Doppellbesteuerung: § 50d Abs. 3 EStG 2012 europarechtswidrig

EStG § 50d Besonderheiten im Fall von Doppelbesteuerungsabkommen und der §§ 43b und 50g

 Leitsatz

Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2011/96/EU des Rates vom 30. November 2011 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten in der durch die Richtlinie 2013/13/EU des Rates vom 13. Mai 2013 geänderten Fassung und Art. 49 AEUV sind dahin auszulegen, dass sie einer steuerrechtlichen Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegenstehen, nach der auf Dividenden, die eine gebietsansässige Tochtergesellschaft an ihre gebietsfremde Muttergesellschaft ausschüttet, Quellensteuer anfällt, die Muttergesellschaft aber keinen Anspruch auf Erstattung der Quellensteuer oder Freistellung davon hat, wenn zum einen Personen an ihr beteiligt sind, denen die Erstattung oder Freistellung nicht zustände, wenn sie Dividenden einer solchen Tochtergesellschaft unmittelbar bezogen hätten, und die von der Muttergesellschaft im betreffenden Wirtschaftsjahr erzielten Bruttoerträge nicht aus eigener Wirtschaftstätigkeit stammen und wenn zum anderen eine der beiden in der betreffenden Steuervorschrift aufgestellten Voraussetzungen erfüllt ist, d. h. entweder wirtschaftliche oder sonst beachtliche Gründe für die Einschaltung der besagten Muttergesellschaft fehlen oder diese nicht mit einem für ihren Geschäftszweck angemessen eingerichteten Geschäftsbetrieb am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr teilnimmt, wobei organisatorische, wirtschaftliche oder sonst beachtliche Merkmale der Unternehmen, die der Muttergesellschaft nahestehen, außer Betracht bleiben.

 Gesetze

AEUV Art 49
,
AEUV Art 54
, EGRL 123/2003 Art 1 Abs 2,
EStG § 50d Abs 3

 Instanzenzug

EuGH – C-440/17, Verfahrensverlauf

 Gründe

[1]  Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 49 AEUV und Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2011/96/EU des Rates vom 30. November 2011 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten (ABl. 2011, L 345, S. 8) in der durch die Richtlinie 2013/13/EU des Rates vom 13. Mai 2013 (ABl. 2013, L 141, S. 30) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2011/96).

[2]  Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der in den Niederlanden ansässigen GS und dem Bundeszentralamt für Steuern (Deutschland) wegen dessen Weigerung, die von GS von ihrer deutschen Tochtergesellschaft bezogenen Gewinnausschüttungen vom Quellensteuerabzug zu befreien.

Rechtlicher Rahmen

  Unionsrecht  

[]  Die Erwägungsgründe 1, 3 bis 6 und 8 der Richtlinie 2011/96 lauten:

D„(1) Die [Richtlinie 90/435/EWG des Rates vom 23. Juli 1990 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten (ABl. 1990, L 225, S. 6)] ist mehrfach und in wesentlichen Punkten geändert worden … Aus Gründen der Klarheit empfiehlt es sich, im Rahmen der jetzt anstehenden Änderungen eine Neufassung vorzunehmen.

(3) Diese Richtlinie zielt darauf ab, Dividendenzahlungen und andere Gewinnausschüttungen von Tochtergesellschaften an ihre Muttergesellschaften von Quellensteuern zu befreien und die Doppelbesteuerung derartiger Einkünfte auf Ebene der Muttergesellschaft zu beseitigen.

(4) Zusammenschlüsse von Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten können notwendig sein, um binnenmarktähnliche Verhältnisse in der Union zu schaffen und damit das Funktionieren eines solchen Binnenmarktes zu gewährleisten. Sie sollten nicht durch Beschränkungen, Benachteiligungen oder Verfälschungen, insbesondere aufgrund von steuerlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten, behindert werden. Demzufolge müssen wettbewerbsneutrale steuerliche Regelungen für diese Zusammenschlüsse geschaffen werden, um die Anpassung von Unternehmen an die Erfordernisse des Binnenmarktes, eine Erhöhung ihrer Produktivität und eine Stärkung ihrer Wettbewerbsfähigkeit auf internationaler Ebene zu ermöglichen.

(5) Derartige Zusammenschlüsse können zur Schaffung von aus Mutter- und Tochtergesellschaften bestehenden Unternehmensgruppen führen.

(6) Die die Beziehungen zwischen Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten regelnden Steuerbestimmungen wiesen vor dem Inkrafttreten der [Richtlinie 90/435] erhebliche Unterschiede von einem Staat zum anderen auf und waren im Allgemeinen weniger günstig als die auf die Beziehung zwischen Mutter- und Tochtergesellschaften desselben Mitgliedstaats anwendbaren Bestimmungen. Die Zusammenarbeit von Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten wurde auf diese Weise gegenüber der Zusammenarbeit zwischen Gesellschaften desselben Mitgliedstaats benachteiligt. Diese Benachteiligung war durch Schaffung eines gemeinsamen Steuersystems zu beseitigen, um Zusammenschlüsse von Gesellschaften auf Unionsebene zu erleichtern.

(8) Im Übrigen sollten zur Sicherung der steuerlichen Neutralität von der Tochtergesellschaft an die Muttergesellschaft ausgeschüttete Gewinne vom Steuerabzug an der Quelle befreit werden.“

[4]  Art. 1 dieser Richtlinie sieht vor:

„(1) Jeder Mitgliedstaat wendet diese Richtlinie an

  1. a) auf Gewinnausschüttungen, die Gesellschaften dieses Mitgliedstaats von Tochtergesellschaften eines anderen Mitgliedstaats zufließen;
  2. b) auf Gewinnausschüttungen von Tochtergesellschaften dieses Mitgliedstaats an Gesellschaften anderer Mitgliedstaaten;

(2) Die vorliegende Richtlinie steht der Anwendung einzelstaatlicher oder vertraglicher Bestimmungen zur Verhinderung von Steuerhinterziehungen und Missbräuchen nicht entgegen.“

[5]  Art. 2 Buchst. a der Richtlinie bestimmt:

„Für die Zwecke dieser Richtlinie gelten folgende Begriffsbestimmungen:

  1. a) ‚Gesellschaft eines Mitgliedstaats‘ ist jede Gesellschaft,
  2. i) die eine der in Anhang I Teil A aufgeführten Formen aufweist;
  3. ii) die nach dem Steuerrecht eines Mitgliedstaats in Bezug auf den steuerlichen Wohnsitz als in diesem Mitgliedstaat ansässig und aufgrund eines mit einem dritten Staat geschlossenen Doppelbesteuerungsabkommens in Bezug auf den steuerlichen Wohnsitz nicht als außerhalb der Union ansässig betrachtet wird;

iii) die ferner ohne Wahlmöglichkeit einer der in Anhang I Teil B aufgeführten Steuern oder irgendeiner Steuer, die eine dieser Steuern ersetzt, unterliegt, ohne davon befreit zu sein.“

[6]  Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2011/96 lautet:

„Im Sinne dieser Richtlinie

  1. a) gilt als ‚Muttergesellschaft‘
  2. i) wenigstens eine Gesellschaft eines Mitgliedstaats, die die Bedingungen des Artikels 2 erfüllt und die einen Anteil von wenigstens 10 % am Kapital einer Gesellschaft eines anderen Mitgliedstaats hält, die die gleichen Bedingungen erfüllt;
  3. ii) unter denselben Bedingungen eine Gesellschaft eines Mitgliedstaats, die einen Anteil von wenigstens 10 % am Kapital einer Gesellschaft desselben Mitgliedstaats hält, der ganz oder teilweise von einer in einem anderen Mitgliedstaat gelegenen Betriebstätte der erstgenannten Gesellschaft gehalten wird; []
  4. b) ist ‚Tochtergesellschaft‘ die Gesellschaft, an deren Kapital eine andere Gesellschaft den in Buchstabe a genannten Anteil hält.“

[7]  Art. 5 der Richtlinie 2011/96 bestimmt:

„Die von einer Tochtergesellschaft an ihre Muttergesellschaft ausgeschütteten Gewinne sind vom Steuerabzug an der Quelle befreit.“

[8]  In Teil A („Liste der unter Artikel 2 Buchstabe a Ziffer i fallenden Gesellschaften“) des Anhangs I der Richtlinie werden aufgeführt:

„…

  1. f) Gesellschaften deutschen Rechts mit der Bezeichnung ‚Aktiengesellschaft‘, ‚Kommanditgesellschaft auf Aktien‘, ‚Gesellschaft mit beschränkter Haftung‘, ‚Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit‘, ‚Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaft‘ oder ‚Betrieb gewerblicher Art von juristischen Personen des öffentlichen Rechts‘ und andere nach deutschem Recht gegründete Gesellschaften, die der deutschen Körperschaftsteuer unterliegen,

  1. s) Gesellschaften niederländischen Rechts mit der Bezeichnung ‚naamloze vennootschap‘, ‚besloten vennootschap met beperkte aansprakelijkheid‘, ‚open commanditaire vennootschap‘, ‚coöperatie‘, ‚onderlinge waarborgmaatschappij‘, ‚fonds voor gemene rekening‘, ‚vereniging op coöperatieve grondslag‘, ‚vereniging welke op onderlinge grondslag als verzekeraar of keredietinstelling optreedt‘ und andere nach niederländischem Recht gegründete Gesellschaften, die der niederländischen Körperschaftsteuer unterliegen,

…“

[9]  In Teil B („Liste der unter Artikel 2 Buchstabe a Ziffer iii fallenden Steuern“) des Anhangs I der Richtlinie werden aufgeführt:

„…

– Körperschaftsteuer in Deutschland,

– vennootschapsbelasting in den Niederlanden,

…“

 Deutsches Recht  

[10]  Das Einkommensteuergesetz (EStG ) in der ab dem 1. Januar 2012 geltenden Fassung des Gesetzes zur Umsetzung der Beitreibungsrichtlinie sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften vom 7. Dezember 2011 (BGBl. 2011 I S. 2592) (im Folgenden: EStG 2012 ) sieht in seinem § 43b Abs. 1 vor, dass auf Antrag des Steuerpflichtigen die Kapitalertragsteuer für Kapitalerträge im Sinne des § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG 2012 , die einer Muttergesellschaft, die weder ihren Sitz noch ihre Geschäftsleitung im Inland hat, aus Ausschüttungen einer Tochtergesellschaft zufließen, nicht erhoben wird.

[11]  Nach § 43b Abs. 2 Satz 1 EStG 2012 ist „Muttergesellschaft“ im Sinne des Abs. 1 dieser Vorschrift eine Gesellschaft, die die in der Anlage 2 zum EStG 2012 bezeichneten Voraussetzungen erfüllt und nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/96 zum Zeitpunkt der Entstehung der Kapitalertragsteuer gemäß § 44 Abs. 1 Satz 2 EStG 2012 nachweislich mindestens zu 10 % unmittelbar am Kapital der Tochtergesellschaft beteiligt ist.

[12] § 43b Abs. 2 Satz 4 EStG 2012 bestimmt, dass außerdem die Beteiligung nachweislich ununterbrochen zwölf Monate bestehen muss.

[13]  Gemäß § 50d Abs. 1 Satz 2 EStG 2012 kann der Steuerpflichtige, wenn Einkünfte, die dem Steuerabzug vom Kapitalertrag unterliegen, nach § 43b EStG 2012 nicht besteuert werden können, die Erstattung der einbehaltenen und abgeführten Steuer beanspruchen.

[14]  In § 50d Abs. 3 EStG 2012 heißt es:

„Eine ausländische Gesellschaft hat keinen Anspruch auf völlige oder teilweise Entlastung nach Absatz 1 oder Absatz 2, soweit Personen an ihr beteiligt sind, denen die Erstattung oder Freistellung nicht zustände, wenn sie die Einkünfte unmittelbar erzielten, und die von der ausländischen Gesellschaft im betreffenden Wirtschaftsjahr erzielten Bruttoerträge nicht aus eigener Wirtschaftstätigkeit stammen, sowie

  1. in Bezug auf diese Erträge für die Einschaltung der ausländischen Gesellschaft wirtschaftliche oder sonst beachtliche Gründe fehlen oder
  2. die ausländische Gesellschaft nicht mit einem für ihren Geschäftszweck angemessen eingerichteten Geschäftsbetrieb am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr teilnimmt.

Maßgebend sind ausschließlich die Verhältnisse der ausländischen Gesellschaft; organisatorische, wirtschaftliche oder sonst beachtliche Merkmale der Unternehmen, die der ausländischen Gesellschaft nahe stehen (§ 1 Absatz 2 des Außensteuergesetzes ), bleiben außer Betracht. An einer eigenen Wirtschaftstätigkeit fehlt es, soweit die ausländische Gesellschaft ihre Bruttoerträge aus der Verwaltung von Wirtschaftsgütern erzielt oder ihre wesentlichen Geschäftstätigkeiten auf Dritte überträgt. Die Feststellungslast für das Vorliegen wirtschaftlicher oder sonst beachtlicher Gründe im Sinne von Satz 1 Nummer 1 sowie des Geschäftsbetriebs im Sinne von Satz 1 Nummer 2 obliegt der ausländischen Gesellschaft. …“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

[15]  GS ist eine in den Niederlanden ansässige Kapitalgesellschaft. Ihre Anteile werden von einer Gesellschaft deutschen Rechts gehalten.

[16]  Von 2006 bis zum 7. November 2013 war GS am Kapital einer Gesellschaft deutschen Rechts beteiligt, zuletzt zu über 90 %. Neben ihrer Beteiligung an ihrer deutschen Tochtergesellschaft hielt sie ferner Anteile an mehreren in verschiedenen Staaten ansässigen Gesellschaften.

