Archiv der Kategorie: Steuerrecht

Verfassungsmäßigkeit der Nichtabziehbarkeit der Gewerbesteuer als Betriebsausgabe

Vorläufige Festsetzung (§ 165 Absatz 1 AO) des Gewerbesteuermessbetrags: Verfassungsmäßigkeit der Nichtabziehbarkeit der Gewerbesteuer als Betriebsausgabe und der Hinzurechnungen nach § 8 Nummer 1 Buchstaben a, d und e GewStG

Sämtliche Festsetzungen des Gewerbesteuermessbetrags für Erhebungszeiträume ab 2008 sind im Rahmen der verfahrensrechtlichen Möglichkeiten hinsichtlich der Nichtabziehbarkeit der Gewerbesteuer und der darauf entfallenden Nebenleistungen als Betriebsausgaben (§ 4 Absatz 5b EStG) vorläufig gemäß § 165 Absatz 1 Satz 2 Nummer 3 AO durchzuführen. Ferner sind Festsetzungen des Gewerbesteuermessbetrags für Erhebungszeiträume ab 2008 mit Hinzurechnungen zum Gewerbeertrag nach § 8 Nummer 1 Buchstabe a, d oder e GewStG im Rahmen der verfahrensrechtlichen Möglichkeiten hinsichtlich der Frage der Verfassungsmäßigkeit dieser Hinzurechnungsvorschriften vorläufig gemäß § 165 Absatz 1 Satz 2 Nummer 3 AO durchzuführen. Die gleich lautenden Erlasse der obersten Finanzbehörden der Länder vom 25. April 2013 regeln, welcher Erläuterungstext in die Gewerbesteuermessbescheide aufzunehmen ist.

Vorläufige Festsetzung (§ 165 Absatz 1 AO) des Gewerbesteuermessbetrags; Verfassungsmäßigkeit der Nichtabziehbarkeit der Gewerbesteuer als Betriebsausgabe und der Hinzurechnungen nach § 8 Nummer 1 Buchstaben a, d und e GewStG (PDF, 41,2 KB)

Gleich lautende Erlasse der obersten Finanzbehörden der Länder vom 25. April 2013

Vorläufige Festsetzung (§ 165 Absatz 1 AO) des Gewerbesteuermessbetrags; Verfassungsmäßigkeit der Nichtabziehbarkeit der Gewerbesteuer als Betriebsausgabe  und der Hinzurechnungen nach § 8 Nummer 1 Buchstaben a, d und e GewStG
TOP 4 der Sitzung AO I/2013 vom 6. bis 8. März 2013
Sämtliche Festsetzungen des Gewerbesteuermessbetrags für Erhebungszeiträume ab 2008  sind im Rahmen der verfahrensrechtlichen Möglichkeiten hinsichtlich der Nichtabziehbarkeit
der Gewerbesteuer und der darauf entfallenden Nebenleistungen als Betriebsausgaben (§ 4  Absatz 5b EStG) vorläufig gemäß § 165 Absatz 1 Satz 2 Nummer 3 AO durchzuführen.

Ferner sind Festsetzungen des Gewerbesteuermessbetrags für Erhebungszeiträume ab 2008 mit  Hinzurechnungen zum Gewerbeertrag nach § 8 Nummer 1 Buchstabe a, d oder e GewStG im  Rahmen der verfahrensrechtlichen Möglichkeiten hinsichtlich der Frage der Verfassungsmäßigkeit dieser Hinzurechnungsvorschriften vorläufig gemäß § 165 Absatz 1 Satz 2 Nummer 3  AO durchzuführen.

In die Gewerbesteuermessbescheide ist folgender Erläuterungstext aufzunehmen:

Fälle ohne Hinzurechnungen nach § 8 Nummer 1 Buchstabe a, d oder e GewStG: „Die Festsetzung des Gewerbesteuermessbetrags ist gemäß § 165 Absatz 1 Satz 2 Nummer 3  AO vorläufig hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der Nichtabziehbarkeit der Gewerbesteuer und der darauf entfallenden Nebenleistungen als Betriebsausgaben (§ 4 Absatz 5b EStG). Die Vorläufigkeitserklärung erfasst sowohl die Frage, ob die angeführte gesetzliche Vorschrift mit höherrangigem Recht vereinbar ist, als auch den Fall, dass das Bundesverfassungsgericht oder der Bundesfinanzhof die streitige verfassungsrechtliche Frage durch verfassungskonforme Auslegung der angeführten gesetzlichen Vorschrift entscheidet (BFH-Urteil  vom 30. September 2010 – III R 39/08 -, BStBl 2011 II S. 11). Die Vorläufigkeitserklärung  erfolgt lediglich  aus verfahrenstechnischen Gründen. Sie ist nicht dahin zu verstehen, dass die  im Vorläufigkeitsvermerk angeführte gesetzliche Vorschrift als verfassungswidrig angesehen  wird. Sie ist außerdem nicht dahingehend zu verstehen, dass die Finanzverwaltung es für  möglich hält, das Bundesverfassungsgericht oder der Bundesfinanzhof könne die im Vorläufigkeitsvermerk angeführte Rechtsnorm gegen ihren Wortlaut auslegen.“

Fälle mit Hinzurechnungen nach § 8 Nummer 1 Buchstabe a, d oder e GewStG: „Die Festsetzung des Gewerbesteuermessbetrags ist gemäß § 165 Absatz 1 Satz 2 Nummer 3  AO vorläufig hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der Nichtabziehbarkeit der Gewerbesteuer und der darauf entfallenden Nebenleistungen als Betriebsausgaben (§ 4 Absatz 5b  EStG) und der Verfassungsmäßigkeit der Hinzurechnungen zum Gewerbeertrag nach § 8  Nummer 1 Buchstabe a, d und e GewStG. Die Vorläufigkeitserklärung erfasst sowohl die  Frage, ob die angeführten gesetzlichen Vorschriften mit höherrangigem Recht vereinbarsind,  als auch den Fall, dass das Bundesverfassungsgericht oder der Bundesfinanzhof die streitige  verfassungsrechtliche Frage durch verfassungskonforme Auslegung der angeführten gesetzlichen Vorschriften entscheidet (BFH-Urteil vom 30. September 2010 – III R 39/08 -, BStBl 2011 II S. 11). Die Vorläufigkeitserklärung erfolgt lediglich aus verfahrenstechnischen  Gründen. Sie ist nicht dahin zu verstehen, dass die im Vorläufigkeitsvermerk angeführten  gesetzlichen Vorschriften als verfassungswidrig angesehen werden. Sie ist außerdem nicht dahingehend zu verstehen, dass die Finanzverwaltung es für möglich hält, das  Bundesverfassungsgericht oder der Bundesfinanzhof könne die im Vorläufigkeitsvermerk angeführte  Rechtsnorm gegen ihren Wortlaut auslegen.“

Im Übrigen gelten die im BMF-Schreiben vom 16. Mai 2011 (BStBl I S. 464) getroffenen  Regelungen entsprechend. Diese Erlasse treten mit sofortiger Wirkung an die Stelle der Erlasse vom 30. November 2012 (BStBl I S. 1098).Ministerium für Finanzen und Wirtschaft

Vorläufige Steuerfestsetzung hinsichtlich der Nichtabziehbarkeit von Steuerberatungskosten als Sonderausgaben

Vorläufige Steuerfestsetzung (§ 165 Absatz 1 AO) hinsichtlich der Nichtabziehbarkeit von Steuerberatungskosten als Sonderausgaben

Der Bundesfinanzhof hat mit Urteilen vom 4. Februar 2010 – X R 10/08 – (BStBl II S. 617), vom 16. Februar 2011 – X R 10/10 – (BFH/NV S. 977) und vom 17. Oktober 2012 – VIII R
51/09 – (BFH/NV 2013 S. 365) entschieden, dass die Nichtabziehbarkeit von Steuerberatungskosten als Sonderausgaben nicht gegen das Grundgesetz verstößt. Gegen keines dieser Urteile wurde eine Verfassungsbeschwerde erhoben. Das BMF-Schreiben vom 25. April 2013 enthält dazu unter Bezugnahme auf das Ergebnis der Erörterung mit den obersten Finanzbehörden der Länder Regelungen.
Vorläufige Steuerfestsetzung (§ 165 Absatz 1 AO) hinsichtlich der Nichtabziehbarkeit der Gewerbesteuer als Betriebsausgabe sowie hinsichtlich der Nichtabziehbarkeit von Steuerberatungskosten als Sonderausgaben (PDF, 37,7 KB)

 

Vorläufige Steuerfestsetzung (§ 165 Absatz 1 AO) hinsichtlich der Nichtabziehbarkeit von Steuerberatungskosten als Sonderausgaben

BEZUG BMF-Schreiben vom 16. Mai 2011 (BStBl I S. 464) und vom 25. Februar 2013 (BStBl I S. 195);
TO-Punkte 4 und 20 der Sitzung AO I/2013 vom 6. bis 8. März 2013

Der Bundesfinanzhof hat mit Urteilen vom 4. Februar 2010 – X R 10/08 -(BStBl II S. 617), vom  16. Februar 2011 – X R 10/10 -(BFH/NV S. 977) und vom 17. Oktober 2012 – VIII R 51/09 – (BFH/NV 2013 S. 365) entschieden, dass die Nichtabziehbarkeit von Steuerberatungskosten als  Sonderausgaben nicht gegen das Grundgesetz verstößt. Gegen keines dieser Urteile wurde eine Verfassungsbeschwerde erhoben. Unter Bezugnahme auf das Ergebnis der Erörterung mit den  obersten Finanzbehörden der Länder gilt daher Folgendes:

Nummer 3 (Nichtabziehbarkeit von Steuerberatungskosten als Sonderausgaben – Aufhebung  des § 10 Absatz 1 Nummer 6 EStG durch das Gesetz zum Einstieg in ein steuerliches Sofortprogramm vom 22. Dezember 2005, BGBl. I S. 3682) der Anlage zum BMF-Schreiben vom  16. Mai 2011 (BStBl I S. 464), die zuletzt durch BMF-Schreiben vom 25. Februar 2013 Seite 2 (BStBl I S. 195) neu gefasst worden ist, wird mit sofortiger Wirkung gestrichen. Wegen der  Frage, ob die Nichtabziehbarkeit von Steuerberatungskosten als Sonderausgaben verfassungsgemäß ist, kommt ein Ruhen von Einspruchsverfahren nicht mehr in Betracht. Die Anlage zum BMF-Schreiben vom 16. Mai 2011 (a. a. O.) wird mit sofortiger Wirkung
wie folgt gefasst:

„Festsetzungen der Einkommensteuer sind hinsichtlich folgender Punkte gemäß § 165 Absatz 1 Satz 2 Nummer 3 AO im Hinblick auf die Verfassungsmäßigkeit und verfassungskonforme Auslegung der Norm vorläufig vorzunehmen:

1. Nichtabziehbarkeit der Gewerbesteuer und der darauf entfallenden Nebenleistungen als  Betriebsausgaben (§ 4 Absatz 5b EStG).

2.a) Beschränkte Abziehbarkeit von Kinderbetreuungskosten (§ 4f, § 9 Absatz 5 Satz 1, § 10  Absatz 1 Nummern 5 und 8 EStG)

-für die Veranlagungszeiträume 2006 bis 2008 -.

2.b) Beschränkte Abziehbarkeit von Kinderbetreuungskosten (§ 9c, § 9 Absatz 5 Satz 1 EStG)

-für die Veranlagungszeiträume 2009 bis 2011 -.

