bevollmächtigten, einen Rechtsstreit gegen den Erinnerungsführer bezüglich einer Freistellung gemäß § 50d EStG (2 K 4164/07). Der Bevollmächtigte telefonierte am 16. November 2012 und am 21. November 2012 jeweils mit dem Berichterstatter des Prozesssenats. Dieser schrieb anschließend am 27. November 2012 an den Erinnerungsführer, der umgehend antwortete. Da das Schreiben für den Bevollmächtigten eine unverständliche Passage enthielt, schrieb dieser am 4.1.2013 den Erinnerungsführer per E-Mail an. Daraufhin meldete sich der Sachbearbeiter des Erinnerungsführers im Sekretariat der Bevollmächtigten und bat insbesondere um Bekanntgabe einer Bankverbindung der Erinnerungsgegnerin. Daraufhin schrieb der Bevollmächtigte am 18. Januar 2013 erneut per E-Mail an den Erinnerungsführer sowie an den Prozesssenat. Es folgten weitere E-Mails.

5Nachdem beide Beteiligte den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt hatten, erlegte der Berichterstatter mit Beschluss vom 15. April 2013 dem Beklagten und Erinnerungsführer die Kosten des Verfahrens auf.

6Mit Schriftsatz vom 16. April 2013 beantragte die Erinnerungsgegnerin, die ihr zu erstattenden Kosten festzusetzen. Dabei setzte sie eine 1,2 Terminsgebühr an.

7Die Kostenbeamtin des Finanzgerichts folgte dem Kostenfestsetzungsantrag und setzte mit Beschluss vom 9. Juli 2013 die zu erstattenden Kosten in der beantragten Höhe fest.

8Mit der rechtzeitig eingelegten Erinnerung trägt der Erinnerungsführer vor:

9Eine Terminsgebühr sei nicht angefallen. Diese werde insbesondere nicht durch E-Mail-Verkehr ausgelöst. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Schriftsätze vom 17. Mai und achten 20. Juni 2013 des Erinnerungsführers Bezug genommen.

10Der Erinnerungsführer beantragt,

11den Kostenfestsetzungsbeschluss vom 9. Juli 2013 dahingehend abzuändern, dass die erstattungsfähigen Kosten ohne Ansatz der Terminsgebühr festgesetzt werden.

12Die Erinnerungsgegner beantragt,

13die Erinnerung zurückzuweisen.

14Er trägt vor, auch telefonisch in Kontakt zum Erinnerungsführer getreten zu sein.

15II.

16Die zulässige Erinnerung ist begründet.

17Der angefochtene Kostenfestsetzungsbeschluss ist rechtswidrig und verletzt den Erinnerungsführer deshalb in seinen Rechten, vgl. § 100 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung –FGO–. Im Streitfall ist keine Terminsgebühr entstanden.

181. Nach der Vorbemerkung 3 Abs. 3 des Vergütungsverzeichnisses zu Rechtsanwaltsvergütungsgesetz –VV RVG– entsteht die Terminsgebühr

19a) für die Vertretung in einem Verhandlungs-, Erörterungs- oder Beweisaufnahmetermin oder

20b) die Wahrnehmung eines von einem gerichtlich bestellten Sachverständigen anberaumten Termins oder

21c) die Mitwirkung an auf die Vermeidung oder Erledigung des Verfahrens gerichteten Besprechungen auch ohne Beteiligung des Gerichts; dies gilt nicht für Besprechungen mit dem Auftraggeber.

222. Die Erinnerungsgegnerin hat im Streitfall nicht nachgewiesen, dass zwischen ihrem Bevollmächtigten und dem Erinnerungsführer Telefonate stattgefunden haben. Der Berichterstatter im Erinnerungsverfahren hatte die Erinnerungsgegnerin ausdrücklich aufgefordert darzulegen, wann und mit welchem Inhalt Telefonate geführt worden sind. Daraufhin hat die Erinnerungsgegnerin nur auf E-Mail-Verkehr sowie ein vom Sachbearbeiter des Erinnerungsführers mit dem Büro der Bevollmächtigten geführtes kurzes Telefonat hingewiesen. Dies reicht nicht aus, um aufgrund eines Telefonats die Terminsgebühr verdient zu haben.

233. Zwischen den Beteiligten ausgetauschte E-Mails lösen keine Terminsgebühr aus. Das Gesetz verlangt für das Entstehen einer Terminsgebühr ausdrücklich eine „Besprechung“. Die Kommunikation über E-Mails ist nicht als Besprechung im Sinne dieses Gebührentatbestands zu werten (Bundesgerichtshof –BGH–, Beschluss vom 21.10.2009 – IV ZB 27/09, Neue Juristische Wochenschrift 2010, 381 mit zahlreichen Nachweisen, auch zur Gegenauffassung; Mayer in Mayer/Kroiß, RVG, 5. Aufl. 2012, Vorbemerkung 3, Rn 54). E-Mails ersetzen die Schriftform, aber nicht das Gespräch bzw. die Besprechung. Eine Besprechung verlangt, dass man miteinander spricht. Dies ergibt sich bereits aus dem allgemeinen Sprachgebrauch, der grundsätzlich auch das Verständnis von Gesetzesbestimmungen prägt. Dass der Gesetzgeber von einem anderen Verständnis ausgegangen sein sollte, ist nicht ersichtlich. Außerdem weist der Bundesgerichtshof zutreffend darauf hin, dass der Schriftverkehr durch die Verfahrensgebühr abgegolten wird.

244. Die Terminsgebühr wurde schließlich auch nicht durch die Telefonate zwischen dem Bevollmächtigten der Erinnerungsgegnerin und dem Berichterstatter des Prozesssenats ausgelöst.

25Der mit der Einführung des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes erweiterte Anwendungsbereich der Terminsgebühr auf außergerichtliche Besprechungen zielt darauf ab, einen Rechtsanwalt dann –zusätzlich– zu entlohnen, wenn er durch außergerichtliche Einigungsbemühungen versucht, eine Beendigung des Verfahrens zu erreichen, um damit einen (weiteren) gerichtlichen Termin überflüssig zu machen. Es soll die Bemühung um die Erledigung der Sache honoriert werden, durch die sowohl den Beteiligten als auch dem Gericht –allein im Gebühreninteresse– unnötige Erörterungen in einem Gerichtstermin erspart bleiben (vgl. die Gesetzesbegründung in BT–Drs. 15/1971, 209; BGH, Beschluss vom 21.10.2009 IV ZB 27/09, a.a.O.).

26Um dem Gesetzeszweck gerecht zu werden, ist es für die Beanspruchung der Terminsgebühr notwendig, dass die Verfahrensbeteiligten bzw. deren Bevollmächtigte selbst miteinander in einen Kommunikationsaustausch treten. Nur so kann im direkten „Für und Wider“ die Möglichkeit einer Erledigung ausgelotet werden. Einseitige Besprechungen des Bevollmächtigten eines Beteiligten mit dem Gericht stellen deshalb keine Besrechung im Sinne des Terminsgebührentatbestands dar (Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 11.12.2009 L 19 B 281/09 AS; FG Münster, Beschluss vom 10.9.2012 4 Ko 2422/12, Entscheidungen der Finanzgerichte –EFG– 2012, 2239; Stapperfend in Gräber, FGO, 7. Aufl. 2010, § 139, Rn 65; a.A. FG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 5.4.2011 13 Ko 13326/10, EFG 2011, 1551). Dies gilt nach Auffassung des beschließenden Senats uneingeschränkt. Er folgt ausdrücklich nicht der Auffassung des FG Münster, wonach in Ausnahmefällen auch Telefonate zwischen dem Bevollmächtigten eines Beteiligten und dem Gericht die Terminsgebühr auslösen können. Dies widerspricht dem Gesetzeszweck, das Gebührenrecht einfach und möglichst wenig streitanfällig zu gestalten.

275. Die zu erstattenden Kosten waren daher ohne Ansatz einer Terminsgebühr anderweitig festzusetzen.

28Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

29Die Entscheidung über die Erinnerung ergeht gerichtsgebührenfrei, weil das Kostenverzeichnis eine Gebühr für diesen Beschluss nicht vorsieht. Die Pflicht zur Kostentragung beschränkt sich demgemäß auf die Auslagen des Gerichts und die außergerichtlichen Kosten.

Kindergeld: Differenzkindergeld für ein Kind in Ausbildung und Rehabilitation in Polen

Finanzgericht Köln, 12 K 1212/11

Datum:
28.08.2013
Gericht:
Finanzgericht Köln
Spruchkörper:
12. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
12 K 1212/11
Nachinstanz:
Bundesfinanzhof, V R 40/13
Tenor:

Unter Aufhebung des Bescheids vom 29. September 2009 in Gestalt des Änderungsbescheids vom 23. Februar 2011 und der Einspruchsentscheidung vom 18. März 2011 wird die Beklagte verpflichtet, gegenüber dem Kläger für das Kind A für den Zeitraum Mai 2010 bis einschließlich März 2011 Kindergeld nach Maßgabe der Entscheidungsgründe unter Anrechnung der polnischen Familienleistungen festzusetzen.

Die weitergehende Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens tragen der Kläger zu 5 v.H.

und die Beklagte zu 95 v.H..

Die Revision wird zugelassen.

Der Streitwert wird auf 1.910,00 € festgesetzt.

Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs des Klägers abwenden, soweit nicht der Kläger zuvor Sicherheit in derselben Höhe leistet.

1Tatbestand

2Strittig ist das Kindergeld für den im November 2004 geborenen Sohn A. Streitzeitraum sind die Monate ab Mai 2010 bis zum Erlass der Einspruchsentscheidung im März 2011.

3Der Kläger ist deutscher Staatsangehöriger. Er hat seinen Wohnsitz im Inland und ist hier als Architekt freiberuflich tätig.

4Neben zwei Kindern aus einer geschiedenen Ehe, die bei der Kindesmutter in Deutschland wohnen, hat der Kläger den Sohn A aus einer unehelichen Beziehung. Der im November 2004 geborene Sohn lebt bei der Kindesmutter (Frau B) in Polen (C).

5Im Rahmen eines gerichtlichen Vergleichs vor dem polnischen Amtsgericht D hatte der Kläger sich am 20. Dezember 2007 verpflichtet, ab Januar 2008 Kindesunterhalt in Höhe von 750,00 Zloty (PLN) zu zahlen (Bl. 91-93 FG-Akte). Dieser Betrag war geringer als die gesetzliche Unterhaltspflicht. Der Kläger kam seiner Verpflichtung ab Februar 2009 nur teilweise und ab Februar 2010 gar nicht mehr nach. Ende Mai 2010 bestand ein Rückstand in Höhe von 6.600 PLN (= 1.615,35 €, Bl. 94 FG-Akte). Ab Januar 2011 reduzierte sich die Unterhaltsverpflichtung auf 500 PLN monatlich (Bl. 100 FG-Akte).

6Ausweislich eines Beschlusses des Regionalzentrums für Sozialpolitik (ROPS II 223/2011) vom 15. Februar 2011 war die Kindesmutter seit dem 1. Mai 2010 aufgrund eines Werkvertrages angestellt. Im Zeitraum ab 1. September 2010 bis 13. September 2010 war sie arbeitslos ohne Arbeitslosenberechtigung. Ab dem 14. September 2010 bis 31. Mai 2012 wurde ihr Pflegegeld (Swiadczenia pielegnacyjnego) zuerkannt, weil das Kind behindert und pflegebedürftig ist (Bl. 145-148 FG-Akte).

7Gemäß Bescheinigung des Stadtzentrums für Sozialhilfe der Stadt C vom 12. Dezember 2012 (Bl. 143, 144 FG-Akte) erhielt die Kindesmutter im Zeitraum von Mai 2010 bis Ende März 2011 folgende Leistungen:

8

  • 9Kindergeld (Familienbeihilfe; zasilku rodzinnego) in Höhe von insgesamt 455 PLN,
  • 10einen Zuschlag (dodatku) zum Kindergeld auf Grund von Ausbildung und Rehabilitation des behinderten Kindes in Höhe von insgesamt 400 PLN,
  • 11Pflegegeld (Pflegebeihilfe; zasilku pielegnacyjnego) in Höhe von insgesamt 1.836,00 PLN,
  • 12Pflegegeld (Pflegeleistung, Entgeltersatzleistung; swiadczenie pielegnacyjne) in Höhe von insgesamt 3.414,70 PLN,
  • 13Zahlungen aus einem „Alimentationsfonds“ in Höhe von insgesamt 5.500 PLN

14Ausweislich des erwähnten Beschlusses des Regionalzentrums für Sozialpolitik (ROPS) vom 15. Februar 2011 (Bl. 145-148 FG-Akte) gehören Pflegebeihilfe und Pflegeleistung zu den Familienleistungen im Sinne der Art. 1 und 4 der VO (EG) Nr. 1408/71; ferner ist man dort der Ansicht, dass Polen vorrangig für die Auszahlung der Familienbeihilfen zuständig ist, weil das Kind dort wohnt.

15Der Kläger erhielt für den Sohn in Deutschland bis einschließlich April 2010 sog. Differenzkindergeld in Höhe des Unterschiedsbetrages zwischen dem deutschen Kindergeld und dem an die Kindesmutter gezahlten niedrigeren polnischen Kindergeldes (Bescheide vom 8. Juli 2005 und vom 29. September 2010, Bl. 155 KG-Akte).

16Für den Zeitraum ab Mai 2010 hat die Beklagte (vormals Familienkasse E) mit Bescheid vom 29. September 2010 bzw. Änderungsbescheid vom 23. Februar 2011 und Einspruchsentscheidung vom 18. März 2011 die Festsetzung des Kindergeldes aufgehoben, zuletzt mit der Begründung, es bestehe zwar ein Anspruch auf deutsches Kindergeld, dieser sei jedoch nach § 64 Abs. 2 EStG von der Kindesmutter geltend zu machen, weil das Kind in deren Haushalt untergebracht sei. Die Kindesmutter könne einen Antrag bei der Familienkasse F stellen.

17Die Kindesmutter hat mit Schreiben vom 20. Juli 2009, 19. Februar 2010 und 8. Februar 2011 Antrag auf Abzweigung des Kindergeldes gestellt, weil der Kläger seinen Unterhaltspflichten gegenüber dem Kind nicht nachkomme. Seit Februar 2010 zahle er überhaupt keinen Unterhalt mehr (Bl. 168 KG-Akte). Die Beklagte hat die Kindesmutter über den Ablehnungsbescheid vom 23. Februar 2011 und die Einspruchsentscheidung vom 18. März 2011 informiert (Bl. 174 R KG-Akte). Nach den Angaben der Beklagten ist ein Antrag der Kindesmutter bei der Familienkasse F bislang nicht eingegangen (Bl. 78 FG-Akte).

18Mit seiner gegen die Einspruchsentscheidung vom 18. März 2011 erhobenen Klage trägt der Kläger vor, die Beklagte sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Kindesmutter in Polen erwerbstätig sei; sie müsse sich vielmehr um das kranke Kind kümmern.

19Davon abgesehen sei es zwar zutreffend, dass er seit Februar 2010 seinen Unterhaltspflichten gegenüber dem Kind nicht nachkomme. Hierzu sei er jedoch aufgrund seiner Einkommensverhältnisse nicht in der Lage, insbesondere weil die Beklagte ihm das Kindergeld verweigere.

20Seit Mai 2012 zahle er Unterhalt in Höhe von 500 PLN aus Darlehensmitteln. Er habe sich vor dem polnischen Amtsgericht D am 24. April 2012 darüber hinaus dazu verpflichtet, im Falle des Bezugs von deutschem Kindergeld den gesamten Betrag an die Kindesmutter zu Gunsten des Sohnes weiterzuleiten.

21Der Kläger beantragt,

22den Bescheid vom 29. September 2010 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 23. Februar 2011 und der Einspruchsentscheidung vom 18. März 2011 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihm Kindergeld in Höhe von 184 € monatlich abzüglich des von der Kindesmutter in Polen erhaltenen Kindergeldes in Höhe von 455 PLN, umgerechnet in Euro nach dem zum 18. März 2011 gel-tenden Wechselkurs, zu bewilligen,

23hilfsweise die Revision zuzulassen.

24Die Beklagte beantragt,

25die Klage abzuweisen,

26hilfsweise die Revision zuzulassen,

27hilfsweise polnische Familienleistungen in Höhe von 855 PLN, umgerechnet in Euro nach dem zum 18. März 2011 geltenden Wechselkurs, anzurechnen.

28Wegen weiterer Einzelheiten wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung am 28. August 2013 Bezug genommen.

29Entscheidungsgründe

30Die Klage ist überwiegend begründet.

31Die Beklagte hat zu Unrecht dem Kläger gegenüber ab Mai 2010 die Festsetzung von Differenzkindergeld abgelehnt. Über die Frage, ob der Kläger die Auszahlung des Kindergeldes an sich selbst verlangen kann, oder ob das Differenzkindergeld im Wege der Abzweigung nach § 74 Abs. 1 EStG an die Kindesmutter auszuzahlen ist, muss in einem gesonderten Verfahren entschieden werden. Denn diese Frage ist Teil des Erhebungsverfahrens, während es im vorliegenden Verfahren um die Rechtmäßigkeit der Festsetzung des Kindergeldes geht.

32

  • 331 Die Familienkasse G der Bundesagentur für Arbeit ist aufgrund eines Organisationsaktes (Beschluss des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit Nr. 21/2013 vom 18. April 2013 gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 des Finanzverwaltungsgesetzes, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Ausgabe Mai 2013, S. 6 ff, Nr. 2.2 der Anlage 2) im Wege des gesetzlichen Parteiwechsels in die Beteiligtenstellung der Agentur für Arbeit E (Familienkasse E) eingetreten (siehe dazu Beschluss des Bundesfinanzhofs –BFH- vom 3. März 2011 V B 17/10, BFH/NV 2011, 1105).

34

  • 352 Der Kläger ist nach deutschem Recht Kindergeldberechtigter, weil er seinen Wohnsitz im Inland hat und demgemäß unbeschränkt einkommensteuerpflichtig ist (§ 62 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 1 Abs. 1 EStG).

36

  • 373 Der Kläger hat Anspruch auf deutsches Kindergeld für seinen leiblichen Sohn A, weil dieser noch minderjährig ist und in Polen als einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft seinen Wohnsitz hat (§ 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Sätze 2 und 3 i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 3 EStG).

38

  • 394 Der Kindergeldanspruch des Klägers wird weder durch Gemeinschaftsrecht noch durch nationale Vorschriften ausgeschlossen. Die polnischen Familienleistungen sind in europarechtskonformer Anwendung des § 65 Abs. 1 EStG lediglich auf das deutsche Kindergeld anzurechnen.

40a)      Der Kläger ist in Deutschland als Architekt berufstätig und fällt hinsichtlich seines Kindergeldanspruchs ab Mai 2010 unter den persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich der VO (EG) Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit vom 29. April 2004 sowie die hierzu ergangene Durchführungsverordnung VO (EG) 987/2009 vom 16. September 2009 (Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 Buchst. j VO (EG) Nr. 883/2004). Aufgrund seiner Beschäftigung in Deutschland ist für den Kläger nach Art. 11 Abs. 1, Abs. 3 Buchst. a VO (EG) Nr. 883/2004 ausschließlich deutsches Recht anzuwenden.

41b)      Hieran ändert der Bezug von polnischen Familienleistungen durch die Kindesmutter nichts.

42aa)  Im Fall des Zusammentreffens von Ansprüchen auf Familienleistungen aus mehreren Staaten der Europäischen Union sind die Prioritätsregeln des Art. 68 VO (EG) Nr. 883/2004 anzuwenden.

43Art. 68 Abs. 1 Buchstabe a der VO (EG) Nr. 883/2004 regelt die Reihenfolge, wenn Leistungen aus mehreren Mitgliedstaaten aus unterschiedlichen Gründen zu gewähren sind. Vorrangig zuständig ist dann der Beschäftigungsstaat.

44Sind die Familienleistungen von mehreren Mitgliedstaaten aus denselben Gründen zu gewähren, richtet sich die Rangfolge gemäß Art. 68 Abs. 1 Buchstabe b der VO (EG) Nr. 883/2004 nach folgenden subsidiären Kriterien:

45

  • 46Wird der Anspruch des Anspruchstellers (hier des Klägers) durch eine Erwerbstätigkeit ausgelöst, und wird eine Erwerbstätigkeit (auch) im Wohnland der Kinder ausgeübt (etwa von der Kindesmutter), hat das Wohnland der Kinder Vorrang, subsidiär ggf. die nach den verschiedenen Rechtsvorschriften zu gewährende höchste Leistung
  • 47Wird der Anspruch des Anspruchstellers (hier des Klägers) alleine durch den Wohnsitz ausgelöst, hat Vorrang ebenfalls das Wohnland der Kinder.

48Art. 68 Abs. 2 bestimmt ergänzend, dass Ansprüche auf Familienleistungen nach dem Recht des nicht vorrangig zuständigen Staates „ausgesetzt“ werden bis zur Höhe der nach den Rechtsvorschriften des zuständigen (vorrangigen) Staates vorgesehenen Leistungen. Erforderlichenfalls hat der nicht zuständige Staat einen Unterschiedsbetrag zu gewähren, wenn seine Leistungen höher sind als die des vorrangigen Staates. Ein derartiger Unterschiedsbetrag muss allerdings nicht gewährt werden, wenn die Kinder in einem anderen Mitgliedstaat wohnen und der Leistungsanspruch im nachrangig zuständigen Staat ausschließlich durch den Wohnort des Anspruchstellers ausgelöst wird.

49bb) Im Streitfall wird der Kindergeldanspruch des Klägers in Deutschland nicht (alleine) durch den Wohnsitz des Klägers im Inland ausgelöst, sondern (auch) durch dessen Erwerbstätigkeit im Inland nach Art. 11 Abs. 3 Buchstabe a der VO (EG) Nr. 883/2004. Ob ein Leistungsanspruch ausschließlich durch den Wohnort ausgelöst wird, bestimmt sich nach den Vorschriften der VO (EG) Nr. 883/2004 und nicht nach den nationalen Regelungen der §§ 62 ff EStG. Entscheidend ist, aufgrund welchen Tatbestands die berechtigte Person den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaates nach den Artikeln 11-16 der VO (EG) Nr. 883/2004 unterstellt ist. Anderenfalls wäre es den Mitgliedstaaten durch Ausgestaltung ihrer Anspruchsvoraussetzungen in ihren nationalen Rechtsvorschriften freigestellt zu bestimmen, an welcher Stelle in der europarechtlichen Rangfolge sie leistungsverpflichtet sein wollen. Insoweit schließt sich der Senat der herrschenden Rechtsprechung der Finanzgerichte an (FG München, Urteile vom 27. Oktober 2011 5553/11, EFG 2012,252 und vom 27. Oktober 2011 5K 2614/10, EFG 2012,249; FG Münster, Urteil vom 9. Mai 2012 10 K 4079/10 KG, EFG 2012,1680; FG Düsseldorf, Urteil vom 13. März 2013 15 K 29 L/11 KG, Juris; FG Köln, Urteile vom 30. Januar 2013 15 K 3230/11, EFG 2013,795 und vom 23. April 2013 1 K 3128/10, juris).

50(1)   In den Zeiträumen, in denen die Mutter des Kindes in Polen erwerbstätig war (1. Mai 2010 bis 31. August 2010) ist Polen der vorrangig zuständige Staat nach Art. 68 Abs. 1 Buchstabe b lit. I der VO (EG) Nr. 883/2004, weil im Wohnland des Kindes eine Erwerbstätigkeit ausgeübt wurde. Jedoch besteht im Inland ein Anspruch auf Differenzkindergeld nach Art. 68 Abs. 2 VO (EG) Nr. 883/2004. Das deutsche Kindergeld wird lediglich in Höhe der vorrangig zu gewährenden polnischen Familienleistungen ausgesetzt, jedoch nicht vollständig ausgeschlossen. Soweit das nachrangige deutsche Kindergeld das vorrangige polnische Kindergeld übersteigt, ist die Differenz nach Art. 68 Abs. 2 S. 2, 2. Halbsatz VO (EG) Nr. 883/2004 zu gewähren.

51(2)   In den Zeiträumen, in den die Mutter des Kindes in Polen nicht erwerbstätig war (ab 1. September 2010) ist Deutschland der vorrangig zuständige Staat nach Art. 68 Abs. 1 Buchstabe a der VO (EG) Nr. 883/2004.

52cc)   Der Bezug von polnischen Familienleistungen führt nicht zum Ausschluss des Kindergeldanspruchs des Klägers nach § 65 Abs. 1 Nr. 2 EStG. Zwar sind die polnischen Familienleistungen mit dem deutschen Kindergeld in diesem Sinne zum Teil „vergleichbar“. Doch stehen nach der Rechtsprechung des EuGH dem nationalen Ausschlusstatbestand des § 65 Abs. 1 Nr. 2 EStG die Grundfreiheiten der Arbeitnehmerfreizügigkeit nach den Art. 45, 48 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) entgegen, soweit der nationale Kindergeldanspruch vollständig ausgeschlossen und kein Differenzkindergeld gewährt wird (Urteil des Europäischen Gerichtshofs –EuGH- vom 12. Juni 2012 C-611/10, C 612/10, Hudzinski und Wawrzyniak, Abl. EU 2012 Nr. C 227, 4, zur Verordnung EWG Nr. 1408/71 des Rates vom 14.06.1971 sowie Urteil des Bundesfinanzhofs –BFH– vom 16. Mai 2013 III R 8/11, juris.bundesfinanzhof.de).

53In europarechtskonformer Auslegung führt § 65 Abs. 1 EStG mithin nur zur Anrechnung der polnischen Familienleistungen auf das deutsche Kindergeld, nicht aber zum vollständigen Ausschluss desselben.

54

  • 555 Entgegen der Auffassung der Beklagten ist der inländische Kindergeldanspruch des Klägers auch nicht nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG i. V. m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO (EG) Nr. 987/2009 ausgeschlossen. Denn mangels inländischer Anspruchsberechtigung der Kindesmutter fehlt es bereits am Vorliegen mehrerer Anspruchsberechtigter im Sinne des § 64 EStG.

56a)      Nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG erhält bei mehreren Berechtigten derjenige das Kindergeld, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat. Zwar trifft es zu, dass der Sohn des Klägers nicht in seinem Haushalt, sondern im Haushalt der Kindesmutter in Polen lebt. § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG setzt allerdings voraus, dass auch die Mutter einen inländischen Kindergeldanspruch nach § 62 ff. EStG hat. Dies ist hier nicht der Fall. Weder hat die Mutter im Inland ihren Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt (§ 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG), noch liegen die Voraussetzungen einer inländischen unbeschränkten Einkommensteuerpflicht nach § 1 Abs. 2 bzw. Abs. 3 EStG vor (§ 62 Abs. 2 Nr. 2 EStG). Die Kindesmutter hat auch keinen Anspruch nach § 1 BKGG. Dies würde voraussetzen, dass sie im Inland versicherungspflichtig beschäftigt oder als Entwicklungshelfer, Auslandsbeamter oder bei einer Nato-Einrichtung tätig ist, was ersichtlich nicht der Fall ist.

57b)      Auch die Regelung des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO (EG) Nr. 987/2009 führt nicht dazu, dass die in Polen lebende Kindesmutter zur Anspruchsberechtigten i.S. von § 64 Abs. 2 EStG würde. Zwar ist nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 VO (EG) Nr. 987/2009 bei der Anwendung der Art. 67 und 68 der VO (EG) Nr. 883/2004 die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats – hier Deutschland – fallen und dort wohnen (sog. Familienbetrachtung). Diese Vorschrift trägt dem Gedanken Rechnung, dass Familienleistungen wie Elterngeld, Erziehungsgeld oder Unterhaltsvorschüsse nicht dadurch ausgeschlossen sein sollen, dass die hierfür erforderlichen Voraussetzungen nur von dem Ehepartner bzw. Elternteil, der nicht im Beschäftigungsland wohnt, verwirklicht werden (vgl. hierzu im Einzelnen FG Düsseldorf Urteil vom 09.02.2012 16 K 1564/11 Kg, EFG 2012, 1369 mit Verweis auf die zugrunde liegende EuGH-Rechtsprechung). Die Vorschrift bezweckt demgegenüber nicht, einen unstreitig bestehenden (deutschen) Kindergeldanspruch dem Anspruchsinhaber unter Hinweis auf seine Familienangehörigen zu versagen.

58Hierfür besteht auch kein Bedürfnis. Denn für den Fall, dass der Kindergeldbezieher das Kindergeld nicht für den Unterhalt der Kinder verwendet, bietet Art. 68 a VO (EG) Nr. 883/2004 (eingeführt durch Art. 1 Ziff. 18 der VO (EG) Nr. 988/2009 vom 16.09.2009 zur Änderung der VO (EG) Nr. 883/2004) ein geeignetes Korrektiv, indem er dem im Ausland lebenden Familienangehörigen einen Zugriff auf das deutsche Kindergeld ermöglicht. Auch die nationale Vorschrift des § 74 Abs. 1 EStG (Abzweigung) erlaubt die Auszahlung des Kindergeldes an denjenigen, der tatsächlich die Unterhaltslasten für das Kind trägt.

59

  • 606 Der Kindergeldanspruch des Klägers ist -wie bereits erwähnt und vom Kläger beantragt- um die in Polen gewährten Familienleistungen zu kürzen. Die Höhe dieser Leistungen ergibt sich aus der Bescheinigung des Stadtzentrums für Sozialhilfe der Stadt C vom 12. Dezember 2012 (Bl. 143 FG-Akte). Dabei sind nach Auffassung des Senats (nur) das dort genannte Kindergeld (Familienbeihilfe; zasilku rodzinnego) und der Zuschlag zum Kindergeld (dodatku) in Höhe von insgesamt 855 PLN auf das (deutsche) Kindergeld anzurechnen, nicht hingegen das Pflegegeld (Pflegebeihilfe; zasilku pielegnacyjnego) in Höhe von insgesamt 1.836,00 PLN, nicht das Pflegegeld (Pflegeleistung, Entgeltersatzleistung; swiadczenie pielegnacyjne) in Höhe von insgesamt 3.414,70 PLN, und ebenfalls nicht die Zahlungen aus einem „Alimentationsfonds“ in Höhe von insgesamt 5.500 PLN. Beim Pflegegeld (Pflegebeihilfe; zasilku pielegnacyjnego) und bei der Pflegeleistung, (Entgeltersatzleistung; swiadczenie pielegnacyjne) handelt es sich nicht um dem (deutschen) Kindergeld vergleichbare Leistungen. Bei den Zahlungen aus dem Alimentationsfonds liegt schon begrifflich keine Familienleistung vor.

61a)      Nach der Begriffsbestimmung des Art. 1 Buchstabe z der VO (EG)  Nr. 883/2004 sind Familienleistungen alle Sach- und Geldleistungen zum Ausgleich von Familienlasten, mit Ausnahme von Unterhaltsvorschüssen und besonderen Geburts- und Adoptionsbeihilfen. Bei den Zahlungen aus dem Alimentationsfonds handelt es sich um Unterhaltsvorschüsse, die demnach schon definitionsmäßig nicht unter den Begriff der Familienleistungen fallen.

62b)      Im übrigen sind die unter den Begriff der Familienleistungen fallenden Leistungen in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich ausgestaltet.

63Gemäß Art. 9 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 notifizieren die Mitgliedstaaten gegenüber der Kommission schriftlich die Rechtsvorschriften, Systeme und Regelungen, die unter den sachlichen Geltungsbereich der VO im Sinne des Art. 3 VO (EG) Nr. 883/2004 fallen.

64Die Bundesrepublik Deutschland hat hierzu in ihrer Notifikation für die Familienleistungen folgende Rechtsvorschriften angegeben: Das Bundeskindergeldgesetz sowie Abschnitt X (§§ 62-78) des Einkommensteuergesetzes und ferner das Bundeselterngeld- und Erziehungszeitgesetz. Hieraus ist bereits ersichtlich, dass nicht alle Familienleistungen zugleich dem Kindergeld vergleichbar sind.

65Die Republik Polen hat zur Bestimmung der Familienleistungen in ihrer Notifizierung das „Ustawa z dnia 28 listopada 2003 r. o swiadczeniach rodzinnych“ (das Gesetz vom 28. November 2003 über Familienleistungen; Gesetzblatt 2006 Nr. 139, Pos. 992, in seiner geänderten und konsolidierten Fassung) angegeben.

66Nach Art 2 des bezeichneten polnischen Gesetzes über Familienleistungen vom 28. November 2003 gehören zu den Familienleistungen

67

  • 68Kindergeld bzw. Familienbeihilfe (zasiłek rodzinny) und Zuschläge zum Kindergeld (dodatki),
  • 69Betreuungsleistungen (swiadczenia opiekuncze): Pflegegeld (Pflegebeihilfe; zasilek pielegnacyjny) und Pflegeleistung (Entgeltersatzleistung; swiadczenie pielegnacyjne),
  • 70Unterstützung, die durch Gemeinden nach Art. 22 a gezahlt wird,
  • 71Einmalige Geburtsbeihilfen.

72aa) Das Kindergeld bzw. die Familienbeihilfe (zasiłek rodzinny) nach Art. 4-7 und die Zuschläge (dodatki) nach Art. 8-15 des polnischen Gesetzes über Familienleistungen sind die Grundfamilienleistungen, welche die Aufwendungen für den Unterhalt des Kindes teilweise decken sollen (Art. 4 Abs. 1 des polnischen Gesetzes).

73Zu den Zuschlägen gehört u.a. die Ausbildungs- und Rehabilitationsbeihilfe für behinderte Kinder (dodatek z tytułu kształcenia i rehabilitacji dziecka niepełnosprawnego). Nach Art 13 des polnischen Gesetzes über Familienleistungen wird der Zuschlag für Ausbildung und Rehabilitation eines behinderten Kindes gezahlt, um erhöhte Ausgaben im Zusammenhang mit der Rehabilitation oder Bildung des Kindes zu decken, soweit für das Kind ein Individualitätsgutachten vorliegt. Dieser Zuschlag ist nach Auffassung des Senats vergleichbar mit dem TOG 2000 (niederländischer Unterhaltszuschuss nach der „REGELING TEGEMOETKOMING ONDERHOUDSKOSTEN THUISWONENDE GEHANDICAPTE KINDREREN“), für den der BFH im Urteil vom 17. April 2008 III R 36/05, BStBl II 2009, 921, entschieden hat, dass er eine dem Kindergeld vergleichbare Familienleistung darstellt. Der Zuschlag nach polnischem Recht dient ebenso wie der TOG 2000 dazu, den erhöhten Unterhaltsbedarf für behinderte Kinder auszugleichen. Er ist somit ein staatlicher Beitrag zum Familienbudget, der die Kosten für den Unterhalt von behinderten Kindern verringern soll. Durch den Zuschlag wird unmittelbar die Liquidität des Familienbudgets und somit der Lebensstandard der Familie verbessert. Es handelt sich um einen Zuschuss zu den erhöhten Unterhaltskosten der Eltern, so dass ebenso wie für die Grundleistung (Kindergeld bzw. Familienbeihilfe, zasiłek rodzinny) eine Vergleichbarkeit mit dem Kindergeld nach deutschem Recht vorliegt.

74bb) Das zu den Betreuungs- bzw. Pflegeleistungen gehörende Pflegegeld (Entgeltersatzleistung; swiadczenie pielęgnacyjne) wird nach Art. 17 des polnischen Gesetzes über Familienleistungen den Eltern für die notwendige Pflege eines behinderten Kindes gezahlt. Voraussetzung ist, dass die betreffende Person nicht arbeitet oder ihre Stellung oder jede sonstige Erwerbstätigkeit aufgibt, um sich um ein Kind zu kümmern. Diese Leistung ist nach Auffassung des Senats wegen ihrer Entgeltsersatzfunktion mit dem (deutschen) Elterngeld vergleichbar, nicht jedoch mit dem Kindergeld.

75cc)   Hinsichtlich der Pflegebeihilfe (zasiłek pielęgnacyjny) ist nach Art. 16 des polnischen Gesetzes über Familienleistungen anspruchsberechtigt das behinderte Kind unter 16 Jahren sowie Personen über 16 Jahren, die eine amtlich bescheinigte mittlere bis schwere Behinderung haben, die aufgetreten ist, bevor sie 21 Jahre alt waren. Diese Leistung wird außerdem Personen über 75 Jahren gewährt, die kein Pflegegeld zusätzlich zur Alters- oder Invaliditätsrente beanspruchen können. Da diese Leistung also zum einen dem Kind selbst zusteht und zum anderen auch Personen, die keine Kinder sind (über 75 Jahre alt), ist sie nach Auffassung des Senats nicht mit dem (deutschen) Kindergeld vergleichbar.

76

  • 777 Für die Umrechnung der anzurechnenden (polnischen) Familienleistungen in Höhe von insgesamt 855 PLN in Euro haben sich die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung im Wege der tatsächlichen Verständigung dahingehend geeinigt, dass der Wechselkurs zum 18. März 2011 (Tag der Einspruchsentscheidung) zugrunde zu legen ist. Dies hält der Senat für zulässig und gerechtfertigt.

78

  • 798 Ob das (gekürzte) Kindergeld an den Kläger auszuzahlen ist, oder nach § 74 Abs. 1 EStG bzw. Art. 68 a VO (EG) Nr. 883/2004 an die Kindesmutter, muss dahinstehen. Zwar hat die Kindesmutter die Abzweigung des Kindergeldes beantragt, weil der Kläger seinen Unterhaltspflichten nicht nachgekommen ist. Der Kläger hat dies jedenfalls für den streitigen Zeitraum Mai 2010 bis März 2011 nicht abgestritten. Jedoch obliegt die Entscheidung über die Abzweigung zunächst der Beklagten. Das Gericht kann die bislang fehlende Entscheidung im vorliegenden Verfahren nicht erstmals treffen, zumal es sich um eine Ermessensentscheidung der Behörde handelt.

80

  • 819 Die Revision ist wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO).

82

  • 8310 Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO).

84

  • 8511 Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.

Abgabenordnung: Offenbare Unrichtigkeit bei Schätzung des Gewinns

Finanzgericht Köln, 7 K 1379/11

Datum:
18.09.2013
Gericht:
Finanzgericht Köln
Spruchkörper:
7. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
7 K 1379/11
Nachinstanz:
Bundesfinanzhof, X B 201/13
Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.

1Tatbestand

2Streitig ist die Befugnis des Beklagten zur Änderung der Einkommensteuerfestsetzung 2005 nach § 129 AO.

3Die Kläger sind zur Einkommensteuer zusammenveranlagte Ehegatten. Sie erzielen beide u.a. gewerbliche Einkünfte, der Kläger aus der gewerblichen Verpachtung einer Gaststätte sowie aus einer Versicherungsvertretung, die Klägerin aus einem Einzelhandel mit Damenoberbekleidung.

4Einkommensteuerlich werden die Kläger bereits seit 1998 bei dem Beklagten unter der Steuernummer …/…./1 geführt. Daneben bestehen für die Kläger mit Blick auf den zweiten Gewerbebetrieb des Ehemannes sowie den Gewerbebetrieb der Ehefrau jeweils separat zwei weitere Steuernummern – …/…./2 für das Versicherungsgewerbe des Ehemannes und …/…./3 für die Ehefrau. Auf der Vorderseite der Einkommensteuerakte der Kläger ist handschriftlich folgender Vermerk angebracht:

5„              „FI“               EM              …/…./2

6                            EF              …/…./3“.

7Unter der Nummer …/…./3 wird die Klägerin – ebenfalls seit 1998 – für Zwecke der Festsetzungen des Gewerbesteuermessbetrages und der Umsatzsteuer aus ihrem Textileinzelhandel geführt, es werden die Steuererklärungen und Gewinnermittlungen hierzu in der entsprechenden Akte abgelegt sowie die Steuerbescheide unter dieser Steuernummer erlassen und abgelegt.

8In den von ihrem steuerlichen Berater erstellten und zu …/…./1 eingereichten Einkommensteuererklärungen für die Veranlagungszeiträume 2001-2004 hatten die Kläger den Gewinn aus dem Textileinzelhandel jeweils auf der Vorderseite des Erklärungsformulars „Anlage GSE“ zu der Kennziffer 59 mit der Beschreibung „lt. gesonderter Feststellung (Betriebsstättenfinanzamt und Steuernummer)“ eingetragen. Dazu war von dem Steuerberater der Kläger stets vermerkt worden „A …….3“.

9Ausweislich der dem Gericht vorliegenden Gewerbesteuerakte des Beklagten zu der Steuernummer …/…./3 war dort am 10.1.2007 eine von dem steuerlichen Berater erstellte und von der Klägerin unterschriebene „Erklärung zur gesonderten – und einheitlichen – Feststellung von Grundlagen für die Einkommensbesteuerung“ eingegangen, der ein Vordruck „Anlage GSE“, eine Gewerbesteuererklärung sowie der Jahresabschluss für den Textileinzelhandel, jeweils für das Jahr 2005, beigefügt waren. In den dafür vorgesehenen Feldern der Erklärungsvordrucke sowie auf dem Deckblatt des Jahresabschlusses war jeweils die Steuernummer mit „…….3“ bzw. „…/…./3“ eingetragen worden.

10Auf der ersten Seite des Erklärungsvordruckes waren von dem Steuerberater der Kläger die Felder „Wohnsitzfinanzamt“ und „Steuernummer“ mit „A“ und „…/…./1“ ausgefüllt worden; die Seite ist handschriftlich durchgestrichen und mit dem Vermerk „keine Feststellung“ versehen. Auf der dahinter abgehefteten „Anlage GSE“ ist der von dem Steuerberater für den Textileinzelhandel mit 65.808 € in die Kennziffer 10 des Vordrucks eingetragene Gewinn handschriftlich durchgestrichen; links daneben befindet sich eine Notiz „§ 4 Abs. 4a EStG vgl. Bilanzakte“, rechts daneben der ebenfalls handgeschriebene Vermerk „10/66.041“.