[17]  Im Jahr 2013 übte GS drei Geschäftstätigkeiten aus, nämlich eine Finanz- und Verwaltungsholdingtätigkeit, eine Finanzierungstätigkeit zugunsten der nicht in Deutschland ansässigen Gesellschaften der Gruppe, die darin bestand, diesen Darlehen zu fremdüblichen Konditionen zu gewähren und die überschüssige Liquidität der Gruppe auf dem Kapitalmarkt zu investieren, und eine Handelstätigkeit im eigenen Namen und auf eigene Rechnung, in deren Rahmen sie Rohstoffe bei Dritten außerhalb der Europäischen Union kaufte, um sie danach mit Gewinn an die Gesellschaften der Gruppe weiterzuverkaufen. Für die Ausübung ihrer Tätigkeiten hatte GS zwei Büroräume mit technischer Ausrüstung angemietet und drei Personen angestellt.

[18]  Im selben Jahr bezog GS Dividenden von ihrer deutschen Tochtergesellschaft. Da auf diese Dividenden die Kapitalertragsteuer und der Solidaritätszuschlag gemäß dem deutschen Steuerrecht einbehalten wurden, stellte sie einen entsprechenden Erstattungsantrag auf der Grundlage des § 43b EStG 2012 . Dieser Antrag wurde von den Finanzbehörden zurückgewiesen. Gleiches geschah mit ihrem Einspruch gegen den betreffenden Bescheid. Daraufhin erhob sie vor dem vorlegenden Gericht, dem Finanzgericht Köln (Deutschland), Klage, die sie mit der Unvereinbarkeit von § 50d Abs. 3 EStG 2012 mit der Niederlassungsfreiheit und der Richtlinie 2011/96 begründete.

[19]  Das vorlegende Gericht stellt fest, dass auf die bei ihm anhängige Rechtssache § 50d Abs. 3 EStG 2012 zeitlich anwendbar sei. Es führt aus, dass mit dieser Bestimmung der Missbrauchsvorwurf gegenüber der gebietsfremden Muttergesellschaft, die die Erstattung der in Deutschland einbehaltenen Steuer beantrage, gemildert werden solle, der aus der Vorgängerfassung dieser Bestimmung, wie sie sich aus dem Jahressteuergesetz 2007 vom 13. Dezember 2006 (BGBI. 2006 I S. 2878) ergeben habe (im Folgenden: § 50d Abs. 3 EStG a.F.), geflossen sei.

[20]  Nach § 50d Abs. 3 EStG a.F. sei der Anspruch auf Freistellung oder Erstattung ausgeschlossen gewesen, soweit zum einen den Anteilseignern der gebietsfremden Muttergesellschaft die Freistellung oder Erstattung selbst nicht zugestanden hätte, wenn sie die betreffenden Dividenden unmittelbar erzielt hätten, und zum anderen eine der drei in jener Bestimmung vorausgesehenen Voraussetzungen erfüllt gewesen sei, nämlich das Fehlen wirtschaftlicher oder sonst beachtlicher Gründe für die Einschaltung der Muttergesellschaft oder der Umstand, dass die Muttergesellschaft nicht mehr als 10 % ihrer Bruttoerträge aus eigener Wirtschaftstätigkeit erzielt habe, oder die mangelnde Teilnahme der Muttergesellschaft am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr mit einem für ihren Geschäftszweck angemessen eingerichteten Geschäftsbetrieb.

[21]  Nach dem Wortlaut von § 50d Abs. 3 EStG 2012 könnten dagegen die Finanzbehörden einer gebietsfremden Muttergesellschaft die Erstattung der Steuer oder die Freistellung davon nicht bereits dann verweigern, wenn eine der drei in der vorstehenden Randnummer genannten Voraussetzungen erfüllt sei. Der Freistellungs- oder Erstattungsanspruch sei nur noch dann ausgeschlossen, wenn zum einen an der gebietsfremden Muttergesellschaft Personen beteiligt seien, die die Freistellung oder Erstattung selbst nicht beanspruchen könnten, und die von der Muttergesellschaft im betreffenden Wirtschaftsjahr erzielten Bruttoerträge nicht aus eigener Wirtschaftstätigkeit stammten, und zum anderen entweder wirtschaftliche oder sonst beachtliche Gründe für die Einschaltung der gebietsfremden Muttergesellschaft fehlten oder diese nicht mit einem für ihren Geschäftszweck angemessen eingerichteten Geschäftsbetrieb am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr teilnehme.

[22]  Bei der Beurteilung, ob die gebietsfremde Muttergesellschaft eine eigene Wirtschaftstätigkeit ausübe, würden nur die Verhältnisse dieser Gesellschaft berücksichtigt. Die organisatorischen, wirtschaftlichen oder sonst beachtlichen Merkmale der ihr nahestehenden Unternehmen blieben somit außer Betracht. Eine eigene Wirtschaftstätigkeit einer solchen Muttergesellschaft werde nicht angenommen, wenn sie ihre Bruttoerträge aus der Verwaltung von Wirtschaftsgütern erziele oder ihre wesentlichen Geschäftstätigkeiten auf Dritte übertrage. Die Feststellungslast für das Vorliegen wirtschaftlicher oder sonst beachtlicher Gründe für die Einschaltung der gebietsfremden Muttergesellschaft in die Gruppenstruktur obliege dieser selbst.

[23]  Demgegenüber würden im Fall einer gebietsansässigen Holding-Muttergesellschaft rechtsmissbräuchliche Konstellationen über § 42 der Abgabenordnung erfasst. Nach dieser Vorschrift genüge bei einer solchen Gesellschaft eine auf Dauer angelegte Zwischenschaltung, damit ihr die Anrechnung oder Vergütung der Steuer gewährt werde.

[24]  Diese unterschiedliche steuerliche Behandlung könne eine gebietsfremde Muttergesellschaft, indem sie für diese eine höhere steuerliche Belastung bewirke, davon abhalten, in Deutschland eine Tochtergesellschaft zu gründen, zu erwerben oder zu behalten, und beschränke damit die Niederlassungsfreiheit im Sinne des Art. 49 AEUV . Ob eine solche Beschränkung durch den im Allgemeininteresse liegenden Grund der Bekämpfung des Missbrauchs und der Steuerumgehung gerechtfertigt sein könne, erscheine zweifelhaft, da § 50d Abs. 3 EStG 2012 zum einen gebietsfremde Muttergesellschaften erfasse, die keine rein künstlichen Gestaltungen ohne jegliche wirtschaftliche Realität darstellten, und zum anderen eine unwiderlegbare Missbrauchsvermutung aufstelle.

[25]  Darüber hinaus bestünden Zweifel an der Vereinbarkeit von § 50d Abs. 3 EStG 2012 mit Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2011/96. Was die letztgenannte Bestimmung betreffe, so wichen ihre verschiedenen Sprachfassungen insoweit voneinander ab, als die deutsche Fassung ihrem Wortlaut nach im Gegensatz zu anderen Sprachfassungen wie der englischen, der französischen, der italienischen oder der spanischen nicht das Wort „erforderlich“ enthalte. Ungeachtet dessen sei der Missbrauchsbegriff des Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2011/96 jedenfalls im Hinblick auf das Primärrecht der Union auszulegen.

