Direktanspruch in der Umsatzsteuer

Veröffentlichung der BFH-Urteile vom 30. Juni 2015, VII R 30/14, und vom 22. August 2019, V R 50/16

1. In der Rechtsprechung wurde das sich aus dem Unionsrecht ergebende Rechtsinstrument des Direktanspruchs in der Umsatzsteuer (auch „Reemtsma-Rechtsprechung“) entwickelt. Danach kann unter bestimmten Voraussetzungen ein Leistungsempfänger die Erstattung einer rechtsgrundlos an den Leistenden gezahlten Umsatzsteuer direkt vom Fiskus (statt vom Leistenden) verlangen.

I.

2. Mit Urteil vom 15. März 2007, C-35/05, Reemtsma Cigarettenfabriken, hat der EuGH entschieden, dass es grundsätzlich Sache der Mitgliedstaaten sei, die Voraussetzungen festzulegen, unter denen die Rückzahlung der rechtsgrundlos gezahlten Steuer erfolgen kann. Diese Voraussetzungen müssten jedoch den Grundsätzen der Gleichwertigkeit (Äquivalenz) und der Effektivität entsprechen. Ausgehend hiervon stellte der EuGH fest, dass ein Verfahren, nach dem (ähnlich wie in Deutschland) zunächst der Dienstleistungserbringer einen Anspruch gegenüber dem Fiskus und der Dienstleistungsempfänger einen entsprechenden zivilrechtlichen Anspruch gegen den Dienstleistungserbringer hat, mit dem Unionsrecht vereinbar sei. Allerdings erforderten der der Neutralität und Effektivität, dass in Fällen, in denen die Erstattung der Mehrwertsteuer vom Dienstleistungserbringer an den Dienstleistungsempfänger unmöglich oder übermäßig erschwert werde, insbesondere im Fall einer Zahlungsunfähigkeit des Dienstleistungserbringers, der Dienstleistungsempfänger seinen Antrag auf Erstattung unmittelbar an die Steuerbehörden richten kann. Die Mitgliedstaaten müssten deshalb die entsprechenden erforderlichen Mittel und Verfahrensmodalitäten vorsehen. Im Streitfall hatte der Dienstleistungserbringer für eine im Inland nicht steuerbare Leistung Mehrwertsteuer irrtümlich in Rechnung gestellt, diese vom Dienstleistungsempfänger erhalten und an den Fiskus entrichtet. Die oben genannten Grundsätze hat der EuGH auf Erstattungen im Zusammenhang mit der Lieferung von Gegenständen übertragen (vgl. EuGH-Urteil vom 31. Mai 2018, C-660/16 und C-661/16, Kollroß und Wirtl).

3. Der BFH entschied mit Urteil vom 11. Oktober 2007, V R 27/05, BStBl II 2008 S. 438, dass der Direktanspruch nach dem EuGH-Urteil C-35/05 eine Zahlung des Leistenden an die Steuerbehörden voraussetze (Rn. 63 und 64 des Urteils). Im Streitfall war für eine nicht steuerbare Geschäftsveräußerung Umsatzsteuer in Rechnung gestellt und in der Voranmeldung erklärt, aber nicht an den Fiskus gezahlt worden.

(…)

6. In einem weiteren Urteil vom 30. Juni 2015, VII R 42/14, n. v., entschied der BFH weitgehend inhaltsgleich. Auch hier verwies er auf ein Billigkeitsverfahren nach §§ 163, 227 AO statt auf den klagebefangenen Abrechnungsbescheid nach § 37 Abs. 2 AO. Im Unterschied zur Entscheidung VII R 30/14 wies der BFH hier aber zusätzlich darauf hin, dass nicht unberücksichtigt bleiben dürfe, dass die Klägerin auf eine Rechnung ohne Leistung gezahlt habe, gegebenenfalls also kein Fall einer lediglich irrtümlichen Zahlung der Umsatzsteuer vorliege. Im Streitfall hatten den Rechnungen keine entsprechenden Leistungen zugrunde gelegen.

7. Weiterhin entschied der BFH mit Urteil vom 22. August 2019, V R 50/16, BStBl II 2022 S. xxx, dass ein Direktanspruch nach dem EuGH-Urteil C-35/05 voraussetze, dass der Rechnungsaussteller eine Leistung an den Rechnungsempfänger erbracht hat, für die er Umsatzsteuer in der Rechnung zu Unrecht ausgewiesen hat. Der V. Senat des BFH bestätigte dabei die Auffassung des VII. Senats aus dem Urteil VII R 30/14 (oben Rn. 5), dass über den Direktanspruch im Billigkeitsverfahren zu entscheiden sei, wobei er dessen Feststellung noch um die Voraussetzung ergänzte, dass die Rechnung ansonsten ordnungsgemäß sein müsse (Rn. 16 des Urteils). Damit genüge der bloße Steuerausweis in einer Rechnung für die Entstehung des Direktanspruchs nicht. Erforderlich sei vielmehr, dass der Rechnungsaussteller auch eine Leistung erbracht hat, für die mangels Steuerbarkeit oder aufgrund einer Steuerfreiheit oder Steuersatzermäßigung die in der Rechnung ausgewiesene Steuer nicht gesetzlich entstanden sei (Rn. 22 des Urteils). Da es sich im Streitfall, in dem den Rechnungen kein Leistungsaustausch zugrunde gelegen hatte, um einen unberechtigten Steuerausweis nach § 14c Abs. 2 UStG gehandelt hatte, fehlte es danach an den Voraussetzungen für einen Direktanspruch.

II.

8. Unter Bezugnahme auf das Ergebnis der Erörterungen mit den obersten Finanzbehörden der Länder vertritt das BMF zum Direktanspruch in der Umsatzsteuer die im Schreiben dargestellte Auffassung.

(…)

III.

Im Umsatzsteuer-Anwendungserlass (UStAE) vom 1. Oktober 2010, BStBl I S. 846, der zuletzt durch das BMF-Schreiben vom 12. April 2022 – III C 2 – S 7300/20/10001 :005 (2022/0384459), BStBl I S. xxx, geändert worden ist, wird in Abschnitt 15.11 nach Absatz 7 folgender Absatz 8 angefügt:

„(8) 1In der Rechtsprechung wurde das sich aus dem Unionsrecht ergebende Rechtsinstrument des Direktanspruchs in der Umsatzsteuer entwickelt (vgl. EuGH-Urteil vom 15. 3. 2007, C-35/05, Reemtsma Cigarettenfabriken). 2Danach kann ein Leistungsempfänger unter bestimmten Voraussetzungen über eine Billigkeitsmaßnahme die Erstattung einer rechtsgrundlos an den Leistenden gezahlten Umsatzsteuer direkt vom Fiskus (statt vom Leistenden) verlangen, vgl. BMF-Schreiben vom 12. 4. 2022, BStBl I S. xxx.“

IV.

Die Grundsätze dieses Schreibens sind in allen offenen Fällen anzuwenden.

Das Schreiben wird im Bundessteuerblatt Teil I veröffentlicht.

Quelle: BMF, Schreiben (koordinierter Ländererlass) III C 2 – S-7358 / 20 / 10001 :004 vom 12.04.2022