11Der vorliegende Jahresabschluss weist auf Seite 8 einen Gewinn für den Einzelhandel der Klägerin i. H. v. 60.442,70 € aus; darunter ist handschriftlich notiert „+ Hinzurechnung § 4 Abs. 4a EStG + 5.599,-“ sowie „66.041,70“.

12In der Gewerbesteuerakte des Beklagten zu …/…./3 heften darüber hinaus der wiederum handschriftlich durchgestrichene und mit der Anmerkung „intern“ versehene amtliche Bescheidvordruck „Gesonderte Feststellung des Gewinns 2005“, ausgefüllt u.a. mit der Datumsangabe „02.02.2007“ und dem „Gewinn aus Gewerbebetrieb 66.041“, sowie ein Schreiben des zuständigen Sachbearbeiters des Beklagten an den steuerlichen Berater der Kläger mit auszugsweise folgendem Inhalt:

13„Termin/Frist: 09.03.2007

14…/…./3

1508.02.2007

16Gewerbesteuer 2005

17B, aus C

18Sehr geehrter Herr D,

19ich beabsichtige von einem Gewinn in Höhe von 66.041,– € auszugehen (vgl. beigefügte Anlage). Sollten Sie eine Stellungnahme für erforderlich halten, bitte diese bis zum o.g. Termin einzureichen.“

20Die dem Schreiben nachgeheftete Anlage besteht in einer Berechnung des Hinzurechnungsbetrages nach § 4 Abs. 4a EStG für den Zeitraum 2005 und lautet auf einen „Hinzurechnungsbetrag gem. § 4 Abs. 4a EStG“ von 5.599 €.

21Dahinter ist die Gewerbesteuererklärung für 2005 abgelegt; der unter „Gewinn“ erklärte Wert von 65.808 € ist wiederum handschriftlich durchgestrichen und mit dem handgeschriebenen Kommentar „§ 4 Abs. 4a EStG vgl. Bilanzakte“ auf 66.041 € abgeändert. Der Verfügungsteil des Erklärungsvordruckes enthält die Datumsangabe „09.03.07“ sowie das Namenskürzel des Sachbearbeiters, Herrn E.

22Der Bescheid des Beklagten über den Gewerbesteuermessbetrag 2005 lautet ausweislich der in der Akte befindlichen Durchschrift auf einen Gewinn aus Gewerbebetrieb von ebenfalls 66.041 €.

23Die Gewerbesteuerakte enthält auf der Vorderseite die Notiz „…/…./1 EM+EF ESt“.

24Die Einkommensteuerfestsetzung der Kläger für 2005 hatte der Beklagte in Ermangelung einer Einkommensteuererklärung mit Bescheid vom 7.8.2007 im Schätzungswege durchgeführt. Die Festsetzung war unter der gemeinsamen Steuernummer der Kläger …/…./1 auf 3.636 € erfolgt und hatte u.a. Einkünfte aus dem Gewerbebetrieb der Klägerin i.H.v. 20.000 € zugrunde gelegt. Der Eingabebogen mit den informationstechnisch verarbeiteten Werten für die Schätzungsfestsetzung ist ausweislich der Einkommensteuerakte wiederum mit dem Namenskürzel des Bearbeiters der Beklagten sowie der Datumsangabe „16.07.2007“ versehen.

25Gegen den Schätzungsbescheid hatten die Kläger durch ihren Steuerberater am 7.9.2007 Einspruch eingelegt, der jedoch wegen fehlender Begründung mit Einspruchsentscheidung des Beklagten vom 18.10.2007 als unbegründet zurückgewiesen worden war.

26Im Juli 2009 führte der Beklagte bei beiden Klägern eine steuerliche Außenprüfung durch. Diese erstreckte sich auch auf die Einkommensteuer sowie die Umsatz- und Gewerbesteuer der Klägerin und den Besteuerungszeitraum 2005. Dabei traf die Betriebsprüfungsstelle des Beklagten u.a. die Feststellung, dass Jahresabschluss sowie Steuererklärungen für den Textilhandel der Klägerin unter der Steuernummer …/…./3 vorlagen, während diese Unterlagen für die Gewerbebetriebe des Klägers ebenso wie die gemeinsame Einkommensteuererklärung 2005 der Kläger unter der Steuernummer …/…./1 fehlten. Für die Einzelheiten sowie die weiteren Prüfungsfeststellungen wird auf die beiden dem Gericht vorliegenden Betriebsprüfungsberichte vom 1.9.2009 zu Steuernummer …/…./1 und …/…./3 Bezug genommen.

27Entsprechend der dortigen Ankündigung erließ der Beklagte unter dem 21.10.2009 einen Änderungsbescheid über Einkommensteuer 2005, in dem er nunmehr für die Klägerin den bereits der Gewerbesteuermessbetragsfestsetzung zugrunde gelegten Gewinn aus dem Textileinzelhandel i.H.v. 66.041 € anstatt der geschätzten 20.000 € in Ansatz brachte. Diese Berichtigung stützte der Beklagte auf § 129 AO.

28Daneben führte er mit dem Bescheid eine Änderung der Festsetzung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO aus anderen, unstreitigen Gründen durch. Die Einkommensteuer 2005 beträgt danach 20.596 €.

29Am 20.11.2009 legten die Kläger gegen diesen Bescheid wiederum Einspruch ein, den sie damit begründeten, dass kein Schreib- oder Rechenfehler und damit kein nach § 129 AO zu berichtigender Sachverhalt vorliege.

30Der Beklagte wies den Einspruch mit Entscheidung vom 29.3.2011 als unbegründet zurück. Zu deren Begründung führte er an, dass § 129 AO auch das Übersehen feststehender Tatsachen erfasse, wenn es seinen Grund in einer Unachtsamkeit habe und offen zu Tage liege. Indem der Bearbeiter des zuständigen Veranlagungsbezirkes die gewerblichen Einkünfte der Ehefrau mit einem geschätzten Betrag von 20.000 € in die Veranlagung einbezogen hat, habe er die feststehende Tatsache übersehen, dass die Klägerin unter der Steuernummer …/…./3zum Zeitpunkt der Schätzung bereits Steuererklärungen und eine Bilanz mit einem Gewinn von 66.041 € eingereicht hatte, obwohl für die Betriebe des Ehemannes weder unter …/…./1 noch unter …/…./2 Gewinnermittlungen bzw. Steuererklärungen vorgelegt worden waren. Sowohl die Steuernummer der Eheleute (…/…./1) als auch die Steuernummer für den Gewerbebetrieb der Klägerin (…/…./3) seien in dem selben Veranlagungsbezirk „x“ desselben Sachbearbeiters geführt worden. Durch den Querverweis auf der Vorderseite der Einkommensteuerakte der Eheleute sei ersichtlich gewesen, dass es zu dem Steuerfall weitere Akten gibt.

31Der vorliegende Fall sei außerdem dem Übersehen eines Grundlagenbescheides vergleichbar, was der BFH mit Urteil vom 16.7.2003 X R 37/99, BFH/NV 2003, 1612, als mechanischen Fehler i. S. d. § 129 AO beurteilt habe. Zudem liege eine die Anwendung von § 129 AO ausschließende Verletzung der Amtsermittlungspflicht nicht vor, da wie in dem der BFH-Entscheidung vom 27.5.2009 X R 47/08, BStBl 2009 II, 946, zugrunde liegenden Sachverhalt versehentlich unterlassen wurde, unterjährig eingegangene, den laufenden Veranlagungszeitraum betreffende Unterlagen auszuwerten; von unzureichender Sachverhaltsaufklärung könne allenfalls bei unterbliebener Hinzuziehung von Vorjahresunterlagen die Rede sein.

32Anhaltspunkte für einen – nicht nur theoretisch – möglichen Rechtsirrtum seitens des Sachbearbeiters des Finanzamtes seien jedenfalls nicht erkennbar.

33Mit der am 29.4.2011 bei Gericht eingegangenen Klage verfolgen die Kläger ihre Einwendungen gegen die berichtigte Einkommensteuerfestsetzung weiter.

34Da ganz offenbar ein Schreib- oder Rechenfehler vorliegend nicht gegeben sei, könne eine Berichtigung des Steuerbescheides nur erfolgen im Falle einer ähnlichen offenbaren Unrichtigkeit, vergleichbar einem Eingabe- oder Übertragungsfehler. Offenbare Unrichtigkeiten seien mechanische Fehler, die ebenso mechanisch, d.h. ohne weitere Prüfung, erkannt und berichtigt werden könnten; der BFH habe unter Hinweis auf das Fehlen dieses Kriteriums in seiner Entscheidung V R 27/85 vom 29.3.1990, BFH/NV 1993, 711, für Schätzungsbescheide die Berichtigung nach § 129 AO abgelehnt. Die Ermittlung von Schätzungsgrundlagen und die Ausfertigung eines Schätzungsbescheides seien Akte der Rechtsanwendung, so dass die Berichtigung eines Schätzungsbescheides nach § 129 AO grundsätzlich nicht in Betracht komme; hierzu verweisen die Kläger auf das Urteil des FG Hamburg vom 30.10.2000 V 183/99. Aus dem Urteil des BFH vom 3.3.2011 IV R 8/08, BFH/NV 2011, 1649, ergebe sich nichts anderes.

35Die Kläger sind der Auffassung, es handele sich bei der Nichtberücksichtigung der in den Akten vorliegenden Bilanz nicht mehr um ein einfaches Übersehen einer Tatsache, das wie eine ähnliche offenbare Unrichtigkeit berichtigt werden könne. Die vorgenommene Schätzung sei nicht durch simples Hinzufügen der Tatsache der vorliegenden Bilanz einfach und ohne Schwierigkeiten zu berichtigen, weil dies die Schätzung völlig verändern und zu einem nicht mehr auf einer Schätzung beruhenden Ergebnis führen würde. Für eine neue Schätzung hätte der Bearbeiter eine erneute Berücksichtigung des gesamten Sachverhaltes einschließlich der Zahlen aus der Bilanz vornehmen müssen.

36Demgegenüber würden in den Bereich der Willensbildung fallende Fehler bei der Auslegung oder Nichtanwendung einer korrekten Rechtsnorm, die unzutreffende Annahme eines in Wirklichkeit nicht vorliegenden Sachverhalts oder Fehler, die auf mangelnder Sachaufklärung bzw. Nichtbeachtung feststehender Tatsachen beruhen, die Anwendung des § 129 S. 1 AO ausschließen. Sobald die ernsthafte, mehr als nur theoretische Möglichkeit besteht, dass die Nichtbeachtung einer feststehenden Tatsache auf einem Rechts- oder Denkfehler, fehlerhafter Tatsachenwürdigung oder unvollständiger Sachaufklärung beruht, liege kein bloß mechanisches Versehen und damit keine offenbare Unrichtigkeit mehr vor.

37Bei einer Schätzung handele es sich um das Ergebnis eines wertenden Denkprozesses. Daher gehe es vorliegend auch anders als in dem Urteil des BFH vom 27.5.2009 X R 47/08, a.a.O., vorliegend auch nicht um die Berichtigung eines Steuerbescheides, bei dessen Erstellung eine in den Akten befindliche Information versehentlich nicht berücksichtigt wurde, sondern um die Berichtigung eines auf einer wertenden Beurteilung und Willensbildung beruhenden Schätzungsbescheides.

38Für die Beurteilung des Fehlers komme es entscheidend auf die Umstände der Entscheidungsfindung und demzufolge auf den Akteninhalt an. Eine erforderliche, jedoch von dem Sachbearbeiter unter Verletzung der Amtsermittlungspflicht unterlassene Sachverhaltsermittlung, die dazu führe, dass eine feststehende Tatsache unberücksichtigt bleibe, sei kein mechanisches Versehen.

39Der Finanzbeamte hätte zwingend die unter dem Namen der Klägerin geführte Akte einsehen müssen. Indem er dies unterlassen hat, habe er der Fehlvorstellung unterlegen, es seien keine vollständigen Unterlagen von der Klägerin eingereicht worden. Ein derartiger Irrtum über das Vorliegen von Tatsachen entziehe sich einer Berichtigung nach § 129 AO, wenn der Beamte sich im Schätzungsverfahren befindet. Anderenfalls könne die Finanzverwaltung ohne intensive Prüfung der vorhandenen Besteuerungsgrundlagen schätzen, weil sie im Falle des Übersehens wichtiger, die Besteuerungsgrundlagen erhöhender Tatsachen stets später eine Berichtigung des Bescheides herbeiführen könnte.

40Vorliegend sei eine Unrichtigkeit, die wie ein mechanischer Fehler ohne weiteres durch Übertragung aus den vorliegenden Akten in den Steuerbescheid berichtigt werden könne, gerade nicht gegeben. Für eine Übernahme des bisher nicht berücksichtigten Akteninhalts hätte es vielmehr wertender Beurteilungen und eigenständiger Entscheidungen des Bearbeiters des Beklagten bedurft. Das Verhalten des Bearbeiters müsse als unterlassene Sachverhaltsermittlung, als unzutreffende Tatsachenwürdigung in Gestalt der Annahme der Schätzungsvoraussetzungen oder aber auch als unzutreffende Annahme eines in Wirklichkeit nicht vorliegenden Sachverhalts – Nichtvorliegen vollständiger Unterlagen für den Erlass eines Steuerbescheides ohne Schätzung – verstanden werden.

41Die Kläger beantragen,

42den Einkommensteuerbescheid 2005 vom 21.10.2009 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 29.3.2010 dahingehend zu ändern, dass die Einkünfte aus dem Gewerbebetrieb der Klägerin lediglich mit 20.000 € erfasst werden,

43hilfsweise die Revision zuzulassen.

44Der Beklagte beantragt,

45die Klage abzuweisen,

46hilfsweise die Revision zuzulassen.

47Er hält an seinen Ausführungen in der Einspruchsentscheidung fest.

48Ergänzend macht er Ausführungen zu der organisatorischen Behandlung eines Steuerfalls wie dem der Kläger innerhalb der Finanzverwaltung: Unterhalten Ehegatten mehr als einen Betrieb, sei für den zweiten und jeden weiteren Betrieb jeweils eine gesonderte Steuernummer nur für die Betriebssteuern zu vergeben. Organisatorisch seien deshalb neben der für die Einkommensteuer vergebenen Steuernummer weitere Steuernummern einheitlich in dem Bezirk aufzunehmen, in dem auch die Hauptakte, also die Einkommensteuerakte geführt wird. Auf der Hauptakte und den so genannten „FI“-Akten seien entsprechende Verweise auf die jeweils anderen Steuernummern anzubringen. Der Kennbuchstabe „FI“ stehe dabei für „Feststellung intern“.

49Zwar seien für den Betrieb der Klägerin im Jahr 2007 neben der Bilanz und der Umsatz-und Gewerbesteuererklärung 2005 auch eine Erklärung zur gesonderten Feststellung abgegeben worden, es sei jedoch zutreffend kein Feststellungsbescheid erlassen worden, da sowohl der Wohnsitz der Kläger als auch die Betriebe in dem Zuständigkeitsbereich des Beklagten lägen und damit die Voraussetzungen für eine gesonderte Feststellung nach § 180 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b AO nicht gegeben seien.

50Bei der Schätzung der Besteuerungsgrundlagen für die Einkommensteuerfestsetzung habe das Finanzamt daher hinsichtlich der Einkünfte aus dem Betrieb der Klägerin keine wertende Beurteilung und keine rechtlichen Erwägungen mehr vorzunehmen, sondern den Gewinn zwingend wie bei der Gewerbesteuermessbetragsfestsetzung mit dem ermittelten Betrag von 66.041 € einzusetzen gehabt. Da eine Willensbildung über den anzusetzenden Gewinn dem Grunde und der Höhe nach hätte unterbleiben müssen, könne ein Nichtansatz des erklärten Gewinnes nur in einem Übersehen liegen. Für die Einkünfte aus dem Gewerbebetrieb der Ehefrau habe das Finanzamt schon keine Schätzungsbefugnis gehabt, da die Einkünfte vor Erlass des Schätzungsbescheides vom 7.8.2007 bereits erklärt und auch einverständlich ermittelt waren. Es gehe vorliegend nicht darum, eine Schätzung durch eine andere Schätzung zu ersetzen.

51Der Hinweis auf eine unterlassene Sachverhaltsermittlung gehe fehl, da der Sachverhalt mit dem einvernehmlich auf 66.041 € ermittelten Gewinn vollständig geklärt gewesen sei. Das Verhalten des Bearbeiters sei nicht als unzutreffende Annahme eines in Wirklichkeit nicht vorliegenden Sachverhaltes zu verstehen, sondern eine mechanische Nichtberücksichtigung einer feststehenden Tatsache, vergleichbar mit dem Übersehen einer Kontrollmitteilung. Es sei jedenfalls auszuschließen, dass der Fehler auf etwas anderes als ein mechanisches Versehen zurückgehe, ohne dass entscheidend sei, auf welchem konkreten Vorgang der Fehler beruht.

52Entscheidungsgründe

53Die Klage ist unbegründet.

54Der angefochtene Änderungsbescheid ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten.

55Der Beklagte durfte den geänderten Ansatz des Gewinns aus dem Gewerbebetrieb der Klägerin nach § 129 S. 1 AO vornehmen.

56Bei dem Ansatz des schätzungsweisen Gewinnes von 20.000 € statt des ermittelten Gewinnes von 66.041 € im Rahmen der Einkommensteuerfestsetzung handelt es sich um eine offenbare Unrichtigkeit, die dem Beklagten bei dem Erlass des Einkommensteuerbescheides unterlaufen ist und deshalb nach § 129 AO berichtigt werden durfte.

57I.

58Nach § 129 AO kann die Finanzbehörde Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten, die bei dem Erlass eines Verwaltungsaktes unterlaufen sind, jederzeit innerhalb laufender Festsetzungsfrist berichtigen.

59Wie sich aus der gesetzlichen Formulierung „beim Erlass eines Verwaltungsaktes unterlaufen“ ergibt, setzt diese Berichtigung zum einen grundsätzlich voraus, dass der Fehler in der Sphäre der den Verwaltungsakt erlassenden Finanzbehörde entstanden ist.

60Zum anderen muss ein Schreib- oder Rechenfehler oder eine „ähnliche offenbare Unrichtigkeit“ vorliegen.

61Das Tatbestandsmerkmal der „ähnlichen offenbaren Unrichtigkeit“ wird durch folgende Merkmale gekennzeichnet (vgl. statt vieler: BFH v. 27.5.2009 X R 47/08, BStBl II 2009, 946):

62Es ist erforderlich, dass die Unrichtigkeit einem Schreib- oder Rechenfehler ähnlich ist, d.h. dass es sich um einen gleichermaßen rein mechanischen Fehler handelt, der ebenso mechanisch, also ohne weitere Prüfung, erkannt und berichtigt werden kann.

63Offenbar ist eine Unrichtigkeit, wenn der Fehler bei Offenlegung des Sachverhalts für jeden unvoreingenommenen Dritten augenfällig, also klar und deutlich ohne weitere Prüfung erkennbar ist.

64Sobald jedoch die mehr als theoretische Möglichkeit eines Rechtsirrtums gegeben ist, liegt keine offenbare Unrichtigkeit vor. Auch eine aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen erforderliche, von dem Sachbearbeiter der Finanzbehörde – ggf. unter Verletzung seiner Amtsermittlungspflicht – jedoch unterlassene Sachverhaltsermittlung ist kein mechanisches Versehen in diesem Sinne.

65Allerdings können die einem Schreib- oder Rechenfehler ähnlichen offenbaren Unrichtigkeiten nicht nur die in dem Verwaltungsakt bekundete Willensäußerung des Finanzamtes, sondern auch die dem Erlass des Verwaltungsakts vorausgehende Willensbildung betreffen; Voraussetzung ist nur, dass sie sich unmittelbar, also ohne weitere Sachverhaltsermittlung und die hieran anknüpfenden Zwischenschritte aus den Akten ergeben (vgl. BFH v. 3.3.2011 IV R 8/08, BFH/NV 2011, 1649).

66Zu den offenbaren Unrichtigkeiten gehört auch die Nichtberücksichtigung feststehender Tatsachen, wie das Übersehen eines Grundlagenbescheides, einer Kontrollmitteilung oder eines Außenprüfungsberichtes, das Übersehen von Angaben des Steuerpflichtigen bei der Veranlagung oder das Übersehen erklärter Einkünfte. Die Nichtberücksichtigung von feststehenden Tatsachen muss jedoch aus Unachtsamkeit passiert sein und darf nicht auf einer fehlerhaften Rechtsanwendung oder einer erforderlichen jedoch unterlassenen Sachverhaltsermittlung beruhen. (Vgl. Wernsmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 129 AO Rz. 55 m. w. N. aus der Rechtsprechung.)

67In diesem Zusammenhang ist eine offenbare Unrichtigkeit abzulehnen, soweit der Sachbearbeiter des Finanzamtes auf Akten des Vorjahres hätte zurückgreifen müssen und ihm ein Fehler unterlaufen ist, weil er dies unterlassen hat; demgegenüber liegt keine derartige Verletzung der Amtsermittlungspflicht vor, wenn zu dem jeweiligen zu veranlagenden Jahr bereits vorliegende Unterlagen versehentlich nicht i.R.d. Festsetzung (mit-)ausgewertet werden (vgl. nur BFH v. 27.5.2009 X R 47/08, a.a.O.; FG München v. 30.3.2010 9 K 168/08, EFG 2010, 1370).

68Ob ein mechanisches Versehen oder ein die Berichtigung nach § 129 AO ausschließender Tatsachen- oder Rechtsirrtum vorliegt, ist jeweils nach den Verhältnissen des Einzelfalls zu beurteilen. So kann ein Rechtsanwendungsfehler dann nicht angenommen werden, wenn ein Denkfehler zwar hypothetisch möglich ist, in dem konkreten Fall jedoch außerhalb jeder Wahrscheinlichkeit liegt (vgl. FG Düsseldorf v. 7.7.1977 V/XI 26/76 K, EFG 1978, 98).

69II.

70Vor dem Hintergrund dieser zu § 129 AO herausgearbeiteten Kriterien ist dem Beklagten im Streitfall bei dem Erlass des Einkommensteuerschätzungsbescheides vom 7.8.2007 eine offenbare Unrichtigkeit unterlaufen, indem er statt des bereits ermittelten Gewinns aus dem Gewerbebetrieb der Klägerin von 66.041 € einen geschätzten Gewinn von 20.000 € angesetzt hat.

711.

72Da im Streitfall ein Schreib- oder Rechenfehles offensichtlich nicht vorliegt, kommt nur das Vorliegen einer diesen Fehlern ähnlichen offenbaren Unrichtigkeit in Betracht.

73Es handelt sich bei dem hier erfolgten Ansatz des geschätzten statt des erklärten bzw. ermittelten Gewinnes nach Überzeugung des Gerichtes um einen mechanischen Fehler, der auch mechanisch zu erkennen war und gleichermaßen automatisch behoben werden konnte.

74Denn der Sachbearbeiter des Beklagten hat bei Erlass des Schätzungsbescheides übersehen, dass mit dem gewerblichen Gewinn der Klägerin eine Besteuerungsgrundlage erklärt und daraufhin einvernehmlich und abschließend ermittelt worden war. Indem er keine Notiz von den bereits zu dem Veranlagungszeitraum 2005 vorhandenen Unterlagen über den Gewinn aus dem Textileinzelhandel genommen und diese infolgedessen auch nicht ausgewertet hat, hat er eine für die Einkommensbesteuerung relevante Tatsache übersehen. Dabei kann es keinen Unterschied machen, dass diese nicht unmittelbar den Einkommensteuerakten oder einer Steuererklärung zu entnehmen war wie in den Fällen, die den Entscheidungen des BFH v. 27.5.2009 X R 47/08, a.a.O., und des FG München v. 30.3.2010 9 K 168/08, a. a. O. zugrunde lagen. Auch hier ist eine Ermittlungspflichtverletzung des Sachbearbeiters etwa dadurch, dass eine angezeigte Rückfrage bei den Klägern unterblieben ist, auszuschließen. Denn die für einen zutreffenden Gewinnansatz erforderlichen Unterlagen waren bei dem Beklagten bereits vorhanden und hatten auch bereits mit feststehendem Ergebnis einen Ermittlungs- und Entscheidungsprozess durchlaufen, nur dass diese eben in anderen Akten desselben Veranlagungszeitraumes abgelegt waren und der entsprechende Querverweis auf der Vorderseite der Einkommensteuerakte nicht beachtet worden war.

75Es wurde hier nicht, wie die Kläger meinen, eine gebotene Sachverhaltsermittlung unterlassen, vielmehr wurde das Ergebnis einer schon erfolgten Sachverhaltsfeststellung samt rechtlicher Würdigung übersehen. Deshalb ist der vorliegende Fall auch nicht vergleichbar mit einem Sachverhalt, in dem Vorjahresakten beizuziehen und in die Willensbildung bei dem Erlass eines Verwaltungsaktes einzustellen sind, weil Letztere hinsichtlich der hier in Rede stehenden Besteuerungsgrundlage bereits beendet war.

76Ein derartiges Vorgehen ist auch nur mit einem Versehen zu erklären. Nach Ansicht des Gerichts spricht hier nichts dafür, dass der Bearbeiter bei der Nichtberücksichtigung der Tatsache des ermittelten Gewinns der Klägerin sowie bei Annahme und Gebrauchmachen von einer – nicht bestehenden – Schätzungsbefugnis Überlegungen rechtlicher oder tatsächlicher Art angestellt hat, die ihn dazu veranlasst hätten, den bereits feststehenden Gewinn willentlich außer Ansatz zu lassen.

77Ein Denkfehler ist zwar theoretisch möglich, liegt hier jedoch außerhalb jeder Wahrscheinlichkeit, weil Sachaufklärung, Tatsachenwürdigung und rechtliche Bewertung der vorliegenden Gewinnermittlung und des weiteren Akteninhaltes bereits im Vorfeld der Festsetzung des Gewerbesteuermessbetrages erfolgt und – nach dem Erörterungsschreiben des Beklagten zur Gewerbesteuer 2005 vom 8.2.2007 auch deutlich erkennbar – abgeschlossen worden waren.

78Zwar ist den Klägern darin zuzustimmen, dass die Schätzung von Besteuerungsgrundlagen das Ergebnis eines wertenden Denkprozesses ist.

79Zum einen geht es hier aber, soweit der gewerbliche Gewinn der Klägerin betroffen ist, entgegen der klägerischen Auffassung nicht um die Ersetzung einer Schätzung durch eine andere Schätzung.

80Zum anderen kann eine nach § 129 AO zu berichtigende offenbare Unrichtigkeit nicht nur die in dem Verwaltungsakt zum Ausdruck kommende Willensäußerung, sondern auch die der Willensäußerung vorausgehende Willensbildung betreffen. Zu der der Schätzungsfestsetzung vorgelagerten Willensbildung und zu der Ausübung eines tatsächlich nicht eröffneten Schätzungsermessens wäre es vorliegend gar nicht gekommen, wenn die unter der Steuernummer der Klägerin, c, ermittelte Besteuerungsgrundlage nicht übersehen worden wäre. Denn dann wäre diese richtigerweise in die Einkommensteuerfestsetzung vom 7.8.2007 übernommen worden, und die Annahme der Schätzungsbefugnis – ausgehend von der Annahme der Nichtermittelbarkeit der Besteuerungsgrundlage – wäre ebenso wie die i.R.d. Schätzungsfestsetzung von dem Sachbearbeiter des Beklagten angestellten tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen jedenfalls, soweit die gewerblichen Einkünfte der Klägerin betroffen sind, unterblieben.

81Darin besteht auch ein maßgeblicher Unterschied zu dem Sachverhalt, der dem Urteil des BFH vom 29.3.1990 V R 27/85, a.a.O., zugrunde liegt, aus dem die Kläger wiederum den Grundsatz herleiten, für Schätzungsbescheide sei eine Berichtigung nach § 129 AO abzulehnen. Dort sah die Finanzbehörde eine offenbare Unrichtigkeit darin, dass der zuständige Sachbearbeiter bei Erlass eines Umsatzsteuerschätzungsbescheides die von dem Steuerpflichtigen abgegeben Voranmeldungen übersehen, sich deshalb nicht an diesen als Schätzungsgrundlage orientiert und infolgedessen im Vergleich zu den vorangemeldeten Besteuerungsgrundlagen erheblich zu geringe Umsätze geschätzt hat. Hier lehnte der BFH eine Anwendbarkeit des § 129 AO ab mit der Begründung, dass im Falle einer Schätzungsfestsetzung bei fehlender Umsatzsteuerjahreserklärung zwar die Voranmeldungen herangezogen werden, jedoch nicht die Summen der Besteuerungsgrundlagen aus den Voranmeldungen unverändert in die Steuerfestsetzung eingehen, sondern allgemein durch Hinzuschätzungen ergänzt werden. Dementsprechend habe das Übersehen der Voranmeldungen nicht „mechanisch“ dazu geführt, dass die Summen der Besteuerungsgrundlagen aus den Voranmeldungen nicht in die Umsatzsteuerfestsetzung aufgenommen wurden; die Unrichtigkeit der Schätzungsfestsetzung habe vielmehr darin bestanden, dass der Bearbeiter von anderen – fehlerhaften – Schätzungsgrundlagen ausgegangen sei.

82Im Gegensatz dazu geht es hier nicht um den Austausch von einer Schätzungsgrundlage gegen eine andere Schätzungsgrundlage, die sodann einem weiteren Entscheidungsprozess zu unterwerfen gewesen wäre und als Grundlage für die weitere Anwendung von Schätzungsermessen gedient hätte. Vielmehr wäre der gesamte Willensbildungsprozess der Schätzung entfallen, wenn der zuständige Bearbeiter die unter …/…./3 ermittelte Besteuerungsgrundlage nicht übersehen hätte. Ebenso wie sich die Übernahme eines – falschen – Wertes aus den Akten oder den Angaben des Steuerpflichtigen infolge Unachtsamkeit als unwillkürlicher Fehlgriff darstellt, muss das unbewusste Vernachlässigen eines ansonsten berücksichtigten Wertes als im Wortsinne „gedankenloser“ Akt, der automatisch weitere Folgen wie die Ausübung einer Schätzungsbefugnis nach sich zieht, beurteilt werden. Ein Denkfehler bzw. das Ingangsetzen eines neuen Entscheidungsprozesses ist hier ausgeschlossen, da dieser ausweislich der Betriebssteuerakten der Ehefrau bereits durchlaufen wurde und für einen unvoreingenommenen Dritten auch keine Zweifel daran bestehen dürften, dass es sich bei dem gewerblichen Gewinn der Klägerin für Zwecke des Gewerbesteuermessbetrages und der Einkommensteuer um die identische Besteuerungsgrundlage handelt. Für eine rechtliche Überlegung in diesem Zusammenhang ist kein Raum, denn die Ermittlung des Gewerbeertrages geht nach § 7 GewStG von dem einkommensteuerlichen Gewinn aus; dieser ist nur einmal zu ermitteln und dann für Einkommen- und Gewerbesteuer zu berücksichtigen. Es ist kein vernünftiger Grund dafür erkennbar, einen der Gewerbesteuer unterworfenen und in den Unterlagen hierzu ausgewiesenen Gewinn nicht oder in gänzlich anderer Höhe der Einkommensteuerfestsetzung desselben Steuerpflichtigen zugrunde zu legen (gl. A. zu vergleichbarem Sachverhalt: FG Berlin v. 6.12.1988 VII 416/87, EFG 1989, 333).

83Wenn die Kläger schließlich argumentieren, eine Fehlvorstellung über das Vorliegen vollständiger Unterlagen entziehe sich im Schätzungsverfahren durchweg einer Berichtigung nach § 129 AO, weil die Finanzverwaltung sonst ohne intensive Prüfung vorhandenen Besteuerungsgrundlagen schätzen könnte, da bei Übersehen steuererhöhender Tatsachen stets später eine Berichtigung des Bescheides möglich sei, so ist dem zum einen Folgendes entgegenzuhalten: Einer quasi voraussetzungslosen Anwendung des § 129 AO in Schätzungsfällen sind bereits dann Grenzen gesetzt, wenn mit einer solchen Schätzung Ermittlungspflichtverletzungen verknüpft sind oder es um Fehler bei der – nicht mechanischen erfolgenden – Feststellung von Schätzungsgrundlagen und der Ausübung des Schätzungsermessens geht.

84Zum anderen würde umgekehrt der Steuerpflichtige einen Vorteil aus der Nichtabgabe vollständiger Unterlagen ziehen, wenn eine Berichtigung feststehender steuererhöhender Besteuerungsgrundlagen ausgeschlossen wäre, die deshalb übersehen wurden, weil sie von dem Steuerpflichtigen nicht pflichtgemäß auf der abzugebenden Steuererklärung ausgewiesen wurden. Aus dem in diesem Zusammenhang von den Klägern zitierten Urteil des FG Hamburg v. 30.10.2000 V 183/99, juris, ergibt sich mangels Vergleichbarkeit des Urteilsfalles mit dem hier vorgefundenen Sachverhalt nichts anderes. Denn dort bestand der vermeintliche Fehler darin, dass Besteuerungsgrundlagen einer GmbH geschätzt wurden, obwohl das Finanzamt zuvor telefonisch über eine Inaktivität der GmbH informiert worden war. Während hier in Gestalt des Gewinnes aus dem Textileinzelhandel eine Besteuerungsgrundlage feststand und keinen Raum mehr für Tatsachenwürdigung oder Rechtanwendung ließ, waren in dem Urteilsfall des FG Hamburg wiederum Entscheidungsprozesse tatsächlicher und rechtlicher Art der telefonischen Mitteilung der Inaktivität und dem Schätzungsergebnis zwischengeschaltet; eine Ersetzung des Schätzungsergebnisses durch den übersehenen Umstand war dort (beispielsweise im Hinblick auf nachträgliche Einnahmen oder Ausgaben i.R.e. ruhenden Betriebes) keineswegs zwingend und automatisch möglich.

85Der hier vorliegende Fehler ist nach Auffassung des Gerichtes dem in der Rechtsprechung als offenbare Unrichtigkeit anerkannten Übersehen einer in den Akten befindlichen Kontrollmitteilung oder eines Grundlagenbescheides vergleichbar. Die – mechanische – Qualität des Fehlers wird nicht dadurch eine andere, dass die feststehende Tatsache sich nicht unmittelbar aus dem zu veranlagenden Einkommensteuervorgang oder der Einkommensteuerakte, sondern nur unter Einbeziehung der zu dem identischen Steuerfall gehörenden Akten einer anderen Steuernummer ergibt; denn das Vorhandensein der anderen Akten und die Verknüpfung der Steuernummern waren durch wechselseitige Verweise sowohl des Finanzamtes auf seinen Akten als auch der Steuerpflichtigen in ihren Erklärungen kenntlich gemacht und so gewissermaßen mehrfache Entscheidungsprozesse ausgeschlossen. Die Unstimmigkeit war den zu dem Steuerfall der Kläger gehörenden Unterlagen mechanisch, durch Einsichtnahme in die Steuerakten zu …/…./1 und …/…./3 eindeutig zu entnehmen, ohne dass eine weitere Prüfung, Tatsachenwürdigung oder rechtliche Erwägungen anzustellen gewesen wären. Eine Berichtigung des Fehlers konnte ebenso mechanisch ohne weitere Sachverhaltsermittlung und die hieran anknüpfenden rechtlichen Zwischenschritte erfolgen durch Übernahme des in den Unterlagen zu …/…./3 an verschiedenen Stellen (Anlage GSE; Jahresabschluss; Bescheidvordruck „Gesonderte Feststellung des Gewinns 2005; Erörterungsschreiben; Gewerbesteuererklärung) notierten Gewinns von 66.041 €.

86Daraus ergibt sich gleichzeitig, dass die hier vorgefundene Unrichtigkeit auch offenbar i.S.d. § 129 AO, also für jeden unvoreingenommenen Dritten durch Abgleich des Gewinns laut der „FI“-Akte …/…./3 und laut dem Eingabebogen für die Einkommensteuerschätzung unter …/…./1 erkennbar war: Durch die konsequenten Querverweise auf die jeweils andere Steuernummer sowohl auf den Akten des Beklagten als auch in den Erklärungen und Unterlagen der Kläger wird die inhaltliche Verknüpfung zwischen den beiden organisatorisch getrennt geführten Steuerfällen hergestellt und auf die Identität der Besteuerungsgrundlage „Gewinn aus dem Gewerbebetrieb der Ehefrau“ unmissverständlich hingewiesen.

87Selbst die Eintragungen der Kläger bzw. ihres steuerlichen Beraters auf den vorhandenen Einkommensteuererklärungen machen dies unmissverständlich kenntlich. Sie nehmen auf den unter der Nr. …/…./3 erklärten Gewinn Bezug wie auf eine in einem Grundlagenbescheid festgestellte Besteuerungsgrundlage. Umgekehrt finden sich auf den zu der Betriebssteuernummer der Klägerin eingereichten Unterlagen Verweise auf die Einkommensteuernummer der Kläger, und es wurde sogar eine für die Durchführung eines Feststellungsverfahrens bestimmte Erklärung abgegeben. Dadurch wird zwar die Einkommensteuerfestsetzung nicht zu einem Grundlagenbescheid bzw. es wird nicht eine dem Verhältnis Grundlagenbescheid-Folgebescheid entsprechende Bindungswirkung hergestellt; es wird aber für jeden unvoreingenommenen Dritten anhand der Akten deutlich, dass es sich insoweit – was den Gewinn aus dem Textileinzelhandel anbelangt – um dieselbe Besteuerungsgrundlage handelt, die für unterschiedliche Steuerarten und -nummern desselben Steuerpflichtigen von Bedeutung ist.

88Die offenbare Unrichtigkeit ist vorliegend auch in der Sphäre des Beklagten, also bei dem Erlass des Einkommensteuerschätzungsbescheides, entstanden und in der Einspruchsentscheidung fortgesetzt worden.

89Nach dem Wortlaut des § 129 AO steht die danach mögliche Berichtigung im Ermessen der Finanzbehörde.

90Die Berichtigung eines i.S. des § 129 AO offenbar unrichtigen Steuerbescheids ist im Hinblick auf das Ziel der materiellen Richtigkeit der Steuerfestsetzung regelmäßig ermessensgerecht. Entsprechende Ermessenserwägungen brauchten deshalb hier weder angestellt noch in dem Berichtigungsbescheid oder in der Einspruchsentscheidung dargestellt zu werden

91III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.

92IV. Die Revision war nicht zuzulassen.

Vorsteuervergügung: Nachreichen der Originalrechnung

Finanzgericht Köln, 2 K 4248/08

Datum:
07.06.2013
Gericht:
Finanzgericht Köln
Spruchkörper:
2. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
2 K 4248/08
Nachinstanz:
Bundesfinanzhof, V R 39/13
Tenor:

Unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 13. November 2008 und Änderung des Vergütungsbescheides vom 23. November 2007 wird der Beklagte verpflichtet, die Vorsteuervergütung für den Zeitraum 07-09/2006 um 73.382,46 € zu erhöhen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens tragen die Klägerin zu 78 % und der Beklagte zu 22 %.

Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs der Klägerin abwenden, soweit nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in derselben Höhe leistet.

Die Revision wird zugelassen.

Der Streitwert wird auf 327.478 € festgesetzt.

1Tatbestand

2Zwischen den Beteiligten ist zum einen streitig, ob die Vorsteuervergütung die Vorlage der Originalrechnung erfordert und zum anderen, ob die zeitliche Zuordnung einer Rechnung zum Folge-Vergütungszeitraum desselben Kalenderjahres einer Vergütung entgegen steht.

3Die Klägerin ist ein Unternehmen mit Sitz in der Schweiz. Gegenstand des Unternehmens ist die Erbringung von Dienstleistungen im Bereich Sport Marketing.

4Die Klägerin beantragte am 23. November 2006 (Posteingangsdatum) die Vergütung von Vorsteuern i.H.v. 2.818.573,51 € im Rahmen des besonderen Vorsteuervergütungsverfahrens nach § 18 Abs. 9 UStG i.V.m. §§ 59 bis 61 UStDV für den Vergütungszeitraum Juli bis September 2006. Am 29. Juni 2007 (Eingangsdatum) reichte die Klägerin für diesen Zeitraum einen weiteren Antrag auf Vorsteuervergütung i.H.v. 271.641,60 € ein. Mit den Anträgen wurden u.a. eine Rechnungsfotokopie des B vom 13. September 2006 (Vorsteuern i.H.v. 254.096,00 €) und eine Rechnung der A Produktion GmbH vom 10. April 2006 (Vorsteuern i.H.v. 73.382,46 €) vorgelegt. Der Beklagte fasste die beiden Anträge zu einem Antrag zusammen.

5Mit Bescheid vom 23. November 2007 setzte der Beklagte die Vorsteuervergütung auf 2.744.126,65 € fest. Im Übrigen wurde die begehrte Vorsteuervergütung abgelehnt. Dabei versagte der Beklagte unter anderem die Vorsteuervergütung aus der Rechnung des B vom 13. September 2006 mangels Vorlage der Originalrechnung und die Vorsteuervergütung aus der Rechnung der A Produktion GmbH vom 10. April 2006 wegen des unzutreffenden Vergütungszeitraums.

6Der hiergegen fristgerecht eingelegte Einspruch wurde mit Einspruchsentscheidung vom 13. November 2008 als unbegründet zurückgewiesen.

7Zur Begründung ihrer hiergegen fristgerecht erhobenen Klage trägt die Klägerin vor, dass die Vorsteuer sowohl aus der Rechnung des B als auch aus der Rechnung der A Produktion GmbH vom 10. April 2006 zu vergüten sei.