[26]  Unter diesen Umständen hat das Finanzgericht Köln beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

  1. Steht Art. 49 AEUV in Verbindung mit Art. 54 AEUV einer nationalen Steuervorschrift wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegen, die einer gebietsfremden Muttergesellschaft, deren alleiniger Anteilseigner eine Kapitalgesellschaft mit Sitz im Inland ist, die Entlastung von Kapitalertragsteuer auf Gewinnausschüttungen verweigert, soweit Personen an ihr beteiligt sind, denen die Erstattung oder Freistellung nicht zustände, wenn sie die Einkünfte unmittelbar erzielten, und die von der ausländischen Gesellschaft im betreffenden Wirtschaftsjahr erzielten Bruttoerträge nicht aus eigener Wirtschaftstätigkeit stammen, sowie

– in Bezug auf diese Erträge für die Einschaltung der ausländischen Gesellschaft wirtschaftliche oder sonst beachtliche Gründe fehlen oder

– die ausländische Gesellschaft nicht mit einem für ihren Geschäftszweck angemessen eingerichteten Geschäftsbetrieb am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr teilnimmt,

während gebietsansässigen Muttergesellschaften die Entlastung von der Kapitalertragsteuer gewährt wird, ohne dass es auf die vorgenannten Voraussetzungen ankommt?

  1. Ist Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2011/96 dahin auszulegen, dass er dem entgegensteht, dass ein Mitgliedstaat eine Regelung erlässt, die einer gebietsfremden Muttergesellschaft, deren alleiniger Anteilseigner eine Kapitalgesellschaft mit Sitz im Inland ist, die Entlastung von Kapitalertragsteuer auf Gewinnausschüttungen verweigert, soweit Personen an ihr beteiligt sind, denen die Erstattung oder Freistellung nicht zustände, wenn sie die Einkünfte unmittelbar erzielten, und die von der ausländischen Gesellschaft im betreffenden Wirtschaftsjahr erzielten Bruttoerträge nicht aus eigener Wirtschaftstätigkeit stammen, sowie

– in Bezug auf diese Erträge für die Einschaltung der ausländischen Gesellschaft wirtschaftliche oder sonst beachtliche Gründe fehlen oder

– die ausländische Gesellschaft nicht mit einem für ihren Geschäftszweck angemessen eingerichteten Geschäftsbetrieb am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr teilnimmt?

Zu den Vorlagefragen

[27]  Nach Art. 99 seiner Verfahrensordnung kann der Gerichtshof, wenn die Antwort auf eine zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann oder wenn die Beantwortung der vorgelegten Frage keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt, auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden.

[28]  Diese Bestimmung ist in der vorliegenden Rechtssache anzuwenden.

[29]  Mit seinen zusammen zu prüfenden Fragen möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2011/96 und Art. 49 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie einer steuerrechtlichen Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegenstehen, nach der auf Dividenden, die eine gebietsansässige Tochtergesellschaft an ihre gebietsfremde Muttergesellschaft ausschüttet, Quellensteuer anfällt, die Muttergesellschaft aber keinen Anspruch auf Erstattung der Quellensteuer oder Freistellung davon hat, wenn zum einen Personen an ihr beteiligt sind, denen die Erstattung oder Freistellung nicht zustände, wenn sie Dividenden einer solchen Tochtergesellschaft unmittelbar bezogen hätten, und die von der Muttergesellschaft im betreffenden Wirtschaftsjahr erzielten Bruttoerträge nicht aus eigener Wirtschaftstätigkeit stammen und wenn zum anderen eine der beiden in der betreffenden Steuervorschrift aufgestellten Voraussetzungen erfüllt ist, d. h. entweder wirtschaftliche oder sonst beachtliche Gründe für die Einschaltung der besagten Muttergesellschaft fehlen oder diese nicht mit einem für ihren Geschäftszweck angemessen eingerichteten Geschäftsbetrieb am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr teilnimmt, wobei organisatorische, wirtschaftliche oder sonst beachtliche Merkmale der Unternehmen, die der Muttergesellschaft nahestehen, außer Betracht bleiben.

[30]  Eingangs ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2011/96, wie aus ihrem ersten Erwägungsgrund hervorgeht, eine Neufassung der Richtlinie 90/435 darstellt, die sie aufgehoben und ersetzt hat. Da die im Ausgangsverfahren relevanten Bestimmungen der Richtlinie 2011/96 im Wesentlichen den gleichen Regelungsgehalt haben wie die entsprechenden Bestimmungen der Richtlinie 90/435, findet die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu dieser Richtlinie auch auf die Richtlinie 2011/96 Anwendung.

[31]  Was die Vorlagefragen betrifft, so stellen sie sowohl auf Bestimmungen der Richtlinie 2011/96 als auch auf Bestimmungen des AEU-Vertrags ab. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist jede nationale Regelung in einem Bereich, der auf der Ebene der Europäischen Union abschließend harmonisiert wurde, anhand der fraglichen Harmonisierungsmaßnahme und nicht des Primärrechts zu beurteilen. Aus Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2011/96 ergibt sich aber, dass durch diese keine solche Harmonisierung erfolgt ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Dezember 2017, Deister Holding und Juhler Holding, C-504/16 und C-613/16, EU:C:2017:1009, Rn. 45).

[32]  Eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren streitige kann daher nicht nur im Hinblick auf die Bestimmungen dieser Richtlinie, sondern auch im Hinblick auf die einschlägigen Bestimmungen des Primärrechts beurteilt werden.

 Zur Vereinbarkeit einer Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden mit Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2011/96  

[33]  Vorab ist festzustellen, dass sich im vorliegenden Fall aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte ergibt, dass zum einen die Gesellschaften, um die es im Ausgangsverfahren geht, unter Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2011/96 fallen und dass zum anderen die in Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie aufgestellte Voraussetzung einer Mindestbeteiligung der Muttergesellschaft von 10 % am Kapital ihrer Tochtergesellschaft ebenfalls erfüllt ist.

[34]  Die Richtlinie 2011/96 soll, wie sich aus ihren Erwägungsgründen 3 bis 6 ergibt, durch die Schaffung neutraler steuerlicher Regelungen den Zusammenschluss von Gesellschaften auf Unionsebene erleichtern. So soll sie sicherstellen, dass Dividendenzahlungen oder sonstige Gewinnausschüttungen einer in einem Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaft an ihre in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Muttergesellschaft steuerlich neutral sind, und damit die Doppelbesteuerung der von Tochtergesellschaften an ihre Muttergesellschaft ausgeschütteten Einkünfte auf Ebene der Muttergesellschaft beseitigen.

[35]  Im achten Erwägungsgrund der Richtlinie heißt es zu diesem Zweck, dass zur Sicherung der steuerlichen Neutralität von der Tochtergesellschaft an die Muttergesellschaft ausgeschüttete Gewinne vom Steuerabzug an der Quelle befreit werden sollten.

[36]  So stellt Art. 5 der Richtlinie 2011/96 zur Vermeidung der Doppelbesteuerung das grundsätzliche Verbot auf, Gewinne, die von einer in einem Mitgliedstaat niedergelassenen Tochtergesellschaft an ihre in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassene Muttergesellschaft ausgeschüttet werden, einem Steuerabzug an der Quelle zu unterwerfen.