3. Beschränkte Abziehbarkeit von Vorsorgeaufwendungen (§ 10 Absatz 3, 4, 4a EStG) für  die Veranlagungszeiträume 2005 bis 2009.

4. Nichtabziehbarkeit von Beiträgen zu Rentenversicherungen als vorweggenommene Werbungskosten bei den Einkünften im Sinne des § 22 Nummer 1 Satz 3 Buchstabe a  EStG für Veranlagungszeiträume ab 2005.

5. Besteuerung der Einkünfte aus Leibrenten im Sinne des § 22 Nummer 1 Satz 3 Buchstabe a Doppelbuchstabe aa EStG für Veranlagungszeiträume ab 2005.

6. Höhe der kindbezogenen Freibeträge nach § 32 Absatz 6 Sätze 1 und 2 EStG.

7. Höhe des Grundfreibetrags (§ 32a Absatz 1 Satz 2 Nummer 1 EStG).

Der Vorläufigkeitsvermerk gemäß Nummer 1 ist im Rahmen der verfahrensrechtlichen Möglichkeiten folgenden Bescheiden beizufügen: Sämtlichen Einkommensteuerbescheiden für
Veranlagungszeiträume ab 2008, die Einkünfte aus Gewerbebetrieb erfassen, sämtlichen

Körperschaftsteuerbescheiden für Veranlagungszeiträume ab 2008 sowie sämtlichen Bescheiden über die gesonderte (und ggf. einheitliche) Feststellung von Einkünften, soweit diese
Bescheide Feststellungszeiträume ab 2008 betreffen und für die Gesellschaft oder Gemeinschaft ein Gewerbesteuermessbetrag festgesetzt wurde.

Der Vorläufigkeitsvermerk gemäß Nummer 2 ist auch Bescheiden über die gesonderte (und  ggf. einheitliche) Feststellung von Einkünften i. S. von § 2 Absatz 1 Satz 1 Nummern 1 bis 3
EStG beizufügen. Im Vorläufigkeitsvermerk ist nur § 4f EStG (Feststellungszeiträume 2006 bis 2008) bzw. § 9c Absatz 1 und 3 Satz 1 EStG (Feststellungszeiträume 2009 bis 2011) zu
zitieren.

Der Vorläufigkeitsvermerk gemäß Nummer 4 ist im Rahmen der verfahrensrechtlichen Möglichkeiten sämtlichen Einkommensteuerfestsetzungen für Veranlagungszeiträume ab 2005
beizufügen. In die Bescheide ist zusätzlich folgender Erläuterungstext aufzunehmen: „Der Vorläufigkeitsvermerk hinsichtlich der Nichtabziehbarkeit von Beiträgen zu Rentenversicherungen als vorweggenommene Werbungskosten stützt sich auch auf § 165 Absatz 1 Satz 2 Nummer 4 AO und umfasst deshalb auch die Frage einer eventuellen einfachgesetzlich begründeten steuerlichen Berücksichtigung.“

Der Vorläufigkeitsvermerk gemäß Nummer 5 erfasst sämtliche Leibrentenarten im Sinne des § 22 Nummer 1 Satz 3 Buchstabe a Doppelbuchstabe aa EStG.

Der Vorläufigkeitsvermerk gemäß Nummer 6 ist im Rahmen der verfahrensrechtlichen Möglichkeiten sämtlichen Einkommensteuerfestsetzungen für Veranlagungszeiträume ab 2001 mit
einer Prüfung der Steuerfreistellung nach § 31 EStG beizufügen.

Der Vorläufigkeitsvermerk gemäß Nummer 7 ist im Rahmen der verfahrensrechtlichen Möglichkeiten sämtlichen Einkommensteuerfestsetzungen für Veranlagungszeiträume ab 2001
beizufügen.

Ferner sind im Rahmen der verfahrensrechtlichen Möglichkeiten sämtliche Festsetzungen des  Solidaritätszuschlags für die Veranlagungszeiträume ab 2005 hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit des Solidaritätszuschlaggesetzes 1995 vorläufig gemäß § 165 Absatz 1 Satz 2  Nummer 3 AO vorzunehmen.“

Dieses Schreiben wird im Bundessteuerblatt Teil I veröffentlicht. Es steht ab sofort für eine Übergangszeit auf den Internetseiten des Bundesministeriums der Finanzen
(http://www.bundesfinanzministerium.de) unter der Rubrik Themen – Steuern – Weitere  Steuerthemen – Abgabenordnung -BMF-Schreiben / Allgemeines zum Download bereit.

Beiladung Finanzgerichtverfahren betreffend Umsatzsteuer

Gericht: BFH 5. Senat
Entscheidungsdatum: 27.12.2012
Aktenzeichen: V B 31/11
Dokumenttyp: Beschluss
Normen: § 60 Abs 1 FGO, § 72 ZPO
Beiladung im die FG-Verfahren betreffend Umsatzsteuer

Leitsatz

NV: Durch die Möglichkeit der einfachen Beiladung ist hinreichend gewährleistet, dass widersprüchliche Entscheidungen vermieden werden können(Rn.10).

Orientierungssatz

NV: Die Möglichkeit einer Streitverkündigung, wie sie in § 72ZPO vorgesehen ist, besteht im Finanzgerichtsprozess nicht (BFH-Beschluss vom 13. Juni 2007 V B 179/06)(Rn.9).

Fundstellen

NV (nicht amtlich veröffentlicht)
Verfahrensgang

vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg, 17. Februar 2011, Az: 7 K 7402/07, Urteil
Diese Entscheidung zitiert

Rechtsprechung
Vergleiche EuGH, 26. Januar 2012, Az: C-218/10
im Text BFH, 9. April 2008, Az: V B 143/07
Vergleiche BFH, 13. Juni 2007, Az: V B 179/06
im Text BFH, 29. Oktober 2002, Az: V B 186/01

Gründe

1
Die Beschwerde der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) ist unbegründet.

 

2
1. Die Revision ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung –FGO–) zuzulassen.

 

3
a) Die Klägerin hält es für klärungsbedürftig, ob „es mit den unionsrechtlichen Grundsätzen der Effektivität und der Äquivalenz vereinbar [ist], wenn in den Gesetzen oder in der Rechtspraxis eines Mitgliedstaates keine Möglichkeiten vorgesehen sind, um Widersprüche in den Entscheidungen von Gerichten verschiedener Gerichtszweige zu vermeiden oder zu lösen, die umsatzsteuerliche Fragen oder Folgefragen des gleichen Falles (des gleichen Ausgangssachverhalts) betreffen“, ob „die Finanzbehörden und ein Finanzgericht den zivilrechtlichen Vertragspartner oder den etwaigen zivilrechtlichen Erstattungsschuldner bei dem Rechtsstreit eines Steuerpflichtigen über die umsatzsteuerrechtliche Beurteilung eines Sachverhalts hinzuziehen oder beteiligen“ müssen, ob „sich dann die Bindungswirkung des Finanzgerichts im Hinblick auf die tatsächlichen Fragestellungen und die rechtliche Beurteilung in einem nachfolgenden zivilrechtlichen Verfahren“ erstreckt und ob „dies nur in Fällen [gilt], in denen andernfalls ein Beteiligter mit der Umsatzsteuer doppelt belastet würde“. Die Rechtsfrage gehe dahin, „ob und gegebenenfalls wie das nationale Verfahrensrecht Vorkehrungen dafür treffen muss, die Gefahr von einander widersprechender Entscheidungen der Finanzgerichte einerseits und der Zivilgerichte andererseits zu vermeiden“.

 

4
b) Die von der Klägerin aufgeworfenen Fragen sind nicht klärungsbedürftig.

 

5
aa) Nach den Regelungen der FGO bestehen nur beschränkte Möglichkeiten, andere Personen als den Kläger und den Beklagten als sog. Dritte an dem finanzgerichtlichen Verfahren zu beteiligen. In Betracht kommt hierfür nur die Beiladung (§ 60 FGO).

 

6
(1) Im Rahmen der sog. einfachen Beiladung kann das Finanzgericht von Amts wegen oder auf Antrag andere beiladen, deren rechtliche Interessen nach den Steuergesetzen durch die Entscheidung berührt werden, insbesondere solche, die nach den Steuergesetzen neben dem Steuerpflichtigen haften.

 

7
Das danach bestehende Erfordernis eines „rechtlichen Interesses nach den Steuergesetzen“ ist nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) nicht eng auszulegen. So kommt nach dieser Vorschrift sowohl eine Beiladung des Leistungsempfängers im Rechtsstreit des leistenden Unternehmers als auch eine Beiladung des leistenden Unternehmers im Rechtsstreit des Leistungsempfängers in Betracht (BFH-Beschluss vom 9. April 2008 V B 143/07, BFH/NV 2008, 1339). Das rechtliche Interesse nach den Steuergesetzen kann sich dabei auch daraus ergeben, dass das Vorliegen einer steuerpflichtigen Leistung im Fall einer Preisvereinbarung zwischen leistendem Unternehmer und Leistungsempfänger, nach der sich der vereinbarte Preis um die gesetzlich für die Leistung entstehende Umsatzsteuer erhöht, für die Bestimmung der Höhe der zivilrechtlich geschuldeten Gegenleistung von Bedeutung sein kann.

 

8
(2) Eine notwendige Beiladung setzt gemäß § 60 Abs. 3 FGO voraus, dass an einem streitigen Rechtsverhältnis Dritte derart beteiligt sind, dass die Entscheidung auch ihnen gegenüber nur einheitlich ergehen kann. Der erkennende Senat verneint in seiner Rechtsprechung das Vorliegen einer derart notwendigen Beiladung im Verhältnis zwischen leistendem Unternehmer und Leistungsempfänger, da die Entscheidung z.B. über den Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers nicht einheitlich für den leistenden Unternehmer in der Weise wirkt, dass damit auch über das Bestehen einer Steuerpflicht in seiner Person entschieden wird (BFH-Beschluss vom 29. Oktober 2002 V B 186/01, BFH/NV 2003, 780). Ist der Vorsteuerabzug z.B. aufgrund von Rechnungsmängeln zu versagen, hat dies auf die Steuerpflicht des leistenden Unternehmers keinen Einfluss. Gleiches gilt für den Fall, dass der Vorsteuerabzug z.B. mangels Steuerpflicht oder mangels Unternehmereigenschaft des Leistenden zu versagen ist, aber Rechnungen mit Steuerausweis vorliegen, die nach der in den Streitjahren bestehenden Rechtslage zu einer Steuerschuld des Rechnungsausstellers nach § 14 Abs. 2 oder 3 des Umsatzsteuergesetzes führten. Dass in derartigen Fällen ein zivilrechtliches Interesse des den Vorsteuerabzug begehrenden Leistungsempfängers an einer Beiladung des leistenden Unternehmers für den Fall einer Klageabweisung bestehen kann, rechtfertigt nicht die Annahme einer notwendigen Beiladung, sondern führt nur zu einer einfachen Beiladung nach § 60 Abs. 1 FGO.

 

9
(3) Die Möglichkeit einer Streitverkündigung, wie sie in § 72 der Zivilprozessordnung vorgesehen ist, besteht im Finanzgerichtsprozess nicht (BFH-Beschluss vom 13. Juni 2007 V B 179/06, BFH/NV 2007, 2296).