8Die Rechnung der A Produktion GmbH habe dem Beklagten seit der Antragseinreichung am 23. November 2006 vorgelegen, also mehr als sieben Monate vor dem Ablauf der Frist für die Vorsteuervergütung 2006. Der Beklagte habe dem Antrag entnehmen können, dass es sich um eine Rechnung aus April 2006 gehandelt habe und sich der Antrag damit offensichtlich auch auf den Zeitraum April bis September 2006 bezogen habe. Insoweit sei die Vorsteuer aus dieser Rechnung rechtzeitig und korrekt angemeldet worden, denn das Wahlrecht für den Vergütungszeitraum liege gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 UStDV beim Unternehmer.

9Der Unternehmer sei daher nicht gehindert, die Vergütung in einem späteren Vergütungszeitraum desselben Jahres geltend zu machen. Denn die Umsatzsteuer sei eine Jahressteuer. Daher sei lediglich entscheidend, dass der Vorsteuerbetrag in dem betreffenden Jahr, hier also im Jahr 2006, geltend gemacht worden sei.

10Dies werde durch § 60 Satz 3 UStDV verdeutlicht. Hiernach müsse für die vorangegangenen Vergütungszeiträume nicht einmal ein Antrag auf Vergütung gestellt worden sein, um die Vergütung für Vorsteuerbeträge aus anderen Vergütungszeiträumen im selben Kalenderjahr geltend zu machen. Im Streitfall seien aber für alle Vergütungszeiträume des Jahres 2006 Vergütungsanträge für jeweils drei volle Monate gestellt worden. Soweit der Beklagte einwende, dass die Vorsteuer im vierten Quartal 2006 hätte geltend gemacht werden müssen, sei dem entgegenzuhalten, dass nach dem Wortlaut in diesem Fall § 60 Sätze 2 und 3 UStDV nicht einschlägig sei.

11Dies ergebe sich auch aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift. Gemäß der Gesetzesbegründung zu § 60 UStDV solle die Vorschrift lediglich den Vergütungszeitraum in Anlehnung an die voraussichtliche Regelung der Achten Richtlinie festlegen (vgl. BR-Drucksache 576/79). Die Achte Richtlinie regele in Art. 7 Abs. 1 Satz 3, dass die Anträge auch Rechnungen oder Einfuhrdokumente betreffen könnten, für die zuvor noch keine Anträge gestellt worden seien und die sich auf Vorumsätze beziehen würden, die während des betreffenden Kalenderjahres getätigt worden seien.

12Sie, die Klägerin, könne daher die Vergütung aus der Rechnung, die sie im April 2006 erhalten habe, für die sie aber im zweiten Quartal des Jahres 2006 keinen Antrag gestellt habe, auch im dritten Quartal des Jahres 2006 geltend machen. Denn anders als in § 60 Satz 3 UStDV spreche der Wortlaut der Achten Richtlinie von „Anträgen“ und nicht nur von einem „Antrag“. Zudem beziehe sich die Rechnung der A Produktion GmbH auf einen Umsatz, der während des Kalenderjahres (hier 2006) getätigt worden sei. Abweichende Sonderregelungen in der 13. Richtlinie seien nicht ersichtlich.

13Die Auffassung des Beklagten sei auch in europarechtlicher Hinsicht nicht haltbar. So habe sich die Europäische Kommission im Verfahren vor dem EuGH in der Rechtssache C-433/08 (Yaesu Europe) gegen einen Formalismus ausgesprochen. Die Kommission führe zum Thema Diskriminierung aus, dass zunächst zu prüfen sei, ob für vergleichbare innerstaatliche Vorgänge (etwa Erklärung für die Geltendmachung des Vorsteuerabzugs) dasselbe Erfordernis gelte. Dies sei im Streitfall zu verneinen, da die Umsatzsteuer eine Jahressteuer sei. Zudem verdeutliche die Kommission, dass der Grundsatz der Effektivität Hindernissen für die Rückerstattung entgegenstehe, soweit keine zwingenden Gründe des Gemeinwohls vorliegen würden, da diese Hindernisse den freien Waren- und Dienstleistungsverkehr behindern würden. Dies gelte auch für Vorsteuervergütungen nach der 13. Richtlinie. Im Streitfall habe der Beklagte keine derartigen zwingenden Gründe vorgetragen. Diese seien auch nicht ersichtlich.

14Die Auffassung des Beklagten würde im Ergebnis auch zu widerstreitenden Steuerfestsetzungen führen. Der negative Widerstreit (§ 174 Abs. 3 AO) liege dann vor, wenn die Finanzbehörde den Sachverhalt dahingehend würdige, dass er aufgrund des Zeitraumes in einen anderen Bescheid zu erfassen sei.

15Auch wenn es sich bei dem Vergütungsverfahren um ein Massenverfahren handele, habe der Beklagte für die Bearbeitung eines Teils des Vergütungsantrages ein Jahr benötigt, obwohl Art. 7 Abs. 4 der Achten Richtlinie vorschreibe, dass der Bescheid binnen sechs Monaten zugestellt werden müsse. Zwar enthalte die 13. Richtlinie insoweit keine Regelung, aber dies bedeute nicht, dass sie, die Klägerin, ohne eine entsprechende abweichende gesetzliche Regelung „schlechter“ behandelt werden dürfe (vgl. Art. 8 der Achten EG-Richtlinie und Art. 3 Abs. 2 der 13. EG-Richtlinie).

16Der Beklagte könne daher sein eigenes Verschulden nicht ihr, der Klägerin, anlasten. Der Beklagte habe die Bearbeitung vielmehr so zu organisieren, dass sie fristgerecht erfolgte. Hätte der Beklagte fristgerecht entschieden, hätte er den Bescheid im Bezug auf die Vorsteuer aus der Rechnung der A Produktion GmbH bereits am 23. Mai 2007 dem Prozessbevollmächtigten zustellen müssen, da der Beklagte ausweislich des Vergütungsantrages vom 23. November 2006 im Besitz aller zur Stützung des Antrages vorgeschriebenen Dokumente gewesen sei. In diesem Fall wäre sie, die Klägerin, in der Lage gewesen, den entsprechenden Antrag noch vor Ablauf der Vergütungsfrist zu stellen.

17Die Rechnung des B sei im Zeitpunkt der Antragstellung am 29. Juni 2007 nicht auffindbar gewesen. Gleichwohl sei sie aber nie abhanden gekommen, sondern sie, die Klägerin, sei immer im Besitz der Rechnung gewesen.

18Nachdem sie, die Klägerin, ihren Geschäftszweck, nämlich die Vermarktung von Leistungen für … in Deutschland, erreicht habe, sei nahezu das gesamte Büro in C (Schweiz) geschlossen worden. Alle Buchhaltungsunterlagen seien im April 2007 an ihr Treuhandbüro versandt worden. Dort habe man im Juni 2007 festgestellt, dass ein Teil der Vorsteuererstattung für das Jahr 2006 noch nicht beantragt worden sei. Sie habe in der kurzen Zeit bis zum Ablauf der Vorsteuervergütungsfrist am 30. Juni 2007 die Originalrechnung des B nicht mehr auffinden und dem Antrag beifügen können, da die Buchhaltungsunterlagen in mehreren Kartons abgelegt gewesen seien. Aus diesem Grund habe dem Beklagten nur eine Kopie der Rechnung vorgelegt werden können.

19Allerdings habe eine Mitarbeiterin (Frau D) des schweizerischen Treuhandbüros, welches nunmehr für sie – die Klägerin – die Buchhaltung erledige, die Originalrechnung im Dezember 2008 in einem Ordner aufgefunden.

20Die Klägerin hat die Originalrechnung des B mit ihrer Klageschrift vom 15. Dezember 2008 eingereicht.

21Die Klägerin trägt hierzu des Weiteren vor, dass die bisherige Rechtsprechung des BFH (BFH-Urteil vom 18. Januar 2007, V R 23/05) inwieweit nicht einschlägig sei, da sie, die Klägerin, regelmäßig, so auch im Streitfall, die Rechnungen im Original vorgelegt habe. Anders als in dem BFH-Urteil habe sie, die Klägerin, die Rechnung aus tatsächlichen Gründen nicht vorlegen können. Es gehe im Streitfall daher nicht um eine rechtliche Fehlinterpretation in Bezug auf die Vorlage der Originalrechnung. Zudem habe sie, die Klägerin, die Rechnung nach dem Auffinden unverzüglich (noch in demselben Monat) vorgelegt. Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sei daher im Ergebnis die Erstattung des Vorsteuerbetrages aus der Rechnung des B zu gewähren.

22Entscheidend für den Vorsteuerabzug sei grundsätzlich nur, dass sie im Zeitpunkt der Inanspruchnahme des Vorsteuerabzugs im Besitz der Originalrechnung gewesen sei (BFH-Urteil vom 16. April 1997 – XI R 63/93). Dieser Nachweis sei nunmehr durch die Vorlage der Originalrechnung geführt worden. Da dem Beklagten auch eine Kopie der Rechnung vorgelegt worden sei, sei klar, dass es sich exakt um dieselbe Rechnung handele.

23Eine Gefahr, dass die Vorsteuer bereits vergütet worden sei, bestehe nicht, da die Rechnung weder vom Beklagten noch vom eventuell zuständigen Finanzamt E entwertet worden sei. Zudem sei leicht nachprüfbar, dass sie, die Klägerin, zu keinem Zeitpunkt beim Finanzamt E umsatzsteuerrechtlich gemeldet gewesen sei.

24Die Klägerin beantragt,

25den Beklagten unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 13. November 2008 und unter Änderung des Vergütungsbescheides vom 23. November 2007 zu verpflichten, die Vorsteuervergütung für den Zeitraum 07-09/2006 um 327.478,46 € zu erhöhen.

26Der Beklagte beantragt,

27die Klage abzuweisen;

28hilfsweise die Zulassung der Revision.

29Der Beklagte trägt vor, dass die begehrte Vergütung weiterer Vorsteuern zu versagen sei.

30Die Rechnung der A Produktion GmbH vom 10. April 2006 gehöre nicht in den Vergütungszeitraum Juli bis September 2006. Nach § 15 Abs. 1 Nr. 1 UStG sei der Unternehmer dann zum Vorsteuerabzug berechtigt, wenn er eine nach §§ 14, 14a UStG ausgestellte Rechnung besitze. Für Rechnungen, die nach der Ausführung der Leistung erteilt würden, sei das Datum des Erhalts der Rechnung maßgeblich. Auf der Rechnung befinde sich ein Vermerk „gebucht 11. April 2006“, so dass die Klägerin im April 2006 im Besitz der Rechnung gewesen sei.

31Bei ihm, dem Beklagten, habe am 26. Juli 2006 ein Antrag auf Vergütung für den Vergütungszeitraum April bis Juni 2006 vorgelegen. Dieser Antrag sei am 1. September 2006 beschieden worden.

32Gemäß § 60 Sätze 2 und 3 UStDV sei ein Abzug der Vorsteuer aus der Rechnung vom 10. April 2006 nur noch im Zeitraum Oktober bis Dezember 2006 möglich gewesen. Bei der Vergütung der Vorsteuern für den Zeitraum Juli bis September könne diese Rechnung keine Berücksichtigung finden.

33Im Streitfall habe die Klägerin für ihren Antrag vom 23. November 2006 den Vergütungszeitraum selbst für die Monate Juli bis September 2006 gewählt. Die Rechnung der A Produktion GmbH könne nicht bezogen auf diesen Zeitraum vergütet werden. Denn in einem Vergütungsantrag könnten schon denklogisch nur die in den jeweiligen Vergütungszeitraum fallenden Vorsteuerbeträge geltend gemacht werden. Bezogen auf den Streitfall bedeute dies, dass die Rechnung der A Produktion GmbH vom 10. April 2006 nur in einem Antrag hätte berücksichtigt werden können, dessen Vergütungszeitraum entweder den Monat April (z.B. April bis Juni 2006) oder den restlichen Zeitraum eines Kalenderjahres (z.B. Oktober bis Dezember 2006) umfasse. Eine Berücksichtigung der Rechnung im streitigen Vergütungszeitraum sei jedoch unzulässig und zu Recht abgelehnt worden.

34Entgegen der Auffassung der Klägerin würden auch keine widerstreitenden Steuerfestsetzungen im Sinne des § 174 Abs. 1 AO vorliegen. Ein bestimmter Sachverhalt (hier die Ablehnung der Vergütung) sei nicht in mehreren Steuerbescheiden zu Ungunsten der Klägerin berücksichtigt worden, sondern lediglich in dem Bescheid über den Antrag für den Zeitraum Juli bis September 2006.

35Die Aussage der Klägerin, die Rechnung hätte bereits sieben Monate vor Fristablauf bei ihm, dem Beklagten, vorgelegen und das Wahlrecht für den Vergütungszeitraum liege ohnehin beim Unternehmer, sei nicht nachvollziehbar. Wenn der Unternehmer den Vergütungszeitraum entsprechend wähle, so müsse er mit der gebotenen Sorgfalt auch dafür Sorge tragen, dass die entsprechenden Rechnungen den richtigen Anträgen zugeordnet würden. Im Rahmen des Massenverfahrens bei der Vorsteuervergütung sei ihm, dem Beklagten, nicht zuzumuten, Rechnungen auf die entsprechend richtigen Anträge zu verteilen bzw. sofort nach Eingang die Anträge auf etwaige Mängel zu prüfen (BFH-Urteil vom 23. Februar 2006 – III R 42/04, n.v.).

36Die Vergütung der Vorsteuer aus der Rechnung des B sei abzulehnen, da diese dem Antrag nur in Kopie beigefügt worden sei.

37Originalrechnungen müssten innerhalb der in § 18 Abs. 9 S. 3 UStG geregelten Antragsausschlussfrist bei ihm, dem Beklagten, eingehen (BFH-Urteil vom 18. Januar 2007 – V R 23/05).

38Die Vergütung von Vorsteuern auf der Basis von Kopien sei ausnahmsweise nur dann zulässig, wenn u.a. ein außergewöhnlicher Geschehensablauf beim Verlust der Originalrechnung vorliege und der Verlust der Originalrechnung vom Steuerpflichtigen nicht zu vertreten sei.

39Die Originalrechnung sei erstmals im Klageverfahren eingereicht worden, so dass offensichtlich kein Verlust vorgelegen habe und sich die Rechnung auch zum Zeitpunkt der Abgabe des Antrags schon im Besitz der Klägerin befunden habe. Die Klägerin selbst trage vor, dass die Rechnung niemals abhanden gekommen sei. Daher erübrige sich eine Prüfung, ob und unter welchen Voraussetzungen eine Vergütung der im damaligen Antragsverfahren vorgelegten Rechnungskopien möglich wäre. Denn es mangele bereits am Tatbestandsmerkmal des Rechnungsverlustes.

40Eine Vergütung könne daher allenfalls aufgrund der erstmals mit der Klageschrift vom 15. Dezember 2008 vorgelegten Rechnung erfolgen. Insoweit könne jedoch eine Vergütung nicht erfolgen, da die Rechnung erst nach Ablauf der Antragsfrist vorgelegt worden sei.

41Der Klägerin könne diesbezüglich auch keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand im Sinne des §§ 110 AO gewährt werden, da zum Zeitpunkt der Einreichung der Originalrechnung am 15. Dezember 2008 sämtliche Fristen dieser Rechtsnorm (insbesondere § 110 Abs. 3 AO) bereits abgelaufen gewesen seien. Davon abgesehen müsse aufgrund der offensichtlichen Mängel in der Buchhaltung der Klägerin auch von einem Verschulden ihrerseits ausgegangen werden.

42Entscheidungsgründe

43Die Klage ist nur zum Teil begründet. Im Übrigen ist sie unbegründet.

44Der Vergütungsbescheid vom 23. November 2007 und die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung vom 13. November 2008 sind im Hinblick auf die mangelnde Vergütung der Vorsteuer aus der Rechnung der A Produktion GmbH rechtswidrig und verletzen die Klägerin insoweit in ihren Rechten (§ 101 Satz 1 FGO). Denn die Vorsteuer aus der Rechnung der A Produktion GmbH vom 10. April 2006 wurde nicht im unzutreffenden Vergütungszeitraum geltend gemacht. Darüber hinaus ist der Vergütungsbescheid nebst Einspruchsentscheidung indes nicht zu beanstanden. Bezüglich der Rechnung des B vom 13. September 2006 mangelt es an der Vorlage der Originalrechnung innerhalb der Antragsfrist.

45A.              Rechnung der A Produktion GmbH vom 10. April 2006

46Die Klägerin hat einen Anspruch auf die Vergütung der Vorsteuer aus der Rechnung der A Produktion GmbH vom 10. April 2006. Die entsprechenden Voraussetzungen sind erfüllt. Insbesondere scheitert die Vorsteuervergütung – entgegen der Auffassung des Beklagten – nicht daran, dass die Rechnung vom 10. April 2006 für den Vergütungszeitraum Juli bis September 2006 geltend gemacht wurde.

47I.              Nach § 18 Abs. 9 Satz 1 UStG kann zur Vereinfachung des Besteuerungsverfahrens das Bundesministerium der Finanzen (BMF) mit Zustimmung des Bundesrates durch Rechtsverordnung die Vergütung der Vorsteuerbeträge (§ 15 UStG) an im Ausland ansässige Unternehmer, abweichend von § 16 UStG und von § 18 Abs. 1 bis 4 UStG, in einem besonderen Verfahren regeln. Von dieser Ermächtigung hat der Verordnungsgeber in §§ 59 ff. UStDV Gebrauch gemacht.

48II.              Gemäß § 60 Satz 1 UStDV ist der Vergütungszeitraum nach Wahl des Unternehmers ein Zeitraum von mindestens drei Monaten bis zu höchstens einem Kalenderjahr. Der Vergütungszeitraum kann weniger als drei Monate umfassen, wenn es sich um den restlichen Zeitraum des Kalenderjahres handelt (§ 60 Satz 2 UStDV). In den Antrag für diesen Zeitraum können auch abziehbare Vorsteuerbeträge aufgenommen werden, die in vorangegangene Vergütungszeiträume des betreffenden Kalenderjahres fallen (§ 60 Satz 3 UStDV).

49§ 60 UStDV ist dahingehend zu verstehen, dass er es nicht untersagt, Vorsteuerbeträge aus vorangegangenen Vergütungszeiträumen des betreffenden Kalenderjahres auch in anderen Vergütungszeiträumen als dem letzten des Kalenderjahres geltend zu machen. Denn § 60 Satz 3 UStDV regelt lediglich, welche Möglichkeiten im restlichen Vergütungszeitraum des Kalenderjahres bestehen. Die Regelung beschäftigt sich nicht auch mit den anderen Vergütungszeiträumen. Sie ist insoweit nicht abschließender Natur. Sie sieht auch nicht vor, dass „nur“ in dem Antrag für den restlichen Zeitraum des Kalenderjahres Vorsteuerbeträge aus vorangegangenen Vergütungszeiträumen des betreffenden Kalenderjahres aufgenommen werden können. Folglich steht es dem Vergütungsanspruch der Klägerin nicht entgegen, dass sie in ihren Vergütungsantrag für den Zeitraum Juli bis September 2006 eine Rechnung vom 10. April 2006 aufgenommen hat.

50Dieses wird auch durch die Entstehungsgeschichte des § 60 UStDV bestätigt. Aus den Gesetzesmaterialien zu § 60 UStDV ergibt sich, dass diese Vorschrift den Vergütungszeitraum in Anlehnung an die voraussichtliche Regelung der Achten Richtlinie festlegen soll (BR-Drucks. 576/79, Seite 91). Art. 7 Abs. 1 Satz 3 der Achten Richtline des Rates vom 6. Dezember 1979 (79/1072/EWG, ABl.EG Nr. L 331/1979, 11) sieht vor, dass die Anträge auch Rechnungen betreffen können, für die zuvor noch keine Anträge gestellt worden sind und die sich auf Umsätze beziehen, die während des betreffenden Kalenderjahres getätigt wurden. Hiernach – also nach der „Vorlage“ des deutschen Gesetzgebers – ist es folglich ausdrücklich möglich, in jeden Vergütungszeitraum des betreffenden Kalenderjahres Rechnungen aus vorangegangenen Zeiträumen des Kalenderjahres aufzunehmen.

51Zwar gilt die Achte Richtlinie nur für die Erstattung von Vorsteuern an im Gemeinschaftsbiet ansässige Steuerpflichtige. Auf die nicht im Gemeinschaftsgebiet ansässigen Steuerpflichtigen findet hingegen die Dreizehnte Richtlinie des Rates vom 17. November 1986 (86/560/EWG, ABl. L 326/1986, 40) Anwendung, die für die Vergütungszeiträume keine eigenständige Regelung enthält. Allerdings ist insbesondere vor dem Hintergrund der Gesetzesmaterialien nicht ersichtlich, dass der deutsche Gesetzgeber für Unternehmer aus Drittstaaten eine hiervon abweichende Regelung aufstellen wollte. Aber auch unabhängig von der Achten Richtlinie Raum lässt § 60 UStDV für die vorgenommene Auslegung Raum.

52B.              Rechnung des B

53Die Klägerin hat indes keinen Anspruch auf die Vergütung der Vorsteuer aus der Rechnung des B vom 13. September 2006. Denn insoweit hat die Klägerin innerhalb der Vergütungsfrist weder eine Originalrechnung noch eine Zweitschrift vorgelegt.

54I.              Gemäß § 18 Abs. 9 Satz 3 UStG ist der Vergütungsantrag binnen sechs Monaten nach Ablauf des Kalenderjahres zu stellen, in dem der Vergütungsanspruch entstanden ist. Bei dieser Sechs-Monats-Frist des § 18 Abs. 9 Satz 3 UStG handelt es sich um eine nicht verlängerbare Ausschlussfrist (vgl. BFH-Urteil vom 21. Oktober 1999, V R 76/98, BStBl II 2000, 214; so jüngst auch durch den EuGH bestätigt, Urteil vom 21. Juni 2012, C-294/11 – Elsacom, abrufbar über Juris). Der Unternehmer hat die Vergütung selbst zu berechnen und die Vorsteuerbeträge durch Vorlage von Rechnungen und Einfuhrbelegen im Original nachzuweisen (§ 18 Abs. 9 Satz 4 UStG). Aus dem Zusammenhang von § 18 Abs. 9 Satz 3 und Satz 4 UStG ergibt sich, dass die Originalrechnungen mit dem Antrag innerhalb der Antragsfrist einzureichen sind (BFH-Urteile vom 18. Januar 2007 – V R 23/05, BFHE 217, 32, BStBl II 2007, 430; vom 14. Mai 2008 – XI R 58/06, BFHE 221, 505, BStBl II 2008, 831).

55II.              Der von der Klägerin geltend gemachte Vergütungsanspruch aus der Rechnung des B vom 13. September 2006 ist nach ihrem Vortrag im Jahre 2006 entstanden. Der Vergütungsantrag hierfür war daher unter Beifügung der Originalrechnung bis zum 30. Juni 2007 zu stellen.

56Innerhalb dieser Frist hat die Klägerin die Rechnung des B nicht als Originalrechnung vorgelegt, sondern insoweit lediglich eine Fotokopie beim Beklagten eingereicht.

57III.              Einem Steuerpflichtigen, dem die Vorlage der Originalrechnungen unmöglich geworden ist, ist zwar unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit zu gewähren, auf andere Weise die Vorsteuervergütung zu erlangen. Allerdings erfüllt die Klägerin diese Voraussetzungen nicht.

581.              § 18 Abs. 9 Satz 4 UStG ist für den Fall des Verlustes der Originalrechnungen einschränkend auszulegen. Wenn der dem Erstattungsantrag zugrunde liegende Vorgang stattgefunden hat und keine Gefahr besteht, dass weitere identische Erstattungsanträge gestellt werden, kommt es nach Auffassung des erkennenden Senats nicht auf das Nicht-Vertretenmüssen durch den Antragsteller an (vgl. BFH-Urteil vom 19. November 1998 – V R 102/96, BFHE 187, 344, BStBl II 1999, 255). Allerdings ist für den Fall des Abhandenkommens der Originalrechnung – vor Einreichung des Antrags – jedenfalls eine Zweitschrift der Rechnung oder eine Bestätigung des Rechnungsausstellers zu der Rechnungskopie innerhalb der Antragsfrist einzureichen. Nur diese stellen im Rahmen der einschränkenden Auslegung des § 18 Abs. 9 Satz 4 UStG einen „adäquaten Ersatz“ für die Originalrechnung dar. Einfache Fotokopien reichen insoweit nicht aus.

592.              Im Streitfall hat die Klägerin innerhalb der Antragsfrist lediglich eine schlichte Fotokopie der Rechnung des B vorgelegt. Angesichts dessen ist die Vorsteuervergütung zu versagen.

603.              Dem steht nicht entgegen, dass der (inländische) Steuerpflichtige im allgemeinen Besteuerungsverfahren (§§ 16 bis 18 UStG) den Nachweis des Besitzes einer Originalrechnung nicht nur durch Vorlage derselben, sondern mit allen verfahrensrechtlich zulässigen Beweismitteln – also auch durch Fotokopien – führen kann. Insoweit besteht für den im Drittland ansässigen Antragsteller kein Gleichbehandlungsgebot.

61a.              Im Gegensatz zu Antragstellern, die im Gemeinschaftsgebiet ansässig sind, gilt für den im Drittland ansässigen Unternehmer nicht das Diskriminierungsverbot des Art. 12 EUV (offen gelassen in BFH-Urteil vom 18. Januar 2007 – V R 23/05, BFHE 217, 32, BStBl II 2007, 430). Aus diesem Diskriminierungsverbot folgt, dass die Möglichkeit des Nachweises der Vorsteuerberechtigung u.a. durch Vorlage einer Zweitschrift auch einem nicht in dem Mitgliedstaat ansässigen Steuerpflichtigen einzuräumen ist, wenn ein in dem Mitgliedstaat ansässiger Steuerpflichtiger in der gleichen Situation diese Möglichkeit gewährt wird (vgl. BFH-Urteil vom 28. Oktober 2010 – V R 17/08, BFH/NV 2011, 658; EuGH-Urteil vom 11. Juni 1998 – C-361/96 – Grandes sources d´eaux minérales françaises, Slg. 1998-I, 3495). Die Klägerin, die außerhalb des Gemeinschaftsgebiets ansässig ist, kann sich indes nicht hierauf berufen.

62b.              Auch aus Art. 3 GG kann eine Gleichbehandlung der Klägerin mit inländischen Steuerpflichtigen nicht begründet werden. Denn insoweit ist bereits der Sachverhalt von im Inland und im Drittland ansässigen Unternehmern nicht vergleichbar. So reicht es für die Vorsteuervergütung im besonderen Verfahren nach § 18 Abs. 9 UStG grundsätzlich aus, wenn der im Ausland ansässige Unternehmer einen Vergütungsantrag nebst Unternehmerbescheinigung und Originalrechnungen einreicht. Der inländische Unternehmer ist hingegen nach inländischem Recht zur umfassenden Buchführung verpflichtet und seine Angaben in der Umsatzsteuererklärung können jederzeit im Wege einer Umsatzsteuer-Sonderprüfung überprüft werden.

63Aber selbst wenn man von vergleichbaren Sachverhalten ausgehen wollte, wäre eine vermeintliche Ungleichbehandlung jedenfalls gerechtfertigt. Denn die unterschiedliche Überprüfbarkeit der Angaben des im Inland einerseits und des im Drittland andererseits ansässigen Unternehmers stellt einen sachlichen Grund hierfür dar. Denn der inländische Unternehmer kann im Wege einer Betriebsprüfung oder Umsatzsteuersonderprüfung durch die deutschen Finanzbehörden geprüft werden. Für den im Drittland ansässigen Unternehmer gibt es solche Überprüfungsmöglichkeiten nicht. Es gilt insoweit noch nicht einmal das EG-Amtshilfegesetz. Auskunftsklauseln in Doppelbesteuerungsabkommen sind regelmäßig auf Ertragsteuern beschränkt.

64c.              Die mangelnde Ausdehnung der erweiterten Nachweismöglichkeiten des im Inland ansässigen Unternehmers auf im Ausland ansässige Unternehmer wird dadurch bestätigt, dass der deutsche Gesetzgeber in § 18 Abs. 9 Satz 4 UStG ausdrücklich die Vorlage der Originalrechnung fordert. Für den im Gemeinschaftsgebiet ansässigen Unternehmer gilt insoweit auf der Grundlage des Diskriminierungsverbotes des EG-Rechts eine Ausnahme. Allerdings ist diese Ausnahme angesichts des eindeutigen deutschen Gesetzestextes restriktiv zu behandeln und nicht ohne weiteres in gleichem Maße auf in Drittstaaten ansässige Unternehmer zu erweitern.

654.              Der Forderung der Vorlage von Zweitschriften der Rechnungen oder Bestätigungen des Rechnungsausstellers zu den Rechnungskopien steht die EuGH- und BFH-Rechtsprechung nicht entgegen. Es gibt zwar Entscheidungen des EuGH und des BFH, wonach der Nachweis des Vergütungsanspruchs für den Fall des Abhandenkommens des Originals unter bestimmten Voraussetzungen nicht nur durch Vorlage einer Zweitschrift, sondern auch durch Vorlage einer Ablichtung der Rechnung geführt werden kann (EuGH-Urteil vom 11. Juni 1998 – C-361/96 – Grandes sources d´eaux minérales françaises, Slg. 1998-I, 3495; BFH-Urteile vom 20. August 1998 – V R 55/96, BFHE 186, 460, BStBl II 1999, 324; vom 18. Januar 2007 – V R 23/05, BFHE 217, 32, BStBl II 2007, 430). Jedoch haben der EuGH und der BFH in diesen Entscheidungen auch gefordert, dass der Antragsteller den Verlust der Originalrechnungen nicht zu vertreten haben muss.

66Aus dem BFH-Urteil vom 19. November 1998 (V R 102/96, BFHE 187, 344, BStBl II 1999, 255), wonach es nicht auf die Umstände des Verlustes der Originalrechnung ankommt, ergibt sich indes nicht, dass die Vorlage einer Rechnungsfotokopie ausreicht.

675.              Schließlich rechtfertigt auch der Grundsatz der Neutralität der Umsatzsteuer keine andere Entscheidung. Dieser Grundsatz ist nicht der einzige Grundsatz des gemeinschaftsrechtlichen Umsatzsteuerrechts. Ein weiterer tragender Grundsatz besteht in der Bekämpfung der Steuerhinterziehung. Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit darf die Waagschale sich in jedem Fall nicht zu stark auf der Seite des einen Ziels senken und damit die Erreichung des anderen gefährden (vgl. Schlussanträge vom 12. Februar 1998, C-361/96 – Grandes sources d´eaux minérales françaises, Slg. 1998-I, 3495). Nach Auffassung des Senats ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zwischen den beiden Zielen gewahrt, wenn bei Verlust der Originalrechnung eine Zweitschrift als Ersatz vorgelegt werden kann.

686.              Diese Grundsätze gelten auch, obwohl die Klägerin die Rechnung später – nach Ablauf der Antragsfrist – wieder aufgefunden hat. Denn im Zeitpunkt der Antragstellung war die Rechnung der Klägerin subjektiv gesehen abhanden gekommen, da sie für sie nicht auffindbar war.

697.              Soweit der Klägervertreter in der mündlichen Verhandlung eingewendet hat, dass die Beschaffung einer Zweitschrift faktisch die Antragsfrist kürzen würde, ist dem entgegenzuhalten, dass die Klägerin hinreichend Zeit gehabt hätte, eine Zweitschrift zu beschaffen. Erfolgt die Zusammenstellung des Vorsteuervergütungsantrages erst kurz vor Fristablauf, trägt der Antragsteller das Risiko unvollständiger Unterlagen.

708.              Da es nicht auf das mangelnde Vertretenmüssen des Verlustes einer Rechnung ankommt, kann der klägerische Vortrag, dass Frau D die Originalrechnung im Dezember 2008 in einem Ordner aufgefunden habe, dahingestellt bleiben. Es bedarf insoweit keiner Beweisaufnahme, weil es hierauf für die Entscheidung nicht ankommt.

71C.              Die Kostenentscheidung folgt aus § 136 Abs. 1 Satz 1 FGO.

72D.              Das Urteil ist wegen der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des Kostenerstattungsanspruches der Klägerin abwenden, soweit die Klägerin nicht zuvor Sicherheit in derselben Höhe leistet.

73E.              Die Revision wird nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen.

74F.              Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 52, 63 GKG.

Haftung für Umsatzsteuer: Grobes Verschulden bei Beratung durch Steuerberater

Finanzgericht Köln, 3 K 1178/07

Datum:
12.06.2013
Gericht:
Finanzgericht Köln
Spruchkörper:
3. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
3 K 1178/07
Nachinstanz:
Bundesfinanzhof, V R 33/13
Tenor:

Der Haftungsbescheid vom 10. März 2009 wird ersatzlos aufgehoben soweit der Kläger für Umsatzsteuer für die Voranmeldungszeiträume März 2003 und Juni 2003 in Haftung genommen worden ist. Die Haftungssumme für Umsatzsteuer 2002 wird auf 399,21 € herabgesetzt.

Die weitergehende Klage wird abgewiesen.

Für den Zeitraum bis zum 10. Oktober 2008 trägt der Kläger die Kosten zu 1/5 und der Beklagte zu 4/5. Für den Zeitraum danach trägt der Beklagte die Kosten allein.

Die Revision wird zugelassen.

Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs des Klägers abwenden, soweit nicht der Kläger zuvor Sicherheit in derselben Höhe leistet.

1Tatbestand2Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit eines Haftungsbescheids wegen Umsatzsteuer 2002, Zinsen hierzu und Umsatzsteuer der Voranmeldungszeiträume März und Juni 2003, der gegenüber dem Kläger als damaligen Geschäftsführer und Gesellschafter der A GmbH (im Folgenden: A-GmbH) erlassen wurde.

3…

Entscheidungsgründe

88I. Der Senat konnte trotz Ausbleibens des Klägers und des Prozessbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung zur Sache verhandeln und entscheiden, da der Prozessbevollmächtigte in der ordnungsgemäß zugegangenen Ladung hierauf hingewiesen worden war (§ 91 Abs. 2 FGO).

89II. Die Klage ist bis auf einen geringen Teil begründet.

90Der Haftungsbescheid des Beklagten, zuletzt in der Fassung vom 10. März 2009, ist überwiegend rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO).

91Der Beklagte hat den Kläger für nicht gezahlte Umsatzsteuer 2002 der A-GmbH und Zinsen hierzu zu Unrecht in Haftung genommen, da den Kläger der Vorwurf des groben Verschuldens nicht trifft. Dies gilt nur für einen geringen Restbetrag nicht gezahlter Umsatzsteuer in Höhe von 399,21 € für bestimmte Sachverhalte nicht, die im Bericht über die Umsatzsteuer-Sonderprüfung vom 18. Juni 2004 in Tz. 16 e und 16 f aufgegriffen wurden. Zu diesen Sachverhalten hat der Kläger im gerichtlichen Verfahren jedenfalls keine Stellung genommen, was im Ergebnis zu seinen Lasten geht.

92Für Umsatzsteuerschulden der A-GmbH aus den Voranmeldungszeiträumen März 2003 und Juni 2003 der A-GmbH scheidet eine Haftung des Klägers ebenfalls aus. Für die auf den Voranmeldungszeitraum März 2003 entfallenden Sachverhalte kann dem Kläger ebenfalls der Vorwurf des groben Verschuldens nicht gemacht werden, soweit die Umsatzsteuer-Sonderprüferin den Vorsteuerabzug bei der A-GmbH nicht anerkannt hat. Für den Voranmeldungszeitraum Juni 2003 wurde zwar die Voranmeldung mit einer der Höhe nach unstreitigen Umsatzsteuerschuld der A-GmbH verspätet eingereicht, der Kläger durfte jedoch darauf vertrauen, dass das zuständige Finanzamt C die fristgerecht abgegebenen Umsatzsteuer-Voranmeldungen April und Mai 2003 mit einem übersteigenden Erstattungsbetrag rechtzeitig bearbeiten und sein steuerlicher Berater den angekündigten Verrechnungsantrag stellen würde.

931. Der Kläger kann zwar als ehemaliger Geschäftsführer der A-GmbH bis zum 18. August 2003 grundsätzlich gemäß §§ 191, 69, 34 Abs. 1 Satz 1 und 2 AO für grob fahrlässige Pflichtverletzungen in Haftung genommen werden. Der Beklagte hat im Streitfall hierfür jedoch sowohl die Richtigkeit der umsatzsteuerlichen Festsetzungen, die im Anschluss an die Umsatzsteuer-Sonderprüfung erlassen wurden (des Umsatzsteuerjahresbescheids 2002 und des geänderten Umsatzsteuervoranmeldungsbescheids für März 2003) sowie der nach dem Ausscheiden des Klägers abgegebenen Umsatzsteuervoranmeldung für Juni 2003 und der behaupteten grobfahrlässigen Pflichtverletzungen des Klägers im einzelnen darzulegen und nachzuweisen. Denn der Umsatzsteuerjahresbescheid 2002 und die geänderte Umsatzsteuer-Voranmeldung für März 2003 wurden erst nach Abberufung des Klägers als Geschäftsführer erlassen und die Umsatzsteuer-Voranmeldung für Juni 2003 erst danach abgegeben.

94a) Nach § 191 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 kann durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden, wer kraft Gesetzes für eine Steuer haftet. Haften i.S. des § 191 AO bedeutet Einstehenmüssen für eine fremde Steuerschuld (hier: die Umsatzsteuerschulden der A-GmbH für 2002 sowie März 2003 und Juni 2003 sowie die Zinsen zur Umsatzsteuer 2002). Tatbestandsmäßige Voraussetzung für die Haftungsinanspruchnahme ist daher neben dem Bestehen zum Beispiel einer öffentlich-rechtlichen Haftungsnorm als Anspruchsgrundlage (hier: § 69 Satz 1 AO), dass eine Steuerschuld oder der Anspruch auf eine steuerliche Nebenforderung entstanden ist und im Zeitpunkt des Erlasses des Haftungsbescheides noch besteht (Grundsatz der Akzessorietät, vgl. BFH-Urteil vom 12.10.1999 – VII R 98/98, BStBl II 2000, 486). Der Haftungsanspruch entsteht, sobald der Tatbestand verwirklicht ist, an den die Haftungsnorm die Haftungsfolge knüpft (§ 38 AO 1977), jedoch nicht vor Entstehen der Steuerschuld (BFH-Urteil in BStBl II 2000, 486).

95b) Ist die Steuer dem Steuerpflichtigen (hier: der A-GmbH) gegenüber unanfechtbar festgesetzt, so hat dies auch der Vertreter des Steuerpflichtigen gegen sich gelten zu lassen, wenn er in der Lage gewesen wäre, den gegen den Steuerpflichtigen erlassenen Bescheid anzufechten (§ 166 AO). Eine solche Drittwirkung der im Anschluss an die Umsatzsteuer-Sonderprüfung erlassenen Umsatzsteuerjahresfestsetzung 2002, der geänderten Umsatzsteuer-Voranmeldung für März 2003 und der Umsatzsteuer-Voranmeldung für Juni 2003 liegt im Streitfall jedoch nicht vor, was zwischen den Beteiligten unstreitig ist. Der Kläger konnte als Geschäftsführer die sämtlich erst nach seiner Abberufung als Geschäftsführer erlassenen Bescheide für die A-GmbH nicht mehr anfechten.

962. Der Haftungsbescheid vom 10. März 2009 ist, soweit der Kläger für Umsatzsteuer 2002 haften soll, überwiegend rechtswidrig.

97a) Der Senat lässt es dahinstehen, ob der Beklagte im Streitfall die Haftungsinanspruchnahme auf eine Haftung für „Umsatzsteuer 2002“ statt auf die einzelnen Voranmeldungszeiträume des Kalenderjahres 2002, für die er grobfahrlässige Pflichtverletzungen des Klägers behauptet, stützen konnte.

98aa) Für die Umsatzsteuer 2002 ist durch das damals für die A-GmbH zuständige Finanzamt C (ohne vorherige Abgabe einer Umsatzsteuerjahreserklärung) ein Jahressteuerbescheid nach der Umsatzsteuer-Sonderprüfung ergangen, der die Korrekturen der Umsatzsteuer-Sonderprüfung enthalten und zu einer Mehr-Umsatzsteuer geführt hat. Im Hinblick auf die im Bericht über die Umsatzsteuer-Sonderprüfung 2002 in Anlage 1 einzeln aufgeführten Lebenssachverhalte des Kalenderjahres 2002 wurde der Kläger auf der Grundlage der Umsatzsteuerjahresfestsetzung 2002 durch den Beklagten in Haftung genommen. Im Hinblick auf die Umsatzsteuerjahresfestsetzung 2002 wirft der Beklagte dem Kläger aber weder eine verspätete Abgabe, noch eine inhaltlich unzutreffende Erklärung noch eine nicht fristgerechte Zahlung der Mehr-Umsatzsteuer als grobfahrlässige Pflichtverletzungen vor. Er stützt seine Haftungsinanspruchnahme auf grob fahrlässige Pflichtverletzungen des Klägers für die einzelnen Voranmeldungszeiträume für das Kalenderjahr 2002.