[37]  Demzufolge können die Mitgliedstaaten nicht einseitig restriktive Maßnahmen einführen und den in Art. 5 der Richtlinie 2011/96 vorgesehenen Anspruch auf Quellensteuerbefreiung von diversen Bedingungen abhängig machen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Dezember 2017, Deister Holding und Juhler Holding, C-504/16 und C-613/16, EU:C:2017:1009, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).

[38]  Allerdings sieht Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2011/96 eine Ausnahme von den Steuerregeln dieser Richtlinie vor, indem er den Mitgliedstaaten die Möglichkeit einräumt, einzelstaatliche oder vertragliche Bestimmungen zur Verhinderung von Steuerhinterziehungen und Missbräuchen anzuwenden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Dezember 2017, Deister Holding und Juhler Holding, C-504/16 und C-613/16, EU:C:2017:1009, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).

[39]  Hinsichtlich Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2011/96 hat das vorlegende Gericht jedoch auf eine Abweichung zwischen deren verschiedenen Sprachfassungen hingewiesen: In der deutschen Fassung werde – anders als u. a. in der englischen, der französischen, der italienischen oder der spanischen Fassung – nicht das Wort „erforderlich“ verwendet.

[40]  Hierzu ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die Mitgliedstaaten ungeachtet der angesprochenen sprachlichen Divergenz, wenn sie die ihnen in dieser Bestimmung eingeräumte Möglichkeit wahrnehmen, die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts und insbesondere den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Dezember 2017, Deister Holding und Juhler Holding, C-504/16 und C-613/16, EU:C:2017:1009, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).

[41]  Zur Wahrung dieses Grundsatzes müssen die von den Mitgliedstaaten zur Verhinderung von Steuerhinterziehungen und Missbräuchen vorgesehenen Maßnahmen geeignet sein, dieses Ziel zu erreichen, und dürfen nicht über das dazu Erforderliche hinausgehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Dezember 2017, Deister Holding und Juhler Holding, C-504/16 und C-613/16, EU:C:2017:1009, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).

[42]  Aus der besagten Rechtsprechung ergibt sich auch, dass Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2011/96 eng auszulegen ist, da er eine Ausnahme von der allgemeinen Regel dieser Richtlinie vorsieht, nämlich die Inanspruchnahme der gemeinsamen Steuerregelung für Mutter- und Tochtergesellschaften im Anwendungsbereich der Richtlinie (Urteil vom 20. Dezember 2017, Deister Holding und Juhler Holding, C-504/16 und C-613/16, EU:C:2017:1009, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).

[43]  Der Gerichtshof hat insoweit entschieden, dass eine nationale Regelung nur dann die Verhinderung von Steuerhinterziehungen und Missbräuchen bezweckt, wenn ihr spezifisches Ziel in der Verhinderung von Verhaltensweisen liegt, die darin bestehen, rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Konstruktionen zu dem Zweck zu errichten, ungerechtfertigt einen Steuervorteil zu nutzen (Urteil vom 20. Dezember 2017, Deister Holding und Juhler Holding, C-504/16 und C-613/16, EU:C:2017:1009, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung).

[44]  Mithin kann eine allgemeine Vermutung für das Vorliegen von Steuerhinterziehung und Missbrauch keine Steuermaßnahme rechtfertigen, die die Ziele einer Richtlinie oder die Ausübung einer vom Vertrag verbürgten Grundfreiheit beeinträchtigt (Urteil vom 20. Dezember 2017, Deister Holding und Juhler Holding, C-504/16 und C-613/16, EU:C:2017:1009, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).

[45]  Bei der Prüfung, ob ein Vorgang Steuerhinterziehung und Missbrauch als Beweggrund hat, können sich die zuständigen nationalen Behörden nicht darauf beschränken, vorgegebene allgemeine Kriterien anzuwenden, sondern sie müssen den Vorgang als Ganzes individuell prüfen. Eine generelle Steuervorschrift, mit der bestimmte Gruppen von Steuerpflichtigen automatisch von dem Steuervorteil ausgenommen werden, ohne dass die Steuerbehörde auch nur einen Anfangsbeweis oder ein Indiz für die Steuerhinterziehung oder den Missbrauch beizubringen hätte, ginge über das zur Verhinderung von Steuerhinterziehungen und Missbräuchen Erforderliche hinaus (Urteil vom 20. Dezember 2017, Deister Holding und Juhler Holding, C-504/16 und C-613/16, EU:C:2017:1009, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).

[46]  Zu § 50d Abs. 3 EStG 2012 ist der dem Gerichtshof vorliegenden Akte zu entnehmen, dass die Gewährung des Steuervorteils in Form der Befreiung vom Quellensteuerabzug nach Art. 5 der Richtlinie 2011/96 dann, wenn Personen an einer gebietsfremden Muttergesellschaft beteiligt sind, denen die Befreiung vom Quellensteuerabzug oder die Erstattung der abgezogenen Steuer nicht zustände, wenn sie die Dividenden einer in Deutschland ansässigen Tochtergesellschaft unmittelbar bezogen hätten, und die von der Muttergesellschaft im betreffenden Wirtschaftsjahr erzielten Bruttoerträge nicht aus eigener Wirtschaftstätigkeit stammen, davon abhängig gemacht wird, dass keine der beiden in § 50d Abs. 3 EStG 2012 vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt sein darf, nämlich dass wirtschaftliche oder sonst beachtliche Gründe für die Einschaltung der gebietsfremden Muttergesellschaft fehlen oder diese nicht mit einem für ihren Geschäftszweck angemessen eingerichteten Geschäftsbetrieb am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr teilnimmt, wobei organisatorische, wirtschaftliche oder sonst beachtliche Merkmale der Unternehmen, die der gebietsfremden Muttergesellschaft nahestehen, außer Betracht bleiben. Eine eigene Wirtschaftstätigkeit einer gebietsfremden Muttergesellschaft wird nicht angenommen, wenn sie ihre Bruttoerträge aus der Verwaltung von Wirtschaftsgütern erzielt oder ihre wesentlichen Geschäftstätigkeiten auf Dritte überträgt.

[47]  Hierzu ist erstens festzustellen, dass § 50d Abs. 3 EStG 2012 nicht speziell bezweckt, von der Inanspruchnahme eines Steuervorteils rein künstliche Konstruktionen auszuschließen, die auf die ungerechtfertigte Nutzung dieses Vorteils ausgerichtet wären. Vielmehr erfasst er generell Situationen, in denen zum einen Personen an einer gebietsfremden Muttergesellschaft beteiligt sind, denen die betreffende Befreiung nicht zustände, wenn sie die Dividenden unmittelbar bezogen hätten, und in denen zum anderen die von dieser Muttergesellschaft im betreffenden Wirtschaftsjahr erzielten Bruttoerträge nicht aus eigener Wirtschaftstätigkeit stammen.