 

10
bb) Die prozessualen Vorschriften der FGO tragen damit den von der Klägerin als maßgeblich angesehenen Grundsätzen der Effektivität und Äquivalenz hinreichend Rechnung. Insbesondere durch die Möglichkeit einer einfachen Beiladung gemäß § 60 Abs. 1 FGO ist hinreichend gewährleistet, dass widersprüchliche Entscheidungen unterschiedlicher Gerichtszweige vermieden werden können. Weiter gehende Erfordernisse ergeben sich entgegen der Auffassung der Klägerin auch nicht aus dem Unionsrecht und der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH). So folgt aus dem EuGH-Urteil vom 26. Januar 2012 C-218/10, ADV (Umsatzsteuer-Rundschau –UR– 2012, 175) zwar, dass es „als Verstoß gegen die Verpflichtungen des Mitgliedstaats aus der Sechsten Richtlinie angesehen werden“ könnte, wenn „verschiedene Behörden und/oder Gerichte eines Mitgliedstaats weiterhin systematisch unterschiedliche Auffassungen über die Anknüpfung ein und derselben Dienstleistung in Bezug auf den Leistungserbringer einerseits und den Leistungsempfänger andererseits vertreten, so dass insbesondere der Grundsatz der steuerlichen Neutralität verletzt wird“ (EuGH-Urteil ADV in UR 2012, 175 Rdnr. 43). Eine derartige Gefahr besteht jedoch im Hinblick auf die Möglichkeit einer einfachen Beiladung nach § 60 Abs. 1 FGO nicht. Hierdurch ist hinreichend gewährleistet, dass „die Gefahr von Widersprüchen und Konflikten zwischen den verschiedenen Gerichtsbarkeiten“ vermieden werden kann. Daher ist entgegen der Auffassung der Klägerin auch keine Vorlage an den EuGH geboten.

 

11
2. Es liegt auch kein Verfahrensfehler (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) vor. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats stellt das Unterlassen einer einfachen Beiladung nach § 60 Abs. 1 FGO keinen Verfahrensfehler i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO dar (BFH-Beschluss in BFH/NV 2003, 780). Ein Fall einer notwendigen Beiladung nach § 60 Abs. 3 FGO liegt nicht vor (s. oben 1.b aa (2)).

 

12
3. Auf den beim Finanzamt gestellten Billigkeitsantrag kommt es in dem die Steuerfestsetzung betreffenden Beschwerdeverfahren nicht an.

 

Zulässigkeit einer Fortsetzungsfeststellungsklage

Gericht: BFH 3. Senat
Entscheidungsdatum: 18.03.2013
Streitjahr: 2006
Aktenzeichen: III R 5/09
Dokumenttyp: Beschluss
Normen: § 122 Abs 2 FGO, § 136 Abs 1 S 3 FGO, § 138 Abs 1 FGO, § 138 Abs 2 S 1 FGO, § 143 Abs 1 FGO
(Erledigung der Hauptsache ohne Erledigungserklärung des beigetretenen BMF – Kostenentscheidung nach Teilabhilfe und insgesamt erfolgter Hauptsacheerledigung – Geringfügigkeit des Unterliegens i.S.d. § 136 Abs. 1 Satz 3 FGO)

Leitsatz

1. NV: Hat sich der Rechtsstreit durch übereinstimmende Erklärungen des Klägers und der Beklagten in der Hauptsache erledigt, kommt es nicht darauf an, ob auch das dem Verfahren beigetretene Bundesministerium der Finanzen eine Erledigungserklärung abgibt (Rn.2).

 

2. NV: Es entspricht regelmäßig dem billigen Ermessen, wenn der Kläger in Höhe des von der Abhilfe nicht erfassten Teils des Klageanspruchs die Kosten zu tragen hat (Rn.5).

 

3. NV: § 136 Abs. 1 Satz 3 FGO ist im Rahmen der Kostenentscheidung, die nach Teilabhilfe und insgesamt erfolgter Hauptsacheerledigung zu treffen ist, anwendbar (Rn.6).

Orientierungssatz

1. NV: Ist aufgrund der übereinstimmenden Erklärungen des Klägers und Revisionsklägers und der Beklagten und Revisionsbeklagten der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt, ist damit das Urteil des Finanzgerichts einschließlich der darin enthaltenen Kostenentscheidung gegenstandslos geworden (vgl. BFH-Rechtsprechung) (Rn.1).

 

2. NV: Zu Leitsatz 3: Bei einer Quote von 8 % kann nicht mehr von einer Geringfügigkeit des klägerischen Unterliegens ausgegangen werden (vgl. BFH-Rechtsprechung) (Rn.6).

Fundstellen

NV (nicht amtlich veröffentlicht)
Verfahrensgang

vorgehend FG Düsseldorf, 22. Dezember 2008, Az: 10 K 404/08 Kg, Urteil
vorgehend BFH, 21. Oktober 2010, Az: III R 5/09, EuGH-Vorlage
vorgehend EuGH, 12. Juni 2012, Az: C-611/10, Urteil
Diese Entscheidung zitiert

Rechtsprechung
Vergleiche BFH, 29. August 2012, Az: X R 5/12
Vergleiche BFH, 11. Mai 2009, Az: VIII R 81/05
Vergleiche BFH, 20. April 2005, Az: X R 53/04
Vergleiche BFH, 29. Mai 1996, Az: I R 79/95
Vergleiche BFH, 23. November 1994, Az: II B 157/92
Vergleiche BFH, 25. Januar 1994, Az: V R 128/85
Vergleiche BFH, 24. Mai 1993, Az: V B 33/93
Vergleiche BFH, 23. August 1990, Az: V R 79/88
Vergleiche BFH, 13. August 1986, Az: V R 112/80
Vergleiche BFH, 14. Mai 1975, Az: VII R 107/72

Gründe

1
1. Aufgrund der übereinstimmenden Erklärungen des Klägers und Revisionsklägers (Kläger) und der Beklagten und Revisionsbeklagten (Familienkasse) ist der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt. Das Urteil des Finanzgerichts ist damit einschließlich der darin enthaltenen Kostenentscheidung gegenstandslos geworden (Beschlüsse des Bundesfinanzhofs –BFH– vom 29. Mai 1996 I R 79/95, BFH/NV 1996, 846; vom 25. Januar 1994 V R 128/85, BFH/NV 1995, 918; vom 29. August 2012 X R 5/12, BFH/NV 2013, 53). Gemäß § 143 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) hat der BFH durch Beschluss nur noch über die Kosten zu entscheiden.

 

2
Für den durch die Abgabe der übereinstimmenden Erledigungserklärungen bewirkten Wegfall der Rechtshängigkeit der Hauptsache kommt es nicht darauf an, dass auch das dem Verfahren beigetretene Bundesministerium der Finanzen eine Erledigungserklärung abgegeben hat (ständige Rechtsprechung des BFH, vgl. Beschlüsse vom 14. Mai 1975 VII R 107/72, BFHE 115, 425, und in BFH/NV 2013, 53).

 

3
2. Die nach Erledigung der Hauptsache zu treffende Kostenentscheidung richtet sich nach § 138 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 1 FGO.

 

4
a) Die Familienkasse hat dem Antrag des Klägers, Kindergeld für seine Tochter für die Monate Februar bis Dezember 2006 in Höhe von insgesamt 1.694 € festzusetzen, nur teilweise entsprochen. Sie hat nach Anrechnung polnischer Familienleistungen im Abhilfebescheid lediglich Differenzkindergeld in Höhe von 1.551,55 € festgesetzt.

 

5
b) Mithin sind die Kosten des Verfahrens verhältnismäßig zu teilen. Soweit die Familienkasse dem Klagebegehren abgeholfen hat, trägt sie die Kosten gemäß § 138 Abs. 2 Satz 1 FGO. In Bezug auf den von der Abhilfe nicht erfassten Teil des Begehrens trifft den Kläger die Kostenpflicht nach § 138 Abs. 1 FGO. Denn es entspricht regelmäßig dem billigen Ermessen, wenn der Kläger in Höhe des von der Abhilfe nicht erfassten Teils des Klageanspruchs die Kosten trägt (BFH-Beschlüsse vom 13. August 1986 V R 112/80, BFH/NV 1987, 54; vom 23. November 1994 II B 157/92, BFH/NV 1995, 332; vom 11. Mai 2009 VIII R 81/05, BFH/NV 2009, 1447).

 

6
c) Von der Anwendung des § 136 Abs. 1 Satz 3 FGO, wonach einem Beteiligten die Kosten ganz auferlegt werden können, wenn der andere nur zu einem geringen Teil unterlegen ist, war im Streitfall abzusehen. Zwar ist die genannte Vorschrift grundsätzlich auch bei Hauptsacheerledigung nach erfolgter Teilabhilfe anwendbar (BFH-Beschluss vom 23. August 1990 V R 79/88, BFH/NV 1991, 472), doch fehlt es vorliegend an der Geringfügigkeit des klägerischen Unterliegens. Bei einer Quote von 8 % kann davon nach der Spruchpraxis des BFH nicht mehr ausgegangen werden (BFH-Beschluss vom 24. Mai 1993 V B 33/93, BFH/NV 1994, 133; BFH-Urteil vom 20. April 2005 X R 53/04, BFHE 210, 100, BStBl II 2005, 698).

 

Baden-Württemberg will Verjährungsfrist für Steuerhinterziehung verlängern

Die Landesregierung Baden-Württemberg möchte den Kampf gegen Steuerhinterziehung verschärfen und hat deshalb eine Bundesratsinitiative beschlossen, die eine Verlängerung der Verjährungsfrist für Steuerhinterziehung vorsieht.

Mit dem Gesetzesantrag soll die Frist für die strafrechtliche Verfolgung von allen Fällen einer Steuerhinterziehung auf zehn Jahre verlängert werden. Bislang ist die Strafverfolgung über einen Zeitraum von zehn Jahren nur in besonders schweren Fällen von Steuerhinterziehung möglich. In den übrigen Fällen von Steuerhinterziehung tritt Verfolgungsverjährung derzeit bereits fünf Jahre nach Vollendung der Tat ein.

Die Neuregelung führe zu mehr Steuereinnahmen. Denn durch die Verlängerung der Frist für die Verfolgungsverjährung müssten im Rahmen einer Selbstanzeige bislang nicht erklärte Erträge über einen Zeitraum von zehn Jahren angegeben werden. Damit stünden diese Angaben auch für die Festsetzung der hinterzogenen Steuern zur Verfügung.

Die Initiative soll am 03.05.2013 in den Bundesrat eingebracht werden.

Abzugsfähigkeit von Kosten für doppelte Haushaltsführung bei berufstätigem Kind

Gericht/Institution: BFH
Erscheinungsdatum: 24.04.2013
Entscheidungsdatum: 16.01.2013
Aktenzeichen: VI R 46/12

Der BFH hat entschieden, dass erwachsene, wirtschaftlich eigenständige Kinder, die zusammen mit ihren Eltern oder einem Elternteil in einem gemeinsamen Haushalt wohnen, Aufwendungen für eine doppelte Haushaltsführung als Werbungskosten geltend machen können, wenn ihnen die Zweitwohnung am Beschäftigungsort lediglich als Schlafstätte dient.

Nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 EStG sind notwendige Mehraufwendungen, die einem Arbeitnehmer wegen einer aus beruflichem Anlass begründeten doppelten Haushaltsführung entstehen, Werbungskosten. Eine doppelte Haushaltsführung liegt nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 Satz 2 EStG vor, wenn der Arbeitnehmer außerhalb des Ortes, in dem er einen eigenen Hausstand unterhält, beschäftigt ist und auch am Beschäftigungsort wohnt. Keinen eigenen Hausstand unterhält nach der bisherigen Rechtsprechung z.B., wer in den Haushalt der Eltern eingegliedert ist, ohne die Haushaltsführung wesentlich mitzubestimmen. Das gilt insbesondere für junge Arbeitnehmer, die nach Beendigung ihrer Ausbildung, wenn auch gegen Kostenbeteiligung, weiterhin im Haushalt der Eltern ein Zimmer bewohnen.

Im Streitfall machte der Kläger, ein 43 Jahre alter promovierte Diplomchemiker, vergeblich die Kosten für eine Unterkunft am Beschäftigungsort geltend. Dort hatte er seinen Zweitwohnsitz begründet. Seinen Hauptwohnsitz behielt er im Einfamilienhaus seiner im Streitjahr 71 Jahre alten Mutter bei. In diesem nutze er nach seinem Vortrag ein Schlaf- und Arbeitszimmer sowie ein Badezimmer allein. Die Küche, das Ess- und Wohnzimmer wurden von ihm und seiner Mutter gemeinsam genutzt. Einspruch und Klage blieben ohne Erfolg. Gegen die Entscheidung legte der Kläger Revision ein.

Der BFH hat die Vorentscheidung aufgehoben und die Sache an das Finanzgericht zurückverwiesen.

Anders als bei jungen Arbeitnehmern sei bei einem erwachsenen und wirtschaftlich eigenständigen Kind grundsätzlich davon auszugehen, dass es die gemeinsame Haushaltsführung mit den Eltern oder einem Elternteil wesentlich mitbestimme, so der BFH. Es könne deshalb im elterlichen Haushalt auch einen „eigenen Hausstand“ unterhalten und eine steuerliche doppelte Haushaltsführung begründen.

Das Finanzgericht müsse nun noch feststellen, ob das der Fall war.

Vorinstanz
FG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 14.02.2012 – 3 K 2338/09

 

Doppelte Haushaltsführung – gemeinsamer Haushalt von Eltern und erwachsenen, wirtschaftlich eigenständigen Kindern

 Leitsatz

1. Dient die Wohnung am Beschäftigungsort dem Steuerpflichtigen lediglich als Schlafstätte, ist regelmäßig davon auszugehen, dass der Mittelpunkt der Lebensführung noch am Heimatort zu verorten ist und dort der Haupthausstand geführt wird.

2. Ein eigener Hausstand kann auch dann unterhalten werden, wenn der Erst- oder Haupthausstand gemeinsam mit den Eltern oder einem Elternteil geführt wird. Einer gleichmäßigen Beteiligung des Kindes an den laufenden Haushalts- und Lebenshaltungskosten bedarf es hierfür nicht.

3. Bei erwachsenen, berufstätigen Kindern, die zusammen mit ihren Eltern oder einem Elternteil in einem gemeinsamen Haushalt wohnen, ist im Regelfall davon auszugehen, dass sie die Führung des Haushalts maßgeblich mitbestimmen.

 Gesetze

EStG § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5

 Instanzenzug

FG Rheinland-Pfalz vom 14. Februar 2012 3 K 2338/09 (EFG 2012, 1921) BFH VI R 46/12

 Gründe

1  I. Streitig ist, ob die Voraussetzungen einer doppelten Haushaltsführung vorliegen.

2  Der im Jahre 1964 geborene Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist alleinstehend und erzielte im Streitjahr 2007 als Chemiker Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Er arbeitete im Streitjahr in B. Diese Stelle hatte er im Jahr 2006 angetreten und dort auch seinen Zweitwohnsitz begründet. Seinen Hauptwohnsitz behielt er in N bei und wohnte dort zusammen mit seiner Mutter im Einfamilienhaus, das im Streitjahr seiner (im Streitjahr 71 Jahre alten) Mutter zu 3/4 und dem Kläger und seiner Schwester zu jeweils 1/8 gehörte. Er nutzte nach eigenen Angaben in dem Einfamilienhaus ein Schlaf- und Arbeitszimmer sowie ein Badezimmer allein. Die Küche, das Ess- und Wohnzimmer wurden von ihm und seiner Mutter gemeinsam genutzt. Im Jahr 2010 wurde das Anwesen auf den Kläger übereignet.

3  In seiner Einkommensteuererklärung für das Streitjahr machte der Kläger erfolglos Mehraufwendungen für eine doppelte Haushaltsführung in Höhe von insgesamt 7.053 € als Werbungskosten bei seinen Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit geltend. Einspruch und Klage blieben ebenfalls ohne Erfolg. Zwar seien sich die Beteiligten inzwischen einig, dass der Kläger das Fortbestehen seines Lebensmittelpunktes am Heimatort durch geeignete Belege nachgewiesen habe. Gleichwohl habe der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt —FA—) die geltend gemachten Aufwendungen für eine doppelte Haushaltsführung bei der angefochtenen Einkommensteuerfestsetzung zu Recht nicht berücksichtigt. Denn der Kläger habe in N keinen eigenen Hausstand unterhalten, sondern sei lediglich in den Haushalt der Mutter eingegliedert gewesen. Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2012, 1921 veröffentlicht.

4  Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung formellen und materiellen Rechts.

5  Er beantragt,

das Urteil des Finanzgerichts (FG) Rheinland-Pfalz vom 14. Februar 2012 3 K 2338/09 und die Einspruchsentscheidung vom 11. September 2009 aufzuheben sowie den Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2007 vom 4. März 2009 dahingehend abzuändern, dass bei den Einkünften des Klägers aus nichtselbständiger Arbeit Aufwendungen für eine doppelte Haushaltsführung in Höhe von 2.949 € als Werbungskosten berücksichtigt werden, hilfsweise

das Ruhen des Verfahrens bis zu einer Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) oder des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der derzeitigen Gesetzeslage bzw. Verwaltungspraxis.

6  Das FA beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

7  II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung —FGO—).

8  1. Gemäß § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 des Einkommensteuergesetzes (EStG) sind notwendige Mehraufwendungen, die einem Arbeitnehmer wegen einer aus beruflichem Anlass begründeten doppelten Haushaltsführung entstehen, Werbungskosten. Eine doppelte Haushaltsführung liegt nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 Satz 2 EStG vor, wenn der Arbeitnehmer außerhalb des Ortes, in dem er einen eigenen Hausstand unterhält, beschäftigt ist und auch am Beschäftigungsort wohnt. Dies gilt grundsätzlich auch für einen alleinstehenden Arbeitnehmer; auch er kann einen doppelten Haushalt führen (ständige Rechtsprechung des Senats, zuletzt Urteil vom 21. April 2010 VI R 26/09, BFHE 230, 5 , BStBl II 2012, 618, m.w.N.).

9  a) Hausstand i.S. des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 Satz 2 EStG ist der Haushalt, den der Arbeitnehmer am Lebensmittelpunkt führt, also sein Erst- oder Haupthaushalt. Bei einem alleinstehenden Arbeitnehmer ist entscheidend, dass er sich in dem Haushalt, im Wesentlichen nur unterbrochen durch die arbeits- und urlaubsbedingte Abwesenheit, aufhält; denn allein das Vorhalten einer Wohnung für gelegentliche Besuche oder für Ferienaufenthalte ist noch nicht als Unterhalten eines Hausstands zu bewerten. Ebenfalls wird ein eigener Hausstand nicht unterhalten, wenn der nicht verheiratete Arbeitnehmer als nicht die Haushaltsführung wesentlich bestimmender bzw. mitbestimmender Teil in einen Hausstand eingegliedert ist, wie es regelmäßig bei jungen Arbeitnehmern der Fall ist, die nach Beendigung der Ausbildung weiterhin —wenn auch gegen Kostenbeteiligung— im elterlichen Haushalt ihr Zimmer bewohnen. Die elterliche Wohnung kann in einem dieser häufigen Fälle zwar, auch wenn das Kind am Beschäftigungsort eine Unterkunft bezogen hat, wie bisher der Mittelpunkt seiner Lebensinteressen sein, sie ist aber nicht ein von dem Kind unterhaltener eigener Hausstand (BFH-Urteil vom 5. Oktober 1994 VI R 62/90 , BFHE 175, 430 , BStBl II 1995, 180). Bei älteren, wirtschaftlich selbständigen, berufstätigen Kindern, die mit ihren Eltern oder einem Elternteil in einem gemeinsamen Haushalt leben, ist hingegen davon auszugehen, dass sie die Führung des Haushalts maßgeblich mitbestimmen, so dass ihnen dieser Hausstand als „eigener” zugerechnet werden kann. Diese Regelvermutung gilt insbesondere, wenn die Wohnung am Beschäftigungsort dem Arbeitnehmer im Wesentlichen nur als Schlafstätte dient. Denn dort ist regelmäßig weder der Haupthausstand noch der Mittelpunkt der Lebensinteressen des Steuerpflichtigen zu verorten. Entspricht die Wohnsituation am Heimatort der Wohnung am Beschäftigungsort in Größe und Ausstattung oder übertrifft sie diese, ist dies vielmehr ein wesentliches Indiz dafür, dass der Mittelpunkt der Lebensführung nicht an den Beschäftigungsort verlegt worden ist, sondern der Haupthausstand dort fortgeführt wird (vgl. BFH-Urteil in BFHE 175, 430 , BStBl II 1995, 180). Dies gilt umso mehr, wenn der Steuerpflichtige dort sein Privatleben führt, weil zum Heimatort die engeren persönlichen Beziehungen bestehen, beispielsweise wegen der —mit steigender Lebenserwartung immer häufiger— alten, betreuungs- oder sogar pflegebedürftigen Eltern (BFH-Urteile in BFHE 175, 430 , BStBl II 1995, 180; vom 9. August 2007 VI R 10/06, BFHE 218, 380 , BStBl II 2007, 820).

10  b) Der Umstand, dass der Arbeitnehmer dabei am Heimatort nicht über eine abgeschlossene Wohnung verfügt, steht dieser Vermutung nicht entgegen. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH können die durch das Leben am Beschäftigungsort zusätzlich entstehenden notwendigen Aufwendungen grundsätzlich auch dann zu Werbungskosten führen, wenn die Wohnverhältnisse des Steuerpflichtigen am Ort seines Lebensmittelpunktes vergleichsweise einfach oder beengt sein sollten (BFH-Urteil vom 14. Oktober 2004 VI R 82/02 , BFHE 207, 292 , BStBl II 2005, 98, m.w.N.). Insbesondere müssen die dem Arbeitnehmer zur ausschließlichen Nutzung überlassenen Räumlichkeiten nicht den bewertungsrechtlichen Anforderungen an eine Wohnung gerecht werden (BFH-Urteil in BFHE 207, 292 , BStBl II 2005, 98). Der Senat hat es in dieser Entscheidung auch für unerheblich angesehen, dass sich der Arbeitnehmer in der ihm von seinen Eltern überlassenen Wohnung die Sanitäreinrichtung mit seiner Schwester teilen musste, weil ihm die übrigen Räumlichkeiten eine eigenständige Haushaltsführung ermöglichten (vgl. auch BFH-Urteil vom 15. Dezember 2005 III R 27/05 , BFHE 212, 376 , BStBl II 2006, 561, m.w.N.). Entsprechendes gilt, wenn dem Arbeitnehmer die Küche nicht zur alleinigen Verfügung steht (BFH-Urteil vom 30. Juli 2009 VI R 13/08 , BFH/NV 2009, 1986 ). Deshalb kann ein eigener Hausstand auch dann unterhalten werden, wenn der Erst- oder Haupthausstand gemeinsam mit den Eltern oder einem Elternteil geführt wird (Senatsurteil vom 26. Juli 2012 VI R 10/12, zur amtlichen Veröffentlichung bestimmt, BFH/NV 2013, 112 ).