99bb) Eine Haftung des Klägers auf der Grundlage einzelner Voranmeldungszeiträume des Kalenderjahres 2002 wäre auch trotz Erlasses des Umsatzsteuerjahresbescheids 2002 jedenfalls dem Grunde nach möglich gewesen. Das endgültige Schicksal der Umsatzsteuer-Vorauszahlungsschulden als Haftungsgrundlage hängt  zwar von der Höhe der Steuerschuld nach dem Jahressteuerbescheid ab. Denn die Umsatzsteuer-Vorauszahlungsansprüche stehen kraft Gesetzes unter der auflösenden Bedingung, dass die Umsatzsteuer-Vorauszahlungen aus den Umsatzsteuer-Voranmeldungen oder Vorauszahlungsfestsetzungen durch die Festsetzung der Jahressteuerschuld bestätigt werden (vgl. BFH-Urteile vom 5. August 1986 VII R 167/82, BFHE 147, 398, BStBl II 1987, 8, 9, m.w.N.; vom 15. Juni 1999 VII R 3/97, BFHE 189, 14, BStBl II 2000, 46; in BStBl. II 2000, 486). Übersteigt bzw. bestätigt die Umsatzsteuer-Jahresveranlagung aber – wie im Streitfall – die Ergebnisse der haftungsauslösenden Umsatzsteuer-Voranmeldungen, so tritt die auflösende Bedingung, die zum Erlöschen der Vorauszahlungsschuld hätte führen können (§ 47 AO), nicht ein. In diesem Fall besteht der Haftungsanspruch unvermindert in Höhe der rückständigen Vorauszahlungsschulden fort (BFH-Urteil in BStBl. II 2000, 486). Der Haftungsschuldner kann somit auch nach Ergehen des Umsatzsteuer-Jahresbescheids gegenüber dem Steuerschuldner noch durch Haftungsbescheid für rückständige Umsatzsteuer-Vorauszahlungen in Anspruch genommen werden, wenn die Haftungsvoraussetzungen – wie hier – (nur) bezüglich der Umsatzsteuer-Vorauszahlungen vorliegen können (BFH-Urteil in BStBl. II 2000, 486).

100cc) Es bedarf aber keiner abschließenden Entscheidung der Frage, ob der Beklagte als Grundlage der Haftung überhaupt auf die „Umsatzsteuer 2002“ abstellen durfte, da die Klage für die streitigen Sachverhalte schon aus anderen Gründen Erfolg hat.

101b) Eine Haftung des Klägers für die unzutreffende Behandlung der Veräußerung des Geschäftsbereichs IT-Vermietung als nicht steuerbare Geschäftsveräußerung im Ganzen kommt nicht in Betracht, da den Kläger insoweit jedenfalls kein grobes Verschulden trifft.

102aa) Mit der Veräußerung der immateriellen und materiellen Wirtschaftsgüter des Geschäftsbereichs IT-Vermietung am 20. Dezember 2012 hat die A-GmbH eine steuerbare und steuerpflichtige Lieferung bewirkt, für die nach Maßgabe der anzuwendenden Sollversteuerung die Umsatzsteuer mit Ausführung der Lieferung am 20. Dezember 2002 entstanden ist.

103aaa) Lieferungen sind nach § 3 Abs. 1 UStG Leistungen, durch die ein Unternehmer oder in seinem Auftrag ein Dritter den Abnehmer oder in dessen Auftrag einen Dritten befähigt, im eigenen Namen über einen Gegenstand zu verfügen (Verschaffung der Verfügungsmacht). Die Regelung setzt Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 77/388/EWG in nationales Recht um, wonach es für die Lieferung auf „die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen“, ankommt. Der Begriff „Lieferung eines Gegenstands“ in Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 77/388/EWG umfasst jede Übertragung eines körperlichen Gegenstands durch eine Partei, die die andere Partei ermächtigt, über diesen Gegenstand faktisch so zu verfügen, als wäre sie sein Eigentümer, ohne dass es dabei auf eine Eigentumsübertragung in den durch das anwendbare nationale Recht vorgesehenen Formen ankomme. Nach ständiger BFH-Rechtsprechung, der der Senat folgt, ist die Übertragung von Substanz, Wert und Ertrag erforderlich (BFH-Urteile vom 16. April 2008 XI R 56/06, BFHE 221, 475, BStBl II 2008, 909, unter II.2.a, m.w.N.; vom 08.09.2011 – V R 43/10, DStR 2012, 460). Bei Lieferung unter Eigentumsvorbehalt –-wie im Streitfall– wird die Verfügungsmacht verschafft, wenn die Sachherrschaft übergeht (Lippross, Umsatzsteuer, 23. Auflage, Tz. 2.3.4.3).

104Die J AG erlangte im Streitfall am 20. Dezember 2002 die erforderliche Verfügungsmacht, auch ohne dass die Ware physisch aus der Betriebsstätte L-Straße … in die Schweiz bewegt wurde. Entweder kommt eine Besitzverschaffung mit zivilrechtlichem Eigentumserwerb vom Berechtigten nach § 929 Satz 2 BGB in Betracht oder aber gemäß § 931 BGB, wenn man darauf abstellt, dass die A-GmbH fortan die übereigneten Gegenstände als Besitzmittlerin der J AG besitzen sollte (vgl. zur Eigentumsverschaffung bei nicht bewegten Gegenständen z.B. das BGH-Urteil vom 10. November 2004 VIII ZR 186/03, BGHZ 161, 90, unter II.6.a aa (1)). Somit liegt gemäß § 3 Abs. 7 Satz 1 UStG für diese Lieferung auch der Leistungsort in D. Wird der Gegenstand der Lieferung nicht befördert oder versendet, wird die Lieferung nach dieser Vorschrift dort ausgeführt, wo sich der Gegenstand zur Zeit der Verschaffung der Verfügungsmacht befindet (vgl. Martin in Sölch/Ringleb, UStG, § 3 Tz. 505).

105bbb) Eine Steuerbefreiung dieses Umsatzes als Ausfuhrlieferung (§ 4 Abs. 1 Nr. 1 I.V.m. § 6 UStG) scheidet aus, da eine solche nach dem Wortlaut der Regelung nur in Betracht kommt, wenn der Gegenstand im Zuge der Lieferung physisch in das Drittlandsgebiet gelangt, was hier gerade nicht gegeben ist.

106ccc) Gemäß § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a Satz 1 UStG entsteht die Umsatzsteuer für diese Lieferung aus der Netto-Bemessungsgrundlage in Höhe von 387.600 € zum 20. Dezember 2002.

107bb) Die Voraussetzungen einer nicht steuerbaren Geschäftsveräußerung gemäß § 1 Abs. 1a UStG sind zu verneinen. Denn mit der Ergänzungsvereinbarung vom 30. Dezember 2002 haben Veräußerer (A-GmbH) und Erwerber J-AG unmittelbar im Anschluss an die Übertragung des Geschäftsbereichs für einen ungewissen Zeitraum ausgeschlossen, dass die J-AG selbst als Vermieterin von IT-Komplettpaketen am Markt auftreten sollte. Hiermit hat der Erwerber J AG den Geschäftsbereich IT Vermietung nicht in der erforderlichen Weise fortgeführt.

108aaa) Zwar liegt aus der Sicht des Senats in dem übertragenen Geschäftsbereich „IT Vermietung“ jedenfalls ein in der Gliederung des Unternehmens der A-GmbH gesondert geführter Betrieb gemäß § 1 Abs. 1a UStG vor.

109Wie der BFH jüngst entschieden hat, kann ein Unternehmensteil, auch ohne die qualifizierten ertragsteuerlichen Voraussetzungen eines Teilbetriebs gemäß § 16 EStG erfüllen zu müssen, als Teilvermögen und ein in der „Gliederung des Unternehmens gesondert geführter Betrieb“ gemäß § 1 Abs. 1a UStG anzusehen sein. Es kommt für die Annahme eines „in der Gliederung eines Unternehmens gesondert geführte[n] Betrieb[s]“ i.S. des § 1 Abs. 1a UStG bei richtlinienkonformer Auslegung nicht darauf an, ob bei dem Veräußerer für die übertragenen Gegenstände vor der Veräußerung eine eigenständige betriebliche Organisation vorlag (BFH-Urteile vom 29. August 2012 XI R 10/12, BStBl. II 2013, 221; vom 19. Dezember 2012 XI R 38/10, DStR 2013, 585). Ob ein übertragbares Teilvermögen vorhanden ist, bestimmt sich auf der Grundlage einer Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls, wobei für die Geschäftsveräußerung entscheidend, ob das übertragene Unternehmensvermögen als hinreichendes Ganzes die Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit ermöglicht und ob die vor und nach der Übertragung ausgeübten Tätigkeiten übereinstimmen oder sich hinreichend ähneln (BFH-Urteile vom 29. August 2012 XI R 10/12, BStBl. II 2013, 221; vom 19. Dezember 2012 XI R 38/10, DStR 2013, 585 m.w.N.). Auch wenn dem Senat keine näheren Erkenntnisse über die einzelnen Aktivitäten und Geschäftsbereiche der A-GmbH im Zeitpunkt Übertragung vorliegen, stellt sich der Streitfall auf der Grundlage der Vereinbarung vom 20. Dezember 2002 so dar, dass die J AG jedenfalls einen Inbegriff immaterieller und sachlicher Gegenstände des Geschäftsbereichs IT-Vermietung erwerben sollte, der es ihr ermöglichte, eine eigene Geschäftstätigkeit zu entfalten.

110bbb) Jedoch liegt aus Sicht des Senats die Voraussetzung nicht vor, dass der Erwerber J AG die Fortführung des Geschäftsbereichs in hinreichender Weise beabsichtigte. Der Senat hält insofern die Ergänzungsvereinbarung vom 30. Dezember für schädlich, nach der die A-GmbH wegen der ungeklärten umsatzsteuerlichen Behandlung ihrer Vermietungsumsätze bis auf weiteres „wie bisher“ den übertragenen Geschäftsbereich im eigenen Namen und auf eigene Rechnung fortführen sollte. Aus den Urteilen des EuGH in den Rechtssachen –Abbey National– (Urteil vom 22. Februar 2001 C-408/98, Slg. 2001, I-1361, BFH/NV Beilage 2001, 48), –Zita Modes– (Slg. 2003, I-14393, BFH/NV Beilage 2004, 128, Rz 32 bis 40) und –Schriever– (UR 2011, 937, DStR 2011, 2196, Rz 22 bis 25) und der Rechtsprechung des BFH (Urteil vom 29. August 2012 XI R 10/12, BStBl. II 2013, 221) folgt jedoch, dass die im Rahmen der Geschäftsveräußerung im Ganzen erforderliche Möglichkeit und Absicht der Fortführung des Geschäftsbetriebs aus der maßgeblichen Sicht des Erwerbers zu bestimmen ist. Die Vertragsparteien haben die Übertragung des Geschäftsbereichs jedoch im Nachhinein „angehalten“ und bis auf weiteres unter Vorbehalt gestellt. Wäre die umsatzsteuerliche Prüfung der Behandlung zukünftiger Umsätze der J AG als Vermieterin von IT-Anlagen im Inland anders ausgefallen, wäre die Übertragung „wirtschaftlich“ nicht vollzogen werden sollen und die A-GmbH weiterhin im Außenverhältnis und auf eigene Rechnung als Vermieterin aufgetreten.

111Hierbei verkennt der Senat nicht, dass ab Mitte März 2003 die J AG die Geschäftstätigkeit für Neuaufträge soweit ersichtlich dann doch tatsächlich aufgenommen hat. Es ist aus der Rechtsprechung des BFH aber nicht ersichtlich, dass das spätere Vorliegen einer zwischenzeitlich in Frage gestellten Fortführungsabsicht auf den Zeitpunkt der steuerpflichtigen Lieferung zurückwirken kann und in welchem zeitlichen Rahmen nach der Übertragung des Geschäftsbereichs sich die Fortführungsabsicht des Erwerbers endgültig manifestiert haben muss. Der BFH hat – soweit ersichtlich – bislang nur entschieden, eine Geschäftsveräußerung i.S. des § 1 Abs. 1 a Satz 2 UStG könne auf mehreren zeitlich versetzten Kausalgeschäften beruhen, wenn diese in einem engen sachlichen und zeitlichen Zusammenhang stünden und die Übertragung des ganzen Vermögens auf einen Erwerber zur Beendigung der bisherigen gewerblichen Tätigkeit – insbesondere auch für den Erwerber – offensichtlich sei (BFH-Urteil vom 01.08.2002 – V R 17/01, BStBl. II 2004, 626). In der vorgenannten Entscheidung des BFH hing die Wirksamkeit der Übertragungsvorgänge jedoch von der Zustimmung Dritter ab. Im Streitfall hingegen haben die A-GmbH und die J AG die Geschäftsveräußerung ins Werk gesetzt und dann selbst unmittelbar im Anschluss an die Übertragung unter einen Vorbehalt gestellt und die A-GmbH im Außenverhältnis und auf eigene Rechnung die ursprüngliche Tätigkeit fortsetzen lassen.

112ccc) Aus Sicht des Senats ist auch dann, wenn man in der Ergänzungsvereinbarung vom 30.12. 2002 den Abschluss einer Dienstleistungskommission (Leistungsverkaufskommission) zwischen der J AG als Auftraggeberin und der A-GmbH als Auftragnehmerin gemäß § 3 Abs. 11 UStG sieht, keine Geschäftsveräußerung im Ganzen gegeben. Bei richtlinienkonformer Auslegung entsprechend Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 77/388/EWG erfasste § 3 Abs. 11 UStG auch in seiner 2002 geltenden Fassung nicht nur den „Leistungseinkauf“, sondern auch den „Leistungsverkauf“ (BFH-Urteile vom 7. Oktober 1999 V R 79, 80/98, BFHE 190, 235, BStBl II 2004, 308; vom 25. Mai 2000 V R 66/99, BFHE 191, 458, BStBl II 2004, 310; vom 31. Januar 2002 V R 40, 41/00, BFHE 197, 377, BStBl II 2004, 315; vom 29. August 2002 V R 8/02, BFHE 199, 88, BStBl II 2004, 320; vom 28. November 2002 V R 6/02, BFH/NV 2003, 517). § 3 Abs. 11 UStG fingiert für das Innenverhältnis von „Hintermann“ J AG und Kommissionärin A-GmbH statt eines Geschäftsbesorgungsverhältnisses ein Vermietungsverhältnis, wenn die A-GmbH im Außenverhältnis gegenüber Kunden IT-Komplettpakete vermietet. Die Begründung einer Leistungsverkaufskommission durch den Erwerber eines Geschäftsbereichs mit dem Veräußerer dieses Geschäftsbereichs als Kommissionär reicht nach Auffassung des Senats aber nicht aus, um eine Fortführung des erworbenen Geschäftsbereichs „durch den Erwerber“ i.S.d. § 1 Abs. 1a UStG begründen zu können. Soweit ersichtlich, ist jedoch auch diese Rechtsfrage noch nicht höchstrichterlich geklärt.

113cc) Jedenfalls trifft den Kläger aber nicht der Vorwurf groben Verschuldens, indem er als Geschäftsführer der A-GmbH den Veräußerungsvorgang als nicht steuerbar behandelt hat.

114Denn der Kläger hat durch eine vorher eingeholte rechtliche Beratung und der in der Rechnung vom 20. Dezember 2002 enthaltenen „Steuerklausel“ ausreichend Vorsorge für den Fall getroffen, dass die Veräußerung des Geschäftsbereichs später zu Lasten der A-GmbH als umsatzsteuerbar und umsatzsteuerpflichtig angesehen werden könnte. Nach der Rechtsprechung des BFH, der der erkennende Senat folgt, handelt der Vertreter i.S.d. §§ 34, 69 AO nach den jeweils maßgeblichen Umständen des Einzelfalls nicht grob fahrlässig, wenn er bei herausgehobenen Sachverhalten einen sorgfältig ausgewählten Steuerberater / Rechtsanwalt über den geplanten Lebenssachverhalt zutreffend und umfassend informiert, sich von diesem eine Rechtsauskunft geben lässt und sich auf diese Auskunft verlässt (BFH-Urteil vom 19.9. 1985 VII R 88/85, BFH/NV 1986, 133; zu herausgehobenen Geschäftsvorfällen vgl. auch den BFH-Beschluss vom 26.11. 2008 V B 210/07, BFH/NV 2009, 362 sowie zur Haftung nach Einholung eines Rechtsrats Nacke, Haftung im Steuerrecht, 3. Auflage 2012, Rz. 146, 147).

115Dass der Kläger sich von dem Steuerbüro N & Q über die zutreffende umsatzsteuerliche Würdigung der Veräußerung des Geschäftsbereichs hat beraten lassen, steht für den Senat nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens und dem Vortrag des Klägers fest. Hierfür spricht entscheidend, dass der Kläger in der Rechnung der A-GmbH an die J AG vom 20. Dezember 2002 die Klausel aufgenommen hat, die ausgewiesene Bemessungsgrundlage sei eine Netto-Bemessungsgrundlage, sodass bei abweichender rechtlicher Würdigung die Umsatzsteuer als Teil der zivilrechtlichen Kaufpreisforderung von der A-GmbH noch nachgefordert werden konnte. Die Mehrwertsteuer bildet, auch wenn sie, wie üblich, vom Verkäufer gesondert in Rechnung gestellt wird, einen Teil des Kaufpreises (sog. Bruttoabrede, BGH-Urteile vom 11.5. 2001 V ZR 492/99, DStRE 2001, 492; Birkenfeld, Umsatzsteuer-Handbuch, § 14 Rz 41 ff; Stadie in Rau/Dürrwächter, Umsatzsteuergesetz, § 14 Rz 59). Ist dagegen — wie hier– ein Nettopreis vereinbart worden, schließt dieser die Umsatzsteuer nicht ein.

116Zwar hat der Kläger kein schriftliches Gutachten des steuerlichen Beraters vorgelegt, sodass im Hinblick auf seine Auswahl- und Instruktionspflicht im Sinne des BFH-Urteils in BFH/NV 1986, 133 nicht feststellbar ist, in welcher Intensität er sich hat beraten lassen und ob auch der –vom Senat für die Annahme einer Geschäftsveräußerung im Ganzen als schädlich betrachtete–  Abschluss der Ergänzungsvereinbarung vom 30. Dezember 2002 Gegenstand der rechtlichen Würdigung des Beraters gewesen ist. Der Kläger hat aber aufgrund der in Anspruch genommenen Beratung mit Aufnahme der Steuerklausel in die Rechnung das Risiko der A-GmbH, die Umsatzsteuer bei abweichender Würdigung durch das Finanzamt allein aus dem vereinnahmten Nettokaufpreis abführen zu müssen, ausreichend Rechnung getragen und etwaige Versäumnisse bei der Information des Beraters über den gesamten Sachverhalt, wenn solche vorliegen sollten, kompensiert. Dass der Nachfolge-Geschäftsführer des Klägers nach dessen Abberufung von der J AG im Anschluss an die Umsatzsteuer-Sonderprüfung keine Umsatzsteuer nachgefordert und den Umsatzsteuerjahresbescheid 2002 hat bestandskräftig werden lassen, kann dem Kläger nicht vorgehalten werden.

117c) Ein grobes Verschulden des Klägers ist auch zu verneinen, soweit die A-GmbH (über das Steuerbüro N & Q) in den Umsatzsteuervoranmeldungen 2002 Vorsteuerbeträge aus den Leasingverträgen mit der Firma R Leasing und — nach deren Rücknahme des Verzichts auf die Steuerbefreiung der Vermietungsumsätze ab Oktober 2002 — aus den Mietzahlungen an die Ehefrau des Klägers geltend gemacht hat.

118Der Senat ist nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens davon überzeugt, dass die A-GmbH ab Mai 2002 das Steuerbüro beauftragt hatte, monatlich die Buchführung zu erstellen und die Umsatzsteuer-Voranmeldungen zu fertigen. Dies ergibt sich aus dem im Tatbestand angeführten insoweit übereinstimmenden Vortrag des Klägers und der beklagten Steuerberatungsgesellschaft im zivilgerichtlichen Schadensersatzprozess. Dort wurde von beiden Seiten vorgetragen, der Kläger habe monatlich alle relevanten Unterlagen der A-GmbH an das Steuerbüro übergeben, damit die Buchführung erstellt und die Umsatzsteuer-Voranmeldungen gefertigt werden konnten. Streitig ist im Zivilprozess im Hinblick auf etwaige Pflichtverletzungen der steuerlichen Berater der A-GmbH während der Umsatzsteuer-Sonderprüfung lediglich, ob die Unterlagen danach jeweils an die A-GmbH zurückgegeben wurden und vor der Umsatzsteuer-Sonderprüfung wieder an das Steuerbüro gelangt sind. Diese im Zivilprozess streitige Tatsache ist indes im vorliegenden Verfahren rechtlich nicht erheblich.

119Denn bedient sich der Vertreter bei der Erstellung der monatlichen Umsatzsteuer-Voranmeldungen der Gesellschaft eines Steuerberaters — wie hier –, braucht er sich ein etwaiges Verschulden dieser Person nicht zurechnen zu lassen. Trifft den Geschäftsführer persönlich kein Auswahl- oder Überwachungsverschulden und hat er keinen Anlass, die inhaltliche Richtigkeit der von dem steuerlichen Berater gefertigten Steuererklärung der GmbH zu überprüfen, so haftet er nicht für Steuerverkürzungen, die auf fehlerhaften Steuererklärungen beruhen (BFH-Urteil vom 30.8.1994 – VII R 101/92, BStBl. II 1995, 278). Für den Fall der Unterzeichnung einer von einem Steuerberater gefertigten Umsatzsteuererklärung kann eine Haftung des die Unterschrift leistenden Geschäftsführers einer GmbH jedenfalls nur in Betracht kommen, wenn er selbst nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalls Anlass und Möglichkeiten hatte, die Richtigkeit der Steuererklärung zu überprüfen (BFH-Beschluss vom 28.08.2008 – VII B 240/07, BFH/NV 2008, 1983). Solche besonderen Umstände, die dem Kläger Anlass gegeben hätten, die Richtigkeit der Voranmeldungen zu hinterfragen, lagen im Streitfall jedoch nicht vor.

120Der Kläger hatte als Geschäftsführer die Unterlagen der A-GmbH (mit den im Verfahren vorgelegten Leasingverträgen mit der R Leasing und das Schreiben der Ehefrau des Klägers an die A-GmbH vom 28. September 2002, ab Oktober 2002 umsatzsteuerfrei zu vermieten (Blatt 116 der Gerichtsakte)), an die Steuerberatungsgesellschaft weitergegeben und diese hatte in den Voranmeldungen  hieraus die Vorsteuer geltend gemacht. Die Umsatzsteuer-Sonderprüfung hat den Vorsteuerabzug aus den Leistungen der R Leasing GmbH nur wegen eines formalen Mangels (kein gesondert ausgewiesener Steuerbetrag) korrigiert. Da die A-GmbH die abgerechneten Leistungen auch unstreitig bezogen hat, bestand kein Anlass für den Kläger, der Behandlung dieser Eingangsleistungen in den Voranmeldungen gesondert nachzugehen. Gleiches gilt für die geltend gemachte Vorsteuer aus den Vermietungsleistungen der Ehefrau des Klägers an die A-GmbH. Die Vereinbarung vom 28. September 2002 wurde insoweit zutreffend vom Steuerbüro umgesetzt, dass ab Oktober 2002 nur noch ein Mietzins in Höhe von 10.500 € gebucht wurde. Dass trotz Weitergabe der Vereinbarung, die Eingang in die Buchführung gefunden hat, nunmehr aus dem Nettobetrag von 10.500 € im Rahmen der Voranmeldungen „herausgerechnete Umsatzsteuer“ geltend gemacht wurde, stellt nach Auffassung des Senats eine falsche Sachbehandlung des Steuerbüros dar, die dem Kläger ebenfalls bei Kontrolle der Vorsteuerbeträge in den Voranmeldungen nicht auffallen musste.

121d) Entgegen der Auffassung des Beklagten haftet der Kläger auch nicht für geltend gemachte Vorsteuerbeträge aus den Eingangsrechnungen der Frau G. Die Vorsteuer wurde insoweit materiellrechtlich zutreffend in Anspruch genommen, da Frau G als Strohmann oder Kommissionärin im Rahmen einer Leistungsverkaufskommission (§ 3 Abs. 11 UStG) gegenüber der A-GmbH als Unternehmerin Leistungen erbracht hat.

122aa) Nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 2 UStG kann ein Unternehmer, der im Besitz eines Abrechnungspapieres gemäß § 14 UStG über den entsprechenden Eingangsumsatz ist, die gesondert ausgewiesene Steuer als Vorsteuer abziehen, wenn er den Eingangsumsatz von einem Unternehmer für sein Unternehmen bezogen hat. Wer bei einem Umsatz als Leistender anzusehen ist, ergibt sich regelmäßig aus den abgeschlossenen zivilrechtlichen Vereinbarungen. Leistender ist in der Regel derjenige, der die Lieferungen oder sonstigen Leistungen im eigenen Namen gegenüber einem anderen selbst ausführt oder durch einen Beauftragten ausführen lässt. Ob eine Leistung dem Handelnden oder einem anderen zuzurechnen ist, hängt deshalb grundsätzlich davon ab, ob der Handelnde gegenüber dem Leistungsempfänger im eigenen Namen oder berechtigterweise im Namen eines anderen bei der Ausführung entgeltlicher Leistungen aufgetreten ist (ständige Rechtsprechung, z.B. Urteile des Bundesfinanzhofs –BFH– vom 7. Juli 2005 V R 60/03, BFH/NV 2006, 139, und vom 26. Juni 2003 V R 22/02, BFH/NV 2004, 233, sowie BFH-Beschluss vom 31. Januar 2002 V B 108/01, BFHE 198, 208, BStBl II 2004, 622, jeweils m.w.N.; vom 12.05.2011 – V R 25/10, BFH/NV 2011, 1541).

123Ohne Bedeutung ist, ob der im eigenen Namen Handelnde auch auf eigene Rechnung tätig ist, weil er entweder als Strohmann oder Kommissionär im Rahmen einer Leistungsverkaufskommission gemäß § 3 Abs. 11 UStG tätig ist (BFH-Urteil vom 12.05.2011 – V R 25/10 (BFH/NV 2011, 1541). Von einer Leistung durch denjenigen, der im eigenen Namen und für fremde Rechnung handelt, ist auch bei Strohmann- und Treuhandgeschäften auszugehen. Sofern der Strohmann oder der Treuhänder Unternehmer i.S. des § 2 UStG ist und im Rahmen seines Unternehmens handelt (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG), steht es einer einem Strohmann oder dem Treuhänder zuzurechnenden Leistung oder einem Leistungsbezug nach § 3 Abs. 3 und Abs. 11 UStG nicht entgegen, dass sie (Strohmann und Treuhänder) auf fremde Rechnung tätig sind (BFH-Urteile vom 28. Januar 1999 V R 4/98, BFHE 188, 456, BStBl II 1999, 628; in BFH/NV 2004, 233, und in BFH/NV 2006, 139 und BFH-Beschluss in BFHE 198, 208, BStBl II 2004, 622). Dabei ist zwischen der Leistungserbringung und dem Leistungsbezug durch Treuhänder oder Strohmänner nicht zu differenzieren, da die Bestimmung von Leistendem und Leistungsempfänger nach einheitlichen Grundsätzen erfolgt (vgl. BFH-Urteile vom 24. August 2006 V R 16/05, BFHE 215, 311, BStBl II 2007, 340, und vom 18. Februar 2009 V R 82/07, BFHE 225, 198, BStBl II 2009, 876).

124Unbeachtlich ist das „vorgeschobene“ Strohmanngeschäft aber, wenn es nur zum Schein abgeschlossen wird, d.h. wenn die Vertragsparteien einverständlich oder stillschweigend davon ausgehen, dass die Rechtswirkungen des Geschäfts gerade nicht zwischen ihnen, sondern zwischen dem Leistungsempfänger und dem „Hintermann“ eintreten sollen (vgl. § 41 Abs. 2 der Abgabenordnung –AO–; ausführlich BFH-Beschluss in BFHE 198, 208, BStBl II 2004, 622, unter II.4.c; vgl. auch BFH-Beschluss vom 17. Oktober 2003 V B 111/02, BFH/NV 2004, 235). Letzteres ist insbesondere dann zu bejahen, wenn der Leistungsempfänger weiß oder davon ausgehen muss, dass derjenige, mit dem oder in dessen Namen das Rechtsgeschäft abgeschlossen wird (sog. Strohmann), selbst keine eigene –ggf. auch durch Subunternehmer auszuführende– Verpflichtung aus dem Rechtsgeschäft übernehmen will (vgl. BFH-Beschluss in BFHE 198, 208, BStBl II 2004, 622; BFH-Urteil vom 12. August 2009 XI R 48/07, BFH/NV 2010, 259).

125bb) Von einem solch unbeachtlichen Strohmanngeschäft kann indes im Streitfall nicht ausgegangen werden. Es sollten die Rechtswirkungen aus der Vereinbarung über die Leistungserbringung zwischen der A-GmbH und Frau G eintreten. Selbst wenn dem Kläger positiv bekannt gewesen sein sollte, dass die seitens der A-GmbH von Frau G bezogenen Leistungen nur durch Herrn E erbracht werden konnten und Frau G auf fremde Rechnung tätig war, war aufgrund der finanziellen Schwierigkeiten des Herrn E gerade gewollt und für alle Beteiligten offenkundig, dass Herr E als Subunternehmer der Frau G in deren Namen die geschuldeten Leistungen an die A-GmbH erbringen sollte. Es sollten daher — wie von Herrn E im Rahmen der Umsatzsteuer-Sonderprüfung bei Frau G bestätigt– die Leistungen gerade in der Kette im Rahmen einer Leistungsverkaufskommission gemäß § 3 Abs. 11 UStG erbracht werden, sodass Herr E Ausgangsrechnungen an Frau G und diese an die A-GmbH stellte. Frau G war somit als Kommissionärin im Rahmen der Leistungsverkaufskommission auch nachhaltig und damit –entgegen der Umsatzsteuer-Sonderprüfung — auch als Unternehmerin gemäß § 2 Abs. 1 UStG tätig (BFH-Urteil vom 12.05.2011 – V R 25/10, BFH/NV 2011, 1541).

126e) Im Übrigen bleibt es bei den Vorsteuerkürzungen laut Tz. 16 e und f des Umsatzsteuer-Sonderprüfungsberichts. Der Kläger hat im vorliegenden Verfahren nicht dargelegt, warum eine Haftung wegen dieser Sachverhalte nicht in Betracht kommen soll. Dies geht zu seinen Lasten, da nach den Feststellungen der Umsatzsteuer-Sonderprüfung insoweit die Versagung des Vorsteuerabzugs zutreffend ist. Der Kläger hat sich insoweit auch nicht dazu geäußert, dass keine grob fahrlässige Pflichtverletzung vorliegen soll, sodass er mit einem Restbetrag in Höhe von 399,21 € für Umsatzsteuer 2002 in Haftung genommen werden kann.

1273. Die Haftungsinanspruchnahme des Klägers für den Voranmeldungszeitraum März 2003 ist in vollem Umfang rechtswidrig.

128a) Eine Haftung des Klägers kommt — entgegen der Umsatzsteuer-Sonderprüfung — nur für solche Sachverhalte in Betracht, die auch im März 2003 verwirklicht wurden. Der Beklagte konnte den Kläger daher nicht für einen Umsatzsteuerbetrag für März 2003 in Anspruch nehmen, in den alle Ergebnisse der Umsatzsteuer-Sonderprüfung für Januar und Februar 2003 aus Vereinfachungsgründen „saldiert“ eingegangen sind.

129aa) Nach der Regelung in § 13 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 18 Abs. 2 Satz 2 UStG entsteht der Anspruch auf Umsatzsteuer-Vorauszahlung für alle in einem Voranmeldungszeitraum (§ 18 UStG) ausgeführten Umsätze jeweils mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums. Hat der Steuerpflichtige — hier die A-GmbH — monatliche Umsatzsteuer-Voranmeldungen abzugeben, so entsteht der Umsatzsteuer-Vorauszahlungsanspruch mit Ablauf des letzten Tages des jeweiligen Kalendermonats für die in diesem Voranmeldungszeitraum umsatzsteuerlich relevanten Lebenssachverhalte. Die Abgabe der Umsatzsteuer-Voranmeldung oder die Festsetzung der Umsatzsteuer-Vorauszahlungsschuld durch das Finanzamt — hier für März 2003 — ist weder Voraussetzung für das Entstehen der Umsatzsteuer, noch hat sie darauf eine Auswirkung (vgl. zum Ganzen das BFH-Urteil in BStBl II 2000, 486 m.w.N.). § 38 AO i.V.m. §§ 13 Abs. 1 Nr. 1, 18 Abs. 1 Satz 1 und 2 UStG gehen für die Entstehung der Umsatzsteueransprüche von einem materiell-rechtlichen, d.h. an der Tatbestandsverwirklichung des materiellen Steuergesetzes orientierten Entstehungstatbestand aus. Die Festsetzung der Umsatzsteuer ist nicht materiell-rechtlicher Rechtsgrund für die Entstehung des Anspruchs sondern, –sofern die Umsatzsteuer in der zutreffenden Höhe festgesetzt ist– lediglich deklaratorische Bestätigung des kraft Gesetzes entstandenen Steueranspruchs.

130bb) Diese an die Tatbestandsverwirklichung im Besteuerungszeitraum anknüpfenden Umsatzsteuer-Vorauszahlungsansprüche des Voranmeldungszeitraums sind selbstständig realisierbar. Sind die Vorauszahlungsansprüche — wie hier — festgesetzt worden, so hat deren Festsetzung nach den Urteilen des BFH auch dann Bestand, wenn ihnen die in § 18 Abs. 3 und 4 UStG vorgesehene Jahressteuerfestsetzung — wie im Streitfall — bis zum Ablauf der Festsetzungsfrist nicht nachfolgt (vgl. BFH-Entscheidungen vom 29. November 1984 V R 146/83, BFHE 143, 101, BStBl II 1985, 370; vom 17. September 1992 V R 17/86, BFH/NV 1993, 279, und vom 15. Juni 1999 VII R 3/97, BFHE 189, 14, BStBl II 2000, 46; in BStBl II 2000, 486 m.w.N).

131cc) Somit kann der Beklagte zwar grundsätzlich eine Haftung an die nach der Umsatzsteuer-Sonderprüfung geänderte Vorauszahlungsfestsetzung für März 2003 knüpfen. Diese ist jedoch rechtswidrig, soweit in ihr aus Vereinfachungsgründen saldiert Sachverhalte berücksichtigt worden sind, für die im März 2003 keine Tatbestandsverwirklichung gegeben ist, sondern die die Monate Januar und Februar 2003 betreffen. Eine Haftung des Klägers kommt daher allenfalls für folgende Sachverhalte, die den März 2003 betreffen und von der Umsatzsteuer-Sonderprüfung (vgl. Tz.16 a bis 16 d und Anlage 1 und 2 des Berichts über die Umsatzsteuer-Sonderprüfung) beanstandet wurden, in Betracht:

132

Nicht gewährte Vorsteuer für März 2003 R Leasing KFZ ./. 2.122,60 €
Nicht gewährte Vorsteuer für März 2003 Mietvertrag Ehefrau des Klägers Klägers ./. 1.448,28 €
Nicht gewährte Vorsteuer für März 2003 R Leasing Telefonanlage ./. 58,12 €
Nicht gewährte Vorsteuer für März 2003 P Provisionen ./. 534,43 €
Maximale Haftsumme für März 2003 4.163,43 €

133b) Für die vorgenannten Sachverhalte liegen jedoch keine grob fahrlässigen Pflichtverletzungen des Klägers darin, dass die A-GmbH die vorgenannten Vorsteuerbeträge durch das Steuerbüro N & Q in der Umsatzsteuersteuer-Voranmeldung für März 2003 geltend gemacht und er die Voranmeldungen nicht gesondert überprüft hat.

134Für die Vorsteuerbeträge aus dem Leasingvertrag zwischen der R Leasing und der A-GmbH wird hierfür zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Ausführungen unter II.2.c Bezug genommen. Auch in Bezug auf die geltend gemachte Vorsteuer aus den Provisionsrechnungen der Firma P kann der Senat keine grob fahrlässige Pflichtverletzung in der Auswahl und Überwachung des beauftragten Steuerbüros N & Q erkennen. Selbst wenn es rechtlich zutreffend sein sollte, den Vorsteuerabzug aufgrund einer falschen Rechnungsanschrift des Ausstellers zu versagen (wie die Umsatzsteuer-Sonderprüfung meint), handelt es sich auch hier nur um einen formalen Rechnungsfehler. Ein besonderer Umstand, der den Kläger hätte verleiten müssen, die geltend gemachte Vorsteuer aus den Provisionsrechnungen in der Voranmeldung für März 2003 besonders zu überprüfen, ist nicht ersichtlich.

135d) Anders als der Beklagte in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht hat, kann die Haftung auch nicht kompensatorisch teilweise darauf gestützt werden, dass im Laufe des Verfahrens bei Absenkung der Haftsumme für März 2003 die Vorsteuerbeträge aus den Vermietungsleistungen des Vermieters M für Januar 2003 und Februar 2003 (jeweils 1.565 €) bei Ermittlung der Umsatzsteuer für März 2003 zu Gunsten des Klägers abgezogen worden sind. Der Beklagte übersieht, dass im Rahmen des Haftungsrechts für eine kompensatorische Betrachtung kein Raum besteht, da der Haftungsbescheid sachverhaltsbezogen ist und im Wege der Kompensation keine neuen haftungsbegründenden Lebenssachverhalte nachgeschoben werden können (vgl. Rüsken in Klein, AO, 11. Auflage, § 191 Tz. 75)

1364. Schließlich ist auch die Haftungsinanspruchnahme des Klägers für den Voranmeldungszeitraum Juni 2003 rechtswidrig. Denn der Beklagte hätte trotz pflichtwidrig verspäteter Abgabe der Voranmeldung durch eine Bearbeitung der fristgerecht abgegebenen Voranmeldungen für April 2003 und Mai 2003 und der Verrechnung der angemeldeten Erstattungsbeträge mit der Umsatzsteuerschuld für Juni 2003 einen Schaden für den Fiskus vermeiden können und müssen.

137Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens steht für den Senat fest, dass die Umsatzsteuer-Voranmeldungen der A-GmbH für April und Mai 2003 dem Beklagten fristgerecht vorlagen (so die Vertreterin des Beklagten im Erörterungstermin vom 18. November 2008), die Umsatzsteuer-Sonderprüferin die zugehörigen Original-Belege während der Prüfung mitgenommen hat und diese an Amts Stelle verloren gingen. Die eingereichten Umsatzsteuervoranmeldungen wiesen insgesamt einen Vorsteuerüberhang in Höhe von 13.265 € aus, was dem Kläger am 13. August 2003 schriftlich durch seinen zuständigen Sachbearbeiter beim Steuerbüro N & Q bestätigt wurde. Dieser kündigte zugleich an, einen Verrechnungsantrag mit der anzumeldenden Umsatzsteuerschuld für Juni 2003 zu beantragen. Hierauf durfte sich der Kläger auch verlassen.

138Der Geschäftsführer einer GmbH haftet nach einer Entscheidung des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 11.9. 2012 – 9 K 9161/10 (veröffentlicht in juris)  trotz Verwirklichung des subjektiven und objektiven Tatbestands des § 69 i. V. m. § 34 AO nicht, wenn die Umsatzsteuerschuld innerhalb des Haftungszeitraums bei Einhaltung der gem. § 225 Abs. 2 AO für Verrechnungen vorgesehenen Tilgungsreihenfolge durch das Finanzamt vollständig getilgt gewesen wäre. Dieser Rechtsprechung schließt sich der erkennende Senat an. Bei fristgerechter Bearbeitung der Voranmeldungen für April und Mai 2003 hätte das damals zuständige Finanzamt C den angemeldeten Vorsteuerüberhängen zugestimmt und das höhere Guthaben aufgrund des Verrechnungsantrags mit der angemeldeten Umsatzsteuerschuld für Juni 2003 verrechnet, woraufhin rückwirkend auf den 10. August 2003 — innerhalb des Haftungszeitraums — die Umsatzsteuerschuld für Juni 2003 getilgt gewesen wäre.

1395. Hinsichtlich einer Haftung des Klägers aus der Berechnung von Dienstleistungen der A-GmbH zwischen April und Dezember 2002 in einer Rechnung vom 21. Mai 2003 an die J AG über 131.800 €, die die A-GmbH wegen eines ausländischen Leistungsorts (§ 3a Abs. 4 i.V.m. § 3a Abs. 3 UStG) als nicht steuerbar behandelt hat, kommt eine Haftung des Klägers weder wegen Umsatzsteuer 2002 noch für März 2003 in Betracht.

140Es fehlen konkrete Feststellungen der Umsatzsteuer-Sonderprüferin, warum die Behandlung des Sachverhalts durch die A-GmbH fehlerhaft gewesen sein und für welchen Zeitraum bei richtiger Behandlung welcher Betrag an Mehr-Umsatzsteuer geschuldet werden sollte. Die Sonderprüferin hat diesen Lebenssachverhalt statt nach den Regeln der Sollversteuerung unzutreffend im Wege der Istversteuerung behandelt, indem sie aus den eingegangenen Rechnungsbeträgen für die Veräußerung des IT-Geschäftsbereichs und für die abgerechneten Dienstleistungen als Bruttobeträgen die Umsatzsteuer herausgerechnet hat. Dieser Sachbehandlung ist auch der Beklagte in der Einspruchsentscheidung für den Haftungsbescheid gefolgt.

141Wenn nunmehr im gerichtlichen Verfahren die Haftung auf die Regeln der Sollversteuerung für das Jahr 2002 oder teilweise für März 2003 (aufgrund auf der Rechnung vom 21. Mai 2003 bescheinigter Akontozahlungen) gestützt wird, liegt darin nach Auffassung des Senats eine nachträgliche — unzulässige — Einführung eines neuen Lebenssachverhalts in den Haftungsbescheid (vgl. hierzu ebenfalls Rüsken in Klein, AO, 11. Auflage, § 191, Tz. 75).

1426. Der Haftungsbescheid ist auch im Hinblick auf die Haftungsinanspruchnahme des Klägers für Zinsen zur Umsatzsteuer 2002 rechtswidrig.