[48]  Zuerst bedeutet aber der Umstand, dass solche Personen an einer gebietsfremden Muttergesellschaft beteiligt sind, für sich allein nicht, dass eine rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Konstruktion vorliegt, die einzig und allein zur ungerechtfertigten Nutzung eines Steuervorteils geschaffen wurde (Urteil vom 20. Dezember 2017, Deister Holding und Juhler Holding, C-504/16 und C-613/16, EU:C:2017:1009, Rn. 65).

[49]  In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass aus keiner Bestimmung der Richtlinie 2011/96 hervorgeht, dass die steuerliche Behandlung oder die Herkunft von Personen, die an in der Union ansässigen Muttergesellschaften beteiligt sind, für das Recht dieser Gesellschaften, sich auf die in der Richtlinie vorgesehenen Vorteile zu berufen, irgendeine Rolle spielt.

[50]  Außerdem unterliegt die gebietsfremde Muttergesellschaft auf jeden Fall dem Steuerrecht des Mitgliedstaats, in dem sie niedergelassen ist (Urteil vom 20. Dezember 2017, Deister Holding und Juhler Holding, C-504/16 und C-613/16, EU:C:2017:1009, Rn. 67 und die dort angeführte Rechtsprechung).

[51]  Sodann begründet auch der Umstand, dass eine Gesellschaft in einem Mitgliedstaat nur im Hinblick darauf gegründet worden sein mag, sich in einem zweiten Mitgliedstaat niederzulassen, um ihre Geschäftstätigkeit im Wesentlichen oder gar zur Gänze über eine Tochtergesellschaft auszuüben, für sich genommen keinen Missbrauch (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. September 2003, Inspire Art, C-167/01, EU:C:2003:512, Rn. 95 und 96).

[52]  So belegt der Umstand, dass eine in einem Mitgliedstaat niedergelassene Gesellschaft in ihrem Gründungsmitgliedstaat keine Tätigkeit entfaltet und ihre Tätigkeiten ausschließlich oder hauptsächlich in einem anderen Mitgliedstaat über eine Tochtergesellschaft ausübt, noch kein missbräuchliches und betrügerisches Verhalten, das es dem letztgenannten Staat erlauben würde, der gebietsfremden Gesellschaft die Inanspruchnahme der in der Richtlinie 2011/96 vorgesehenen Steuervorteile zu verwehren.

[53]  Im Übrigen schreibt diese Richtlinie nicht vor, welche Wirtschaftstätigkeit die von ihr erfassten Gesellschaften ausüben müssen oder wie hoch die Einkünfte aus ihrer eigenen Wirtschaftstätigkeit zu sein haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Dezember 2017, Deister Holding und Juhler Holding, C-504/16 und C-613/16, EU:C:2017:1009, Rn. 72).

[54]  Demzufolge kann der Umstand, dass die Wirtschaftstätigkeit der gebietsfremden Muttergesellschaft in der Verwaltung von Wirtschaftsgütern ihrer Tochtergesellschaften besteht oder dass ihre Einkünfte nur aus dieser Verwaltung stammen, für sich allein nicht bedeuten, dass eine rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Konstruktion vorliegt. Hierbei ist es entgegen dem Vorbringen der deutschen Regierung ohne Belang, dass im Rahmen der Mehrwertsteuer die Verwaltung von Wirtschaftsgütern nicht als Wirtschaftstätigkeit angesehen wird, da für die im Ausgangsverfahren streitige Steuer und die Mehrwertsteuer unterschiedliche Rechtsrahmen gelten, mit denen jeweils unterschiedliche Ziele verfolgt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Dezember 2017, Deister Holding und Juhler Holding, C-504/16 und C-613/16, EU:C:2017:1009, Rn. 73).

[55]  Zweitens stellt, wie sich aus Rn. 45 des vorliegenden Beschlusses ergibt, § 50d Abs. 3 EStG 2012 , indem er die Gewährung der in Art. 5 der Richtlinie 2011/96 vorgesehenen Befreiung vom Quellensteuerabzug daran knüpft, dass keine der beiden von ihm vorgesehenen und in Rn. 46 des vorliegenden Beschlusses genannten Voraussetzungen erfüllt sein darf, ohne dass die Steuerbehörde einen Anfangsbeweis für das Fehlen wirtschaftlicher Gründe oder ein Indiz für die Steuerhinterziehung oder den Missbrauch beizubringen hätte, eine allgemeine Hinterziehungs- oder Missbrauchsvermutung auf und beeinträchtigt damit das mit dieser Richtlinie und insbesondere ihrem Art. 5 verfolgte Ziel, das, wie oben in den Rn. 34 bis 36 ausgeführt, darin besteht, die Doppelbesteuerung der von einer Tochtergesellschaft an ihre Muttergesellschaft ausgeschütteten Gewinne auf Ebene der Muttergesellschaft zu beseitigen, um Zusammenschlüsse von Gesellschaften auf Unionsebene zu erleichtern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Dezember 2017, Deister Holding und Juhler Holding, C-504/16 und C-613/16, EU:C:2017:1009, Rn. 69).

[56]  Drittens begründet § 50d Abs. 3 EStG 2012 zudem eine unwiderlegbare Hinterziehungs- oder Missbrauchsvermutung, da er der gebietsfremden Muttergesellschaft keine Möglichkeit lässt, zu beweisen, dass keine rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Konstruktion gegeben ist, die einzig und allein zur ungerechtfertigten Nutzung eines Steuervorteils geschaffen wurde, wenn Personen an ihr beteiligt sind, denen die Befreiung vom Quellensteuerabzug oder die Erstattung der abgezogenen Steuer nicht zustände, wenn sie die Dividenden einer gebietsansässigen Tochtergesellschaft unmittelbar bezogen hätten, und die Einkünfte der Muttergesellschaft aus der Verwaltung von Wirtschaftsgütern stammen und darüber hinaus noch eine der beiden in dieser Bestimmung vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt ist.

[57]  Viertens läuft die mit § 50d Abs. 3 EStG 2012 errichtete Regelung dem Grundsatz zuwider, dass die Feststellung einer rein künstlichen Konstruktion verlangt, dass in jedem Einzelfall eine umfassende Prüfung der betreffenden Situation vorgenommen wird. Anders als in dieser Bestimmung vorgesehen, müssen bei einer solchen Prüfung Gesichtspunkte wie die organisatorischen, wirtschaftlichen oder sonst beachtlichen Merkmale der Unternehmensgruppe, zu der die betreffende Muttergesellschaft gehört, sowie die Strukturen und Strategien dieser Gruppe berücksichtigt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Dezember 2017, Deister Holding und Juhler Holding, C-504/16 und C-613/16, EU:C:2017:1009, Rn. 74).

[58]  Nach alledem ist festzustellen, dass Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2011/96 dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung wie der im Ausgangsverfahren streitigen entgegensteht.

 Zur einschlägigen Freiheit  

[59]  Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann die steuerliche Behandlung von Dividenden sowohl unter die Niederlassungsfreiheit als auch unter den freien Kapitalverkehr fallen (Urteil vom 20. Dezember 2017, Deister Holding und Juhler Holding, C-504/16 und C-613/16, EU:C:2017:1009, Rn. 76 und die dort angeführte Rechtsprechung).