11  c) Auch bedarf es der Übernahme einer besonderen finanziellen Verantwortung für den (gemeinsamen) Hausstand durch die gleichmäßige Beteiligung an den laufenden Haushalts- und Lebenshaltungskosten durch den Steuerpflichtigen nicht. Denn eine finanzielle Beteiligung, aus der auf eine gemeinsame Haushaltsführung von Eltern und Kindern geschlossen werden kann, kann auch vorliegen, wenn etwa eine Aufteilung nach laufenden und einmaligen Kosten oder nach gewöhnlichem und außergewöhnlichem Aufwand vorgenommen wird. Im Übrigen ist dem Merkmal der Entgeltlichkeit lediglich —eine gewichtige— Indizfunktion beizumessen. Denn die Entgeltlichkeit ist keine unerlässliche Voraussetzung (conditio sine qua non) einer steuererheblichen doppelten Haushaltsführung. Dies gilt sowohl für die Überlassung der Wohnung selbst als auch für die Kostentragung im Übrigen. Es ist deshalb nicht ausgeschlossen, dass ein alleinstehender Steuerpflichtiger auch dann einen eigenen Haushalt unterhält, wenn nicht er selbst, sondern Dritte für diese Kosten aufkommen. Denn eine eigene Haushaltsführung des auswärts Beschäftigten ist nicht zwingend ausgeschlossen, wenn sich dessen finanzielle Beteiligung am Haushalt nicht feststellen lässt, wie auch umgekehrt aus einem finanziellen Beitrag allein nicht zwingend auf das Unterhalten eines eigenen Haushalts zu schließen ist (Senatsurteile vom 28. März 2012 VI R 87/10 , BFHE 236, 553 , BStBl II 2012, 800, und in BFH/NV 2013, 112 ).

12  2. Die Entscheidung des FG entspricht diesen Grundsätzen nicht. Denn die Vorinstanz hat zum einen die gleichmäßige Beteiligung von Eltern und Kindern an den laufenden Haushalts- und Lebenshaltungskosten zu einer unverzichtbaren Voraussetzung für eine doppelte Haushaltsführung im Rahmen eines Mehrgenerationenhaushalts erhoben. Zum anderen hat das FG verkannt, dass bei einem erwachsenen, wirtschaftlich selbständigen Kind —wie dem Kläger, ein im Streitjahr 43 Jahre alter promovierter Diplomchemiker— regelmäßig vermutet werden kann, dass es nicht als Gast in den elterlichen Haushalt eingegliedert ist, sondern jedenfalls dann, wenn es dort lediglich unterbrochen durch Arbeits- und Urlaubsaufenthalte gemeinsam mit den Eltern oder einem Elternteil wohnt und deshalb dort der Mittelpunkt der Lebensinteressen zu verorten ist, auch die gemeinsame Haushaltsführung wesentlich mitbestimmt. Schließlich hat die Vorinstanz im Streitfall auch nicht alle maßgeblichen Umstände in ihre Überzeugungsbildung einbezogen. Denn es hat weder die Wohnsituationen am Heimat- wie Beschäftigungsort in den Blick genommen noch gegeneinander abgewogen. Dies stellt einen materiell-rechtlichen Fehler dar. Auch deshalb bindet die Würdigung des FG, der Kläger habe keinen steuererheblichen doppelten Haushalt geführt, den Senat gemäß § 118 Abs. 2 FGO nicht.

13  3. Die Sache ist nicht entscheidungsreif. Das FG wird daher im zweiten Rechtsgang unter Beachtung der vorgenannten Rechtsgrundsätze entsprechende weitere Feststellungen zu dem behaupteten Haupthausstand, insbesondere zu den Wohnsituationen des Klägers am Heimat- wie Beschäftigungsort zu treffen haben. Sollte es dabei zu der Erkenntnis gelangen, dass der Kläger am Beschäftigungsort nur über eine kleine bescheidene Unterkunft (Schlafstätte) verfügt —wofür die geltend gemachten Unterkunftskosten von weniger als 200 € monatlich sprechen— und am Heimatort bei seiner Mutter zwei Zimmer und ein Badezimmer alleine nutzt, liegt es nahe, aufgrund des Alters des Klägers und seiner wirtschaftlichen Unabhängigkeit sowie dem Umstand, dass der Lebensmittelpunkt von den Beteiligten unstreitig am Heimatort verortet wird, vom Vorliegen einer doppelten Haushaltsführung i.S. des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 EStG auszugehen. Demgegenüber kommt es nicht darauf an, ob der Kläger sich an den laufenden Haushaltskosten (beispielsweise für Wasser, Strom und Gas) beteiligt hat. Im Übrigen spricht das Vorbringen des Klägers, der behauptete gemeinsame Haushalt sei —abredegemäß— dergestalt finanziert worden, dass seine Mutter die laufenden Haushaltskosten und er die einmaligen hohen Kosten (beispielsweise für Instandhaltungsmaßnahmen, Schönheitsreparaturen, Gartenpflege u.Ä.) übernommen habe, ohnehin gegen eine unentgeltliche Überlassung der vom Kläger zu Wohnzwecken genutzten Räumlichkeiten.

14  4. Der Senat muss nicht entscheiden, ob dem FG die von dem Kläger gerügten Verfahrensfehler unterlaufen sind. Der Kläger hat seine Revision auch auf die Verletzung materiellen Rechts gestützt. In einem solchen Fall muss der BFH das angefochtene Urteil in vollem Umfang auf die Verletzung revisiblen Rechts prüfen, ohne dabei an die vorgebrachten Revisionsgründe gebunden zu sein (Senatsurteil vom 21. Januar 2010 VI R 51/08, BFHE 228, 85 , BStBl II 2010, 700; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung , 7. Aufl., § 118 Rz 73). Da die Revision aus anderen Gründen zur Aufhebung der Vorentscheidung führt, muss der Senat nicht noch darüber entscheiden, ob der Kläger auch infolge eines Verfahrensfehlers in seinen Rechten verletzt ist.

Positive Differenz der Rückgewähr von Einlagen gegenüber den Anschaffungskosten als nachträglich bekannt gewordene Tatsache

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 19.2.2013, IX R 24/12

Positive Differenz der Rückgewähr von Einlagen gegenüber den Anschaffungskosten (§ 17 Abs. 4 Satz 1 EStG) als nachträglich bekannt gewordene Tatsache

Leitsätze

1. Vereinnahmt der i.S. von § 17 Abs. 1 EStG beteiligte Steuerpflichtige Zurückzahlungen aus dem steuerlichen Einlagekonto i.S. des § 27 KStG, erklärt er im Rahmen seiner Veranlagung aber keinen Veräußerungsgewinn, sondern legt dem FA nur eine Steuerbescheinigung über die zurückgezahlten Beträge vor, kann das FA einen ohne Berücksichtigung eines Veräußerungsgewinns ergangenen Einkommensteuerbescheid nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO ändern, wenn ihm nachträglich bekannt wird, dass die zurückgezahlten Einlagen die Anschaffungskosten übersteigen.
2. Der i.S. von § 17 Abs. 1 EStG beteiligte Gesellschafter erzielt steuerbare Einnahmen aus § 17 Abs. 4 Satz 1, Satz 2 EStG durch Zurückzahlung von Beträgen aus dem steuerlichen Einlagekonto i.S. des § 27 KStG nur, soweit diese die Anschaffungskosten der Beteiligung übersteigen.
Tatbestand

1
I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) erwarb im Jahre 2003 70 % der Anteile an einer GmbH von deren Muttergesellschaft entgeltlich für 0,70 EUR im Rahmen eines Insolvenzplanverfahrens der GmbH. Der Nominalwert betrug 179.000 EUR. Im Anschluss an den Erwerb wurde eine Kapitalerhöhung vorgenommen, an der der Kläger mit 31.000 EUR beteiligt war. Im Streitjahr (2006) erhielt der Kläger Ausschüttungen aus dem steuerlichen Einlagekonto in Höhe von 1.400.000 EUR.
2
In seiner unter Mitwirkung einer Steuerberatungsgesellschaft angefertigten Steuererklärung für das Streitjahr machte der Kläger in den vorgelegten Anlagen GSE und KAP keine Angaben zu der von der GmbH erhaltenen Ausschüttung oder über seine Anschaffungskosten der Beteiligung und legte auch keine Gewinnermittlung vor. Der Steuererklärung beigefügt war aber eine Steuerbescheinigung der GmbH. Darin bescheinigte die GmbH am 8. September des Streitjahres, an diesem Tag an den Kläger für das Jahr 2005 1.400.000 EUR aus dem steuerlichen Einlagekonto (§ 27 des Körperschaftsteuergesetzes –KStG–) bezahlt zu haben.
3
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt –FA–) berücksichtigte im Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr vom 7. Januar 2008 keine Einkünfte aus § 17 des Einkommensteuergesetzes i.d.F. des Streitjahres (EStG). Infolge einer Außenprüfung gelangte das FA zu der Auffassung, dass der Kläger durch die Ausschüttung einen Veräußerungsgewinn nach § 17 Abs. 4 EStG von 1.368.999 EUR erzielt habe, der nach dem Halbeinkünfteverfahren gemäß § 3 Nr. 40 Satz 1 Buchst. c EStG zur Hälfte, also in Höhe von 684.499 EUR zu versteuern sei. Dementsprechend änderte das FA den Einkommensteuerbescheid unter Berufung auf § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) durch Änderungsbescheid vom 8. Juli 2010, erfasste bei den Einkünften aus Gewerbebetrieb zusätzlich einen Veräußerungsgewinn von 684.499 EUR und setzte die Einkommensteuer für das Streitjahr auf 357.249 EUR fest.
4
Die Klage, mit der sich der Kläger gegen die Änderbarkeit des ursprünglichen Einkommensteuerbescheides wandte, hatte keinen Erfolg: Nicht allein die Ausschüttung des Eigenkapitals bilde den steuerbaren Tatbestand. Steuerbar sei der Vorgang erst dann, soweit die Ausschüttung die Anschaffungskosten übersteige. Dem FA sei im maßgebenden Zeitpunkt der abschließenden Zeichnung aber nicht bekannt gewesen, dass der Veräußerungspreis die Anschaffungskosten überstiegen habe. Diese steuerrelevante Tatsache sei dem FA erst bei der Außenprüfung bekannt geworden. Das FA sei auch nicht nach Treu und Glauben daran gehindert gewesen, den Einkommensteuerbescheid zu ändern. Zwar habe es weitergehende Ermittlungen unterlassen, dem stünde aber die nicht genügende Mitwirkungspflicht des Klägers entgegen. Bei der auf das punktuelle Ereignis einer Einlagenrückgewähr bezogenen Kenntnis über einen Mittelzufluss sei nicht auf das Vorhandensein eines Gewinnes zu schließen.
5
Hiergegen richtet sich die Revision des Klägers, die er auf Verletzung von § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO stützt. Das FA wusste durch die Steuerbescheinigung der GmbH und auch aus den Akten von den Leistungen des Klägers aus dem steuerlichen Einlagekonto. Es hätte die 1.400.000 EUR als dem Halbeinkünfteverfahren unterliegenden Einnahmen ansetzen können und müssen. Zumindest hätte das FA die Veranlagung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung vornehmen müssen.
6
Der Kläger beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und den geänderten Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr zu ändern, indem die Einkommensteuer des Streitjahres ohne Berücksichtigung von Einkünften aus Veräußerungsgewinn in Höhe von 684.499 EUR festgesetzt wird.
7
Das FA beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe

8
II. Die Revision ist unbegründet. Zutreffend hat das Finanzgericht (FG) das FA als berechtigt angesehen, den Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO zu ändern. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen im Streitfall vor. Es sind Tatsachen nachträglich bekannt geworden, die zu einer höheren Einkommensteuer führen. Erst aufgrund der Außenprüfung erfuhr das FA von steuerbaren Einnahmen i.S. des § 17 Abs. 4 Sätze 1 und 2 EStG.
9
1. Nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO sind Steuerbescheide zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen. Tatsachen im Sinne der Vorschrift sind Lebensvorgänge, die insgesamt oder teilweise einen gesetzlichen Steuertatbestand oder das einzelne Merkmal eines solchen Tatbestands erfüllen (ständige Rechtsprechung, z.B. Urteil des Bundesfinanzhofs –BFH– vom 13. Mai 2004 IV R 11/02, BFH/NV 2004, 1400, m.w.N.).
10
a) Wenn im Streitfall das FG es als „steuerrelevante Tatsache“ ansieht, dass die aus dem Einlagekonto zugeflossenen Zahlungen die Anschaffungskosten überstiegen haben, so mag offenbleiben, ob es sich bei der Differenz von Einnahmen und Erwerbsaufwendungen um eine Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO oder nicht vielmehr um eine Schlussfolgerung handelt (vgl. dazu Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 173 AO Rz 2; von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 173 AO Rz 73, m.w.N.). Nach der Rechtsprechung sind Einkünfte als eine Tatsache anzusehen und einheitliche Einkünfte nicht in Einnahmen und Ausgaben aufzuspalten, wenn sich nachträglich, z.B. nach einer Schätzung, ergibt, dass Einkünfte einer Einkunftsart als Unterschied zwischen steuerbaren Einnahmen und Erwerbsaufwand nicht oder nicht richtig erklärt und berücksichtigt wurden (vgl. BFH-Urteile vom 1. Oktober 1993 III R 58/92, BFHE 172, 397, BStBl II 1994, 346, und vom 10. Juli 2008 IX R 4/08, BFH/NV 2008, 1803).
11
b) Indes geht es um diese Problematik hier nicht. Das FG hat den Sachverhalt zutreffend dahin gewürdigt, dass das FA bei Vornahme der ursprünglichen Veranlagung nicht wusste, dass der Kläger steuerbare Einnahmen gemäß § 17 Abs. 4 Satz 2 EStG erzielt hat. Zwar war ihm die Tatsache der Zurückzahlung von Beträgen aus dem steuerlichen Einlagekonto i.S. des § 27 KStG bereits aufgrund der Steuerbescheinigung der GmbH bekannt, die der Steuererklärung beigefügt worden war. Ferner wusste das FA aufgrund eines in den Akten enthaltenen Vermerks vom 18. Oktober 2001, dass der Kläger i.S. von § 17 Abs. 1 Satz 1 EStG qualifiziert an der GmbH beteiligt war. Damit waren aber noch nicht alle Tatsachen schon im Zeitpunkt der ursprünglichen Veranlagung bekannt, um den Steuertatbestand bei der Steuerfestsetzung feststellen zu können.
12
aa) Der Umstand, dass dem FA keine Erwerbsaufwendungen erklärt waren, mag –insoweit ist der Revision beizupflichten– das FA zwar noch nicht daran hindern, den Steueranspruch festzustellen. Werden keine Anschaffungskosten erklärt, können sie gegebenenfalls geschätzt werden (§ 162 AO). Besteht dafür keine Grundlage, muss das FA den Steuertatbestand erfassen, ohne Erwerbsaufwendungen zu berücksichtigen.
13
bb) Indes haben die Anschaffungskosten, deren Umfang das FA im Streitfall unstreitig nicht kannte, im Tatbestand des § 17 Abs. 4 Satz 1 EStG eine die Steuerbarkeit der Einnahmen leitende Funktion. Wird eine qualifizierte Beteiligung nach § 17 Abs. 1 EStG veräußert, ist der Veräußerungspreis steuerbar, auch wenn die Veräußerung deshalb zu einem negativen Ergebnis (Verlust) führt, weil der Preis die Anschaffungskosten nicht übersteigt. Anders verhält es sich bei dem Ersatztatbestand der Zurückzahlung von Beträgen aus dem steuerlichen Einlagekonto i.S. des § 27 KStG (§ 17 Abs. 4 Satz 1 EStG). Hier bilden die Anschaffungskosten Erwerbsaufwendungen nur, soweit die Zurückzahlung die Anschaffungskosten übersteigen. Der übersteigende Teil des Rückzahlungsbetrags allein ist steuerbare Einnahme und (nach aktueller Rechtslage) zu 60 % steuerpflichtiger Veräußerungsgewinn i.S. von § 17 Abs. 4 Satz 2 und Abs. 2 i.V.m. § 3 Nr. 40 Satz 1 Buchst. c EStG.
14
c) Sind die zurückgezahlten Beträge aus dem steuerlichen Einlagekonto i.S. des § 27 KStG aber niedriger als die Anschaffungskosten, mindern sie die Anschaffungskosten der Beteiligung erfolgsneutral (einhellige Auffassung, vgl. Ott, Festschrift für Korn, 2005, 105, 113; Eilers/R. Schmidt in Herrmann/Heuer/Raupach, § 17 EStG Rz 325; Blümich/Ebling, § 17 EStG Rz 889; Schmidt/Weber-Grellet, EStG, 31. Aufl., § 17 Rz 238; Gosch in Kirchhof, EStG, 11. Aufl., § 17 Rz 136; Rundverfügung der Oberfinanzdirektion Frankfurt a.M. vom 17. April 2000 S 2143 A-36-St II 20, in Deutsches Steuerrecht 2000, 1093; zur alten Rechtslage s. auch BFH-Urteil vom 20. April 1999 VIII R 44/96, BFHE 188, 352, BStBl II 1999, 698), führen also per se nicht zu steuerbaren Einnahmen.
15
Erst dann, wenn der Steuerpflichtige später einen Steuertatbestand i.S. des § 17 EStG (Veräußerung nach § 17 Abs. 1 EStG oder Ersatztatbestand nach § 17 Abs. 4 EStG) erfüllt, erfasst das Gesetz die zurückgezahlte Einlage mit dem wegen geminderter Anschaffungskosten höheren Veräußerungsgewinn. Liegen die Voraussetzungen eines Steuertatbestands i.S. des § 17 Abs. 1 oder Abs. 4 EStG aber nicht vor, werden die zurückgezahlten Beträge aus dem steuerlichen Einlagekonto steuerneutral mit den (höheren) Anschaffungskosten verrechnet. Deshalb handelt es sich bei der Zurückzahlung von Beträgen aus dem steuerlichen Einlagekonto i.S. des § 27 KStG nicht um eine steuerbare Einnahme, sondern um eine Position, welche die Anschaffungskosten der Beteiligung mindert.
16
d) Mithin wusste das FA mit seiner bloßen Erkenntnis des Rückzahlungsbetrags ohne Kenntnis der Anschaffungskosten nichts von einer steuerbaren Einnahme gemäß § 17 Abs. 4 Sätze 1 und 2 EStG. Dieses Wissen hätte ihm erst der entsprechende Eintrag in der Anlage GSE oder eine Gewinnermittlung durch den Kläger vermittelt. Auch aus den weiteren Akten des FA ergaben sich nach den Feststellungen des FG, die den Senat nach § 118 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung binden, entgegen der Revision keinerlei Anhaltspunkte über die Höhe der Anschaffungskosten. In der Tat wurde der notarielle Vertrag über die Übertragung erst nach Abschluss der Veranlagung, Anfang März 2008, Bestandteil der Akten.
17
In Verbindung mit den fehlenden Angaben in der Steuererklärung konnte das FA deshalb –wie das FG zutreffend entschieden hat– davon ausgehen, dass sich die Rückzahlung lediglich steuerneutral auswirke. Ihm ist die steuererhöhende Tatsache steuerbarer Einnahmen als der positiven Differenz der Rückgewähr von Einlagen gegenüber den Anschaffungskosten nachträglich durch die Außenprüfung bekannt geworden.
18
2. Das FA war auch nicht nach Treu und Glauben daran gehindert, die Berichtigung durchzuführen. Der Kläger kann sich nicht auf Treu und Glauben berufen, weil er seiner Mitwirkungspflicht nicht in vollem Umfang nachgekommen ist (vgl. zu den Voraussetzungen eingehend Loose in Tipke/Kruse, a.a.O., § 173 AO Rz 68, m.w.N.). Er hat den steuerlich bedeutsamen Sachverhalt nicht richtig, vollständig und deutlich dargestellt und insbesondere weder einen Veräußerungstatbestand (im Rahmen der Anlage GSE) erklärt noch eine Gewinnermittlung vorgelegt. So hat er, indem er allein die Steuerbescheinigung vorlegte, den steuerrechtlich bedeutsamen Sachverhalt in der Schwebe gehalten und bei dem FA den Eindruck erweckt, es handele sich bei der Rückzahlung aus dem steuerlichen Einlagekonto i.S. des § 27 KStG um einen steuerneutralen Vorgang.

Doppelte Haushaltsführung – gemeinsamer Haushalt von Eltern und erwachsenen, wirtschaftlich eigenständigen Kindern

Erwachsene, berufstätige Kinder, die zusammen mit ihren Eltern oder einem Elternteil in einem gemeinsamen Haushalt wohnen, können Aufwendungen für eine doppelte Haushaltsführung als Werbungskosten geltend machen, wenn ihnen die Zweitwohnung am Beschäftigungsort lediglich als Schlafstätte dient. Dies hat der Bundesfinanzhof (BFH) mit Urteil VI R 46/12 vom 16.01.2013 entschieden.

Nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 des Einkommensteuergesetzes (EStG) sind notwendige Mehraufwendungen, die einem Arbeitnehmer wegen einer aus beruflichem Anlass begründeten doppelten Haushaltsführung entstehen, Werbungskosten. Eine doppelte Haushaltsführung liegt nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 Satz 2 EStG vor, wenn der Arbeitnehmer außerhalb des Ortes, in dem er einen eigenen Hausstand unterhält, beschäftigt ist und auch am Beschäftigungsort wohnt. Keinen eigenen Hausstand unterhält nach der bisherigen Rechtsprechung z. B., wer in den Haushalt der Eltern eingegliedert ist, ohne die Haushaltsführung wesentlich mitzubestimmen. Das gilt insbesondere für junge Arbeitnehmer, die nach Beendigung ihrer Ausbildung, wenn auch gegen Kostenbeteiligung, weiterhin im Haushalt der Eltern ein Zimmer bewohnen.

Im Streitfall machte der Kläger, ein 43 Jahre alter promovierte Diplomchemiker, vergeblich die Kosten für eine Unterkunft am Beschäftigungsort geltend. Dort hatte er seinen Zweitwohnsitz begründet. Seinen Hauptwohnsitz behielt er im Einfamilienhaus seiner im Streitjahr 71 Jahre alten Mutter bei. In diesem nutze er nach seinem Vortrag ein Schlaf- und Arbeitszimmer sowie ein Badezimmer allein. Die Küche, das Ess- und Wohnzimmer wurden von ihm und seiner Mutter gemeinsam genutzt. Einspruch und Klage blieben ohne Erfolg.