143Grundsätzlich kann zwar der Vertreter einer juristischen Person gemäß § 69 Abs. 1 i.V.m. § 3 Abs. 4 AO auch für Zinsen in Haftung genommen werden, die infolge vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Pflichtverletzung nicht erfüllt worden sind (vgl. das BFH-Urteil vom 1. August 2000 VII R 110/99, BStBl 2001, 271). Feststellungen über eine Pflichtverletzung des Klägers, die zur Festsetzung der Zinsen zur Umsatzsteuer 2002 geführt haben, hat der Beklagte jedoch nicht getroffen. Er hat die Umsatzsteuer 2002 und die Zinsen erst nach Abberufung des Klägers als Geschäftsführer festgesetzt. Dies geht zu Lasten des Beklagten. Zudem könnte sich selbst eine bei der Nichtentrichtung von Steuerschulden begangene schuldhafte Pflichtverletzung des Klägers auf die Haftung für die Festsetzung der Zinsen nicht auswirken, da es sich insoweit um einen Anspruch des Steuergläubigers handelt, der erst mit seiner Festsetzung entsteht und erst zu diesem Zeitpunkt fällig wird (Beschluss des FG München vom 19.10.2010 – 14 V 2886/10, juris).

1447. Der Senat lässt die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) zu.

145Der Streitfall wirft die vom Senat für grundsätzlich bedeutsam gehaltene Frage auf, ob ein Geschäftsführer bei der Entscheidung, ein Veräußerungsgeschäft als nicht umsatzsteuerbar in den Umsatzsteuer-Voranmeldungen der Gesellschaft zu behandeln, eine grob fahrlässige Pflichtverletzung i.S.d. § 69 AO vermeiden kann, wenn er — nach steuerlicher Beratung — mit der Vertragspartei der Gesellschaft eine Netto-Kaufpreisvereinbarung abschließt  und der Gesellschaft ein zivilrechtliches Nachforderungsrecht für die Umsatzsteuer verschafft, die bei abweichender rechtlicher Würdigung des Sachverhalts durch das Finanzamt eingreifen kann.

146Zudem hält der Senat im Rahmen des § 1 Abs. 1a UStG die Frage für klärungsbedürftig, innerhalb welchen Zeitraums nach Veräußerung eines Teilvermögens auf Grundlage der vorzunehmenden Gesamtwürdigung feststehen muss, dass der Erwerber das Unternehmen fortführt und ob der Abschluss einer Vereinbarung mit dem Erwerber über dessen — zwischenzeitliche — Stellung als Kommissionär im Rahmen einer Leistungsverkaufskommission die Anwendung der Regelungen über Geschäftsveräußerung im Ganzen in Frage stellt.

147Schließlich wurde im Hinblick auf das Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 11.9. 2012 – 9 K 9161/10 (veröffentlicht in juris) die Revision unter dem Aktenzeichen VII R 28/13 zugelassen, sodass auch insoweit die Rechtssache Fragen grundsätzlicher Bedeutung aufwirft.

1488. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 135, 136 und 137 Satz 2 FGO.

149Der Senat hat aufgrund der Abhilfe durch den Beklagten im teilweise geänderten Haftungsbescheid vom 10. Oktober 2008 die Kosten nach Verfahrensabschnitten aufgeteilt. Im ersten Verfahrensabschnitt hat der Kläger zwar obsiegt. Er trägt jedoch dennoch anteilig die Kosten des Verfahrens gemäß § 137 Satz 2 FGO, da er die zur Abhilfe des Beklagten führenden Unterlagen (Mietvertrag der A-GmbH mit dem Vermieter M) schuldhaft verspätet erstmals im Klageverfahren vorgelegt hat, obwohl er hierzu bereits in der Umsatzsteuer-Sonderprüfung aufgefordert worden war. In den übrigen Verfahrensabschnitten bis zum teilweise abhelfenden Haftungsbescheid vom 10. März 2009 und bis zur mündlichen Verhandlung hat der Kläger aus Rechtsgründen weit überwiegend obsiegt. Sein Unterliegen in diesen Verfahrensabschnitten ist geringfügig, sodass dem Beklagten die Kosten vollständig aufzuerlegen waren (§ 136 Abs. 1 Satz 3 FGO). In dieser Aufteilung der Kosten nach Verfahrensabschnitten liegt kein Verstoß gegen das Gebot, eine einheitliche Kostenentscheidung zu treffen (vgl. Ratschow in Gräber, FGO, 7. Auflage, § 135 Tz. 5).

1509. Die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils folgt aus § 155 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.

Umsatzsteuer: Mitverschulden des Fiskus bei Steuer nach § 14c Absatz 2 Satz 2 Umsatzsteuergesetz

Finanzgericht Köln, 10 K 692/13

Datum:
12.09.2013
Gericht:
Finanzgericht Köln
Spruchkörper:
10. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
10 K 692/13
Nachinstanz:
Bundesfinanzhof, XI R 47/13
Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Die Revision wird zugelassen.

1Tatbestand

2Die Beteiligten streiten darüber, ob der Beklagte wegen unberechtigtem Ausweis von Umsatzsteuerbeträgen eine Steuerfestsetzung auf der Grundlage von § 14c Abs. 2 S. 2 UStG vornehmen durfte und über die teilweise Versagung von Vorsteuerabzug.

3Seit August 2010 betrieb die Klägerin einen „Groß- und Einzelhandel mit Klebebändern und Verpackungen sowie deren Bedruckung und Eventplanung“. Ihr Unternehmen firmierte als „A Klebebänder B in … C, D-Weg …“. Nach Angaben der Klägerin sind in ihrem Unternehmen, welches in angemieteten Räumen betrieben wird, außer ihr selbst zwei festangestellte Mitarbeiter tätig. In ihrer im Juli 2012 beim Beklagten eingegangen Umsatzsteuererklärung für das Streitjahr 2011 hatte die Klägerin Lieferungen und Leistungen i.H.v. 899.510 € angemeldet sowie abziehbare Vorsteuerbeträge i.H.v. 153.431 €, so dass sich eine Zahllast i.H.v. 17.499 € ergab.

4Im Rahmen einer Steuerfahndungsprüfung (Prüfungsbericht vom 6.8.2012) wurde festgestellt, dass den Umsätzen an die „E Kühltransporte GmbH“ (E-GmbH) in Höhe von insgesamt 716.987,16 € aus angeblichem Handel mit Aluminiumfolie bzw. Stretchfolie tatsächlich keine Warenlieferungen zugrunde lagen. Darüber hinaus kam die Fahndungsprüfung zu dem Ergebnis, dass der Vorsteuerabzug aus den Eingangsrechnungen der Firmen F Handels GmbH, G GmbH, H Nürnberg GmbH, H Leipzig GmbH und K Handel und Frachtvermittlung, Inh. K, zu versagen sei, da den betreffenden Eingangsrechnungen über Lieferungen von Aluminiumfolie bzw. Stretchfolie keine tatsächlichen Warenlieferungen zugrunde lagen.

5Mit Schreiben vom 30.8.2012 an den Rechtsnachfolger der E-GmbH, die „L Transport und Handels GmbH, I-Straße …, … J“ (L-GmbH) forderte die Klägerin die an die E-GmbH in der Zeit vom 16.3.2011 bis zum 23.9.2011 gestellten 15 Rechnungen über Alufolien und Handstretchfolie zurück, in der insgesamt Umsatzsteuer i.H.v. 147.069,63 € ausgewiesen war.

6Mit dem vorliegend streitgegenständlichen Umsatzsteuerbescheid vom 9.10.2012 setzte der Beklagte gegen die Klägerin die Umsatzsteuer für 2011 mit 162.129 € fest (15.059 € aus sonstiger Geschäftstätigkeit, erhöht um 147.069,63 € gemäß § 14c Abs. 2 S. 2 UStG), so dass sich eine zum 12.11.2012 fällige Abschlusszahlung i.H.v. 144.630 € ergab.

7Der Einspruch blieb ohne Erfolg (Einspruchsentscheidung vom 4.3.2013). Zur Begründung hatte der Beklagte mit Schreiben vom 12.12.2012 in Abstimmung mit dem FA M – Steuerfahndungsstelle ausgeführt: Der Vorsteuerabzug aus den Eingangsrechnungen der Firmen F Handels GmbH, G GmbH, H Nürnberg GmbH, H Leipzig GmbH und K Handel und Frachtvermittlung sei zu versagen. Von einer Gutgläubigkeit der Klägerin könne nicht ausgegangen werden, da sie selbst aktiv an dem Betrugsmodell insoweit mitgewirkt habe, als sie durch unrichtige Angaben auf den zu den Eingangsrechnungen gehörigen Lieferscheinen sowie auf den Ausgangsrechnungen und den dazugehörigen Lieferscheinen den Wareneingang und Warenausgang sowie die entsprechenden Lieferwege bestätigt habe, obwohl It. ihrer eigenen Aussage am 27.9.2011 die angeblichen Aluminiumfolien bzw. Stretchfolien zu keiner Zeit am Standort des Einzelunternehmens in … C, D-Weg … eingegangen bzw. gelagert und weitergeliefert worden seien, die Klägerin die Folien also letztlich nie gesehen habe. Aufgrund der Rechnungsinhalte und der Lieferscheine (Abholung der Ware durch die Firma E-GmbH bzw. eine Spedition) sowie der handschriftlichen Vermerke der Klägerin könne es sich nicht – wie behauptet – um Streckengeschäfte gehandelt haben.

8Darüber hinaus seien die Lieferfirmen nach den Ermittlungen der Steuerfahndung M zum Zeitpunkt der Aluminiumfolie- bzw. Stretchfolie-Lieferungen entweder tatsächlich nicht existent (F Handels GmbH; G GmbH i.L.) bzw. wirtschaftlich inaktiv (H Nürnberg GmbH; K Handel und Frachtvermittlung Inh. K) gewesen. Einzig die Firma H Leipzig GmbH sei zum Zeitpunkt der angeblichen Folienlieferungen ein existentes, wirtschaftlich aktives Unternehmen gewesen. Die Geschäftsführerin dieses Unternehmens, deren Ehemann sowie der zuständige Lagerarbeiter hätten allerdings einvernehmlich ausgesagt, die Firma A Klebebänder B nicht zu kennen und in keinerlei Geschäftsbeziehungen zu ihr zu stehen. Des Weiteren hätten diese Personen übereinstimmend ausgesagt, die entsprechenden Rechnungen und Lieferscheine nicht ausgestellt zu haben. Die Rechnungs- und Lieferscheininhalte hätten nicht der automatisierten Praxis des vorhandenen Warenwirtschaftssystems der H Leipzig GmbH entsprochen (falsche Rechnungs- und Lieferschein-Nrn.).

9Das Ergebnis der Ermittlungen der Steuerfahndung M zu den Lieferfirmen lasse sich wie folgt zusammenfassen:

10– H Nürnberg GmbH

11Der zur Zeit der Rechnungslegung amtierende Geschäftsführer der H Nürnberg GmbH habe bei seiner Vernehmung glaubhaft dargelegt, dass er weder die Klägerin noch deren Firma A Klebebänder B kenne und auch die entsprechenden Rechnungen und Lieferscheine nicht erstellt habe. Außerdem habe er bestätigt, dass er in der Zeit seiner formellen Geschäftsführertätigkeit keinerlei Geschäfte für die Firma H Nürnberg GmbH getätigt habe.

12– F Handels GmbH

13Die F Handels GmbH sei aufgrund notariellen Vertrags vom 21.5.2010 aus der Firma P GmbH hervorgegangen (Umbenennung). Gleichzeitig sei der Sitz der Firma von Q nach … R, N-Gasse … verlegt worden. Die Ermittlungen der Steuerfahndung beim Eigentümer und Vermieter des Objekts in R, N-Gasse … hätten ergeben, dass die Firma F Handels GmbH zu keiner Zeit Räumlichkeiten angemietet habe und es sich somit bei der Firma F Handels GmbH um eine reine Scheinfirma handele. Seit dem 1.1.2011 besitze die Firma F Handels GmbH kein Umsatzsteuersignal mehr.

14– G GmbH i. L.

15Mit notariellem Vertrag vom 13.4.2011 sei die Liquidation der der G GmbH angeordnet worden. Gleichzeitig sei in einer Gesellschafterversammlung die Sitzverlegung von Q nach … O , S-Straße … beschlossen worden. Die nach der Sitzverlegung unter der neuen Adresse in O unternommenen Post-Zustellversuche des vormals zuständigen Finanzamts Q seien fehlgeschlagen.

16– K Handel und Frachtvermittlung. Inh. K

17Nach Feststellung der Steuerfahndung M habe die Errichtung des Einzelunternehmens K Handel und Frachtvermittlung und die Büroanmietung in T ausschließlich dazu gedient, eine neue Firma ohne aktiven Geschäftsbetrieb zu installieren, ausschließlich zum Zwecke des Inverkehrbringens von Rechnungen über Lieferungen von Aluminiumfolie. Lt. Aussage des Verwalters des Objekts U-Feld …, … T am 27.9.2011 sei der Inhaber der Firma einschließlich der Mietgespräche und des Mietvertragsabschlusses nur ca. dreimal ortsanwesend gewesen. Der Briefkasten der Firma K Handel und Frachtvermittlung sei regelmäßig vom Verwalter geleert und die Post dem Inhaber zugesandt worden.

18Die Klägerin macht geltend, die Voraussetzungen des § 14c UStG lägen nicht mehr vor, da sie die streitgegenständlichen Rechnungen aus dem Monaten März bis September 2011 mit Schreiben vom 30.8.2012 von der E-GmbH zurückgefordert habe; gleichzeitig habe die Klägerin die L-GmbH aufgefordert, die steuerlichen Konsequenzen aus dem Rechnungsstorno zu ziehen. Hilfsweise werde ein Berichtigungsantrag gemäß § 14c Abs. 3 S. 5 UStG gestellt. So enthielten die Steuerakten keinen Hinweis und keine Unterlagen darüber, ob und in welchem Verfahrensstadium sich die Rückforderung der Vorsteuer gegenüber der Firma E-GmbH bzw. L-GmbH befinde. Der Beklagte habe darzulegen, warum die Versagung des Vorsteuerabzugs bei Herrn E1 auf der Basis des dortigen Bescheids vom 14.2.2013 nicht vollzogen werde und ob dem Steuerpflichtigen dort eventuell Aussetzung der Vollziehung gewährt worden sei. Wenn dem Haupttäter einer Steuerhinterziehung die Aussetzung der Vollziehung gewährt werde, so müsse dies erst recht für den Beteiligten einer Tat gelten. Herr L habe lt. den Ermittlungen der Steuerfahndung M in Litauen eine Gesellschaft gegründet, die in dem Steuerhinterziehungsmodell als Letztabnehmer der Folien aufgetreten sei. Inzwischen habe Herr E1 auch wieder die Gesellschaftsanteile übernommen und die Gesellschaft wieder umbenannt in E-GmbH.

19Auch die Berechtigung der Klägerin zum Vorsteuerabzug aus den Eingangsrechnungen bestehe, da die Klägerin ohne ihr Wissen und Wollen in einen Umsatzsteuerbetrug involviert worden sei. Der EuGH habe den Grundsatz der Mehrwertsteuerneutralität betont und festgestellt, dass ein Unternehmer, der alle Maßnahmen getroffen habe, die vernünftigerweise von ihm verlangt werden könnten, um sicherzustellen, dass seine Umsätze nicht in eine Mehrwertsteuerhinterziehung einbezogen seien, auf die Rechtmäßigkeit dieser Umsätze vertrauen könne, ohne Gefahr zu laufen, sein Recht auf Vorsteuerabzug zu verlieren. Es könne vom Steuerpflichtigen nicht generell verlangt werden, sich zu vergewissern, dass auf der Ebene der Wirtschaftsteilnehmer einer vorhergehenden Umsatzstufe keine Unregelmäßigkeiten und Steuerhinterziehung vorlägen. Denn es sei grundsätzlich Sache der Steuerbehörden, bei den Steuerpflichtigen die erforderlichen Kontrollen durchzuführen, um Unregelmäßigkeiten und Mehrwertsteuerhinterziehung aufzudecken (Hinweis auf BFH-Urteil vom 19.4.2007 – V R 48/04 und EuGH-Urteil vom 6.9.2012 – C-324/12).

20Die Klägerin sei am 27.9.2011 von der Steuerfahndung M aufgesucht und zunächst als Zeugin vernommen worden. Dabei sei sie zu geschäftlichen Kontakten zu den dortigen Beschuldigten befragt und um Zurverfügungstellung von Dokumenten, Geschäftskorrespondenz etc. gebeten worden. Dieser Bitte sei die Klägerin nachgekommen. Am 1.8.2012 seien ihre Privaträume durchsucht worden. Die Klägerin sei davon ausgegangen, dass die in den Rechnungen ausgewiesenen Warenlieferungen tatsächlich stattgefunden hätten. Sie sei ohne ihr Wissen in eine Umsatzsteuerhinterziehung verwickelt worden. Jedes Mal nach Erhalt einer Rechnung habe sie den jeweiligen Lieferanten gemäß den Angaben in seiner Rechnung im Handelsregister überprüft und auch seine Umsatzsteuer-ID-Nr. abgefragt. Aus den Aussagen der Inhaber der H Leipzig GmbH lasse sich folgern, dass nur Personen mit Insider-Kenntnissen in der Lage gewesen wären, zu erkennen, dass es sich bei den Dokumenten um Fälschungen gehandelt habe.

21Verfehlt sei auch die Annahme von Steuerfahndung und Antragsgegner, die Vermerke der Klägerin „Palettentausch“ bzw. „alle Paletten getauscht“ bzw. „Abholung per Spedition“ bzw. „die Lieferung erfolgt per Selbstabholung“ bzw. „Abholung per Spedition“ belegten die Mittäterschaft der Klägerin. Die Anbringung derartiger Vermerke auf Lieferungen von Waren auf Paletten werde sehr oft verlangt, weil es oftmals zwischen Lieferant, Spediteur und Kunden später zum Streit über den Kostenausgleich für angeblich mitgelieferte bzw. nicht mitgelieferte Paletten komme. Könne der Kunde keinen solchen Vermerk vorweisen, laufe er Gefahr, dass von ihm die Herausgabe von Paletten oder eine entsprechende Bezahlung der Paletten verlangt werde. Entgegen der Auffassung der Steuerfahndung sei es eben nicht so, dass ein solcher Vermerk ungewöhnlich wäre und nur deshalb erfolgt sei, um eine tatsächliche Warenbewegung zu suggerieren. Der Vermerk sei auf Anweisung von Herrn V angebracht worden und die Antragstellerin habe keinen Grund gehabt, dessen Anweisungen zu misstrauen. Auch aus der Bezahlung per Scheck lasse sich kein Vorsatz der Antragstellerin ableiten. Verrechnungsschecks müssten entgegen der Ansicht des Antragsgegners auch nicht auf eine bestimmte Person als Begünstigten ausgestellt werden. Einer namentlichen Bezeichnung des Überbringers auf dem Scheck bedürfe es nicht.

22Letztlich habe der Gesetzgeber das betrugsanfällige Umsatzsteuersystem (vgl. Sonderbericht des Bundesrechnungshofs vom 27.9.2012) selbst vorgegeben. Dies könne nicht auf dem Rücken der Steuerpflichtigen gelöst werden. Von daher sei jedenfalls hilfsweise der Vorsteuerabzug im Wege einer abweichenden Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen gemäß §§ 163, 227 AO zu gewähren. Denn der Steuerpflichtige habe einen Anspruch darauf, dass bei der Prüfung der Vorsteuerabzugsberechtigung aufgrund der europarechtlichen Vorgaben zum Vertrauensschutz bereits im Rahmen des Festsetzungsverfahrens geprüft werde, ob eine Billigkeitsmaßnahme gemäß §§ 163, 227 AO in Betracht komme.

23Die Verwaltungsakten wurden vom Bevollmächtigten der Klägerin im Laufe des Verfahrens wiederholt eingesehen, und zwar am 22.8.2012 (Schreiben des FA M – Steuerfahndung vom 19.11.2012) und außerdem am 12.4.2013 auch im finanzgerichtlichen Verfahren.

24Am 15.7.2013 wurde der Streitfall mit dem Bevollmächtigten in Anwesenheit der Klägerin persönlich vor dem zuständigen Berichterstatter erörtert. Auf die Frage, wie der Kontakt zu Herrn V zu Stande gekommen sei, antwortete die Klägerin unter Bezugnahme auf ihre schriftliche Einlassung, dass es sich bei Frau W um eine langjährige Bekannte gehandelt habe, die auch eine gewisse Zeit lang im Betrieb der Klägerin gearbeitet habe. Sie sei der Klägerin also nicht nur privat, sondern auch durch ihre berufliche Betätigung bekannt gewesen. Herr V habe sich im Februar oder März 2011 als Bekannter von Frau W vorgestellt. Diese habe ihrerseits damals mitgeteilt, dass sie Herrn V seit über 20 Jahren kenne und mit diesem befreundet sei. Er sei als Vermittler aufgetreten und habe die Klägerin gefragt, ob sie Interesse an Geschäften im Bereich Stretch- und Aluminiumfolien habe. Hierbei hätten Streckengeschäfte getätigt werden sollen, bei denen die Ware direkt vom Lieferanten an den Kunden geschickt werden sollte. Er – Herr V – habe einen Abnehmer für die Folien (E-GmbH) und auch Lieferanten und werde die Klägerin bei der Abwicklung unterstützen.

25Der Berichterstatter warf die Frage auf, warum der Vermittler dann nicht Käufer und Verkäufer zusammengebracht bzw. vermittelt habe, sondern wieso er überhaupt Interesse daran gehabt habe, die Klägerin als Zwischenhändlerin einzuschalten, der auch noch eine Gewinnmarge zugebilligt worden sei. Außerdem problematisierte der Berichterstatter die nicht gerade üblichen Zahlungsweg, bei dem die Schecks nicht direkt an den Lieferanten übergeben, sondern die Bekannte der Klägerin und Herr V eingeschaltet wurden. Dabei antwortete die Klägerin, dass dies von Herrn V angeboten worden sei, damit sie – die Klägerin – sich um nichts zu kümmern brauche. Erst wenn die Gelder aus den von der Klägerin geschriebenen Rechnungen ihrem Konto gutgeschrieben worden seien und die Klägerin von einer Lieferung an Herrn E1 habe ausgehen können, habe sie selbst die Verrechnungsschecks zur Bezahlung der an sie selbst gerichteten Rechnungen ausgestellt. Diese habe sie dann – weil der Kontakt durch Herrn V vermittelt worden sei – an ihre Bekannte Frau W übergebenen, mit der Bitte, die Schecks an Herrn V weiterzuleiten, damit dieser sie an den jeweiligen Lieferanten weiterreiche.

26Die weitere Frage des Berichterstatters nach einer Strafanzeige wegen Betruges der Klägerin gegenüber Frau W und Herrn V, nachdem sie sich bewusst geworden sei, durch Herrn V und Frau W in einen Umsatzsteuerbetrug hineingeraten zu sein, wurde verneint. Vor dem Hintergrund, dass allenfalls hinsichtlich der nicht anerkannten Vorsteuerbeträge i.H.v. 133.007,88 € über eine Gutgläubigkeit der Klägerin diskutiert werden könne, regte der Berichterstatter an, doch zumindest den Differenzbetrag zwischen den von der Klägerin ausgewiesenen Umsatzsteuerbeträgen i.H.v. 147.069,63 EUR (§ 14c Abs. 2 S. 2 UStG) und den entsprechenden Vorsteuerbeträgen i.H.v. 133.007,88 € umgehend zu begleichen. Außerdem bat der Berichterstatter darum, zur Substantiierung der Gutgläubigkeit darzulegen, ob und in welcher Weise die Klägerin selbst Kontakte zu den benannten Lieferfirmen gehabt habe und um Vorlage entsprechenden Schriftverkehrs, ggf. auch per E-Mail, zumal die Klägerin im Erörterungstermin auch zu dieser Frage erklärt hatte, den Kontakt nicht darstellen zu können, weil sie zu aufgeregt sei; dies solle vielmehr schriftsätzlich erfolgen. Wegen der Einzelheiten wird auf die Niederschrift des Erörterungstermins vom 15.7.2013 Bezug genommen.

27Im Nachgang zum Erörterungstermin führte die Klägerin dann mit Schriftsatz vom 29.7.2013 aus: Bei Berechnung der Umsatzsteuerforderung gemäß § 14c UStG i.H.v. 147.069,63 EUR sei von der Steuerfahndung M auch die Umsatzsteuer aus der letzten Rechnung der Antragstellerin vom 23.9.2011 an die E-GmbH (Nr. 2011400446 über EUR 57.062,88 netto) i.H.v. 10.841,95 € berücksichtigt worden. Die 10.646,65 € Vorsteuer ausweisende korrespondierende Eingangsrechnung der „K Handel und Frachtvermittlung K“ vom 23.9.2011 sei hingegen nicht berücksichtigt worden, so dass sich der Saldo aus den insgesamt ausgewiesenen 147.069,63 € Umsatzsteuer und den nicht anerkannten Vorsteuerbeträgen (133.788,51 €) um weitere 10.646,60 € vermindere und nur noch 2.634,52 € betrage. Eine höhere Zahlung an das FA von über 10.000 € wie im Erörterungstermin angedacht sei der Klägerin nicht möglich.

28Ferner sei unklar, warum das FA der E-GmbH die Vorsteuer aus dieser Rechnung zur Verrechnung zugelassen habe. Das steuerstrafrechtliche Ermittlungsverfahren der Steuerfahndung gegen Herrn E1 wegen Umsatzsteuerhinterziehung betreffend 2009 und 2010 sei seit 2010 betrieben werden. Es sei nicht dargelegt, warum die Steuerfahndung über das Jahr 2010 hinaus bis Ende September 2011 zur Aufklärung des Sachverhalts benötigt habe. Hätte die Steuerfahndung M schneller reagiert, wäre die Klägerin in dieser Zeit nicht auf die Betrugsmasche der Herren V und E1 hereingefallen und zumindest ein großer Teil des Schadens hätte verhindert werden können.

29Insbesondere hinsichtlich der Ausgangsrechnungen der Klägerin vom 9.9.2011 und 23.9.2011 stelle sich die Frage, ob insoweit nicht von einem überwiegenden Verschulden des Fiskus auszugehen und eine Freistellung der Klägerin von der Haftung geboten sei. So seien die Räumlichkeiten der Klägerin im Ermittlungsverfahren gegen die Herren V und E1 am 27.9.2009 durchsucht worden. Aus dem Aktenvermerk der Steuerfahndung M vom 27.9.2011 werde deutlich, dass man dort seit längerem auf die „Handelskreisläufe mit Alufolie“ aufmerksam geworden war. Die Vorsteuer aus den September-Rechnungen habe daher frühestens am 10.10.2011 bzw. im Fall einer Dauerfristverlängerung sogar erst zum 10.11.2011 geltend gemacht werden können. Vor diesem Hintergrund sei es unverständlich, dass das für Herrn E1 bzw. die E-GmbH zuständige Finanzamt die Vorsteuer aus den Rechnungen der Klägerin auch nach dem 27.9.2011 weiterhin zur Verrechnung zugelassen habe. Die vom Rechnungsaussteller gesetzte Gefährdungshaftung bestehe nicht mehr fort, wenn der Fiskus die Zweifelhaftigkeit der Lieferung kenne, so dass kein Raum für eine Gefährdungshaftung bleibe.

30Zu der im Erörterungstermin aufgeworfenen Frage, warum Herr V die Vermittlungsgeschäfte nicht selbst durchgeführt habe, habe sich dieser äußerst diffus dahin geäußert, dass er aufgrund seiner (früheren) Handelsvertreter- bzw. Beratertätigkeit (für andere Unternehmen) bestimmten Restriktionen unterliege und deshalb nicht offen auftreten könne, ohne allerdings konkret zu werden. Er habe ihr zudem das Gefühl gegeben, bei der Vermittlung dieser Geschäfte auch selbst seinen „Schnitt“ zu machen. Vor diesem Hintergrund habe die Klägerin angenommen, dass Herr V entweder vom jeweiligen Lieferanten oder dem Abnehmer oder eventuell sogar von beiden eine Provision erhalte. Die Klägerin habe keinen Argwohn gegenüber Herrn V gehabt, da sich dieser auf die langjährige Freundschaft zu Frau W habe berufen können und die Klägerin das Angebot von Herrn V in gewisser Weise auch als kleinen „Freundschaftsdienst“ von Frau W wegen der Beschäftigung in der Zeit von Dezember 2010 bis Februar 2011 in ihrem Betrieb verstanden habe. Sie sei seinerzeit psychisch in einem schlechten Zustand gewesen. Die Klägerin habe ihr helfen und ihre Freundin wieder „aus dem Loch“ holen wollen, in das sie nach dem Autounfall des Ehemannes gefallen sei. Wegen des geringeren Auftragsvolumens sei jedoch eine Fortsetzung der Beschäftigung nicht mehr möglich gewesen, zumal Frau W auch selbst nicht mehr habe arbeiten wollen. So sei das Arbeitsverhältnis zum 31.3.2011 im gegenseitigen Einvernehmen beendet worden.

31Zu den aufgeführten Geschäftsvorfällen äußert sich die Klägerin wie folgt: Zunächst sei eine Bestellung oder eine Voranfrage der E-GmbH eingegangen. Anschließend habe die Klägerin Herrn V informiert und ihn um Mitteilung eines Lieferanten gebeten, was dieser dann kurzfristig getan habe. Die Klägerin habe dann bei diesem telefonisch oder per E-Mail angefragt, ob dieser die gewünschte Menge liefern könne bzw. um ein Angebot gebeten. Mit den Herren V und E1 habe ein enger persönlicher Kontakt bestanden (Besuche von Herrn V, E-Mail, Fax oder Telefon). Am 8.6.2011 hätten die Herren V und Herr E1 zusammen die Druckerei der Antragstellerin besichtigt. Erst jetzt wisse sie, dass Herr V die Informationen von der Klägerin benötigte habe, um aus dem Hintergrund die gesamte Lieferkette zu steuern.

32Den Schriftverkehr mit den jeweiligen Lieferanten überreicht die Klägerin als Anlagenkonvolut K26, auf den wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird. Im Wesentlichen handelt es sich um Auftragsbestätigungen und Lieferscheine, teilweise per E-Mail; eingehenderer E-Mail-Verkehr betrifft die Firma K. So schreibt die Klägerin, gerne eine dauerhafte Geschäftsbeziehung aufbauen zu wollen, nachdem sich Herr K per E-Mail bei der Klägerin vorgestellt hatte. Außerdem enthalten ist eine E-Mail der F Handels GmbH, in welcher der Klägerin im Mai mitteilt wird, man könne nur noch bestimmte Mengen an Paletten liefern. Des Weiteren überreicht die Klägerin den E-Mail-Verkehr mit der E-GmbH als Anlagenkonvolut K27 und K28, auf den ebenfalls wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird.

33Zum Nachweis der Vorkasse-Praxis (Verrechnungsscheck-Ausstellung an den jeweiligen Lieferanten immer erst nach Geldeingang auf dem Geschäftskonto der Klägerin) legt die Klägerin eine entsprechende Übersicht vor (Anlage K21). Die Zahlungen an die „K Handel und Frachtvermittlung K“ seien dann nicht mehr per Verrechnungsscheck erfolgt, sondern per Überweisung. Ferner beigefügt seien die Abfragen der USt-ID-Nr. (F Handels GmbH vom 25.3.2011 und 9.3.2011, E-GmbH vom 18.4.2011, H Nürnberg GmbH vom 7.6.2011, G GmbH vom 7.6.2011, H Leipzig GmbH 3.8.2011, Anlagenkonvolut K24). Die Ausdrucke der Handelsregisterauszüge zu den einzelnen Firmen lägen der Klägerin seit der Durchsuchung am 27.9.2011 zwar nicht mehr vor. Allerdings habe die Klägerin seinerzeit von den HR-Einträgen nochmals Ausdrucke gefertigt (Anlagenkonvolut K25). Die Antragstellerin habe auf die Auskünfte lt. Internet-Abfragen bei „www.handelsregister.de“ und ihre Abfragen betreffend die Umsatzsteuer- Id-Nr. beim BZSt vertraut.

34Die Klägerin habe im Anschluss an den Erörterungstermin noch am 15.7.2013 bei der Staatsanwaltschaft O Strafanzeige/Strafantrag gegen die Herren V, E1 und K sowie auch gegen Frau W gestellt. Bis zu diesem Zeitpunkt habe sie aus panischer Angst vor der Reaktion der vorbenannten Herren von einer Anzeige abgesehen. Sie habe befürchtet, diese könnten sie körperlich oder psychisch massiv bedrängen. Nach dem entstandenen Vertrauensbruch habe die Klägerin diesen alles zugetraut. So hätten die Herren V und E1 nach der Durchsuchung am 27.9.2011 permanent versucht, die Klägerin auf ihrem Büroanschluss und ihrem Handy zu erreichen. Am 17.10.2010 sei Herr E1 sogar unangemeldet bei der Klägerin aufgetaucht. Mit der Ausrede, seine Ex-Frau habe ihn angezeigt, habe er sogar noch versucht, die Klägerin zu weiteren Geschäften zu überreden (Hinweis auf die E-Mail der Antragstellerin vom 17.10.2011, Anlage K18).

35Ergänzend sei darauf hinzuweisen, dass die Klägerin im März 2013 per E-Mail von der Fa. „X Handel Transport Bau GmbH“ aus Y angeschrieben und um ein Angebot für Bandstretchfolien gebeten worden sei. Der Klägerin sei aufgefallen, dass mit der Firmierung etwas nicht gestimmt habe. Danach habe man die E-Mail noch im März 2013 bei der Steuerfahndung in O und auch in M vorgelegt, weil man den Eindruck gehabt habe, möglicherweise auch hier in ein Umsatzsteuerbetrugsmodell hineingezogen werden zu sollen.

36Die Klägerin beantragt nach ausführlicher Erörterung ihres Begehrens in der mündlichen Verhandlung,

37den Umsatzsteuerbescheid vom 9.10.2012 und die Einspruchsentscheidung vom 4.3.2013 dahin zu ändern, dass die Umsatzsteuer für 2011 wie erklärt (GA Bl. 39 ff.) auf 17.498,75 € festgesetzt wird.

38Der Beklagte beantragt,

39die Klage abzuweisen.

40Der Beklagte führt ergänzend aus: Die Gefährdung des Steueraufkommens sei im vorliegenden Fall gemäß § 14 c Absatz 2 Satz 4 UStG erst beseitigt, wenn der Empfänger der Rechnungen die daraus geltend gemachten Vorsteuern an die zuständige Finanzbehörde (hier: Finanzamt J) zurückgezahlt habe. Die Berichtigung der geschuldeten Steuerbeträge wäre dann gemäß § 14c Abs. 2 S. 5 UStG beim zuständigen Finanzamt Z zu beantragen und in entsprechender Anwendung des § 17 Abs. 1 UStG für den Besteuerungszeitraum vorzunehmen, in dem die Voraussetzungen des § 14c Abs. 2 S. 4 UStG eingetreten seien.

41Der Umsatzsteuerbescheid für 2011 des Finanzamtes J gegenüber Herrn E1 datiere vom 14.2.2013. Die Festsetzung der umsatzsteuerlichen Prüfungsfeststellungen einschließlich der Versagung des Vorsteuerabzugs aus den hier streitigen Rechnungen für die E-GmbH sei aufgrund der bestehenden umsatzsteuerlichen Organschaft beim Einzelunternehmen des Herrn E1 als Organträger erfolgt. Allerdings habe Herr E1 dagegen noch im Februar 2013 Einspruch eingelegt, über den noch nicht abschließend entschieden sei. Eine Rückzahlung der fraglichen Vorsteuern sei derzeit noch nicht erfolgt. Damit seien die Voraussetzungen des § 14c Abs. 2 Sätze 3 und 4 UStG derzeit nicht erfüllt.

42Entscheidungsgründe

43Die Klage ist unbegründet. Die Klägerin ist durch den vorliegend streitgegenständlichen Umsatzsteuerbescheid für 2011 vom 9.10.2012 nicht in ihren Rechten verletzt. Zwischen den Beteiligten unstreitig ist dabei der Teilbetrag von 15.059 € (nach Kürzung der Scheingeschäfte verbleibende Zahllast). Diesen Teilbetrag hat der Beklagte zu Recht gemäß § 14c Abs. 2 S. 2 UStG um 147.069,63 € erhöht, die nach den Feststellungen der Steuerfahndung unberechtigt ausgewiesenen worden waren. Den Vorsteuerabzug aus den zugehörigen Rechnungen hat der Beklagte ebenfalls zu Recht versagt.

441. Der Beklagte hat zu Recht 147.069,63 € gemäß § 14c Abs. 2 S. 2 UStG festgesetzt, die nach den Feststellungen der Steuerfahndung unberechtigt ausgewiesenen worden waren.

45a) Wer in einer Rechnung einen Steuerbetrag gesondert ausweist, obwohl er zum gesonderten Ausweis der Steuer nicht berechtigt ist (unberechtigter Steuerausweis), schuldet gemäß § 14c Abs. 2 Satz 1 UStG den ausgewiesenen Betrag. Das Gleiche gilt, wenn jemand wie ein leistender Unternehmer abrechnet und einen Steuerbetrag gesondert ausweist, obwohl er nicht Unternehmer ist oder eine Lieferung oder sonstige Leistung nicht ausführt (§ 14c Abs. 2 Satz 2 UStG). Die Regelung beruht auf Art. 203 der Richtlinie 2006/112/EG (früher Art. 21 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 77/388/EWG) wonach die Mehrwertsteuer – unabhängig von einer tatsächlichen Lieferung – von jeder Person geschuldet wird, die diese Steuer in einer Rechnung ausweist.

46b) Die Vorschrift stellt auf den Steuerausweis in einer „Rechnung“ ab, ohne den Rechnungsbegriff selbst oder mittels einer Verweisung zu definieren. Unter einer Rechnung ist dementsprechend gemäß § 14 Abs. 1 Satz 1 UStG jedes Dokument zu verstehen, „… mit dem über eine Lieferung oder sonstige Leistung abgerechnet wird, gleichgültig, wie dieses Dokument im Geschäftsverkehr bezeichnet wird“. Es reicht aus, wenn es sich um ein Dokument handelt, das den Rechnungsaussteller, den (vermeintlichen) Leistungsempfänger, eine Leistungsbeschreibung, sowie das Entgelt und die gesondert ausgewiesene Umsatzsteuer ausweist (BFH Urteil vom 17.02.2011 – V R 39/09, BFHE 233, 94, BStBl II 2011, 734, DB 2011, 1200 m.w.N. aus der Rechtsprechung des EuGH).

47c) Die Vorschrift des § 14c UStG ist als Gefährdungstatbestand in das Gesetz aufgenommen worden, um Missbräuche durch Ausstellung von Rechnungen mit offenem Steuerausweis zu verhindern und der Gefährdung des Umsatzsteueraufkommens durch ein Ungleichgewicht von Steuer und Vorsteuerabzug zu begegnen (BFH Urteil vom 17.2.2011 – V R 39/09, BFHE 233, 94, BStBl II 2011, 734, DB 2011, 1200 unter Hinweis auf BR-Drucks. 630/03 vom 5.9.2003, zu Art. 4 zu Nr. 17). Bereits daraus ergibt sich, dass § 14c Abs. 2 Satz 3 und 4 UStG im Rahmen der Berichtigungsmöglichkeit die Beseitigung der „Gefährdung des Steueraufkommens“ voraussetzt. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass es sich bei der Steuerfestsetzung um ein Massenverfahren handelt, bei dem die Verwaltung nicht in der Lage ist, die gesetzlichen Voraussetzungen der geltend gemachten Vorsteuerbeträge vor der regelmäßig unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehenden Steuerfestsetzung zu prüfen. Auch ist vor dem Hintergrund der Berichtigungsmöglichkeit nach § 14c Abs. 2 Satz 2 UStG kein schutzwürdiges Interesse eines Rechnungsausstellers erkennbar, risikolos Dokumente in den Rechtsverkehr zu bringen, die als Abrechnungen über angebliche umsatzsteuerpflichtige Vorgänge erscheinen und dem Rechnungsempfänger einen unberechtigten Vorsteuerbetrug erst ermöglichen. Für die Anwendung des § 14c Abs. 2 UStG reicht es deshalb aus, dass das Dokument als Abrechnung über eine (angebliche umsatzsteuerpflichtige) Leistung durch einen (angeblichen) Unternehmer wegen des Ausweises der Umsatzsteuer abstrakt die Gefahr begründet, vom Empfänger oder einem Dritten zur Inanspruchnahme des Vorsteuerabzugs gebraucht zu werden (BFH Urteil vom 17.02.2011 – V R 39/09, BFHE 233, 94, BStBl II 2011, 734, DB 2011, 1200).

48d) Genau diese Gefahr hat sich auch im Streitfall durch die von der Klägerin ausgestellten und an die E-GmbH ausgegebenen Rechnungen verwirklicht, denen unstreitig keine Leistungen zugrunde lagen. Dies gilt entgegen der Auffassung der Klägerin auch für die Ausgangsrechnungen vom 9.9.2011 und 23.9.2011. Die Gefährdungshaftung des rechnungstellenden Unternehmers ist verschuldensunabhängig. Nach der Wertung des Gesetzes reicht es aus, wenn sich die Gefahr wie im Streitfall tatsächlich verwirklicht. Eine Freistellung der Klägerin kommt deshalb nach Auffassung des erkennenden Gerichts trotz des möglicherweise vorliegenden Mitverschuldens der Steuerfahndung nicht in Betracht, die beim FA J einen entsprechenden Sperrvermerk veranlassen und einen weiteren Vorsteuerabzug in den Monaten Oktober bzw. November 2011 hätte verhindern können, zumal man dort bereits seit längerem auf die „Handelskreisläufe mit Alufolie“ aufmerksam geworden war und gegen die Herren V und E1 ermittelte. Die Auffassung der Klägerin, die vom Rechnungsaussteller gesetzte Gefährdung bestehe nicht mehr fort, wenn der Fiskus die Zweifelhaftigkeit der Lieferung kenne bzw. kennen müsse, findet demgegenüber keine Stütze im Gesetz.

492. Den Vorsteuerabzug aus den zugehörigen Rechnungen hat der Beklagte ebenfalls zu Recht versagt. Die Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug nach § 15 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 14 UStG lagen hinsichtlich der streitigen Vorsteuerbeträge nicht vor. Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes können im Umsatzsteuer-Festsetzungsverfahren nicht berücksichtigt werden.