[60]  Bei der Beantwortung der Frage, ob eine nationale Regelung in den Bereich der einen oder der anderen Verkehrsfreiheit fällt, ist auf den Gegenstand der betreffenden Regelung abzustellen (Urteil vom 20. Dezember 2017, Deister Holding und Juhler Holding, C-504/16 und C-613/16, EU:C:2017:1009, Rn. 77 und die dort angeführte Rechtsprechung).

[61]  Insoweit hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass eine nationale Regelung, die nur auf Beteiligungen anwendbar ist, die es ermöglichen, einen sicheren Einfluss auf die Entscheidungen einer Gesellschaft auszuüben und deren Tätigkeiten zu bestimmen, von den Vertragsbestimmungen über die Niederlassungsfreiheit erfasst wird. Hingegen sind nationale Bestimmungen über Beteiligungen, die allein zur Geldanlage erfolgen, ohne dass auf die Verwaltung und Kontrolle des Unternehmens Einfluss genommen werden soll, ausschließlich im Hinblick auf den freien Kapitalverkehr zu prüfen (Urteil vom 20. Dezember 2017, Deister Holding und Juhler Holding, C-504/16 und C-613/16, EU:C:2017:1009, Rn. 78 und die dort angeführte Rechtsprechung).

[62]  Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die im Ausgangsverfahren streitige Steuerregelung auf Gesellschaften anwendbar war, die mit mindestens 10 % am Kapital ihrer Tochtergesellschaften beteiligt waren. Angaben, worum es bei dieser Regelung ging, enthält die Vorlageentscheidung dagegen nicht.

[63]  Eine Beteiligung in dieser Höhe bedeutet nicht zwangsläufig, dass die Gesellschaft, die sie hält, einen sicheren Einfluss auf die Entscheidungen der die Dividenden ausschüttenden Gesellschaft ausübt (vgl. entsprechend Urteil vom 20. Dezember 2017, Deister Holding und Juhler Holding, C-504/16 und C-613/16, EU:C:2017:1009, Rn. 80 und die dort angeführte Rechtsprechung).

[64]  Unter solchen Umständen sind die tatsächlichen Gegebenheiten des konkreten Falls zu berücksichtigen, um zu bestimmen, von welcher Verkehrsfreiheit die dem Ausgangsverfahren zugrunde liegende Situation erfasst wird (Urteil vom 20. Dezember 2017, Deister Holding und Juhler Holding, C-504/16 und C-613/16, EU:C:2017:1009, Rn. 81 und die dort angeführte Rechtsprechung).

[65]  Hier ergibt sich aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte, dass GS zu dem im Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeitpunkt zu über 90 % an ihrer deutschen Tochtergesellschaft beteiligt war. Diese Beteiligung verlieh ihr einen sicheren Einfluss auf die Entscheidungen der Tochtergesellschaft, der es ihr ermöglichte, deren Tätigkeiten zu bestimmen. Daher ist die im Ausgangsverfahren streitige Regelung im Hinblick auf die Niederlassungsfreiheit zu prüfen.

[66]  In diesem Zusammenhang ist klarzustellen, dass die Herkunft der Anteilseigner von GS keinen Einfluss auf das Recht dieser Gesellschaft hat, sich auf die Niederlassungsfreiheit zu berufen, denn aus keiner Bestimmung des Unionsrechts geht hervor, dass die Herkunft der Anteilseigner – seien es natürliche oder juristische Personen – von in der Union ansässigen Gesellschaften für das Recht dieser Gesellschaften, sich auf die Niederlassungsfreiheit zu berufen, eine Rolle spielt (vgl. entsprechend Urteil vom 20. Dezember 2017, Deister Holding und Juhler Holding, C-504/16 und C-613/16, EU:C:2017:1009, Rn. 84 und die dort angeführte Rechtsprechung).

[67]  Da im Ausgangsverfahren unstreitig ist, dass GS eine in der Union niedergelassene Gesellschaft ist, kann sie sich auf die Niederlassungsfreiheit berufen.

 Zur Vereinbarkeit einer Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden mit der Niederlassungsfreiheit

[68]  Die Niederlassungsfreiheit, die Art. 49 AEUV den Unionsangehörigen zuerkennt, umfasst für sie die Aufnahme und Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeiten sowie die Gründung und Leitung von Unternehmen unter den gleichen Bedingungen, wie sie im Recht des Niederlassungsmitgliedstaats für dessen eigene Angehörige festgelegt sind. Mit ihr ist nach Art. 54 AEUV für die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaften, die ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Union haben, das Recht verbunden, ihre Tätigkeit in dem betreffenden Mitgliedstaat durch eine Tochtergesellschaft, Zweigniederlassung oder Agentur auszuüben (Urteil vom 20. Dezember 2017, Deister Holding und Juhler Holding, C-504/16 und C-613/16, EU:C:2017:1009, Rn. 86 und die dort angeführte Rechtsprechung).

[69]  Was die Behandlung im Aufnahmemitgliedstaat betrifft, ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass, da Art. 49 Abs. 1 Satz 2 AEUV den Wirtschaftsteilnehmern ausdrücklich die Möglichkeit lässt, die geeignete Rechtsform für die Ausübung ihrer Tätigkeiten in einem anderen Mitgliedstaat frei zu wählen, diese freie Wahl nicht durch diskriminierende Steuerbestimmungen eingeschränkt werden darf (Urteil vom 20. Dezember 2017, Deister Holding und Juhler Holding, C-504/16 und C-613/16, EU:C:2017:1009, Rn. 87 und die dort angeführte Rechtsprechung).

[70]  Im Übrigen sind als Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit alle Maßnahmen anzusehen, die die Ausübung dieser Freiheit unterbinden, behindern oder weniger attraktiv machen (Urteil vom 20. Dezember 2017, Deister Holding und Juhler Holding, C-504/16 und C-613/16, EU:C:2017:1009, Rn. 88 und die dort angeführte Rechtsprechung).

[71]  Hier geht aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte hervor, dass für die Befreiung vom Steuerabzug an der Quelle die Vorgaben des § 50d Abs. 3 EStG 2012 nur dann gelten, wenn eine gebietsansässige Tochtergesellschaft Gewinne an eine gebietsfremde Muttergesellschaft ausschüttet.

[72]  Diese Ungleichbehandlung ist, wie das vorlegende Gericht ausgeführt hat, geeignet, eine gebietsfremde Muttergesellschaft davon abzuhalten, in Deutschland durch eine dort niedergelassene Tochtergesellschaft wirtschaftlich tätig zu werden, und beschränkt somit die Niederlassungsfreiheit.

[73]  Diese Beschränkung ist nur statthaft, wenn sie Situationen betrifft, die nicht objektiv miteinander vergleichbar sind, oder wenn sie durch einen unionsrechtlich anerkannten zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist. In diesem letzten Fall muss die Beschränkung zudem geeignet sein, die Erreichung des mit ihr verfolgten Ziels zu gewährleisten, und darf nicht über das hinausgehen, was hierzu erforderlich ist (Urteil vom 20. Dezember 2017, Deister Holding und Juhler Holding, C-504/16 und C-613/16, EU:C:2017:1009, Rn. 91 und die dort angeführte Rechtsprechung).