Auf die Revision des Klägers hat der BFH nun die Vorentscheidung aufgehoben und die Sache an das Finanzgericht (FG) zurückverwiesen. Anders als bei jungen Arbeitnehmern ist bei einem erwachsenen und wirtschaftlich eigenständigen Kind grundsätzlich davon auszugehen, dass es die gemeinsame Haushaltsführung mit den Eltern oder einem Elternteil wesentlich mitbestimmt. Es kann deshalb im elterlichen Haushalt auch einen „eigenen Hausstand“ unterhalten und eine steuerliche doppelte Haushaltsführung begründen. Das FG muss nun noch feststellen, ob das der Fall war.

BFH, Pressemitteilung Nr. 23/13 vom 24.04.2013 zum Urteil VI R 46/12 vom 16.01.2013

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 16.1.2013, VI R 46/12

Doppelte Haushaltsführung – gemeinsamer Haushalt von Eltern und erwachsenen, wirtschaftlich eigenständigen Kindern

Leitsätze

1. Dient die Wohnung am Beschäftigungsort dem Steuerpflichtigen lediglich als Schlafstätte, ist regelmäßig davon auszugehen, dass der Mittelpunkt der Lebensführung noch am Heimatort zu verorten ist und dort der Haupthausstand geführt wird.
2. Ein eigener Hausstand kann auch dann unterhalten werden, wenn der Erst- oder Haupthausstand gemeinsam mit den Eltern oder einem Elternteil geführt wird. Einer gleichmäßigen Beteiligung des Kindes an den laufenden Haushalts- und Lebenshaltungskosten bedarf es hierfür nicht.
3. Bei erwachsenen, berufstätigen Kindern, die zusammen mit ihren Eltern oder einem Elternteil in einem gemeinsamen Haushalt wohnen, ist im Regelfall davon auszugehen, dass sie die Führung des Haushalts maßgeblich mitbestimmen.
Tatbestand

1
I. I. Streitig ist, ob die Voraussetzungen einer doppelten Haushaltsführung vorliegen.
2
Der im Jahre 1964 geborene Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist alleinstehend und erzielte im Streitjahr 2007 als Chemiker Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Er arbeitete im Streitjahr in B. Diese Stelle hatte er im Jahr 2006 angetreten und dort auch seinen Zweitwohnsitz begründet. Seinen Hauptwohnsitz behielt er in N bei und wohnte dort zusammen mit seiner Mutter im Einfamilienhaus, das im Streitjahr seiner (im Streitjahr 71 Jahre alten) Mutter zu 3/4 und dem Kläger und seiner Schwester zu jeweils 1/8 gehörte. Er nutzte nach eigenen Angaben in dem Einfamilienhaus ein Schlaf- und Arbeitszimmer sowie ein Badezimmer allein. Die Küche, das Ess- und Wohnzimmer wurden von ihm und seiner Mutter gemeinsam genutzt. Im Jahr 2010 wurde das Anwesen auf den Kläger übereignet.
3
In seiner Einkommensteuererklärung für das Streitjahr machte der Kläger erfolglos Mehraufwendungen für eine doppelte Haushaltsführung in Höhe von insgesamt 7.053 EUR als Werbungskosten bei seinen Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit geltend. Einspruch und Klage blieben ebenfalls ohne Erfolg. Zwar seien sich die Beteiligten inzwischen einig, dass der Kläger das Fortbestehen seines Lebensmittelpunktes am Heimatort durch geeignete Belege nachgewiesen habe. Gleichwohl habe der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt –FA–) die geltend gemachten Aufwendungen für eine doppelte Haushaltsführung bei der angefochtenen Einkommensteuerfestsetzung zu Recht nicht berücksichtigt. Denn der Kläger habe in N keinen eigenen Hausstand unterhalten, sondern sei lediglich in den Haushalt der Mutter eingegliedert gewesen. Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2012, 1921 veröffentlicht.
4
Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung formellen und materiellen Rechts.
5
Er beantragt,

das Urteil des Finanzgerichts (FG) Rheinland-Pfalz vom 14. Februar 2012 3 K 2338/09 und die Einspruchsentscheidung vom 11. September 2009 aufzuheben sowie den Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2007 vom 4. März 2009 dahingehend abzuändern, dass bei den Einkünften des Klägers aus nichtselbständiger Arbeit Aufwendungen für eine doppelte Haushaltsführung in Höhe von 2.949 EUR als Werbungskosten berücksichtigt werden, hilfsweise

das Ruhen des Verfahrens bis zu einer Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) oder des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der derzeitigen Gesetzeslage bzw. Verwaltungspraxis.
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Das FA beantragt,

die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe

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II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung –FGO–).
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1. Gemäß § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 des Einkommensteuergesetzes (EStG) sind notwendige Mehraufwendungen, die einem Arbeitnehmer wegen einer aus beruflichem Anlass begründeten doppelten Haushaltsführung entstehen, Werbungskosten. Eine doppelte Haushaltsführung liegt nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 Satz 2 EStG vor, wenn der Arbeitnehmer außerhalb des Ortes, in dem er einen eigenen Hausstand unterhält, beschäftigt ist und auch am Beschäftigungsort wohnt. Dies gilt grundsätzlich auch für einen alleinstehenden Arbeitnehmer; auch er kann einen doppelten Haushalt führen (ständige Rechtsprechung des Senats, zuletzt Urteil vom 21. April 2010 VI R 26/09, BFHE 230, 5, BStBl II 2012, 618, m.w.N.).
9
a) Hausstand i.S. des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 Satz 2 EStG ist der Haushalt, den der Arbeitnehmer am Lebensmittelpunkt führt, also sein Erst- oder Haupthaushalt. Bei einem alleinstehenden Arbeitnehmer ist entscheidend, dass er sich in dem Haushalt, im Wesentlichen nur unterbrochen durch die arbeits- und urlaubsbedingte Abwesenheit, aufhält; denn allein das Vorhalten einer Wohnung für gelegentliche Besuche oder für Ferienaufenthalte ist noch nicht als Unterhalten eines Hausstands zu bewerten. Ebenfalls wird ein eigener Hausstand nicht unterhalten, wenn der nicht verheiratete Arbeitnehmer als nicht die Haushaltsführung wesentlich bestimmender bzw. mitbestimmender Teil in einen Hausstand eingegliedert ist, wie es regelmäßig bei jungen Arbeitnehmern der Fall ist, die nach Beendigung der Ausbildung weiterhin –wenn auch gegen Kostenbeteiligung– im elterlichen Haushalt ihr Zimmer bewohnen. Die elterliche Wohnung kann in einem dieser häufigen Fälle zwar, auch wenn das Kind am Beschäftigungsort eine Unterkunft bezogen hat, wie bisher der Mittelpunkt seiner Lebensinteressen sein, sie ist aber nicht ein von dem Kind unterhaltener eigener Hausstand (BFH-Urteil vom 5. Oktober 1994 VI R 62/90, BFHE 175, 430, BStBl II 1995, 180). Bei älteren, wirtschaftlich selbständigen, berufstätigen Kindern, die mit ihren Eltern oder einem Elternteil in einem gemeinsamen Haushalt leben, ist hingegen davon auszugehen, dass sie die Führung des Haushalts maßgeblich mitbestimmen, so dass ihnen dieser Hausstand als „eigener“ zugerechnet werden kann. Diese Regelvermutung gilt insbesondere, wenn die Wohnung am Beschäftigungsort dem Arbeitnehmer im Wesentlichen nur als Schlafstätte dient. Denn dort ist regelmäßig weder der Haupthausstand noch der Mittelpunkt der Lebensinteressen des Steuerpflichtigen zu verorten. Entspricht die Wohnsituation am Heimatort der Wohnung am Beschäftigungsort in Größe und Ausstattung oder übertrifft sie diese, ist dies vielmehr ein wesentliches Indiz dafür, dass der Mittelpunkt der Lebensführung nicht an den Beschäftigungsort verlegt worden ist, sondern der Haupthausstand dort fortgeführt wird (vgl. BFH-Urteil in BFHE 175, 430, BStBl II 1995, 180). Dies gilt umso mehr, wenn der Steuerpflichtige dort sein Privatleben führt, weil zum Heimatort die engeren persönlichen Beziehungen bestehen, beispielsweise wegen der –mit steigender Lebenserwartung immer häufiger– alten, betreuungs- oder sogar pflegebedürftigen Eltern (BFH-Urteile in BFHE 175, 430, BStBl II 1995, 180; vom 9. August 2007 VI R 10/06, BFHE 218, 380, BStBl II 2007, 820).
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b) Der Umstand, dass der Arbeitnehmer dabei am Heimatort nicht über eine abgeschlossene Wohnung verfügt, steht dieser Vermutung nicht entgegen. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH können die durch das Leben am Beschäftigungsort zusätzlich entstehenden notwendigen Aufwendungen grundsätzlich auch dann zu Werbungskosten führen, wenn die Wohnverhältnisse des Steuerpflichtigen am Ort seines Lebensmittelpunktes vergleichsweise einfach oder beengt sein sollten (BFH-Urteil vom 14. Oktober 2004 VI R 82/02, BFHE 207, 292, BStBl II 2005, 98, m.w.N.). Insbesondere müssen die dem Arbeitnehmer zur ausschließlichen Nutzung überlassenen Räumlichkeiten nicht den bewertungsrechtlichen Anforderungen an eine Wohnung gerecht werden (BFH-Urteil in BFHE 207, 292, BStBl II 2005, 98). Der Senat hat es in dieser Entscheidung auch für unerheblich angesehen, dass sich der Arbeitnehmer in der ihm von seinen Eltern überlassenen Wohnung die Sanitäreinrichtung mit seiner Schwester teilen musste, weil ihm die übrigen Räumlichkeiten eine eigenständige Haushaltsführung ermöglichten (vgl. auch BFH-Urteil vom 15. Dezember 2005 III R 27/05, BFHE 212, 376, BStBl II 2006, 561, m.w.N.). Entsprechendes gilt, wenn dem Arbeitnehmer die Küche nicht zur alleinigen Verfügung steht (BFH-Urteil vom 30. Juli 2009 VI R 13/08, BFH/NV 2009, 1986). Deshalb kann ein eigener Hausstand auch dann unterhalten werden, wenn der Erst- oder Haupthausstand gemeinsam mit den Eltern oder einem Elternteil geführt wird (Senatsurteil vom 26. Juli 2012 VI R 10/12, BFHE 238, 413, BFH/NV 2013, 112).
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c) Auch bedarf es der Übernahme einer besonderen finanziellen Verantwortung für den (gemeinsamen) Hausstand durch die gleichmäßige Beteiligung an den laufenden Haushalts- und Lebenshaltungskosten durch den Steuerpflichtigen nicht. Denn eine finanzielle Beteiligung, aus der auf eine gemeinsame Haushaltsführung von Eltern und Kindern geschlossen werden kann, kann auch vorliegen, wenn etwa eine Aufteilung nach laufenden und einmaligen Kosten oder nach gewöhnlichem und außergewöhnlichem Aufwand vorgenommen wird. Im Übrigen ist dem Merkmal der Entgeltlichkeit lediglich –eine gewichtige– Indizfunktion beizumessen. Denn die Entgeltlichkeit ist keine unerlässliche Voraussetzung (conditio sine qua non) einer steuererheblichen doppelten Haushaltsführung. Dies gilt sowohl für die Überlassung der Wohnung selbst als auch für die Kostentragung im Übrigen. Es ist deshalb nicht ausgeschlossen, dass ein alleinstehender Steuerpflichtiger auch dann einen eigenen Haushalt unterhält, wenn nicht er selbst, sondern Dritte für diese Kosten aufkommen. Denn eine eigene Haushaltsführung des auswärts Beschäftigten ist nicht zwingend ausgeschlossen, wenn sich dessen finanzielle Beteiligung am Haushalt nicht feststellen lässt, wie auch umgekehrt aus einem finanziellen Beitrag allein nicht zwingend auf das Unterhalten eines eigenen Haushalts zu schließen ist (Senatsurteile vom 28. März 2012 VI R 87/10, BFHE 236, 553, BStBl II 2012, 800, und in BFH/NV 2013, 112).
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2. Die Entscheidung des FG entspricht diesen Grundsätzen nicht. Denn die Vorinstanz hat zum einen die gleichmäßige Beteiligung von Eltern und Kindern an den laufenden Haushalts- und Lebenshaltungskosten zu einer unverzichtbaren Voraussetzung für eine doppelte Haushaltsführung im Rahmen eines Mehrgenerationenhaushalts erhoben. Zum anderen hat das FG verkannt, dass bei einem erwachsenen, wirtschaftlich selbständigen Kind –wie dem Kläger, ein im Streitjahr 43 Jahre alter promovierter Diplomchemiker– regelmäßig vermutet werden kann, dass es nicht als Gast in den elterlichen Haushalt eingegliedert ist, sondern jedenfalls dann, wenn es dort lediglich unterbrochen durch Arbeits- und Urlaubsaufenthalte gemeinsam mit den Eltern oder einem Elternteil wohnt und deshalb dort der Mittelpunkt der Lebensinteressen zu verorten ist, auch die gemeinsame Haushaltsführung wesentlich mitbestimmt. Schließlich hat die Vorinstanz im Streitfall auch nicht alle maßgeblichen Umstände in ihre Überzeugungsbildung einbezogen. Denn es hat weder die Wohnsituationen am Heimat- wie Beschäftigungsort in den Blick genommen noch gegeneinander abgewogen. Dies stellt einen materiell-rechtlichen Fehler dar. Auch deshalb bindet die Würdigung des FG, der Kläger habe keinen steuererheblichen doppelten Haushalt geführt, den Senat gemäß § 118 Abs. 2 FGO nicht.
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3. Die Sache ist nicht entscheidungsreif. Das FG wird daher im zweiten Rechtsgang unter Beachtung der vorgenannten Rechtsgrundsätze entsprechende weitere Feststellungen zu dem behaupteten Haupthausstand, insbesondere zu den Wohnsituationen des Klägers am Heimat- wie Beschäftigungsort zu treffen haben. Sollte es dabei zu der Erkenntnis gelangen, dass der Kläger am Beschäftigungsort nur über eine kleine bescheidene Unterkunft (Schlafstätte) verfügt –wofür die geltend gemachten Unterkunftskosten von weniger als 200 EUR monatlich sprechen– und am Heimatort bei seiner Mutter zwei Zimmer und ein Badezimmer alleine nutzt, liegt es nahe, aufgrund des Alters des Klägers und seiner wirtschaftlichen Unabhängigkeit sowie dem Umstand, dass der Lebensmittelpunkt von den Beteiligten unstreitig am Heimatort verortet wird, vom Vorliegen einer doppelten Haushaltsführung i.S. des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 EStG auszugehen. Demgegenüber kommt es nicht darauf an, ob der Kläger sich an den laufenden Haushaltskosten (beispielsweise für Wasser, Strom und Gas) beteiligt hat. Im Übrigen spricht das Vorbringen des Klägers, der behauptete gemeinsame Haushalt sei –abredegemäß– dergestalt finanziert worden, dass seine Mutter die laufenden Haushaltskosten und er die einmaligen hohen Kosten (beispielsweise für Instandhaltungsmaßnahmen, Schönheitsreparaturen, Gartenpflege u.Ä.) übernommen habe, ohnehin gegen eine unentgeltliche Überlassung der vom Kläger zu Wohnzwecken genutzten Räumlichkeiten.
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4. Der Senat muss nicht entscheiden, ob dem FG die von dem Kläger gerügten Verfahrensfehler unterlaufen sind. Der Kläger hat seine Revision auch auf die Verletzung materiellen Rechts gestützt. In einem solchen Fall muss der BFH das angefochtene Urteil in vollem Umfang auf die Verletzung revisiblen Rechts prüfen, ohne dabei an die vorgebrachten Revisionsgründe gebunden zu sein (Senatsurteil vom 21. Januar 2010 VI R 51/08, BFHE 228, 85, BStBl II 2010, 700; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 118 Rz 73). Da die Revision aus anderen Gründen zur Aufhebung der Vorentscheidung führt, muss der Senat nicht noch darüber entscheiden, ob der Kläger auch infolge eines Verfahrensfehlers in seinen Rechten verletzt ist.