50a) Nach § 15 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG kann der Unternehmer die in Rechnungen i.S. des § 14 UStG gesondert ausgewiesene Steuer für Lieferungen und sonstige Leistungen, die von anderen Unternehmern für sein Unternehmen ausgeführt worden sind, als Vorsteuerbeträge abziehen.

51aa) Nach ständiger Rechtsprechung ist das Recht der Steuerpflichtigen zum Abzug der Mehrwertsteuer, die für die von ihnen erworbenen Gegenstände und empfangenen Dienstleistungen als Vorsteuer geschuldet oder entrichtet wurde, ein fundamentaler Grundsatz des durch das Unionsrecht geschaffenen gemeinsamen Mehrwertsteuersystems. Durch die Abzugsregelung soll der Unternehmer vollständig von der im Rahmen aller seiner wirtschaftlichen Tätigkeiten geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlastet werden. Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem gewährleistet folglich die Neutralität hinsichtlich der steuerlichen Belastung aller wirtschaftlichen Tätigkeiten unabhängig von ihrem Zweck oder ihrem Ergebnis, sofern diese Tätigkeiten grundsätzlich selbst der Mehrwertsteuer unterliegen (EuGH-Urteil vom 6.9.2012 – C-324/11 (Tóth), BFH/NV 2012, 1757, UR 2012, 851, DB 2012, 2142).

52bb) Eine ordnungsgemäße Rechnung mit gesondertem Umsatzsteuerausweis gehört zu den materiell-rechtlichen Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug. Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung müssen die Angaben im Abrechnungspapier eine eindeutige und leicht nachprüfbare Feststellung des leistenden Unternehmers ermöglichen. Rechnungsaussteller und leistender Unternehmer müssen grundsätzlich identisch sein. Hierfür ist die Angabe der zutreffenden Anschrift in der Rechnung erforderlich, die allein dem FA die Überprüfung ermöglicht, ob tatsächlich der abrechnende Unternehmer den in der Rechnung ausgewiesenen Umsatz ausgeführt hat. Der Vorsteuerabzug steht dem Unternehmer im Einklang mit den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben deshalb erst bei Vorlage einer Rechnung mit der zutreffenden Anschrift des leistenden Unternehmers zu; die Angabe einer Anschrift, an der im Zeitpunkt der Rechnungsausstellung keinerlei geschäftliche Aktivitäten stattfinden, reicht als zutreffende Anschrift demgegenüber nicht aus (BFH-Urteil vom 30.4.2009 – V R 15/07, BFHE 225, 254, BStBl II 2009, 744, DB 2009, 1631, UR 2009, 816 m.w.N.).

53cc) Das Tatbestandsmerkmal „Steuer für Lieferungen und sonstige Leistungen“ erfordert, dass die Leistung tatsächlich ausgeführt worden ist. Das UStG erfasst nur tatsächliche wirtschaftliche Vorgänge und nicht vorgetäuschte Umsätze. Deshalb ist ein Vorsteuerabzug aus Rechnungen unzulässig, denen tatsächlich keine Leistung zugrundeliegt (BFH-Urteil vom 10.12.2008 – XI R 57/06, BFH/NV 2009, 1156).

54b) Die von der Klägerin geltend gemachten Vorsteuerbeträge sind auch nicht unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes abziehbar.

55aa) Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung sieht § 15 UStG den Schutz des guten Glaubens an die Erfüllung der Voraussetzungen zum Vorsteuerabzug nicht vor (BFH-Urteil vom 30.4.2009 – V R 15/07, BFHE 225, 254, BStBl II 2009, 744, DB 2009, 1631, UR 2009, 816 m.w.N.).

56bb) Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem EuGH-Urteil vom 6.7.2006 – Rs. C-439/04 und C-440/04, Kittel und Recolta Recycling (Slg. 2006, I-6161, BFH/NV Beilage 2006, 454). Diese Entscheidung betrifft nicht – wie vorliegend – den Fall, dass die objektiven Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug fehlen und der Steuerpflichtige den Vorsteuerabzug unter Hinweis auf die Grundsätze von Treu und Glauben gleichwohl beansprucht. Vielmehr ist nach dieser Entscheidung der Vorsteuerabzug selbst dann zu verweigern, wenn die objektiven Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug zwar vorliegen, jedoch aufgrund objektiver Umstände feststeht, dass der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich mit seinem Erwerb an einem Umsatz beteiligte, der in eine Mehrwertsteuerhinterziehung einbezogen war (Randnr. 59). Diese Rechtsprechung erweitert danach nicht das Recht auf Vorsteuerabzug hinsichtlich des Vertrauensschutzes, sondern begrenzt es, weil eine „betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf das Gemeinschaftsrecht … nicht erlaubt“ ist (BFH-Urteil vom 30.4.2009 – V R 15/07, BFHE 225, 254, BStBl II 2009, 744, DB 2009, 1631, UR 2009, 816).

57cc) Allerdings haben die Mitgliedstaaten bei der Ausübung der Befugnisse, die ihnen die Gemeinschaftsrichtlinien übertragen, die allgemeinen Rechtsgrundsätze, die Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung sind, zu beachten. Hierzu zählen insbesondere die Grundsätze der Rechtssicherheit, der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebietet es dabei, dass die Mitgliedstaaten Mittel einsetzen, die es zwar erlauben, das vom innerstaatlichen Recht verfolgte Ziel zu erreichen, die jedoch die Ziele und Grundsätze des einschlägigen Gemeinschaftsrechts möglichst wenig beeinträchtigen. Demnach ist es zwar legitim, dass die Maßnahmen der Mitgliedstaaten darauf abzielen, die Ansprüche der Staatskasse möglichst wirksam zu schützen; sie dürfen aber nicht über das hinausgehen, was hierzu erforderlich ist (BFH-Urteil vom 30.4.2009 – V R 15/07, BFHE 225, 254, BStBl II 2009, 744, DB 2009, 1631, UR 2009, 816 m.w.N.).

58dd) Grundsätze des Vertrauensschutzes aufgrund besonderer Verhältnisse des Einzelfalles können nach nationalem Recht nicht im Rahmen der Steuerfestsetzung, sondern nur im Rahmen einer Billigkeitsmaßnahme gemäß §§ 163, 227 AO Berücksichtigung finden, ohne dass Gemeinschaftsrecht dem entgegenstünde. Denn mangels einer einschlägigen Gemeinschaftsregelung sind die Verfahrensmodalitäten, die den Schutz der dem Bürger aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung eines jeden Mitgliedstaats (BFH-Urteil vom 30. 4. 2009 – V R 15/07, BFHE 225, 254, BStBl II 2009, 744, DB 2009, 1631, UR 2009, 816 m.w.N.).

59ee) Die Entscheidung nach § 163 AO ist zwar grundsätzlich eine Ermessensentscheidung, die im finanzgerichtlichen Verfahren nur eingeschränkt überprüfbar ist (§ 102 FGO). Erfordern aber gemeinschaftsrechtliche Regelungen eine Billigkeitsmaßnahme, ist das in § 163 AO eingeräumte Ermessen des FA auf Null reduziert. Macht der Steuerpflichtige – wie hier – Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes im Festsetzungsverfahren geltend, wird die Entscheidung über die Billigkeitsmaßnahme gemäß § 163 Satz 3 AO regelmäßig mit der Steuerfestsetzung zu verbinden sein (BFH-Urteil vom 30.4.2009 – V R 15/07, BFHE 225, 254, BStBl II 2009, 744, DB 2009, 1631, UR 2009, 816 m.w.N.). In diesem Verfahren ist dann auch die Frage zu klären, ob es sich um Geschäfte gehandelt hat, in denen an die Sorgfalts- und Nachweispflichten des Unternehmers, der den Vorsteuerabzug begehrt, besonders hohe Anforderungen zu stellen sind (etwa Barkauf hochwertiger PKW; BFH-Urteil vom 30. 4. 2009 – V R 15/07, BFHE 225, 254, BStBl II 2009, 744, DB 2009, 1631, UR 2009, 816 m.w.N.).

60ff) Ebenso wenig wie sich das Recht auf Vorsteuerabzug auf eine Steuer erstreckt, die ausschließlich deshalb geschuldet wird, weil sie in einer Rechnung ausgewiesen ist (EuGH-Urteil vom 13.12.1989 – Rs. C-342/87 –Genius Holding–, Slg. 1989, I-4227: tatsächliche Lieferung oder Leistung erforderlich; dem folgend BFH-Urteil vom 2.4.1998 – V R 34/97, BFHE 185, 536, BStBl II 1998, 695), sah der BFH jedenfalls bislang das Vertrauen in die tatsächliche Erbringung einer Leistung nicht als schutzwürdig an, und hat es abgelehnt, das FA zu verpflichten, den begehrten Vorsteuerabzug für nicht erbrachte Leistungen aus Billigkeitsgründen zu gewähren, weil es nicht der gesetzlichen Wertung entspricht, den Vorsteuerabzug aus Rechnungen zuzulassen, denen tatsächlich keine Leistung zugrunde liegt (BFH-Urteil vom 10.12.2008 – XI R 57/06, BFH/NV 2009, 1156).

61Dem steht auch nicht das EuGH-Urteil vom 12.1.2006 – Rs. C-354/03, C-355/03 und C-484/03 –Optigen– (Slg. 2006, I-483), dem ein dem Streitfall nicht vergleichbarer Sachverhalt zugrunde lag. Denn dort ging es nicht um den Vorsteuerabzug aus Rechnungen über Scheinlieferungen, sondern um den Vorsteuerabzug aus Rechnungen über tatsächliche Umsätze, die zu Lieferketten gehörten, an denen ohne Wissen der in den Ausgangsverfahren klagenden Gesellschaften ein Händler beteiligt war, der mehrwertsteuerpflichtig war, aber verschwand, ohne die Mehrwertsteuer an die Steuerbehörden entrichtet zu haben. Dieser Sachverhalt unterscheidet sich von dem des Streitfalles ganz wesentlich dadurch, dass dort tatsächlich ein Leistungsaustausch stattgefunden hat und Mehrwertsteuer entstanden ist. In einem solchen Fall wird das Recht des Steuerpflichtigen auf Vorsteuerabzug dann nicht berührt, wenn er von dem betrügerischen Verhalten des an der Lieferkette beteiligten Händlers weder Kenntnis hatte noch haben konnte (vgl. BFH-Urteil vom 10.12.2008 – XI R 57/06, BFH/NV 2009, 1156; ebenfalls nicht vergleichbar ist danach der Fall des EuGH-Urteil vom 15.3.2007 – Rs. C-35/05 –Reemtsma–, Slg. 2007, I-2425, in welchem die aus der Rechnung geschuldete Mehrwertsteuer tatsächlich an den italienischen Fiskus entrichtet worden war).

62Auch aus dem von der Klägerin angeführten EuGH-Urteil vom 6.9.2012 – C-324/11 -Tóth- (BFH/NV 2012, 1757, UR 2012, 851, DB 2012, 2142: Bauleistungen durch Subunternehmer) ergibt sich keine Verpflichtung des Beklagten, den Vorsteuerabzug aus Billigkeitsgründen zuzulassen. Denn auch dort ging es um den Abzug von Vorsteuer aus einer dem Unternehmer tatsächlich erbrachten Dienstleistung; angesichts des Grundsatzes der Steuerneutralität war der Vorsteuerabzug dort unzulässigerweise mit der Begründung versagt worden, dass der Aussteller der Rechnung nicht (mehr) über eine Unternehmerlizenz verfügt habe; ebenso unzulässig war die Versagung des Vorsteuerabzugs mit der Begründung, dass der Aussteller der Rechnung die von ihm eingesetzten Arbeitnehmer nicht angemeldet habe. Der EuGH hat in dieser Entscheidung als materielle Voraussetzung des Vorsteuerabzugsrechts aus Art. 168 Buchst. a der Richtlinie 2006/112 hervorgehoben, dass die zur Begründung dieses Rechts angeführten Gegenstände oder Dienstleistungen vom Steuerpflichtigen auf einer nachfolgenden Umsatzstufe für Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden müssen und dass diese Gegenstände oder Dienstleistungen auf einer vorausgehenden Umsatzstufe von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert oder erbracht worden sein müssen. Die Besonderheit des Falles lag gerade darin, dass der den Vorsteuerabzug begehrende Unternehmer unstreitig steuerbare Dienstleistungen (Bauarbeiten) erbracht hatte, allerdings nicht mittels seines eigenen Personals, sondern durch Inanspruchnahme von Subunternehmern. Es ging somit um von anderen Wirtschaftsteilnehmern tatsächliche erbrachte Leistungen, die vom Unternehmer auf der nachfolgenden Umsatzstufe für Zwecke seiner eigenen steuerpflichtigen Umsätze verwendet worden waren (EuGH-Urteil vom 6.9.2012 – C-324/11 (Tóth), BFH/NV 2012, 1757, UR 2012, 851, DB 2012, 2142). Gerade daran fehlt es im Streitfall jedoch, so dass das Zitat der Klägerin aus dieser Entscheidung, die Behörde dürfe den Vorsteuerabzug wegen des Grundsatzes der Steuerneutralität nur ablehnen, wenn sie anhand objektiver Umstände nachweise, dass der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass der betreffende Umsatz in eine Steuerhinterziehung einbezogen war, letztlich aus dem Zusammenhang gerissen ist.

63gg) Soweit es somit um Vorsteuerabzug aus Gründen des Vertrauensschutzes geht, ist danach in der höchstrichterlichen Rechtsprechung folgende Abstufung erkennbar: Unter der Voraussetzung, dass der den Vorsteuerabzug begehrende Unternehmer alle Maßnahmen ergriffen hat, die vernünftigerweise von ihm verlangt werden können, um sich von der Richtigkeit der Angaben in der Rechnung zu überzeugen und seine Beteiligung an einem Betrug ausgeschlossen ist, wurde der Vorsteuerabzug im Wege einer abweichenden Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen als Maßnahme des Vertrauensschutzes in Fällen erwogen, in denen die Leistung tatsächlich erbracht worden war, die materiellen Voraussetzungen des Vorsteuerabzugs aber wegen unzutreffender Rechnungsangaben nicht vorlagen, weil der in der Rechnung benannte Leistende entweder kein Unternehmer oder die in Rechnung gestellte Leistung von einem anderen als dem in der Rechnung als Leistenden genannten Unternehmer erbracht worden war (BFH-Urteil vom 30.4.2009 – V R 15/07, BFHE 225, 254, BStBl II 2009, 744, DB 2009, 1631, UR 2009, 816 m.w.N.: Aus Gründen der Normenklarheit keine pauschale „Karenzzeit“, in der das Vertrauen des Rechnungsempfängers auf das Fortbestehen des Sitzes des Rechnungsausstellers geschützt wird). Abgelehnt hat die Rechtsprechung entsprechende Billigkeitsmaßnahmen bisher, wenn die in der Rechnung ausgewiesene Leistung überhaupt nicht stattgefunden hat (BFH-Urteil vom 10.12.2008 – XI R 57/06, BFH/NV 2009, 1156).

64hh) Im Streitfall sieht das Gericht keine Veranlassung, von diesen bewährten Grundsätzen abzuweichen. Die Klägerin hat sich als „Zwischenhändlerin“ auf von Herrn V vermittelte angebliche „Streckengeschäfte“ eingelassen, ohne dass ihr die angeblichen Lieferanten tatsächlich bekannt waren und ohne dass sie die Existenz und die tatsächliche Geschäftstätigkeit der ihr nicht bekannten Lieferanten wirklich überprüft hätte. Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung selbst vorgetragen, dass „Streckengeschäfte“, bei denen ihr Lieferant auf ihre Veranlassung an den Letztabnehmer liefere, für sie nicht ungewöhnlich seien. Allerdings ist ihr bei diesen Geschäften der eigene Lieferant bekannt, was bei den streitigen Scheinumsätzen offensichtlich nicht der Fall war. So hätte eine tatsächliche Erkundigung beim Lieferanten schnell ergeben, dass dieser entweder nicht existent (F Handels GmbH; G GmbH i.L.) oder wirtschaftlich inaktiv (H Nürnberg GmbH; K Handel und Frachtvermittlung Inh. K) war; eine Kontaktaufnahme zum seinerzeit wirtschaftlich existenten Unternehmen „Firma H Leipzig GmbH“ hätte die fehlenden Geschäftsbeziehungen sogar unmittelbar belegt. Die Abfrage der USt-ID-Nr. und des Handelsregistereintrags durch die Klägerin als zwischengeschaltete Unternehmerin sieht das erkennende Gericht jedenfalls dann nicht als ausreichend an, wenn der Umsatz letztlich von einer dritten Person (Herrn V) vermittelt wird, die die zusätzliche Zwischenschaltung des Steuerpflichtigen mit eigener Gewinnmarge nur „diffus“ erklärt.

65Hinzu kommt im Streitfall, dass auch der unübliche Zahlungsweg, bei dem sie – die Klägerin – die Verrechnungsschecks zur Bezahlung der an sie gerichteten Lieferungen nicht direkt dem Lieferanten, sondern an ihre Bekannte, Frau W, übergab, mit der Bitte, die Schecks an Herrn V weiterzuleiten, damit dieser sie an den jeweiligen Lieferanten weiterreiche, die Klägerin hätte stutzig machen müssen. Nicht nachvollziehbar ist auch das Nachtatverhalten der Klägerin, die zunächst keine Strafanzeige gegen die Herren V und E1 sowie gegen Frau W gestellt hatte, nachdem ihr klar geworden war, in ein Modell zur Umsatzsteuerhinterziehung verwickelt worden zu sein. Ihr Vortrag von angeblich „panischer Angst“, die sie aus Anrufversuchen und einem unangemeldeten Besuch am 17.10.2010 herleitete, bei denen man versucht habe, die Klägerin zu weiteren Geschäften zu überreden, ist weder substantiiert noch nachvollziehbar.

66Darüber hinaus kann im Streitfall nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Klägerin zumindest insoweit aktiv mitgewirkte, als sie die Vermerke „Palettentausch“ bzw. „alle Paletten getauscht“ bzw. „Abholung per Spedition“ bzw. „die Lieferung erfolgt per Selbstabholung“ bzw. „Abholung per Spedition“ angebracht hat, obwohl die Folien It. ihrer eigenen Aussage zu keiner Zeit am Standort des Einzelunternehmens eingegangen bzw. gelagert und weitergeliefert worden sind, die Klägerin die Folien also letztlich nie gesehen hat. Auch wenn solche Vermerke im Geschäftsverkehr oft verlangt werden sollten, um Streitigkeiten zwischen Lieferanten, Spediteur und Kunden über angeblich mitgelieferte bzw. nicht mitgelieferte Paletten zu vermeiden, kann ein Unternehmer, der solche Vermerke auf Rechnungen anbringt, deren zugrunde liegende Warenlieferung er aber tatsächlich nie gesehen hat, nicht als gutgläubig bezeichnet werden. Ein solcher Unternehmer wird auch nicht dadurch „gutgläubiger“, dass er derartige Vermerke auf Anweisung eines Dritten (Herrn V) anbringt, dem er vertraut haben will. Im Streitfall kommt hinzu, dass die Klägerin in ihrer Vernehmung gegenüber dem FA M diesbezüglich noch erklärt hatte, die Vermerke seien ihr vorgegeben worden, sie wisse allerdings nicht mehr, von wem.

673. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

684. Die Revision wird zugelassen wegen grundsätzlicher Bedeutung der Frage, ob und inwieweit im Falle eines Mitverschuldens des Fiskus am eingetretenen Steuerschaden, der die Zweifelhaftigkeit einer Lieferung zumindest hätte kennen müssen, eine Freistellung des rechnungstellenden Unternehmers im Rahmen des Gefährdungstatbestandes des § 14c Abs. 2 S. 2 UStG geboten ist.

Einkommensteuer und Umsatzsteuer: Hinzuschätzungen bei einem Taxiunternehmer

Finanzgericht Köln, 3 V 3747/12

Datum:
27.08.2013
Gericht:
Finanzgericht Köln
Spruchkörper:
3. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
3 V 3747/12
Tenor:

1. Die Bescheide über die einheitliche und gesonderte Gewinnfeststellung für 2009 und für 2010 – beide vom 7. März 2013 – werden bis einen Monat nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung oder einer anderweitigen Erledigung des Einspruchsverfahrens von der Vollziehung ausgesetzt, soweit die festgestellten Einkünfte aus Gewerbebetrieb folgende Beträge übersteigen:

2009 2010
Gewinn 4.308,28 € 11.059,84 €

2. Die Gewerbesteuermessbescheide 2009 und 2010 werden in voller Höhe ebenfalls bis einen Monat nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung oder einer anderweitigen Erledigung des Einspruchsverfahrens von der Vollziehung ausgesetzt.

3. Die Umsatzsteuerbescheide für 2009 vom 18. März 2013 und für 2010 vom 1. Oktober 2012 werden jeweils ab Fälligkeit bis einen Monat nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung oder einer anderweitigen Erledigung des Einspruchsverfahrens von der Vollziehung ausgesetzt, soweit die festgesetzte Umsatzsteuer folgende Beträge übersteigt:

2009 2010
Umsatzsteuer ./. 6.669,24 € ./. 1.245,85 €

4. Der weitergehende Antrag wird abgelehnt.

5. Die Kosten des Verfahrens tragen bis zum Ergehen der Teilabhilfebescheide am 7. und 18. März 2013 die Antragstellerin zu 60 % und der Antragsgegner zu 40 %, für die Zeit danach die Antragstellerin zu 70 % und der Antragsgegner zu 30 %.

1Gründe:

2I.

3Die Beteiligten streiten – nach Abtrennung des Verfahrens wegen Umsatzsteuer 2011 -noch über die Rechtmäßigkeit von Hinzuschätzungen in den Streitjahren 2009 und 2010 und wegen Lohnsteuerhaftung 2009 bis 2011 nach einer Steuerfahndungsprüfung im Betrieb der Antragstellerin.

4Die Antragstellerin ist eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts und betrieb in den Streitjahren in E ein Taxiunternehmen. Die Gesellschafter sind jeweils zur Hälfte beteiligt. Die Antragstellerin verfügte über drei Konzessionen, die sie samt Fahrzeugen mit Vertrag vom 19. Januar 2009 erworben hat.

5Für das Streitjahr 2009 reichte die Antragstellerin ihre Einnahmen-Überschussrechnung und die Feststellungserklärung zur gesonderten und einheitlichen Gewinnfeststellung im Januar 2011 beim Antragsgegner ein. Sie erklärte für das Streitjahr 2009 einen Gewinn in Höhe von 841,88 €. Die umsatzsteuerpflichtigen Betriebseinnahmen zum Steuersatz von 7% laut Erklärung betrugen 133.405,58 € netto.

6Für das Streitjahr 2010 reichte die Antragstellerin ihre Erklärung zur gesonderten und einheitlichen Feststellung des Gewinns am 15. Februar 2012 beim Antragsgegner ein und erklärte einen Verlust in Höhe von ./. 226,35 €. Die umsatzsteuerpflichtigen Betriebseinnahmen zum Steuersatz von 7% laut Erklärung betrugen 155.003,57 € netto.

7Mit den eingereichten Erklärungen zur einheitlichen und gesonderten Gewinnfeststellung der Streitjahre 2009 und 2010 reichte die Antragstellerin auch entsprechende Gewerbesteuererklärungen beim Antragsgegner ein.

8Für beide Streitjahre ergingen zunächst keine Feststellungsbescheide.

9Am 17. November 2011 begann das Finanzamt für Steuerstrafsachen und Steuerfahndung E mit einer Steuerfahndungsprüfung bei der Antragstellerin. Im Bericht über die steuerlichen Feststellungen im Rahmen der Fahndungsprüfung vom 31. August 2012 traf die Fahndungsprüferin folgende Feststellungen:

10Die Antragstellerin habe ihre täglichen Einnahmen nicht ordnungsgemäß aufgezeichnet. Sie habe keine täglichen Aufzeichnungen in Form von ordnungsgemäßen und vollständigen Schichtzetteln vorlegen können. Die Einnahmen seien in Halbmonatsberichten und Monatsberichten aufgezeichnet worden, in denen die Fahrer lediglich summenmäßige Angaben gemacht hätten, an welchen Tagen sie gefahren, wie hoch die jeweils gefahrenen Kilometer gewesen seien und welche Beträge Sie an den einzelnen Tagen eingenommen hätten. Betriebsausgaben seien in den Berichten der Fahrer für Tank- und Waschrechnungen aufgelistet worden. Die Einnahmen seien dann von der Antragstellerin in einer Monatstabelle für jeden Fahrer wochenweise aufgelistet worden. Die von den Fahrern gefertigten Aufzeichnungen seien nicht vorgelegt worden.

11Die Taxen seien mit angestellten Fahrern besetzt gewesen. Anhand der vorgelegten Monatsaufzeichnungen sei ermittelt worden, dass z.B. im Monat März 2009 und im Monat September 2009 sowie im Jahresdurchschnitt die Taxen der Antragstellerin nicht einmal im Einschichtbetrieb eingesetzt worden sein sollten. Dies habe selbst an umsatzstarken Tagen wie im Karneval 2009 gegolten, für die nur durchschnittlich 1,16 Schichten pro Tag angesetzt worden seien. Die Aufzeichnungen der Antragstellerin seien daher nicht glaubhaft.

12Zudem hätten Daten, die beim Taxi-Ruf E für den Zeitraum vom 1. Juli 2011 bis zum 30. Oktober 2011 erhoben worden seien, ergeben, dass nahezu sämtliche Fahrzeuge in einem Zweischichtbetrieb und fast sogar in einem Dreischichtbetrieb unterwegs gewesen seien. Dies ergebe sich aus den Uhrzeiten der vermittelten Fahrten für den Zeitraum Juli 2011. Es seien im Juli 2011 insgesamt nur 70 Schichten gebucht worden, tatsächlich sei anhand der vorliegenden Daten davon auszugehen, dass mindestens 145 Schichten gefahren worden sein. Es seien somit insgesamt nur die Hälfte der gefahrenen Schichten verbucht worden.

13Aus diesen Erkenntnissen des Jahres 2011 seien Rückschlüsse für den Prüfungszeitraum 2009 und 2010 zu ziehen, da dieselben Verhältnisse wie für den Vergleichszeitraum 2011 maßgeblich seien.

14Die rechnerischen Laufleistungen der einzelnen Taxen anhand der Bilanzumsätze und der gültigen Tarife nach den Angaben der Antragstellerin seien im Streitjahr 2009 mit ungefähr 45.000 km je Fahrzeug anzusetzen. Dieser Wert liege deutlich unter den branchenüblichen Werten, die das Finanzamt E ermittelt habe. Bei Einzelunternehmern mit festangestellten Fahrern betrage die durchschnittliche Laufleistung je Fahrzeug zwischen 100.000 und 120.000 km im Jahr.

15Die Steuerfahndung habe am 11. Mai 2011 im Rahmen einer Durchsuchung den Kilometerstand eines Fahrzeugs (…) ausgelesen. Greife man auf den bei der Durchsuchung abgelesenen Tachostand und die Werkstattbesuchsdaten zu einem Zeitpunkt vor dem 11. Mai 2011 und zu einem Zeitpunkt nach dem 11. Mai 2011 zurück, bestimme hiermit die Laufleistung des Jahres 2011 und übertrage diesen Wert auf das Streitjahr 2009, so lasse sich für 2009 von einer Jahresfahrleistung eines Taxis von ca. 108.000 km im Jahr ausgehen. Die Daten für ein weiteres Fahrzeug hätten zu einer Jahresfahrleistung von ca. 91.000 km geführt.

16Die Besteuerungsgrundlagen seien anhand der Verhältnisse des Jahres 2011 für den Prüfungszeitraum 2009 und 2010 zu schätzen. Im Rahmen der Nachkalkulation setzte die Prüferin eine gleiche Fahrleistung aller Taxen der Antragstellerin In Höhe von jeweils 90.000 km im Jahr an. Den Erlös je gefahrenem Kilometer setzte sie im Streitjahr 2009 und 2010 mit 1,07 €/km und für das Streitjahr 2011 mit 1,15 €/km an. Hierbei handele es sich um die Brutto-Durchschnittserlöse auf Basis der gültigen Tarife der Stadt E abzüglich eines Sicherheitsabschlags von ca. 10%. Dieser Sicherheitsabschlag gelte die Unsicherheitsfaktoren des Betrugs durch die Fahrer und nicht gezahlter Fahrpreise durch Kunden ab. Zudem berücksichtigte die Prüferin anhand der Laufleistungen der Fahrzeuge weitere Aufwendungen für Benzinkosten, wobei sie einen Verbrauch der einzelnen Taxen je 100 km von 8,5 Litern Diesel und Kosten pro Liter Diesel im Streitjahr 2009 von 1,10 € und im Streitjahr 2010 von 1,20 € zugrundelegte.

17Zudem ging die Prüferin davon aus, dass die in der Buchführung berücksichtigten Lohnkosten nicht den tatsächlich ausgezahlten Löhnen entsprächen. Hierzu stützte sie sich auf eine Mitteilung gemäß § 116 AO des Arbeitsgerichts E beim Finanzamt für Steuerstrafsachen, nach der ein angestellter Taxifahrer der Antragstellerin in einem Kammertermin am …. April 2010 erklärt habe, statt eines fest vereinbarten Bruttogehalts 46 % der Bruttofahrpreise erhalten zu haben. Im Arbeitsvertrag sei jedoch nur der Festbetrag genannt gewesen. Für Zwecke der Nachkalkulation legte die Prüferin zugrunde, die Fahrer hätten 45 % des Bruttoumsatzes für sich behalten dürfen und den Rest nach Abzug der ausgelegten Kosten an die Antragstellerin weitergeben müssen.

18Die Schätzung führte zu folgenden Mehrumsätzen und folgenden Mehr-Betriebseinnahmen:

19

Mehrumsätze netto (€) Mehr-Betriebseinnahmen (€) Einkünfte laut Prüfung (€)
2009 134.096 143.482 71.544
2010 109.536 117.203 49.542

20Für Zwecke der Lohnsteuerhaftung setzte die Prüferin für die ermittelten zusätzlich gezahlten Löhne den Eingangssteuersatz an und behandelte 25% der hinzugeschätzten Lohnsumme als nicht steuerpflichtige Aushilfslöhne.

21Für das Streitjahr 2009 ergab dies im Rahmen der Lohnsteuerhaftung Mehrlöhne (75%) in Höhe von 97.503 € (Mehr-Lohnsteuer 13.596 € zuzüglich 750,75 € SolZ), für 2010 in Höhe von 97.503 € (Mehr-Lohnsteuer 13.414 € zuzüglich 750,05 € SolZ) und für 2011 in Höhe von 104.793 € (Mehr-Lohnsteuer 14.671 € zuzüglich SolZ 806,90 €).

22Da eine Zuordnung der erhöhten Löhne zu den einzelnen Arbeitnehmern nicht möglich sei, sei der Arbeitgeber, die Antragstellerin, in Anspruch zu nehmen.

23Für die Einzelheiten der Feststellungen der Steuerfahndung wird auf den Bericht vom 31. August 2012 und die Texte von 6-17 sowie die zugehörigen Anlagen 1-3 Bezug genommen (abgelegt in einem Hefter in der Feststellungsakte). Zudem wird auf die in der Lohnsteuerakte abgelegte Mitteilung gemäß § 116 AO des Arbeitsgerichts E (eingegangen beim Finanzamt für Steuerstrafsachen am 28. April 2010) Bezug genommen.

24Der Antragsgegner erließ am 12. September 2012 einen Haftungsbescheid gegenüber der Antragstellerin, in dem er für den Haftungszeitraum 2009 bis 2011 ausgehend von den Feststellungen der Steuerfahndung nichtabgeführte Lohnsteuer und den Solidaritätszuschlag hierzu nachforderte.

25Am 1. Oktober 2012 erließ der Antragsgegner geänderte Feststellungsbescheide für die Streitjahre 2009 und 2010, in denen er die Ergebnisse der Fahndungsprüfung auswertete. Für das Streitjahr 2010 stützte er sich für die Änderungsbefugnis auf § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO. Für das Streitjahr 2010 änderte er den Feststellungsbescheid gemäß § 164 Abs. 2 AO. Es wurden auch entsprechend geänderte Gewerbesteuermessbescheide für beide Streitjahre erlassen.

26Zudem ergingen unter dem 1. Oktober 2012 geänderte Umsatzsteuerbescheide für 2009 und 2010.

27Die Antragstellerin erhob Einspruch gegen die genannten Bescheide und den Lohnsteuerhaftungsbescheid. Gleichzeitig beantragte sie die Aussetzung der Vollziehung aller Steuerbeschläge ohne Sicherheitsleistung.

28Den Einspruch begründete die Antragstellerin damit, ihr seien die Ermittlungsgrundlagen aus dem Bericht über die Steuerfahndungsprüfung vom 31. August 2012 nicht mitgeteilt worden. Dies gelte für die beim Taxi Ruf E abgefragten Einsatzzeiten der Taxen der Antragstellerin. Zudem besage die Anmeldung und die Abmeldung einer Taxikonzession beim Taxi Ruf nicht, dass die Konzession durchgehend genutzt worden sei. Der Fahrer könne das Fahrzeug morgens anmelden und nutzen, danach pausieren und abends seine Tätigkeit wieder aufnehmen.

29Zudem leide die Kalkulation darunter, dass Ermittlungsergebnisse des Jahres 2011 ohne weiteres auf die Verhältnisse der Streitjahre 2009 und 2010 übertragen würden. Auch seien die Schätzungsgrundlagen, die anhand von der Antragstellerin nicht vorliegenden Vergleichsdaten für die Stadt E angesetzt worden seien, der Antragstellerin nicht nachvollziehbar. Eine Prüfung der Rechtmäßigkeit der geschätzten Besteuerungsgrundlagen sei schon deshalb nicht möglich. Die Unterstellung, jedes Taxiunternehmen mit angestellten Fahrern habe eine Fahrleistung bei jedem Taxi von 100.000 km im Jahr, sei eine reine Unterstellung. Es sei zu berücksichtigen, dass die Schätzung der Laufleistungen für die Nachkalkulation ohne Auswertung der vorliegenden Werkstattrechnungen und Berichte des TÜV von der Fahndung vorgenommen worden sei. Zudem sei das Ausmaß von Leerfahrten im normalen Betrieb nicht hinreichend berücksichtigt worden. Bis zu 50 % aller gefahrenen Kilometer seien Leerfahrten. Bei einer Flughafenfahrt sei immer eine Leerfahrt enthalten.

30Der angesetzte Kraftstoffverbrauch sei nicht durch statistische Daten unterlegt worden. Innerhalb geschlossener Ortschaften betrage der Verbrauch mehr als 8,5 Liter je 100 km.

31Während des Einspruchsverfahrens legte die Antragstellerin die Ermittlung von Laufleistungen der Taxen anhand von TÜV-Hauptuntersuchungsberichten dar. Sie kam zu dem Ergebnis, dass sich durchschnittliche Jahreslaufleistungen für jedes Taxi in Höhe von 48.133 km ermitteln ließen. Eine eigene Verprobung der Laufleistungen für den Zeitraum von September bis November 2012, den die Antragstellerin selbst durchgeführt habe, habe lediglich eine jährliche Laufleistung im Durchschnitt von 67.588 km ergeben. Beide Werte unterschritten deutlich die vom Antragsgegner je Taxi angesetzten Laufleistungen in Höhe von jeweils 90.000 km pro Taxi. Die Durchschnittserlöse pro gefahrenem Kilometer lägen anhand der Daten für den Zeitraum von September bis November 2012 bei 0,96 €.

32Für das Streitjahr 2009 habe der Antragsgegner übersehen, dass die Antragstellerin nur für elf Monate tätig gewesen sei.

33Die Berechnung des Antragsgegners weise den weiteren Fehler auf, dass die nicht in der Buchführung geschätzten Mehraufwendungen für Kraftstoff nur für ein Taxi angesetzt worden seien, statt für drei Taxen des Antragsgegners.

34Mit Schreiben vom 23. November 2012 lehnte der Antragsgegner die Aussetzung der Vollziehung hinsichtlich der Umsatzsteuerbescheide 2009 und 2010, der Gewerbesteuermessbescheide 2009 und 2010 sowie der geänderten Gewinnfeststellungsbescheide 2009 und 2010 ab. In einem Schreiben vom 30. November 2012 teilte der Antragsgegner mit, er halte den Einspruch gegen den Haftungsbescheid zur Lohnsteuer für nicht ausreichend begründet und könne über den gestellten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung „derzeit noch nicht entscheiden“, weil nicht zu erkennen sei, inwieweit der angefochtene Bescheid beanstandet werde und ob aufgrund der Beanstandungen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides bestünden. Der Antragsgegner bat darum, den Einspruch zu begründen und hierdurch den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung zu konkretisieren.

35Im vorliegenden Verfahren beantragte die Antragstellerin mit Schriftsatz vom 12. Dezember 2012 (eingegangen beim Finanzgericht am selben Tag) die Aussetzung der Vollziehung ohne Sicherheitsleistung wegen der geänderten Gewerbesteuermessbescheide 2009 und 2010, der Umsatzsteuerbescheide 2009 und 2010, der Bescheide über die gesonderte und einheitliche Feststellung für 2009 und 2010 sowie wegen des Haftungsbescheids zur Lohnsteuer.

36Zur Begründung ihres Aussetzungsantrags wiederholte die Antragstellerin ihr Vorbringen aus dem Einspruchsverfahren. Zur Glaubhaftmachung ihres Vortrags legte sie die Anlagen 18 bis 22 zum Schriftsatz vom 11. Januar 2013 vor. Diese beinhalten Berichte des TÜV für die Taxen der Antragstellerin im Zeitraum 2009 bis 2012 und eine Verprobung der Gesamtlaufleistung anhand einer Stichprobe für den Zeitraum September bis November 2012.

37Es treffe es nicht zu, wenn der Antragsgegner behaupte, die Schichtzettel seien von der Antragsgegnerin nicht aufbewahrt worden. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (Hinweis auf den Beschluss vom 25. Oktober 2012 X B 133/11) sei dies nicht erforderlich, wenn eine tägliche Aufzeichnung der Einnahmen in ein Kassenbuch erfolgt sei. Dies sei in den Streitjahren der Fall gewesen. Die Ausführungen des Antragstellers zu Manipulationen von Tachoständen seien zurückzuweisen. Die eingetragenen Kilometerstände in den Berichten des TÜV seien durch die Mitarbeiter des TÜV ausgewiesen worden.

38Die vom Antragsgegner für den Vergleichszeitraum 2012 gerügten Unstimmigkeiten lägen nicht vor. Der zuständige Fahrer habe eine Doppelschicht an Freitagen und Samstagen gefahren und diese auf den Schichtzetteln als eine einheitliche Schicht behandelt. Die Schichtzettel seien damit weder falsch noch manipulativ. Denn für den Taxiunternehmer sei nicht die Anzahl der Schichtzettel zur Prüfung und Kontrolle der Taxifahrer entscheidend, sondern die lückenlose Kilometer-Fahrleistung. Nur so könne er prüfen, ob die Taxifahrer selbst alle Fahrten erfasst hätten. Die Taxifahrer füllten die Schichtzettel zudem unterschiedlich aus. Typische Tagesschichten und Nachtschichten existierten bei der Antragstellerin nicht. Habe ein Taxifahrer ein Taxi tagsüber und in der Nacht benutzt, fülle er oft nur einen einzelnen Schichtzettel aus. Hierzu legt die Antragstellerin zur Glaubhaftmachung die Anlagen 24-30 mit ihrem Schriftsatz vom 15. Mai 2013 vor (Blatt. 83 – 98 GA). Hierauf wird für die Einzelheiten Bezug genommen.

39Zudem führt sie aus, die Voraussetzungen für die Festsetzung einer Sicherheitsleistung seien nicht gegeben. Die Schätzungen seien mit Ermittlungsergebnissen begründet worden, ohne die diesen Ergebnissen zu Grunde liegenden Daten nachprüfbar im Bericht offen zu legen. Es seien vergleichsweise Verhältnisse späterer Jahre auf die Streitjahre übertragen worden. Es sei ein Durchschnittstarif bei der Schätzung zu Grunde gelegt worden, dessen Ermittlung nicht erkennbar sei. Es seien gefahrene Kilometer geschätzt worden, obwohl die tatsächlichen Kilometerleistungen ohne erheblichen Aufwand hätten ermittelt werden können. Leerfahrten seien nicht nachprüfbar berücksichtigt worden. Der Kraftstoffverbrauch sei geschätzt worden, obwohl die Ermittlung des tatsächlichen Verbrauchs ohne Aufwand möglich gewesen sei. Zudem sei Anordnung einer Sicherheitsleistung auch mit den Anforderungen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts an das Merkmal der unbilligen Härte nicht vereinbar. Die Anforderung einer Sicherheitsleistung dürfe nicht erfolgen, wenn sie mit Rücksicht auf die wirtschaftlichen Verhältnisse des Antragstellers eine unbillige Härte für ihn bedeuten würde, weil der Steuerpflichtige im Rahmen zumutbarer Anstrengungen nicht in der Lage sei, die Sicherheit zu leisten. Dies sei im Streitfall gegeben.

40Es ergingen zur Berichtigung des zu niedrig angesetzten Kraftstoffverbrauchs während des anhängigen finanzgerichtlichen Aussetzungsverfahrens geänderte Gewinnfeststellungsbescheide für 2009 und 2010 vom 7. März 2013 und unter dem 18. März 2013 ein geänderter Umsatzsteuerbescheide für 2009 sowie geänderte Gewerbesteuermessbescheide für 2009 und 2010. Diese wurden gemäß § 68 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zum Gegenstand des Verfahrens.

41Die festgestellten Einkünfte und die festgesetzte Umsatzsteuer der Streitjahre betragen nach diesen Bescheiden:

42

Gewinn in € Netto-Umsätze zu 7 % in €
2009 49.886 247.500 €

Umsatzsteuer :/. 326,25 €

2010 40.362 270.000 €

Umsatzsteuer 5.186,94 €

43Über die Einsprüche der Antragstellerin ist bislang nicht entschieden worden.

44Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,

45die geänderten Gewinnfeststellungsbescheide für 2009 und 2010, jeweils vom 7. März 2013, die geänderten Gewerbesteuermessbescheide für 2009 und 2010 den Umsatzsteuerbescheid 2009 vom 18. März 2013, den Umsatzsteuerbescheid 2010 vom 1. Oktober 2012 und den Lohnsteuer-Haftungsbescheid vom 12. September 2012 ohne Sicherheitsleistung von der Vollziehung auszusetzen.

46Der Antragsgegner beantragt,

47die Anträge abzuweisen.

48Dem von der Antragstellerin zutreffend gerügten Rechenfehler habe man im Rahmen der Änderungsbescheide während des Aussetzungsverfahrens Rechnung getragen. Es seien der Bruttoumsatz im Umsatzsteuerbescheid 2009, der Überschuss im Gewinnfeststellungsbescheid 2009 und 2010 sowie der Gewerbeertrag in den Gewerbesteuermessbescheiden 2009 und 2010 entsprechend gemindert worden.

49In der Sache halte man an den Feststellungen der Steuerfahndung uneingeschränkt fest. Die behauptete jährliche Fahrleistung der Taxen mit durchschnittlich lediglich 48.133 km sei nicht glaubhaft. Soweit der Antragsteller hierzu in Form der TÜV-Berichte zur Glaubhaftmachung Daten vorlege, seien diese zu verwerfen, da sie mit den tatsächlichen Verhältnissen nicht übereinstimmten. Nach den Ermittlungen der Steuerfahndung habe die Antragstellerin die Tachometer der Fahrzeuge manipuliert. Die Manipulationen ergäben sich aus starken Schwankungen der Kilometer. So sei für ein Fahrzeug der Antragstellerin am 1. Juli 2009 ein Kilometerstand in Höhe von 61.626 km ausgewiesen worden und am 22. September 2009 (fast drei Monate später) nur noch in Höhe von 45.589 km. Die vorgelegten Tagesbelege für die Monate September bis November 2012 hätten ergeben, dass es sich nicht um Belege aus diesem Zeitraum handeln könne. Diese Belege seien nachträglich für das Einspruchsverfahren erstellt worden. Dies werde dadurch deutlich, dass die Fahrzeuge anhand der vorgelegten Schichtzettel an bestimmten Tagen nicht im Einsatz gewesen sein sollen, anhand der Vermittlungsdaten des Taxi Ruf E jedoch sichtbar werde, dass das Fahrzeug dennoch gefahren sei (Konzessionsnummer …). Für die Einzelheiten wird auf den Schriftsatz des Antragsgegners vom 14. März 2013 und die zugehörigen Anlagen 1 bis 4 Bezug genommen.

50Der Vortrag der Antragstellerin zur Aufzeichnung der Einnahmen sei nicht zutreffend. Aus dem Bericht der Steuerfahndung gehe hervor, dass in den Streitjahren keine täglichen Aufzeichnungen geführt worden seien. Weder seien ordnungsgemäße und vollständige Schichtzettel noch aneinandergereihte Tageskassenberichte aus einem Kassenbuch vorgelegt worden. Die Gesamteinnahmen für jeden Fahrer seien in Wochenübersichten eingetragen und dem Steuerberater zu Buchung übermittelt worden. Die Fahrer hätten lediglich summenmäßige Angaben in Halbmonatsberichten und Monatsberichten gemacht. Somit seien die Angaben in der Buchführung nicht auf ihre Vollständigkeit, Richtigkeit, zeitgerechte Erfassung hin überprüfbar. Vor der Steuerfahndung hätten die Fahrer ausgesagt, sie seien verpflichtet gewesen, Schichtzettel zu führen. Da solche nicht vorgelegt worden seien, habe die Antragstellerin diese offensichtlich nicht aufbewahrt. Wenn die Antragstellerin nunmehr Schichtzettel für das nicht streitbefangene Jahr 2012 vorlege, ändere dies nichts an den Verhältnissen der Streitjahre.

51Der Senat hat mit Beschluss vom 26. August 2013 das Verfahren wegen Umsatzsteuer 2011 abgetrennt und mit dem Verfahren 3 V 1100/13 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden.

52II.

531. Der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ist unzulässig, soweit die Aussetzung des Lohnsteuerhaftungsbescheids vom 12. September 2012 begehrt wird.

54Der Antragsgegner hat eine Aussetzung der Vollziehung des Lohnsteuerhaftungsbescheids bislang nicht –wie gemäß § 69 Abs. 4 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) erforderlich– weder ganz oder zum Teil abgelehnt. Das Schreiben des Antragsgegners vom 30. November 2011, aus dem die Antragstellerin eine Ablehnung ihres gestellten Antrags auf Aussetzung der Vollziehung herauslesen will, enthält ausdrücklich die Aussage, dass über die Ablehnung der Vollziehung bislang nicht entschieden werden könne. Denn die Antragstellerin habe ihren Antrag, in welcher Hinsicht die Haftungsgrundlagen angefochten werden sollten, nicht hinreichend konkretisiert. Zudem ist nicht ersichtlich, dass einer der Ausnahmetatbestände des § 69 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 oder 2 FGO im Streitfall zur Anwendung kommen kann. Denn weder ist für den Senat ersichtlich, ob der Antragsgegner über einen begründeten Antrag der Antragstellerin auf Aussetzung der Vollziehung bislang ohne hinreichenden Grund nicht entschieden hat, noch ist dargelegt worden, dass die Vollstreckung droht.

552. Soweit die Aussetzung der Vollziehung der geänderten Gewerbesteuermessbescheide für die Streitjahre 2009 und 2010 neben der Aussetzung der geänderten Gewinnfeststellungsbescheide 2009 und 2010 begehrt wird, steht dem nicht entgegen, dass ein Rechtsschutzinteresse für die Aussetzung der Vollziehung von der Rechtsprechung verneint wird, wenn die Aussetzung eines Folgebescheides begehrt wird, obwohl ein Grundlagenbescheid bereits ergangen ist und deshalb mit Rücksicht auf die gemäß § 69 Abs. 2 Satz 4 FGO vorzunehmende Folgeaussetzung nur die Aussetzung des Grundlagenbescheides beantragt werden kann. Denn der Gewerbesteuermessbescheid ist trotz der Regelung in § 35b des Gewerbesteuergesetzes neben einem angefochtenen einheitlichen und gesonderten Gewinnfeststellungsbescheid selbstständig aussetzungsfähig (BFH-Urteil vom 21. Dezember 1993 VIII B 107/93, BStBl. II 1994, 300).

563. Der Aussetzungsantrag ist, soweit er zulässig ist, teilweise begründet.

57a) Nach § 69 Abs. 3 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) kann das Gericht der Hauptsache die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsaktes ganz oder teilweise aussetzen. Die Aussetzung soll erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes bestehen (§ 69 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 Alternative 1 FGO). Ernstliche Zweifel in diesem Sinn sind anzunehmen, wenn bei überschlägiger Prüfung des angefochtenen Verwaltungsaktes im Aussetzungsverfahren neben den für die Rechtmäßigkeit sprechenden Gründen gewichtige, gegen sie sprechende Umstände zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung der entscheidungserheblichen Rechtsfragen bewirken oder Unklarheiten in der Beurteilung der Tatfragen aufwerfen (ständige Rechtsprechung, vgl. Beschluss des Bundesfinanzhofs –BFH– vom 10. Februar 1967 III B 9/66, BFHE 87, 447, BStBl III 1967, 182, seitdem ständige Rechtsprechung; Gräber/Stapperfend, Finanzgerichtsordnung, 7. Auflage, § 69 Rz. 86 ff, m.w.N.).

58b) Für die Entscheidung über den Aussetzungsantrag brauchen die Tat- und Rechtsfragen nicht abschließend geprüft zu werden, denn das summarische Verfahren ist abgekürzt und vereinfacht. Wegen der Eilbedürftigkeit des Aussetzungsverfahrens findet eine Beschränkung auf die dem Gericht vorliegenden Unterlagen, insbesondere auf die Akten der Finanzbehörde und auf präsente Beweismittel statt; weiter gehende Sachverhaltsermittlungen des Gerichts sind nicht geboten (BFH-Beschluss vom 21.07.1994 IX B 78/94, BFH/NV 1995, 116).

59c) Auf dieser Grundlage hat der erkennende Senat keine ernstlichen Zweifel daran, dass der Antragsgegner zur Schätzung der Besteuerungsgrundlagen gemäß § 162 Abs. 1 und 2 AO hinsichtlich der Einkünfte, Gewerbesteuermessbeträge und Umsätze der Antragstellerin für die Streitjahre berechtigt war. Die Antragstellerin hat in den Streitjahren entweder bereits keine den Anforderungen genügenden Schichtzettel geführt oder sie hat jedenfalls solche Aufzeichnungen nicht aufbewahrt. Verstößt der Betreiber eines Taxiunternehmens gegen die genannten Pflichten, indem er Schichtzettel gar nicht erst führt oder aber die ursprünglich geführten Zettel nicht aufbewahrt, so berechtigt dies die Finanzbehörde zu einer Schätzung gemäß § 162 Abs. 1 und 2 AO (vgl. BFH-Urteil vom 16.02.2004 – XI R 25/02, BStBl. II 2004, 599, mit weiteren Nachweisen unter II.1.e).

60aa) Durch die Rechtsprechung ist geklärt, dass Betriebseinnahmen einzeln aufgezeichnet werden müssen und dass dies dem Grundsatz nach auch für Bareinnahmen gilt (vgl. BFH-Urteil vom 26.02.2004 – XI R 25/02, BStBl. II 2004, 599). Der Umstand der sofortigen Bezahlung einer Leistung rechtfertigt nicht, die jeweiligen Geschäftsvorfälle nicht auch einzeln aufzuzeichnen. Zwar sind bestimmte Berufsgruppen (wie z. B. Einzelhändler) aus Gründen der Zumutbarkeit und Praktikabilität von der Pflicht zur Einzelaufzeichnung entbunden, doch gilt dies nicht für die Betreiber von Taxiunternehmen (so ausdrücklich der BFH in seinem Urteil in BStBl. II 2004, 599). Diese sind vielmehr verpflichtet, für die Erstellung sog. Schichtzettel zu sorgen und diese aufzubewahren (BFH-Urteil in BStBl. II 2004, 599). Aus den Schichtzetteln müssen sich die jeweiligen Fahrer, die Daten einer Schicht, Schichtbeginn und -ende, „Total- und Besetztkilometer“, die gefahrenen Touren, die Fahrpreise, die Tachostände, die Fahrten ohne Uhr, die Gesamteinnahmen, die Lohnabzüge und sonstigen Abzüge, die verbleibenden Resteinnahme und die an den Unternehmer abgelieferten Beträge ergeben (ständige Rechtsprechung, vgl. BFH-Urteil vom 26.02.2004, a.a.O.; BFH-Beschlüsse vom 07.02.2007 – V B 161-162/05, BFH/NV 2007, 1208; vom 28.11.2012 – X B 74/11, BFH/NV 2013, 766; Urteile des FG Düsseldorf vom 28.03.2008 – 11 V 110/08 A und vom 01.04.2008 – 14 V 4646/07 A, beide in juris). Solche Schichtzettel sind Einnahmeursprungsaufzeichnungen; sie enthalten Angaben, aus denen sich die Höhe der Umsätze und der Betriebseinnahmen unmittelbar ergibt. Die Pflicht zur Einzelaufzeichnung und Aufbewahrung der entsprechenden Schichtzettel ergibt sich für Unternehmen im umsatzsteuerrechtlichen Sinne –wie die Antragstellerin—nach dem Urteil des BFH in BStBl. II 2004, 599 aus § 22 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) i. V .m. §§ 63 bis 68 der Umsatzsteuer-Durchführungsverordnung (UStDV).

61Nach den Feststellungen der Steuerfahndungsprüfung steht für den Senat bei summarischer Betrachtung jedoch fest, dass die Antragstellerin Schichtzettel nach den Vorgaben der Rechtsprechung entweder schon gar nicht geführt, jedenfalls aber solche Zettel nicht aufbewahrt wurden. Im vorliegenden Verfahren hat die Antragstellerin ausschließlich Schichtzettel der Fahrer aus dem Jahr 2012 vorgelegt, das nicht streitbefangen ist. Den Feststellungen der Steuerfahndungsprüfung, die Einnahmen und Bruttoumsätze seien nur summenmäßig aus Halbmonatsberichten und Monatsberichten der Fahrer ermittelt worden, ist die Antragstellerin nicht substantiiert entgegengetreten. Sie hat insbesondere auch nicht nachträglich zur Glaubhaftmachung Schichtzettel aus den Streitjahren vorgelegt. Zudem hat sie im Schriftsatz vom 15. Mai 2013 vorgetragen, dass keine Schichtzettel geführt worden seien und die Einnahmen täglich in ein Kassenbuch eingetragen worden seien. Auch hieraus folgt für den Senat, dass Schichtzettel im Betrieb der Antragstellerin in den Streitjahren entweder schon nicht geführt oder aber entsprechende Aufzeichnungen nicht aufbewahrt wurden.

62bb) Soweit sich Antragstellerin im Schriftsatz vom 15. Mai 2013 erstmals auf die in der Rechtsprechung anerkannte Ausnahme beruft, dass Schichtzettel gemäß § 147 Abs. 1 und Abs. 3 AO nicht aufzubewahren sind, wenn deren Inhalt unmittelbar nach Auszählung der Tageskasse in das in Form aneinandergereihter Tageskassenberichte geführte Kassenbuch übertragen wird (BFH-Urteil vom 13. Juli 1971 VIII 1/65, BFHE 103, 34, BStBl II 1971, 729; BFH-Urteil in BStBl II 2004, 599; Beschluss des FG Hamburg vom 31.08.2011 6 V 2/11, juris), stellt dies die Schätzungsbefugnis des Antragsgegners nicht in Frage. Im BFH-Beschluss vom 25.10. 2012 X B 133/11, BFH/NV 2013, 341 wird ausgeführt, dass allein die tägliche Übertragung des Inhalts der Schichtzettel unmittelbar nach Auszählung der Tageskasse in ein solches Kassenbuch die Aufbewahrung der Schichtzettel entbehrlich mache, weil nur dann sowohl dem Aufbewahrungszweck als auch der Sicherstellung der Vollständigkeit der übertragenen Aufzeichnungen in vollem Umfang Rechnung getragen werde. Dieses erstmals im gerichtlichen Aussetzungsverfahren angebrachte Vorbringen ist aus Sicht des Senats eine pauschale Behauptung, die nicht glaubhaft gemacht wurde.

63d) Zudem ergibt sich auch aus anderen Gesichtspunkten, dass die vorgelegten Gewinnermittlungen der Antragstellerin mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit inhaltlich nicht zutreffend sind.

64Die Steuerfahndung hat Anhaltspunkte dafür ermittelt, dass jedenfalls die Laufleistung eines Taxis der Antragstellerin im Streitjahr 2009 manipuliert worden ist. Auch bei summarischer Betrachtung ist nach der Überzeugung des Senats für das Taxi mit dem Kennzeichen … (Ident-Nr. …) davon auszugehen, dass im Streitjahr 2009 dessen Tachostand manipuliert worden ist. Wie der Antragsgegner in Anlage 3 zu seinem Schriftsatz vom 14. März 2013 dargelegt hat, ergibt sich aus den bei den Werkstattbesuchen ausgelesenen Kilometerständen, dass das Fahrzeug am 1. Juli 2009 eine Laufleistung von 61.626 km hatte. In den vorgelegten Hauptuntersuchungsberichten des TÜV ist jedoch für einen späteren Zeitpunkt, den 22. September 2009, ein niedrigerer Kilometerstand (45.583 km) angegeben. Für diese negative Laufleistung hat die Antragstellerin keine plausible Erklärung angebracht. Sie hat nur darauf verwiesen, die Daten der Werkstatt seien fehlerhaft und die ausgelesenen Kilometerstände durch den TÜV zutreffend. Hierin sieht der Senat ebenfalls nur eine pauschale Schutzbehauptung.

654. Allerdings hat der Senat bei summarischer Prüfung ernstliche rechtliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Gewinnfeststellungsbescheide, Gewerbesteuermessbescheide und Umsatzsteuerbescheide der Streitjahre. Diese beziehen sich auf die Höhe der vom Antragsgegner hinzugeschätzten Gewinne und Umsätze.

66a) Bei einer Schätzung sind alle Umstände zu berücksichtigen, die für die Schätzung von Bedeutung sind (§ 162 Abs. 1 Satz 2 AO). Die Schätzung ist ein Verfahren, Besteuerungsgrundlagen (§ 157 Abs. 2 AO) mit Hilfe von Wahrscheinlichkeitsüberlegungen zu ermitteln, wenn eine sichere Feststellung trotz des Bemühens um Aufklärung nicht möglich oder nicht zumutbar ist. Ziel der Schätzung ist der Ansatz derjenigen Besteuerungsgrundlagen, die die größtmögliche Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit für sich haben und damit der Wirklichkeit am nächsten kommen dürften. Schätzergebnisse müssen daher insgesamt schlüssig, wirtschaftlich möglich und vernünftig sein. Sie dürfen nicht den Denkgesetzen und allgemeinen Erfahrungssätzen widersprechen. Das Schätzungsergebnis muss somit insgesamt plausibel sein. Andererseits darf die Verletzung der Mitwirkungspflicht nicht dazu führen, dass nachlässige Steuerpflichtige gegenüber denjenigen einen Vorteil erzielen, die ihre Mitwirkungspflichten ordnungsgemäß erfüllen. Im Interesse der Gleichmäßigkeit der Besteuerung muss es ein Steuerpflichtiger, der Veranlassung zur Schätzung gibt, daher hinnehmen, dass die mit jeder Schätzung verbundenen Unsicherheiten zu seinem Nachteil ausschlagen. Es liegt im Wesen der Schätzung, dass die durch sie ermittelten Größen von den tatsächlichen Verhältnissen mehr oder minder abweichen (ständige Rechtsprechung, vgl. zum Ganzen z.B. BFH-Urteile vom 12.06.1986 V R 75/78, BStBl II 1986, 721; vom 18.12.1984 VIII R 195/82, BStBl II 1986, 226; vom 19.02.1987 – IV R 143/84, BStBl II BStBl 1984 II S. 1987, BStBl 1984 II S. 412).

67b) Der Antragsgegner hat die Besteuerungsgrundlagen der Streitjahre anhand der von ihm für vergleichbar gehaltenen Umstände des nicht streitbefangenen Jahres 2011 und unter Berücksichtigung externer Vergleichsdaten geschätzt. Die Antragstellerin weist aber zu Recht darauf hin, dass die Methodik des Antragsgegners, aus den Verhältnissen des Jahres 2011 anhand einer Stichprobe für einen abgekürzten Zeitraum auf die Laufleistung für alle Taxen des Antragsgegners für die Streitjahre zu schließen und bei der Schätzung auf eine interne Datensammlung der Finanzverwaltung zurückzugreifen, bei summarischer Prüfung rechtlichen Bedenken begegnet. Ernstliche rechtliche Zweifel an der Schätzung des Antragsgegners werden für den Senat aufgeworfen, weil in dem gerichtsbekannten Gutachten über die Funktionsfähigkeit des Taxigewerbes in der Stadt E der Firma B und A aus dem Dezember 2009 andere Kennzahlen als nach der internen Datensammlung der Finanzverwaltung ermittelt worden sind.

68Nach den Erkenntnissen des Taxigutachtens der Firma B & A für die Stadt E aus dem Dezember 2009, die für die Zeiträume 2005 bis 2007 ermittelt worden sind, ist bei Betrieben, mit zwei oder drei Taxen im Einsatz von einer Jahresfahrleistung jedes Fahrzeugs in Höhe von 56.833 km (Textziffer 3.7 auf Seite 68 des Gutachtens) und einem Nettoumsatz bei dieser Betriebsgröße je Kilometer von 0,88 € = 0,94 € brutto auszugehen (Tz. 4.1 auf S. 75). Zudem liegen für Betriebe von der Größe der Antragstellerin nach dem Gutachten die Überschüsse (Gewinne) je Taxi im Jahr 2007 bei 10.381 € pro Fahrzeug (Tz. 4.3 auf Seite 83). Die Klägerin hat ausweislich des in der Vertragsakte abgelegten Kaufvertrags die Konzessionen und Fahrzeuge des Betriebs erst im Laufe des Januar 2009 erworben. Im Streitjahr 2009 (ausgehend von einer Tätigkeit in den Monaten Februar bis Ende Dezember) ergäbe dies einen festzustellenden Gewinn in Höhe von  3 * 10.381 € = 31.143 * 11/12 = 28.548 €. Für das Streitjahr 2010, in dem die Antragstellerin ihren Betrieb das ganze Jahr über betrieben hat, betragen die festzustellenden Einkünfte auf Basis des Gutachtens 31.143 €. Die bislang festgestellten Beträge in den nunmehr streitbefangenen Gewinnfeststellungsbescheiden 2009 und 2010, jeweils vom 7. März 2013, liegen hingegen bei 49.886 € (2009) und 40.362 € (2010). Daran anknüpfend wurden auch die Gewerbesteuermessbescheide geändert.

69In der Rechtsprechung ist das für L erstellte Gutachten der Firma B & A als taugliche Schätzungsgrundlage anerkannt worden (Urteil des FG Hamburg vom 7. September 2010 3 K 13/09, EFG 2010, 2057). Dem schließt sich der Senat bei der hier gebotenen summarischen Prüfung für die Stadt E an. Somit ist offen, ob sich der Senat in einem Hauptsacheverfahren aufgrund des für 2011 ermittelten „tatsächlichen Gesamtbilds“ durch die Steuerfahndung den Annahmen des Antragsgegners für die Streitjahre (insbesondere den Jahresfahrleistungen für alle Taxen) im jetzigen Umfang anschließen könnte.

70c) Die Besteuerungsgrundlagen der Streitjahre werden daher durch den Senat für Zwecke der Aussetzung der Vollziehung gemäß § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 FGO selbst geschätzt.

71aa) Der Senat greift bei seiner Schätzung weder auf die pro Fahrzeug angesetzte Laufleistung des Antragsgegners (90.000 km je Taxi) noch auf die von der Antragstellerin selbst berechnete Laufleistung der Taxen in den Streitjahren in Höhe von 48.133 km je Taxi zurück. Letztere ist von der Antragstellerin nicht anhand der vorgelegten TÜV-Unterlagen glaubhaft gemacht werden. Denn es spricht nach Auffassung des erkennenden Senats –wie oben dargelegt– bei summarischer Betrachtung mehr dagegen als dafür, dass die in den TÜV-Unterlagen genannten Laufleistungen zutreffend sind. Vielmehr orientiert sich der Senat für die im vorliegenden summarischen Verfahren gebotene Schätzung an den Erkenntnissen des Taxigutachtens der Firma B & A für die Stadt E aus dem Dezember 2009. Ausgehend von den Werten für 2007 ist bei Betrieben mit zwei oder drei Taxen im Einsatz –wie schon dargelegt– von einer Jahresfahrleistung jedes Fahrzeugs in Höhe von 56.833 km (Textziffer 3.7 auf Seite 68 des Gutachtens) und einem Nettoumsatz bei dieser Betriebsgröße je Kilometer von 0,88 € auszugehen (Tz. 4.1 auf S. 75). Die Antragstellerin hat selbst in einer Vergleichsberechnung nach den Verhältnissen des Jahres 2012 Kilometerleistungen von mehr als 60.000 km je Taxi ermittelt und auch in den Streitjahren für möglich gehalten. Demnach schätzt der Senat die jährliche Laufleistung der Taxen der Antragstellerin für Zwecke der Aussetzung der Vollziehung in Höhe von 60.000 km je Taxi.

72bb) Zudem orientiert sich der Senat weiter an dem Gutachten B & A für die Höhe des Nettoumsatzes je Kilometer (0,88 €), der sowohl Leerfahrten einbezieht als auch einen Mittelwert für Taxen darstellt, die sowohl im Stadtverkehr als auch am Flughafen eingesetzt werden. Den Ausführungen der Antragstellerin lässt sich nicht entnehmen, dass die Taxen in den Streitjahren überwiegend am Flughafen oder überwiegend in der Stadt (ohne Flughafenfahrten) eingesetzt worden sein sollen und deshalb die niedrigeren oder höheren Kennzahlen des Taxigutachtens heranzuziehen wären.

73cc) Für Zwecke der Umsatzsteuer ist bei Netto-Umsätzen zum Steuersatz von 7% und einem Nettoumsatz je Kilometer in Höhe von 0,88 € von einer festzusetzenden Umsatzsteuer in der folgenden Höhe auszugehen:

74

2009 2010
Jahresfahrleistung bei drei Taxen 60.000 km * 3 Taxen * 11 Monate = 165.000 km 60.000 km * 3 Taxen = 180.000 km
Nettoumsatz (7%) 165.000 km * 0,88 € =145.200 € 180.000 km * 0,88 €

= 158.400 €

Umsatzsteuer auf Umsätze zu 7% laut FG 10.150,00 € 11.088,00 €
Umsatzsteuer zu 19% laut USt-Erklärung 832,01 € 1.379,21 €
Vorsteuer ./. 17.651,25 €

(laut Bescheid vom 18.3. 2013)

./. 13.713,06 €

(laut Bescheid vom 1.10. 2012)

Umsatzsteuer ./. 6.669,24 € ./. 1.245,85 €

75Soweit ersichtlich, ist eine Anpassung der in den nunmehr angefochtenen Umsatzsteuerbescheiden angesetzten Vorsteuerbeträge nicht vorzunehmen. Jedenfalls lässt sich den Ausführungen des Steuerfahndungsberichts und des Antragsgegners nicht entnehmen, dass der Antragsgegner im Rahmen seiner Schätzung auch Vorsteuerbeträge zu Gunsten der Antragstellerin hinzu geschätzt hat, die nunmehr gegenläufig zu korrigieren wären. Eine Hinzuschätzung von Vorsteuerbeträgen für einen höheren geschätzten Spritverbrauch durch den Senat kann nicht erfolgen, da die Voraussetzungen des Leistungsbezugs und das Vorhandensein weiterer Eingangsrechnungen nicht glaubhaft gemacht wurden.

76dd) Für die Schätzung des Gewinns der Antragstellerin geht der Senat wie der Antragsgegner von einem Dieselverbrauch von 8.5 Litern je 100 km und den vom Antragsgegner herangezogenen Preisen aus. Das Vorbringen der Antragstellerin, der Verbrauch sei „höher“, ist auch im summarischen Verfahren zu pauschal.

77Bislang hat die Antragstellerin auf Grundlage ihrer EÜR für 2009 Betriebsausgaben bei einer Laufleistung von 133.405,58 € / 0,88 € je km = 151.597 km in Höhe von 33.256,11 € (inklusive Spritverbrauch) angesetzt. Für die nunmehr geschätzten Mehrkilometer in Höhe von 165.000 km ./. 151.597 km = 13.403 km sind somit weitere Betriebsausgaben für Dieselkraftstoff in Höhe von 13.403/100 * 8,5* 1,10 € = 1.253,18 € zu berücksichtigen.

78Für 2010 hat die Antragstellerin ihre Betriebseinnahmen auf Grundlage einer Laufleistung von 155.003,57 € / 0,88 € je km = 176.140 km ermittelt. Für Zwecke der Schätzung sind Mehrkilometer in Höhe von 180.000 km ./. 176.140 km = 3.860 km zu berücksichtigen, für die sich ein Spritverbrauch in Höhe von (3.680 / 100 * 8,5 * 1,20) = 394 € ergibt.

79Zudem geht der Senat aufgrund der Mitteilung des Arbeitsgerichts E an die Steuerfahndung gemäß § 116 AO davon aus, dass 45% der Bruttoumsätze als Gehalt an die Fahrer geflossen sind. Dies führt zu folgender Schätzung der Einkünfte der Antragstellerin:

80

2009 2010
Jahresfahrleistung bei drei Taxen 60.000 km * 3 Taxen * 11 Monate = 165.000 km 60.000 km * 3 Taxen = 180.000 km
Nettoumsatz (7%) laut FG 165.000 km * 0,88 € =145.200,00 € 180.000 km * 0,88 €

= 158.400 €

Vereinnahmte Umsatzsteuer auf Fahrten laut FG 10.150,00 € 11.088,00 €
Zwischensumme 1 156.182,01 € 170.867,21 €
Umsatzsteuer auf unentgeltliche Wertabgaben laut USt-Erklärung 832,01 € 1.379,21 €
Umsatzsteuerfreie Betriebseinnahmen laut EÜR 3.774,65 € 11.621,90 €
Erstattete Umsatzsteuer 6.716,77 € 4.450,87 €
Veräußerung und Entnahme von Anlagevermögen laut EÜR 2.500,00 € 5.462,18 €
Zwischensumme 2 Betriebseinnahmen laut FG 170.005,44 € 192.402,16 €
Personalkosten laut FG (45% der Zwischensumme 1) ./. 70.281,90 € ./. 76.890,24 €
AfA ./. 28.415,20 € ./. 28.591,00 €
Bisherige Kraftfahrzeugkosten ./. 33.256,11 € ./. 40.909,00 €
Weiterer Spritverbrauch laut FG ./. 1.253,18 € ./. 394,00 €
Schuldzinsen laut EÜR ./. 455,00 € In sonstigen BA enthalten
Sonstige Betriebsausgaben laut EÜR ./. 32.035,77 € Laut EÜR mit Bewirtung aber mit gezahlter Vorsteuer laut Bescheid v. 1.10.12

./. 34.440,69 €

Auflösung Sammelposten ./. 117,39 €
Zwischensumme Betriebsausgaben laut FG 165.697,16 € 181.342,32 €
Gewinn laut FG 4.308,28 € 11.059,84 €

81ee) Für die Gewerbesteuermessbeträge 2009 und 2010 führt dies zur Vollaussetzung, da der Freibetrag gemäß § 11 Abs. 1 GewStG die Gewerbesteuermessbeträge auf Grundlage der Schätzung des Senats übersteigt.

825. Das Gericht sieht im Streitfall auch davon ab, die Aussetzung nur gegen Sicherheitsleistung zu gewähren.

83Daraus, dass es im Verfahren über die Aussetzung der Vollziehung Sache der Beteiligten ist, die entscheidungserheblichen Tatsachen darzulegen und glaubhaft zu machen, soweit ihre Mitwirkungspflicht reicht, folgt, dass für die Anordnung einer Sicherheitsleistung der Antragsgegner die für eine Gefährdung des Steueranspruchs sprechenden Gesichtspunkte vortragen muss (vgl. BFH-Beschluss vom 29.06.1977 VIII S 15/76, BFHE 122, 516, BStBl II 1977, 726) und die Antragstellerin ggf. Umstände, die ein (dargelegtes) Sicherungsbedürfnis der Behörde entfallen oder unangemessen erscheinen lassen (vgl. BFH-Beschlüsse vom 31.01.1997 X S 11/96, BFH/NV 1997, 512, und vom 23.08.2000 VII B 145, 146/00, BFH/NV 2001, 75; vom 20.03.2002 IX S 27/00, BFH/NV 2002, 809). Hieran fehlt es.

84Von einer Anordnung der Sicherheitsleistung war abzusehen, weil der Antragsgegner eine solche Gefährdung des Steueranspruchs nicht schlüssig dargelegt hat. Da sich auch aus dem sonstigen Vorbringen der Beteiligten keine Anhaltspunkte für eine derzeitige schlechte wirtschaftliche Situation der Antragstellerin ergeben, war die Aussetzung der Vollziehung nicht von der Anordnung einer Sicherheitsleistung abhängig zu machen.

856. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 135 Abs. 1, 136 FGO. Der Senat hat aufgrund der Abhilfe durch den Beklagten die Kosten nach Verfahrensabschnitten aufgeteilt. In dieser Aufteilung der Kosten nach Verfahrensabschnitten liegt kein Verstoß gegen das Gebot, eine einheitliche Kostenentscheidung zu treffen (vgl. Ratschow in Gräber, FGO, 7. Auflage, § 135 Tz. 5). Die Beschwerde war nicht zuzulassen.

Einkommensteuer: Erhöhte Kosten für Führerscheinerwerb sowie Fahrzeugumbau sind grundsätzlich keine außergewöhnlichen Belastungen

Finanzgericht Köln, 10 K 3945/12

Datum:
12.09.2013
Gericht:
Finanzgericht Köln
Spruchkörper:
10. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
10 K 3945/12
Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens tragen die Kläger.

1Tatbestand

2Die Beteiligten streiten über die Frage der Berücksichtigung von Mehrkosten im Zusammenhang mit dem Führerscheinerwerb und einem Fahrzeugumbau als außergewöhnliche Belastungen.

3Die Kläger wurden im Streitjahr zusammen zur Einkommensteuer veranlagt.

4Ihr 1991 geborener Sohn erlitt 13 Monate nach der Geburt einen Schlaganfall und ist seitdem motorisch halbseitig rechts gelähmt. Anerkannt ist ein Grad der Behinderung von 60 % ohne besondere Merkmale. Zum Führen eines Fahrzeuges wurden laut ärztlichem Gutachten sowie TÜV – Gutachten diverse Umbaumaßnahmen für notwendig erklärt (Automatikgetriebe, Umbau Pedalsatz etc.).

5Nach den Ausführungen des Klägers musste der Sohn eine behindertengerechte Fahrschule besuchen. Eine reguläre Fahrschule hätte sich am Wohnort befunden und wäre zu Fuß zu erreichen gewesen.

6Im Zusammenhang mit dem Umbau eines Fahrzeugs sowie dem zusätzlichen Aufwand für eine spezielle Fahrschule seien insgesamt Kosten i.H.v. 5.401,12 € (Aufschlüsselung Bl. 9 GA) entstanden.

7Entsprechende Kosten berücksichtigte der Beklagte in der Einkommensteuerveranlagung vom 8. August 2012 nicht.

8Die Kläger vertraten anschließend im Einspruchsverfahren die Auffassung, diese Kosten seien „steuerlich absetzbar“, da sie „relativ ländlich“ wohnten.

9Der Beklagte wies den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 26.11.2012 als unbegründet zurück. Zur Begründung wies der Beklagte darauf hin, dass Aufwendungen für den Erwerb einer Fahrerlaubnis nur bei schwerbehinderten Personen, die geh- und stehbehindert seien, berücksichtigt werden könnten. Entsprechendes gelte auch für die Kosten für einen behindertengerechten Umbau eines Fahrzeugs. Eine entsprechende Behinderung, nachgewiesen durch das Merkmal “aG“, „Bl“ oder „H“, sei bei dem Sohn der Kläger nicht gegeben.

10Hiergegen wenden sich die Kläger mit ihrer Klage vom 27.12.2012.

11Zur Begründung tragen sie vor, dass Sie nicht die gesamten Fahrausbildungskosten steuerlich berücksichtigt wissen wollen, sondern nur die Mehraufwendungen im Vergleich zu einer regulären Fahrschule. Sowohl die Aufwendungen für die Fahrschule als auch der Umbau des Fahrzeuges seien außergewöhnliche Mehrkosten, die anderen Personen desselben Alters üblicherweise nicht entstehen. Die Aufwendungen seien notwendig gewesen, um dem Sohn die gleiche Mobilität wie seinen Altersgenossen zu verschaffen. Ein Verweis auf die Nutzung auf Ihr Verkehrsmittel sei nicht zielführend, zumal im ländlichen Bereich von W ein Pkw nicht ersetzbar sei.

12Die Kläger beantragen,

13den angefochtenen Steuerbescheid vom 08.08. 2012 in Gestalt der Einspruchsentscheidung dahingehend abzuändern, dass weitere 5401,12 € als außergewöhnliche Belastung steuermindernd berücksichtigt werden.

14Der Beklagte beantragt,

15die Klage abzuweisen.

16Er wiederholt zur Begründung die Ausführungen aus der Einspruchsentscheidung.

17Der Sohn könne trotz seiner Behinderung auf öffentliche Verkehrsmittel ausweichen und frei über die Benutzung eines Kfz entscheiden.

18Entscheidungsgründe

191. Die Klage ist unbegründet.

20Der angefochtene Verwaltungsakt ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten, vergleiche § 100 Abs. 1 FGO.

21a. Die geltend gemachten Kosten für die Fahrausbildung sowie den Umbau des Fahrzeuges sind nicht steuermindernd als außergewöhnliche Belastungen zu berücksichtigen.

22b. Nach § 33 Abs. 1 EStG wird auf Antrag die Einkommensteuer eines Steuerpflichtigen ermäßigt, wenn ihm zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse und gleichen Familienstandes entstehen. Nach Abs. 2 entstehen Aufwendungen dann zwangsläufig, wenn der Steuerpflichtige sich ihnen aus rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann und soweit die Aufwendungen den Umständen nach notwendig sind und einen angemessenen Betrag nicht übersteigen. Die Aufwendungen müssen dem Grunde nach zwangsläufig sein (Loschelder in Schmidt, § 33 EStG, Rz. 16).

23Nach einer Entscheidung des BFH vom 26.03.1993 (III R 9/92, BFHE 171, 428; BStBl II 1993, 749) sind die Kosten für den Erwerb einer Fahrerlaubnis bei einer auf Behindertenausbildung spezialisierten Fahrschule dann als außergewöhnliche Belastungen steuermindernd abzugsfähig, wenn eine Person so geh- und stehbehindert ist, dass sie sich außerhalb des Hauses nur mithilfe eines Fahrzeugs fortbewegen kann. Auslösendes Moment für die Entstehung dieser Kosten sei die Gehbehinderung. Stark gehbehinderte Personen gehörten zu einer kleinen Gruppe von Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung nicht frei über die Benutzung eines Kfz entscheiden deshalb nicht auf öffentliche Verkehrsmittel ausweichen könnten. Aus diesem Grund seien diese Personen auf eine Fahrerlaubnis zum Führen eines Fahrzeugs dringend angewiesen und anders als der überwiegende Teil der Führerscheinerwerber gerade nicht frei in ihren Entschluss, die entsprechende Fahrprüfung abzulegen.

24c. In Anwendung dieser Grundsätze hat die Klage keinen Erfolg.

25Die Kläger haben nicht dargetan, dass ihr Sohn aufgrund seiner Körperbehinderung zwangsläufig auf ein Fahrzeug zur Fortbewegung angewiesen sei. Zwar hat – und dies verkennt der Senat nicht – der Sohn unzweifelhaft mit körperlichen Einschränkungen zu leben. Sowohl der festgestellte Grad der Behinderung als auch der Sachvortrag der Kläger belegen allerdings nicht, dass sich der Sohn nicht auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln fortbewegen könnte. Dabei ist nicht erheblich, ob am Wohnort der Kläger ein solcher öffentlicher Nahverkehr in nennenswertem Umfang angeboten wird. Für die Beurteilung kommt es vielmehr auf die Fähigkeit der Nutzung an. Daran gemessen, unterscheidet sich die Situation des Sohnes des Klägers nicht wesentlich von der anderer Personen in seinem Alter, welche aus nachvollziehbaren Gründen einer Fahrerlaubnis erwerben wollen. Der Entschluss, eine Fahrerlaubnis erwerben zu wollen ist in Anwendung der Grundsätze des BFH daher als ein freiwilliger Entschluss zu bewerten. Mithin sind die Kosten, die infolge des Erwerbes der Fahrerlaubnis sowie damit einhergehend auch die Kosten für den Umbau des Fahrzeuges Aufwendungen, die auf einem freiwilligen Entschluss beruhen und damit nicht zwangsläufig im Sinne des § 33 EStG sind.

26Eine Berücksichtigung der Kosten als außergewöhnliche Belastung scheidet damit aus.

272. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.

Einkommensteuer: Keine ermäßigte Besteuerung für Abfindung bei niedrigeren Einkünften

Finanzgericht Köln, 6 K 1129/11

Datum:
11.04.2013
Gericht:
Finanzgericht Köln
Spruchkörper:
6. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
6 K 1129/11
Nachinstanz:
Bundesfinanzhof, IX R 33/13
Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

1Tatbestand2Streitig ist die steuerliche Behandlung einer vom Kläger erzielten Abfindung.

3Der Kläger war bis zum 31.01.2009 als Angestellter nichtselbstständig tätig. Er erhielt für diesen Monat ein Gehalt i.H.v. 10.787 €. Außerdem erhielt er anlässlich der Beendigung seiner Beschäftigung im Januar 2009 eine Abfindung i.H.v. 43.000 €. In den Vorjahren betrugen seine Einnahmen aus nichtselbstständiger Tätigkeit 129.687 € (in 2006), 146.247 € (in 2007) bzw. 139.834 € (in 2008). Daneben erzielte der Kläger in diesen Jahren als Rechtsanwalt Einkünfte aus selbstständiger Arbeit und zwar i.H.v. -1.935 € in 2006, 3.310 € in 2007 sowie -20.195 € in 2008.

4Ab Februar 2009 widmete sich der Kläger in vollem Umfang seiner selbstständigen Rechtsanwaltstätigkeit und erzielte hieraus im Streitjahr Einkünfte i.H.v. 5.100 €. Daneben erhielt er von der Bundesagentur für Arbeit einen steuerfreien Gründungszuschuss i.H.v. 2.094 € monatlich für die Zeit vom 01.02.2009 bis 31.10.2009 sowie i.H.v. 300 € monatlich für die Zeit vom 01.11.2009 bis 30.04.2010.

5Der Beklagte unterwarf im Rahmen des Einkommensteuerbescheides vom 21.10.2010 die gezahlte Abfindung der Regelbesteuerung.