[74]  Zur Vergleichbarkeit der Situation einer gebietsansässigen und einer gebietsfremden Gesellschaft, die Dividenden von einer gebietsansässigen Tochtergesellschaft beziehen, ist anzumerken, dass mit der Befreiung der von einer Tochtergesellschaft an ihre Muttergesellschaft ausgeschütteten Gewinne vom Quellensteuerabzug, wie oben in Rn. 55 ausgeführt, eine Doppelbesteuerung dieser Gewinne auf Ebene der Muttergesellschaft vermieden werden soll.

[75]  Zwar hat der Gerichtshof entschieden, dass sich Dividenden beziehende gebietsansässige Anteilseigner in Bezug auf Maßnahmen eines Mitgliedstaats zur Vermeidung oder Abschwächung der mehrfachen Belastung oder der Doppelbesteuerung der von einer gebietsansässigen Gesellschaft ausgeschütteten Gewinne nicht unbedingt in einer Situation befinden, die der von Dividenden beziehenden Anteilseignern vergleichbar wäre, die in einem anderen Mitgliedstaat ansässig sind, doch er hat ebenfalls festgestellt, dass, wenn ein Mitgliedstaat seine Besteuerungsbefugnis nicht nur in Bezug auf die Einkünfte der gebietsansässigen, sondern auch der gebietsfremden Anteilseigner hinsichtlich der Dividenden, die sie von einer gebietsansässigen Gesellschaft beziehen, ausübt, die Situation der gebietsfremden Anteilseigner sich derjenigen der gebietsansässigen Anteilseigner annähert (Urteil vom 20. Dezember 2017, Deister Holding und Juhler Holding, C-504/16 und C-613/16, EU:C:2017:1009, Rn. 93 und die dort angeführte Rechtsprechung).

[76]  Im Ausgangsverfahren befindet sich die gebietsfremde Muttergesellschaft, da sich die Bundesrepublik Deutschland dafür entschieden hat, ihre Besteuerungsbefugnis in Bezug auf die von der gebietsansässigen Tochtergesellschaft an die gebietsfremde Muttergesellschaft ausgeschütteten Gewinne auszuüben, hinsichtlich dieser Gewinnausschüttungen in einer Situation, die mit der einer gebietsansässigen Muttergesellschaft vergleichbar ist (vgl. entsprechend Urteil vom 20. Dezember 2017, Deister Holding und Juhler Holding, C-504/16 und C-613/16, EU:C:2017:1009, Rn. 94).

[77]  Hinsichtlich der Rechtfertigung und der Verhältnismäßigkeit der Beschränkung macht die Bundesrepublik Deutschland geltend, dass die Beschränkung durch das Ziel der Bekämpfung von Steuerhinterziehung und -umgehung gerechtfertigt sei.

[78]  Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das Ziel der Bekämpfung von Steuerhinterziehung und -umgehung als zwingender Grund des Allgemeininteresses es rechtfertigen kann, die Ausübung der im Vertrag verbürgten Verkehrsfreiheiten zu beschränken (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Dezember 2017, Deister Holding und Juhler Holding, C-504/16 und C-613/16, EU:C:2017:1009, Rn. 96 und die dort angeführte Rechtsprechung).

[79]  Allerdings hat diese Rechtfertigung, ob sie nun in Anwendung von Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2011/96 oder als Rechtfertigung einer Beschränkung des Primärrechts geltend gemacht wird, dieselbe Tragweite (Urteil vom 20. Dezember 2017, Deister Holding und Juhler Holding, C-504/16 und C-613/16, EU:C:2017:1009, Rn. 97 und die dort angeführte Rechtsprechung). Daher gelten die Erwägungen in den Rn. 43 bis 57 des vorliegenden Beschlusses auch in Bezug auf die betreffende Verkehrsfreiheit.

[80]  Deshalb kann das Ziel der Bekämpfung von Steuerhinterziehung und -umgehung im vorliegenden Fall eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit nicht rechtfertigen.

[81]  Nach alledem ist auf die vorgelegten Fragen zu antworten, dass Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2011/96 und Art. 49 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie einer steuerrechtlichen Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegenstehen, nach der auf Dividenden, die eine gebietsansässige Tochtergesellschaft an ihre gebietsfremde Muttergesellschaft ausschüttet, Quellensteuer anfällt, die Muttergesellschaft aber keinen Anspruch auf Erstattung der Quellensteuer oder Freistellung davon hat, wenn zum einen Personen an ihr beteiligt sind, denen die Erstattung oder Freistellung nicht zustände, wenn sie Dividenden einer solchen Tochtergesellschaft unmittelbar bezogen hätten, und die von der Muttergesellschaft im betreffenden Wirtschaftsjahr erzielten Bruttoerträge nicht aus eigener Wirtschaftstätigkeit stammen und wenn zum anderen eine der beiden in der betreffenden Steuervorschrift aufgestellten Voraussetzungen erfüllt ist, d. h. entweder wirtschaftliche oder sonst beachtliche Gründe für die Einschaltung der besagten Muttergesellschaft fehlen oder diese nicht mit einem für ihren Geschäftszweck angemessen eingerichteten Geschäftsbetrieb am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr teilnimmt, wobei organisatorische, wirtschaftliche oder sonst beachtliche Merkmale der Unternehmen, die der Muttergesellschaft nahestehen, außer Betracht bleiben.

Kosten

[82]  Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:

Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2011/96/EU des Rates vom 30. November 2011 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten in der durch die Richtlinie 2013/13/EU des Rates vom 13. Mai 2013 geänderten Fassung und Art. 49 AEUV sind dahin auszulegen, dass sie einer steuerrechtlichen Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegenstehen, nach der auf Dividenden, die eine gebietsansässige Tochtergesellschaft an ihre gebietsfremde Muttergesellschaft ausschüttet, Quellensteuer anfällt, die Muttergesellschaft aber keinen Anspruch auf Erstattung der Quellensteuer oder Freistellung davon hat, wenn zum einen Personen an ihr beteiligt sind, denen die Erstattung oder Freistellung nicht zustände, wenn sie Dividenden einer solchen Tochtergesellschaft unmittelbar bezogen hätten, und die von der Muttergesellschaft im betreffenden Wirtschaftsjahr erzielten Bruttoerträge nicht aus eigener Wirtschaftstätigkeit stammen und wenn zum anderen eine der beiden in der betreffenden Steuervorschrift aufgestellten Voraussetzungen erfüllt ist, d. h. entweder wirtschaftliche oder sonst beachtliche Gründe für die Einschaltung der besagten Muttergesellschaft fehlen oder diese nicht mit einem für ihren Geschäftszweck angemessen eingerichteten Geschäftsbetrieb am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr teilnimmt, wobei organisatorische, wirtschaftliche oder sonst beachtliche Merkmale der Unternehmen, die der Muttergesellschaft nahestehen, außer Betracht bleiben.