6Hiergegen richtet sich die vorliegende, nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage, mit der der Kläger geltend macht, dass die Abfindung nach § 34 EStG ermäßigt zu besteuern sei. Hierbei vertritt er zum einen die Ansicht, dass es sich bei dem im Streitjahr vorliegenden Fall, bei dem sich der Steuerpflichtige nach Beendigung seiner nichtselbstständigen Tätigkeit selbstständig macht, um einen Sonderfall handele, der für die Anwendung des § 34 EStG keine Zusammenballung von Einkünften erfordere. Im Übrigen sei im Streitfall eine solche Zusammenballung gegeben; insoweit wird auf die zahlenmäßige Zusammenstellung im Schriftsatz des Klägers vom 14.06.2011 Bezug genommen.

7Der Kläger beantragt,

8die mit Bescheid vom 21.10.2010 festgesetzte Einkommensteuer 2009 unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 16.03.2011 auf 0 € herabzusetzen,

9hilfsweise die Revision zuzulassen.

10Der Beklagte beantragt,

11die Klage abzuweisen.

12Er vertritt die Ansicht, dass eine Entschädigung nur dann § 34 EStG unterfalle, wenn sie zusammengeballt zufließe, weil der Steuerpflichtige infolge der Beendigung des Arbeitsverhältnisses einschließlich der Entschädigung in dem jeweiligen Veranlagungszeitraum insgesamt mehr erhalte, als er bei ungestörter Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erhalten würde. Eine derartige Zusammenballung von Einkünften sei beim Kläger im Streitfall nicht gegeben.

13Entscheidungsgründe

14Die Klage ist unbegründet.

15Der Beklagte hat zu Recht die Anwendung des § 34 EStG auf die vom Kläger bezogene Abfindung abgelehnt.

16Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 EStG ist die auf außerordentliche Einkünfte entfallende Einkommensteuer nach § 34 Abs. 1 Sätze 2 bis 4 EStG (Fünftelregelung) zu berechnen. Als außerordentliche Einkünfte kommen nur die in § 34 Abs. 2 EStG aufgeführten Einkünfte in Betracht. Das bedeutet aber nicht, die – hier im Streitjahr vereinnahmte – Entschädigung (§ 24 Nr. 1 EStG) sei ohne weiteres ermäßigt zu besteuern. Vielmehr ist der Wortlaut des § 34 Abs. 2 EStG entsprechend dem Normzweck, die Auswirkungen des progressiven Tarifs abzuschwächen, auf solche Einkünfte zu beschränken, die „zusammengeballt“ zufließen. Davon ist auszugehen, wenn der Steuerpflichtige infolge der Beendigung des Arbeitsverhältnisses in dem jeweiligen Veranlagungszeitraum einschließlich der Entschädigung insgesamt mehr erhält, als er bei ungestörter Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses, also bei normalem Ablauf der Dinge erhalten hätte (ständige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs – BFH –, etwa Urteil vom 27.01.2010 IX R 31/09, BStBl II 2011, 28 mit weiteren Nachweisen). Dabei ist es für die Erfüllung des genannten Normzwecks gleichgültig, ob der Steuerpflichtige im Anschluss an die Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine selbständige oder erneut eine nichtselbständige Tätigkeit ergreift, so dass der Streitfall – entgegen der Ansicht des Klägers – keinen Sonderfall darstellt, der eine Abweichung von der angeführten Rechtsprechung des BFH erfordert.

17Die für die Prüfung einer Zusammenballung notwendige, hypothetische und prognostische Betrachtung orientiert sich grundsätzlich an den Verhältnissen des Vorjahres, die dem Veranlagungszeitraum, in dem die Entschädigung zufließt, am nächsten liegen. Eine darauf aufbauende Vergleichsberechnung gilt aber nur für den Normalfall, in dem die Verhältnisse des Vorjahres auch diejenigen des Folgejahres mit großer Wahrscheinlichkeit abbilden. Sie gilt dann nicht, wenn die Einnahmesituation des Vorjahres durch außergewöhnliche Ereignisse geprägt ist und sich daraus keine Vorhersagen für den (unterstellten) normalen Verlauf bei Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses ableiten lassen. So beanstandet es der BFH insbesondere bei variablen Gehaltskomponenten nicht, wenn im Wege einer Prognoseentscheidung (auch) auf die Vorjahre zurückgegriffen wird (BFH- Urteil vom 27.01.2010 IX R 31/09, BStBl II 2011, 28 mit weiteren Nachweisen).

18Im vorliegenden Fall ist es gleichgültig, ob für die Prognoseentscheidung lediglich das Vorjahr (2008) oder darüber hinaus auch die beiden davorliegenden Jahre (2006 und 2007) berücksichtigt werden. In allen drei genannten Jahren lag das Bruttogehalt des Klägers jeweils deutlich über 100.000 €. Es ist daher davon auszugehen, dass das Gehalt des Klägers bei ungestörter Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses auch in 2009 eine ähnliche Höhe erreicht hätte. Tatsächlich hat der Kläger aber in 2009 einschließlich der Abfindung lediglich 53.787 € erhalten, mithin weniger und nicht mehr als er bei Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erhalten hätte. Es fehlt somit an der vom BFH geforderten Zusammenballung von Einkünften.

19Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

20Die Revision wird nicht zugelassen, da die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 FGO nicht erfüllt sind.

Veräußerungskosten können nicht in vollem Umfang vom steuerpflichtigen Anteil eines Spekulationsgewinns abgezogen werden

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Bei der Ermittlung des steuerpflichtigen Anteils eines Spekulationsgewinns sind die Veräußerungskosten verhältnismäßig dem steuerbaren und dem nicht steuerbaren Teil des Veräußerungsgewinns zuzuordnen. Dies hat der 13. Senat des Finanzgerichts Köln mit Urteil  vom 06.11.2013 (13 K 121/13) entschieden. Ein Anspruch auf  Berücksichtigung der gesamten Veräußerungskosten bei dem steuerpflichtigen Teil des Veräußerungsgewinns ergibt sich nach Auffassung des Senats weder aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 07.07.2010 noch aus dem hierzu ergangenen Schreiben des Bundesfinanzministeriums vom 20.12.2010.

Eine Grundstücksgemeinschaft erzielte im März 2000 bei dem Verkauf eines 1991 erworbenen Grundstücks vor Berücksichtigung der Veräußerungskosten einen Spekulationsgewinn in Höhe von 60.000 DM. Hiervon waren nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts unstreitig nur 6.000 DM steuerbar. Das Finanzamt zog die bei der Veräußerung des Grundstücks entstandenen Kosten (Makler, Vorfälligkeitsgebühr und Grundbuch) von insgesamt  20.000 DM anteilig ab und ermittelte einen steuerpflichtigen Spekulationsgewinn in Höhe von 4.000 DM. Demgegenüber vertrat die Grundstücksgemeinschaft die Auffassung, die Veräußerungskosten seien in vollem Umfang vom steuerpflichtigen Anteil abzuziehen und machte einen Veräußerungsverlust von 14.000 DM geltend. Dieser Meinung konnte sich das Gericht nicht anschließen, weil dies im Ergebnis die Umdeutung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in eine Subventionsregel zur Folge hätte.

Der Senat hat gegen das Urteil die Revision zum Bundesfinanzhof in München wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen.

Das Bundesverfassungsgericht hatte in seinen Beschlüssen vom 07.07.2010 (2 BvL 14/02, 2 BvL 2/02 ,2 BvL 13/05) die rückwirkende Verlängerung der Spekulationsfrist des § 23 EStG bei Grundstücken auf zehn Jahre als teilweise verfassungswidrig eingestuft. Steuerpflichtige, die ein Grundstück mehr als 2 Jahre vor dem 31.03.1999 erworben und innerhalb der neuen 10-jährigen Spekulationsfrist nach diesem Datum wieder veräußert haben, müssen daher ihren Spekulationsgewinn nur insoweit versteuern, wie er nach dem 31.03.1999 entstanden ist. Die Finanzverwaltung hat die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts im Schreiben des Bundesfinanzministeriums vom 20.12.2010 (Bundessteuerblatt I 2011, 14) umgesetzt.

Pressemitteilung vom 02. Dezember 2013

 Vollständige Entscheidung 13 K 121/13

Finanzgericht Köln, 13 K 121/13

Datum:
06.11.2013
Gericht:
Finanzgericht Köln
Spruchkörper:
13. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
13 K 121/13
Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen trägt der Kläger.

Die Revision wird zugelassen.

1Tatbestand

2Die Beteiligten streiten über die Berechnung eines Veräußerungsgewinns bzw. Veräußerungsverlustes im Sinne des § 23 des Einkommensteuergesetzes – EStG – aus der Veräußerung einer Eigentumswohnung.

3Der Kläger bildete nach Lage der Akten mit der Beigeladenen bei jeweils hälftiger Beteiligung eine Grundstücksgemeinschaft hinsichtlich der Wohnung Nr. 8 im Haus A-Weg … in B. Die Grundstücksgemeinschaft hatte das Objekt am 21. Februar 1991 zum Kaufpreis von 197.000 DM zuzüglich Nebenkosten angeschafft und mit Notarvertrag vom 10. März 2000 für 270.000 DM veräußert. Nach Lage der Akten war die Wohnung von 1991 bis 2000 vermietet. Die Grundstücksgemeinschaft hat im Rahmen der Vermietungseinkünfte (§ 2 Abs. 1 Nr. 6 EStG i. V. m. § 21 EStG) in den Jahren von 1991 bis 1999 Absetzungen für Abnutzung – AfA – geltend gemacht. Dabei betrugen die AfA 3.153 DM im Jahr der Anschaffung und jeweils 3.784 DM in den Jahren 1992 bis 1999. Nachdem der Beklagte durch Übersendung des Veräußerungsvertrages und eine Veräußerungsmitteilung von dem Verkauf erfahren hatte, forderte er die Grundstücksgemeinschaft auf, eine Steuererklärung für das Veräußerungsgeschäft abzugeben. Dem trat die Grundstücksgemeinschaft entgegen. Sie vertrat unter Hinweis auf die einschlägige Rechtsprechung der Finanzgerichtsbarkeit die Auffassung, die Veräußerung sei nicht steuerpflichtig, da die mit dem Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 eingeführte (rückwirkende) Verlängerung der Veräußerungsfristen für Grundstücksverkäufe von zwei auf zehn Jahre verfassungswidrig sei.

4Der Beklagte verwies darauf, die ungeklärte Rechtslage könne zwar zu einem Ruhen gegebenenfalls einzulegender Rechtsbehelfe führen, nicht aber zu einer Unterlassung der Steuerfestsetzung. Unter dem 23. Oktober 2002 erließ er daraufhin unter Schätzung der Einkünfte auf 33.500 DM gegenüber der Grundstücksgemeinschaft den hier streitbefangenen Bescheid über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen für das Jahr 2000. Der Bescheid wurde beiden Beteiligten einzeln bekannt gegeben. Er stand nach § 164 Abs. 1 der Abgabenordnung – AO – unter dem Vorbehalt der Nachprüfung.

5Dagegen wendete(n) sich die ehemalige Grundstücksgemeinschaft bzw. deren frühere Beteiligten, vertreten durch den Prozessbevollmächtigten, mit dem Einspruch und einem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung. Das Einspruchsverfahren ruhte im Hinblick auf die, unter anderem durch Vorlagebeschluss des erkennenden Senates vom 25. Juli 2002 eingeleiteten, Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht – BVerfG -, über die das BVerfG mit Beschluss vom 7. Juli 2010 (2 BvL 14/02, 2 BvL 2/04, 2 BvL 13/05, Bundessteuerblatt – BStBl – II 2011, 76) entschieden hat. Der Kern der verfassungsrechtlichen Entscheidung war die grundsätzliche Bestätigung der Verfassungsmäßigkeit der verlängerten Spekulationsfristen in § 23 Abs. 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes – EStG – unter gleichzeitiger Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Besteuerung von Wertzuwächsen, die – bei abgelaufenen Spekulationsfristen von zwei Jahren – vor Verkündung des Gesetzes am 31. März 1999 eingetreten waren.

6Das Bundesfinanzministerium – BMF – erließ unter dem 20. Dezember 2010, BStBl I 2011, 14 parallel zur amtlichen Veröffentlichung der Entscheidung des BVerfG im BStBl II eine Anweisung, wie die betroffenen Verfahren abzuwickeln seien. Das Schreiben enthält unter anderem eine Vereinfachungsregelung zur Ermittlung der steuerpflichtigen Anteile eines eventuellen Wertzuwachses bei Grundstücksverkäufen.

7Der Beklagte nahm daraufhin im Jahr 2011 das Einspruchsverfahren wieder auf und schlug vor, den Veräußerungsgewinn nach Maßgabe der Vereinfachungsregelung durch eine lineare Verteilung des Wertzuwachses zu ermitteln. Er berechnete zunächst unter Ansatz von Anschaffungskosten in Höhe von 197.000 DM und einem Veräußerungspreis von 270.000 DM einen anteiligen steuerpflichtigen Aufgabegewinn von 7.367 DM, ohne auf zwischenzeitlich bei den Vermietungseinkünften abgezogene Abschreibungsbeträge, weitere Anschaffungskosten und die Veräußerungskosten einzugehen.

8Darauf reagierte die (ehemalige) Bruchteilsgemeinschaft erst Mitte des Jahres 2012. Unter Zugrundelegung der Vereinfachungsregelung ermittelte sie aus der Differenz zwischen den Anschaffungskosten von 210.169,74 DM (Summe des im Jahr 1991 gezahlten Kaufpreises und der Erwerbsnebenkosten) und dem Verkaufspreis von 270.000 DM einen steuerbaren Anteil von 6.037,92 DM (11/109 der Differenz).

9Von dem so ermittelten steuerbaren Anteil sollten Maklerkosten in Höhe von 9.396 DM, eine Vorfälligkeitsentschädigung von 10.578,42 DM sowie Grundbuchkosten in Höhe von 250 DM abgesetzt werden. Nach dieser Berechnung ergab sich ein negativer Wertzuwachs von 14.186,50 DM.

10Der Beklagte seinerseits ging davon aus, dass unter Berücksichtigung der vorgetragenen Anschaffungs- und Veräußerungskosten von dem Verkaufspreis von 270.000 DM die ungeminderten Anschaffungskosten von 210.169,74 DM abzuziehen seien. Der Differenzbetrag von 59.830,26 DM sei um die Veräußerungskosten i. H. v. 20.224,42 DM zu kürzen. Der so ermittelte Veräußerungsgewinn von 39.606 DM sei nach dem zwischen den Beteiligten unstreitigen Vereinfachungsschema mit 11/109 steuerbar. Daraus ergebe sich ein steuerbarer Wertzuwachs von 3.997 DM.

11In der Folgezeit setzten sich die Beteiligten nur noch über die Frage auseinander, ob die Veräußerungskosten vor oder nach Anwendung der Aufteilungsquote mit 11/109 in die Berechnung einzuführen seien.

12Der Beklagte stellte mit der Einspruchsentscheidung vom 11. Dezember 2012 den Gewinn der früheren Grundstücksgemeinschaft mit 3.997 DM fest. Das weiter gehende Begehren blieb erfolglos. Die Einspruchsentscheidung ist an den Prozessbevollmächtigten als Empfangsbevollmächtigten für den Kläger als Gesellschafter der C und C GbR adressiert. Eine gleich lautende Einspruchsentscheidung erging gegenüber der Beigeladenen.

13In der Sache hielt der Beklagte im Rahmen der Einspruchsentscheidung an seiner Auffassung fest, dass im Rahmen der Vereinfachungsregelung des BMF-Schreibens aus dem Dezember 2010 entsprechend der Kurzinformation der Oberfinanzdirektion Rheinland zur Einkommensteuer Nr. 020/2011 vom 13. Mai 2011 das BMF-Schreiben dahingehend auszulegen sei, dass die mit dem Veräußerungsgeschäft im Zusammenhang stehenden Werbungskosten zeitanteilig der steuerbaren und der nichtsteuerbaren Besitzzeit zuzuordnen seien.

14Dagegen wendet sich der Kläger mit fristgerecht erhobener Klage. In der Sache hält er an seiner im außergerichtlichen Verfahren vertretenen Rechtsauffassung fest, wonach die Veräußerungskosten ausschließlich von dem zuvor nach der Vereinfachungsregel mit 11/109 berechneten steuerbaren Teil des Veräußerungsgewinns abzuziehen seien. Zur Begründung verweist er insbesondere auf die Formulierung des BMF-Schreibens, in dem wörtlich ausgeführt ist:

15Einer anteiligen Zuordnung der nach § 23 Abs. 3 Satz 1 EStG bei der Ermittlung der Einkünfte aus Veräußerungsgeschäften abziehbaren Werbungskosten bedarf es nicht.

16Weiterhin verweist er auf in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ergangene Entscheidungen des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 5. März 2012 7-V-7/91/11, Entscheidungen der Finanzgerichte – EFG – 2012, 1462 und des Niedersächsischen Finanzgerichts vom 27. Dezember 2011 9 V 280/11, EFG 2012, 1460. In beiden Entscheidungen sei ausgeführt worden, dass z. B. Sonderabschreibungen dem Veranlagungszeitraum zuzuordnen seien, in dem sie entstanden sind. Diese Zuordnung zu bestimmten Zeiträumen müsse auch für die Veräußerungskosten gelten.

17Im Vorfeld der mündlichen Verhandlung wurden die Beteiligten auf die bis dahin unterlassene Beiladung der Ehefrau hingewiesen. Der Bevollmächtigte des Klägers hat daraufhin eine Vollmacht auch für die Ehefrau des Klägers beigebracht. Die Beiladung erfolgte absprachegemäß im Rahmen der mündlichen Verhandlung. Wegen der Einzelheiten insoweit wird auf den Beiladungsbeschluss und das Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen.

18Der Kläger beantragt,

19unter Änderung des Feststellungsbescheides in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 11. Dezember 2012 einen Veräußerungsverlust von 14.186,50 DM festzustellen,

20hilfsweise, die Revision zuzulassen.

21Der Beklagte beantragt,

22die Klage abzuweisen,

23hilfsweise, die Revision zuzulassen.

24Die Beigeladene stellt keinen Antrag.

25Der Beklagte hält an seiner Auffassung fest, dass auch die Veräußerungskosten bei Anwendung der Vereinfachungsregelung anteilig auf die nicht steuerbaren und die steuerbaren Anteile des Gewinns zu verteilen seien.

26Das Gericht hat die Beteiligten auf die Frage der Qualifikation des BMF-Schreibens als vereinfachte Schätzungsregelung oder als Vorgabe für die Gewährung von Billigkeitsmaßnahmen, über die im vorliegenden Verfahren nicht entschieden werden könnte, hingewiesen.

27Entscheidungsgründe

28Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. Der angefochtene Feststellungsbescheid ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung – FGO -).

29Zwischen allen Beteiligten des vorliegenden Rechtsstreites besteht Einvernehmen, das die Einspruchsentscheidungen so auszulegen sind, dass sie sich gegen den Kläger und die Beigeladene als frühere Beteiligte der zwischenzeitlich aufgelösten Grundstücksgemeinschaft richten. Entsprechend ist die Klageschrift auszulegen.

30Der Kläger konnte zulässig die vorliegende Klage erheben. Er ist gemäß § 48 Abs. 1 Nr. 2 FGO klagebefugt. Die Klagebefugnis beruht darauf, dass Personen im Sinne des § 48 Abs. 1 Nr. 1 FGO im Zeitpunkt der Klageerhebung nicht vorhanden waren.

31Nach der gesetzlichen Grundregel in § 48 Abs. 1 Nr. 1 FGO können Klagen gegen einheitliche und gesonderte Feststellungen von Besteuerungsgrundlagen regelmäßig nur zur Vertretung berufene Geschäftsführer oder, wenn solche nicht vorhanden sind, Klagebevollmächtigte im Sinne des § 48 Abs. 2 FGO erheben. In Fällen, in denen wie hier einheitliche und gesonderte Feststellungen von Einkünften im Rahmen einer Bruchteilsgemeinschaft im Streit stehen, ergibt sich aber dadurch eine Besonderheit, dass Bruchteilsgemeinschaften keine kraft Gesetzes zur Vertretung berufenen Geschäftsführer im Sinne des § 48 Abs. 1 Nr. 1 FGO haben (vgl. BFH-Urteil vom 27. November 2008 IV R 16/06, Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs – BFH/NV – 2009, 783 m.w.N.; Steinhauff in Hübschmann/ Hepp/ Spitaler, AO/FGO, § 48 FGO Rdnr. 201). Anhaltspunkte für eine rechtsgeschäftliche Vertretungsmacht des Klägers für die vor Klageerhebung durch Veräußerung des einzigen Objektes aufgelöste Grundstücksgemeinschaft bestehen ebenfalls nicht.

32Die notwendige einheitliche Entscheidung (vgl. § 179 Abs. 2 Satz 2 AO) ist durch die Beiladung der zweiten Beteiligten der Grundstücksgemeinschaft gemäß § 60 Abs. 3 FGO (vgl. zur Notwendigkeit z. B. BFH-Beschluss vom 11. Februar 2002 IX B 146/01, BFH/NV 2002, 796) und den allseitigen Rechtsmittelverzicht gegen den Beiladungsbeschluss sichergestellt (vgl. zur Möglichkeit des Rechtsmittelverzichts Bergkemper in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 129 FGO Rdnr. 16 und Lange im gleichen Kommentar, Vor §§ 115 bis 134 FGO Rdnr. 37 m. w. N.).

33Die Klage ist aber unbegründet. Der Beklagte ist zu Recht von einem steuerpflichtigen Veräußerungsgeschäft im Sinne des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG ausgegangen (1.) und hat den Veräußerungsgewinn auf der Basis der zwischen den Beteiligten rechnerisch unstreitigen Einzelpositionen zutreffend berechnet (2.).

341. Es besteht zwischen den Beteiligten des vorliegenden Rechtsstreites Einvernehmen, dass die Veräußerung der streitbefangenen Wohnung ein steuerpflichtiges privates Veräußerungsgeschäft im Sinne des § 23 Abs. 1 Nr. 1 EStG in der im Jahr 2000 geltenden Fassung darstellt. Zwischen der Anschaffung im Jahr 1991 und der Veräußerung im Jahr 2000 liegen weniger als zehn Jahre. Die veräußerte Wohnung war vermietet und diente daher nicht ausschließlich eigenen Wohnzwecken (Ausnahmetatbestand in § 23 Abs. 1 Nr. 1 Satz 3 EStG).

35Es ist weiterhin zwischen den Beteiligten unstreitig, dass auch unter Berücksichtigung der Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BStBl II 2011, 76) zur teilweisen Nichtigkeit von § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. § 52 Abs. 39 Satz 1 EStG i.d.F. des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 Gewinne aus der Veräußerung von Grundstücken innerhalb der zehnjährigen Spekulationsfrist grundsätzlich besteuert werden können. Insoweit verzichtet der Senat im Hinblick auf das übereinstimmende Verständnis des Gesetzes auf weitere Ausführungen.

362. Entgegen der Auffassung des Klägers besteht aber kein Anspruch, einen geringeren Veräußerungsgewinn als 3.997 DM festzustellen. Auf die Feststellung eines Veräußerungsverlustes besteht kein Anspruch.

37Nach § 23 Abs. 3 EStG in der vom Gesetzgeber für das Streitjahr verabschiedeten Fassung ist der Gewinn oder Verlust aus Veräußerungsgeschäften im Sinne des § 23 Abs. 1 der Unterschied zwischen Veräußerungspreis einerseits und den Anschaffungs- oder Herstellungskosten und den Werbungskosten andererseits. Nach § 23 Abs. 3 Satz 4 mindern sich die Anschaffungs- oder Herstellungskosten um Absetzungen für Abnutzung, erhöhte Absetzungen und Sonderabschreibungen, soweit sie bei der Ermittlung der Einkünfte im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 bis 7 abgezogen worden sind (hier: 33.425,00 DM). Die letztgenannte Vorschrift ist aber nach § 52 Abs. 39 Satz 4 EStG erst auf Veräußerungsgeschäfte anzuwenden, bei denen der Steuerpflichtige das Wirtschaftsgut nach dem 31. Juli 1995 angeschafft und veräußert hat, findet also im vorliegenden Fall der Anschaffung im Jahr 1991 keine Anwendung.

38Danach wäre der Gewinn der Grundstücksgemeinschaft aus der Grundstücksveräußerung im Streitfall wie folgt zu berechnen:

39

Veräußerungspreis 270.000,00 DM
abzüglich Anschaffungskosten 210.169,74 DM
abzüglich Veräußerungskosten 20.224,42 DM
Veräußerungsgewinn 39.605,84 DM.

40Dem steht im Streitfall aber die teilweise Nichtigkeitserklärung des Gesetzes durch das BVerfG entgegen.

41In Fällen der hier vorliegenden Art, in denen die Steuerpflichtigen vor der Verkündung des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 vom 24. März 1999 am 31. März 1999 ein Grundstück erworben hatten und der Zweijahreszeitraum des § 23 EStG i.d.F. vor der Änderung durch das Steuerentlastungsgesetz abgelaufen war (hier bereits 1993), dürfen nach der teilweisen Nichtigkeitserklärung des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 52 Abs. 39 Satz 1 EStG durch das BVerfG (BStBl II 2011, 76) bei der grundsätzlich verfassungsrechtlich zulässigen Besteuerung eines Gewinns aus Veräußerungen innerhalb der verlängerten Spekulationsfrist nach dem 31. März 1999 Wertsteigerungen steuerlich nicht erfasst werden, die bis zum 31. März 1999 entstanden sind und nach der zuvor geltenden Rechtslage bis zu diesem Zeitpunkt steuerfrei hätten realisiert werden können.

42Da sich das BVerfG nicht zu einer verfassungskonformen Ausgestaltung der Übergangsregelungen geäußert hat (vgl. dazu Glenk in Blümich, EStG, Stand: August 2012, § 23 Rdnr. 18) und nicht ganz klar ist, was die Nichtigerklärung bedeutet (vgl. z. B. Musil in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG, Stand: August 2011, § 23 Rdnr. 11 unter Rechtsfolge; Bundesfinanzhof – BFH -Beschluss vom 11. April 2012 IX B 14/12, BFH/NV 2012, 1130) und auch der Gesetzgeber nicht auf die Entscheidung des BVerfG durch eine (die Entscheidung klarstellend umsetzende) Gesetzesänderung reagiert hat, ist anhand der tragenden Begründung des BVerfG zu ermitteln, in welcher Weise der steuerbare und der nichtsteuerbare Anteil des Veräußerungsgewinns zu berechnen sind.

43Die Entscheidung des Verfassungsgerichts beruht auf der Annahme eines Verstoßes gegen die Grundsätze des Vertrauensschutzes (BVerfG a.a.O. unter C. II. 2. b.). Die nachträgliche Erfassung der nach altem Recht bereits steuerfrei angesammelten Wertzuwächse greife in den bereits grundrechtlich geschützten Verfügungsbereich ein. Die konkret verfestigte Vermögensposition werde durch die Verlängerung der Spekulationsfrist nachträglich entwertet. Der Zugriff im Realisationszeitpunkt ergreife vorhandene Vermögensbestände der Steuerpflichtigen, deren Zuerwerb nicht der Einkommensteuer unterlegen habe (BVerfG a.a.O. unter C. II. 2. b. bb. a. E.).

44Weiterhin legt das BVerfG dar, dass unabhängig von den verschiedenen Überschuss- oder Gewinnermittlungsarten (Dualismus der Einkunftsarten) die Besteuerung von Ver-äußerungsgewinnen und die Ermittlung von Veräußerungsgewinnen durch periodenübergreifenden Vermögensvergleich sowohl eine Verwirklichung des Realisationsprinzips als auch des Systems der periodischen Erfassung der Jahreseinkommen darstellt (BVerfG a.a.O. unter C. II. 2. b. bb.).

45In Übereinstimmung mit den tragenden Grundsätzen der Entscheidung des BVerfG haben die Beteiligten des vorliegenden Rechtsstreits übereinstimmend eine Schätzung des nicht steuerbaren und des steuerpflichtigen Wertzuwachses angelehnt an die Vereinfachungsregelung des BMF-Schreibens (BStBl I 2011, 14 unter II. 1. Sätze 1 und 2) vorgenommen. Danach ist der Wertzuwachs linear zu verteilen.

46Es ergibt sich demnach zunächst folgende (Teil-)Berechnung des Veräußerungsgewinns:

47

Veräußerungspreis 270.000,00 DM
abzüglich Anschaffungskosten 210.169,74 DM
(Roh-)Veräußerungsgewinn 59.830,26 DM.

48Dieser (Roh-)Gewinn verteilt sich mit 6.037,92 DM (11/109) auf die steuerpflichtigen und mit 53.792,34 DM (98/109) auf die nichtsteuerbaren Wertzuwächse.

49Dies ist nach Überzeugung des erkennenden Senats nicht zu beanstanden. Die schätzungsweise Aufteilung des steuerbaren und des nicht steuerbaren Anteils des Wertzuwachses entsprechend dem Verhältnis der Besitzzeit wird ganz überwiegend als eine grundsätzlich vertretbare Form der Schätzung angesehen. Dies ergibt sich z.B. aus der von den Klägern herangezogenen Rechtsprechung des Niedersächsischen Finanzgerichts (EFG 2012, 1460) und des Finanzgericht Berlin-Brandenburg (EFG 2012, 1462) im vorläufigen Rechtsschutz sowie aus den Entscheidungen des Finanzgerichts Münster (Urteil vom 21. Juni 2013 4 K 1918/11 E, EFG 2013, 1499) sowie des Niedersächsischen Finanzgerichts (Urteil vom 21. August 2013 9 K 252/11, juris). Die Zweifel des BFH (vergleiche BFH/NV 2012, 1130) und die wesentlich streitigen Teile der Entscheidungen der Finanzgerichte betreffen jeweils die Problematik der AfA bzw. der Frage, ob diese AfA den Zeiträumen zuzuordnen ist, in denen sie steuerlich geltend gemacht worden sind. Diese Fragestellung betrifft das vorliegende Verfahren in Anbetracht der Regelung in § 52 Abs. 39 Satz 4 EStG, wonach die AfA im vorliegenden Verfahren nicht als Position in die Berechnung einzubeziehen sind, nicht.

50Entgegen der Auffassung des Klägers besteht aber weder nach dem durch die Entscheidung des BVerfG modifizierten Gesetz noch aus dem BMF-Schreiben (BStBl I 2011, 14 unter II. 1. Satz 3) ein Anspruch auf Berücksichtigung der gesamten Veräußerungskosten bei dem steuerpflichtigen Teil des Veräußerungsgewinns (a.). Vielmehr sind die Veräußerungskosten im Verhältnis des steuerbaren und des nicht steuerbaren Teils des Veräußerungsgewinns zuzuordnen (b.).

51a. Ausgehend von den tragenden Argumenten in der Entscheidung des BVerfG ist der erkennende Senat davon überzeugt, dass eine Interpretation der Entscheidung im Sinne des klägerischen Begehrens, einer vollen Zuordnung der Veräußerungskosten im Sinne der §§ 23 Abs. 3 S. 1 i.V.m. 9 Abs. 1 S. 1 und 2 EStG zum steuerbaren Teil des Veräußerungsgewinns, ausgeschlossen ist (anderer Auffassung z. B. Schmidt/Renger, Die Folgewirkungen der BVerfG-Beschlüsse vom 7.7.2010 für die Besteuerung von Wertzuwächsen, Deutsches Steuerrecht – DStR – 2011, 693, 695).

52Es entspricht dem Wesen der periodenübergreifenden Ermittlung von Veräußerungsgewinnen, dass die Veräußerungskosten regelmäßig im Zeitraum der Realisation und gegebenenfalls in dessen Vorfeld anfallen. In diesen Zeiträumen sind sie dann bei den Überschusseinkünften nach dem Zufluss-Abfluss-Prinzip des § 11 EStG zu erfassen. Die Veräußerungskosten belasten aber zuvor latent die angesammelten Wertzuwächse. Hätten die Steuerpflichtigen die hier streitbefangene Wohnung vor der Änderung des Gesetzes veräußert, hätten die gesamten Veräußerungskosten den nicht steuerbaren Bereich einer privaten Vermögensumschichtung betroffen (vgl. generell zur ausschließlichen Berücksichtigung von Einkünften die unter die Einkünfte des § 2 Abs. 1 Nr. 1 bis 7 EStG fallen: BFH-Beschluss vom 25. Juni 1984 GrS 4/82 BFHE 141, 405, BStBl II 1984, 751, 766 unter IV. 3. c. aa. (1) ). Ein Verständnis der Entscheidung des BVerfG, wonach mit der Einführung der Steuerbarkeit der ab dem 1. April 1999 angefallenen Wertzuwächse – selbst bei angenommenem steuerbarem Wertzuwachs von Null – ein Anspruch auf die steuerliche Berücksichtigung der gesamten Veräußerungskosten im Sinne einer steuerlichen Verschonungssubvention bestünde, ist von der Fundierung der Entscheidung im Vertrauensschutz nicht gedeckt. Es ergäben sich auch absurde Unterschiede der Besteuerung, je nachdem, ob der Veräußerer oder der Erwerber die entsprechenden Veräußerungskosten bei jeweils gleichem Gesamtaufwand des Erwerbers übernimmt.

53Ein Anspruch auf Berücksichtigung der gesamten Veräußerungskosten im Rahmen der Ermittlung des steuerbaren Anteils des Veräußerungsgewinns bzw. dann Veräußerungsverlusts ergibt sich auch nicht aus dem Schreiben des BMF vom 20. Dezember 2010, BStBl I 2011, 14.

54Nach der Rechtsprechung des BFH (vgl. z. B. BFH-Urteile vom 25. Oktober 1985 VI R 15/81, BFHE 145, 181, BStBl II 1986, 200; vom 8. August 1986 VI R 195/82, BFHE 147, 247, BStBl II 1986, 824; vom 14. Juli 2010 X R 34/08, BFHE 229, 502, BStBl II 2010, 916 unter Rdnr. 38) kann die Verwaltung unter bestimmten Voraussetzungen auch für die Finanzgerichte verbindliche typisierende oder pauschalierende Verwaltungsvorschriften erlassen. Dabei geht der BFH davon aus, dass sachgerechte, pauschalierende Schätzungen als Tatsachengrundlage von den Finanzgerichten zu beachten seien, solange die Beträge nicht wegen der Eigenart des Einzelfalls zu einem offensichtlich unrichtigen Ergebnis führen (vgl. z. B. BFH-Urteil vom 14. August 1981 VI R E. 15/78 BFHE 134, 139, BStBl II 1982, 24). Die Fundierung dieser Verwaltungsvorschriften in § 162 der Abgabenordnung – AO – ist allerdings umstritten (vgl. z. B. Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 162 AO Rdnr. 11; Trzaskalik in Hübschmann/ Hepp/ Spitaler, AO/FGO, § 162 AO Rdnr. 9, jeweils m. w. N.).

55Unabhängig von dem Meinungsstreit zur rechtlichen Fundierung verbindlicher Verwaltungsvorschriften im hier streitbefangenen Bereich der Kostenzuordnung kann das BMF-Schreiben ungeachtet der Tatsache, dass unklar ist, ob dieses trotz anderer gegenläufiger Verwaltungsäußerungen (vgl. z. B. Bayerisches Landesamt für Steuern vom 20. April 2011 S 2256.1.1 – 4/8 St 32, juris; siehe dazu auch Pfützenreuther in EFG 2012, 1463) überhaupt noch Gültigkeit beansprucht, hinsichtlich der hier streitbefangenen Aufteilung der Veräußerungskosten jedenfalls als allgemein zu beachtende Schätzung keine Berücksichtigung finden.

56Die vollständige Zuordnung der Veräußerungskosten zum steuerbaren Teil des Veräußerungsgewinns ist ausgehend von der Grundüberzeugung des Senats, dass die Entscheidung des BVerfG nicht in eine Subventionsregel umgedeutet werden darf, regelmäßig in erheblichem Umfang unzutreffend.

57In den Anwendungsbereich der Entscheidung des BVerfG können nur Fälle kommen, bei denen im Zeitpunkt des Inkrafttretens des geänderten Einkommensteuergesetzes (31. März 1999) der betroffene Grundbesitz über zwei Jahre im Eigentum der Veräußerer stand. Da Veräußerungen nach über zehn Jahren nicht besteuert werden, müssen also immer Wertzuwächse aus mindestens 20% des maßgeblichen Zeitraumes dem nicht steuerbaren Bereich zugeordnet werden. Bei Erlass der Verwaltungsvorschrift konnten nur Fälle, bei denen die Anschaffung zwischen dem 31. Dezember 1988 und dem 31. März 1997 erfolgt ist (vgl. dazu Musil in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG, Stand: August 2011, § 23 Rdnr. 11), betroffen sein. Das bedeutet, dass die Veräußerungskosten zunächst (Dezember 2010) mit nicht steuerbaren Wertzuwächsen aus ca. 80 bis ca. 95% des Besteuerungszeitraums im Zusammenhang stehen mussten; dieser Anteil konnte auch in den Folgejahren niemals unter 20% sinken.

58Da Ausgangspunkt der Vereinfachungsregel des BMF die Annahme einer linearen Verteilung der Wertzuwächse ist, würde die Zuordnung der gesamten Veräußerungskosten zum steuerbaren Teil nicht zu einem Ansatz der Besteuerungsgrundlagen führen, die die größtmögliche Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit für sich haben (vgl. § 162 Abs. 1 AO; Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 162 AO Rdnr. 29 m. w. N.). Eine derartige – immer unzutreffende – Schätzung kann das Finanzgericht nicht binden.

59Es kann hier offen bleiben, ob die Vereinfachungsregelung hinsichtlich der Veräußerungskosten – insbesondere in Fällen geringer Kosten – als Billigkeitsregelung im Sinne des § 163 AO im Einzelfall Anwendung finden könnte. Wie der Senat mit den Beteiligten im Vorfeld erörtert hat, können Fragen einer Billigkeitsentscheidung im vorliegenden Verfahren mangels Vorverfahren keine Berücksichtigung finden.

60b. Nach Überzeugung des erkennenden Senats sind auch die mit der Veräußerung im Zusammenhang stehenden Kosten, hier also die Kosten des Maklers, für die Vorfälligkeitsentschädigung und die Gerichtskosten i.H.v. insgesamt 20.224,42 DM, entsprechend der Veranlassung durch steuerpflichtige und nicht steuerbaren Wertzuwächse, also ebenfalls im Verhältnis 11/109 zu 98/109 zu verteilen.

61Dies ergibt sich aus dem Veranlassungsprinzip. Das Veranlassungsprinzip hat sich als allgemeines Prinzip der Abgrenzung der Erwerbsbezüge und -aufwendungen von den Privatbezügen und -aufwendungen durchgesetzt (vergleiche Weber, Die Abgrenzung zwischen Erwerbs- und Privatsphären nach dem Veranlassungsprinzip, Steuer und Wirtschaft – StuW – 2009, 184 mit umfangreichen Nachweisen). Trotz unterschiedlicher Formulierungen in § 4 und § 9 EStG wird die Zuordnung von Aufwendungen generell nach dem Veranlassungsprinzip vorgenommen (vergleiche BFH-Beschluss vom 28. November 1977 GrS 2-3/77, BFHE 124, 43, BStBl II 1978, 105; weitere Nachweise auch zu abweichenden Auffassungen bei Schmidt/Lohschelder, EStG, 32. Auflage, 2013, § 9 Rdnr. 7). Sind Aufwendungen durch mehrere Einkunftsarten oder teilweise durch steuerpflichtige, teilweise durch nicht steuerpflichtige Einnahmen veranlasst, sind diese aufzuteilen. Ein anteiliger betrieblicher oder beruflicher Veranlassungszusammenhang führt grundsätzlich zur anteiligen Berücksichtigung im betrieblichen (vgl. Stapperfendt in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG, § 4 Rdnr. 832 unter Begriff) oder beruflichen Bereich (vgl. Schmidt/Heinicke, EStG, § 4 Rdnr. 29 und 489). Die Aufteilung ist nach objektiven Gesichtspunkten vorzunehmen (BFH-Urteil vom 10. Juni 2008 VIII R 76/05, BFHE 222, 313, BStBl II 2008, 937; Wied in Blümich, EStG, § 4 Rdnr. 572).

62Dies führt im Streitfall dazu, dass nur 11/109 der Veräußerungskosten als Werbungskosten Berücksichtigung finden können. Die Veräußerung diente der Realisation von 98/109 des Veräußerungserlöses als nicht steuerbare Vermögensmehrung und von 11/109 des Veräußerungserlöses als steuerpflichtiger Veräußerungsgewinn im Sinne des § 23 EStG.

63Entsprechend sind die mit der Veräußerung im Zusammenhang stehenden Veräußerungskosten quotal aufzuteilen. Diese Lösung entspricht auch dem Korrespondenzprinzip bei der Abgrenzung von Ausgaben, die teilweise mit steuerfreien Einnahmen in unmittelbarem wirtschaftlichem Zusammenhang stehen (vgl. § 3c Abs. 1 EStG). Dies stimmt im Ergebnis auch mit der Rechtsprechung des Niedersächsischen Finanzgerichts (Urteil vom 21. August 2013 9 K 252/11, juris; Revision unter IX R 40/13 beim BFH anhängig) überein, dass hinsichtlich der Zuordnung von Veräußerungskosten die Entscheidung ebenfalls in Anlehnung an § 3c Abs. 1 EStG getroffen hat.

64Von den 6.037,92 DM (11/109) des steuerpflichtigen (Roh)Veräußerungsgewinns sind daher ebenfalls 11/109 der Veräußerungskosten von 20.224,42 DM, also 2040,99 DM abzuziehen, was, wie vom Beklagten angesetzt, zu einem (gerundeten) steuerpflichtigen Veräußerungsgewinn von 3.997 DM führt.

65Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 135 Abs. 1, 139 Abs. 4 FGO.

66Die Revision ist im Streitfall nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zuzulassen, da es sich um die Klärung eine Vielzahl von Fällen betreffender Rechtsfragen, die die Auslegung einer nicht eindeutigen Nichtigkeitsentscheidung des BVerfG und die Abgrenzung von privaten und einkünftebezogenen Aufwendungen betrifft, handelt.