Beendigung der Verfahrensruhe im Einspruchsverfahren durch Vorläufigkeitsvermerk

Rechtsschutz – Voraussetzungen für Eintritt und Beendigung der Zwangsruhe gemäß § 363 Abs. 2 AO – Unterlassene Anhörung des Steuerpflichtigen nach Wegfall des Ruhensgrundes

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 23.1.2013, X R 32/08

Beendigung der Verfahrensruhe im Einspruchsverfahren durch Vorläufigkeitsvermerk – Rechtsschutz – Voraussetzungen für Eintritt und Beendigung der Zwangsruhe gemäß § 363 Abs. 2 AO – Unterlassene Anhörung des Steuerpflichtigen nach Wegfall des Ruhensgrundes – Verfassungskonforme Auslegung einer Steuerrechtsnorm – Änderung von Steuerbescheiden durch Aufnahme von Vorläufigkeitsvermerken als Teilabhilfe im Einspruchsverfahren – Umfang von Vorläufigkeitsvermerken – Abzug von Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung

Leitsätze

Die Finanzbehörde kann die durch Berufung auf ein vorgreifliches Verfahren bewirkte Verfahrensruhe im Einspruchsverfahren durch einen Vorläufigkeitsvermerk derselben Reichweite beenden. Der Vorläufigkeitsvermerk bietet einen der Verfahrensruhe gleichwertigen Rechtsschutz.

Tatbestand

1
A. Die zusammenveranlagten Kläger und Revisionskläger (Kläger) erzielten in den Streitjahren 2000 und 2001 Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Die Einkommensteuerbescheide 2000 und 2001 erklärte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt –FA–) hinsichtlich „der beschränkten Abzugsfähigkeit von Vorsorgeaufwendungen (§ 10 Abs. 3 EStG)“ nach § 165 Abs. 1 Satz 2 der Abgabenordnung in der in den Streitjahren gültigen Fassung (AO) für vorläufig. Gegen beide Einkommensteuerbescheide legten die Kläger Einspruch ein. Das hierfür von ihrem Prozessbevollmächtigten jeweils verwendete Formblatt (Kopiervorlage) enthielt eine Begründung folgenden Wortlauts:

2
„In einem neu anhängigen Verfahren … vor dem BFH ist die Rechtsfrage anhängig, ob Rentenversicherungsbeiträge voll als Werbungskosten abziehbar sein müssen (BFH; Az.: X R 65/01 und 66/01). Meine Mandanten waren im Jahre [handschriftlich eingesetzt: „2000“ bzw. „2001“] rentenversicherungspflichtig. Diese Rechtsfrage betrifft in erster Linie § 9 I S. 1 EStG und ist somit nicht vom Vorläufigkeitsvermerk bezüglich der beschränkten Abziehbarkeit von Vorsorgeaufwendungen (§ 10 III EStG) abgedeckt. Da das Verfahren auf den Besteuerungsfall meiner Mandanten zutrifft, ruht das Verfahren gem. § 363 II S. 2 AO kraft Gesetzes, es sei denn das Finanzamt erweitert den Vorläufigkeitsvermerk auf diese Rechtsfrage.“

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Außerdem habe das Bundessozialgericht mit Urteil vom 29. Juni 2000 (es handelt sich vermutlich um das Verfahren B 4 RA 57/98 R, BSGE 86, 262) entschieden, die Kürzung des Vorwegabzugs bei Arbeitnehmern sei rechtswidrig. Es werde um Mitteilung gebeten, ob der bestehende Vorläufigkeitsvermerk diese Rechtsfrage einschließe, ansonsten ruhe auch hier das Verfahren.

4
Die vor dem Bundesfinanzhof (BFH) anhängigen Verfahren X R 65/01 und X R 66/01 wurden, nachdem sie zwischenzeitlich die Aktenzeichen XI R 56/01 und XI R 57/01 erhalten hatten, am 21. Juli 2004 vom erkennenden Senat unter den Aktenzeichen X R 72/01 und X R 73/01 entschieden (BFH/NV 2005, 513 bzw. Neue Juristische Wochenschrift –NJW– 2005, 93). Am 20. Januar 2005 teilte das FA den Klägern mit, Rentenversicherungsbeiträge seien nicht als Werbungskosten abziehbar. Dies sei nunmehr höchstrichterlich entschieden worden. Die Kläger würden daher gebeten, ihre Einsprüche zurückzunehmen.

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Mit Schreiben vom 24. Januar 2005 erweiterten die Kläger ihre Einsprüche. Vor dem BFH sei derzeit ein Verfahren anhängig, in dem es um die Rechtsfrage gehe, ob nicht jedem Steuerpflichtigen die den Abgeordneten steuerfrei zustehende Kostenpauschale gemäß Art. 3 des Grundgesetzes (GG) gewährt werden müsse. Dieses Verfahren sei auch für ihren Besteuerungsfall von Bedeutung. Im Hinblick auf diese beim BFH anhängige Rechtsfrage ruhe das Einspruchsverfahren nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO weiterhin kraft Gesetzes.

6
Mit Einspruchsentscheidung vom 24. November 2005 erklärte das FA die Einkommensteuerfestsetzungen hinsichtlich der Nichtabziehbarkeit von Beiträgen zu Rentenversicherungen als vorweggenommene Werbungskosten bei den Einkünften i.S. des § 22 Nr. 1 Satz 3 des Einkommensteuergesetzes in der in den Streitjahren gültigen Fassung (EStG) sowie hinsichtlich der Nichtberücksichtigung pauschaler Werbungskosten bzw. Betriebsausgaben in Höhe der steuerfreien Aufwandsentschädigung nach § 12 des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Deutschen Bundestages (AbgG) für vorläufig und wies die Einsprüche im Übrigen als unbegründet zurück. Dazu führte es aus, durch die Vorläufigkeitserklärung hinsichtlich der nicht als Werbungskosten berücksichtigten Rentenversicherungsbeiträge sei dem Antrag der Kläger entsprochen worden. Der Vorwegabzug gemäß § 10 Abs. 3 Nr. 2 EStG sei gemäß § 10 Abs. 3 Nr. 2 Satz 2 Buchst. a EStG um 16 % der Arbeitslöhne beider Kläger zu kürzen, so dass letztendlich kein Vorwegabzug verbleibe. Auch in den übrigen strittigen Punkten sei dem Rechtsschutzbedürfnis der Kläger durch die Vorläufigkeitsvermerke ausreichend Rechnung getragen worden. Das Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) vom 27. Juni 2005 IV A 7 -S 0338- 54/05 (BStBl I 2005, 794) sehe vor, dass ein Ruhen des Verfahrens nicht gewährt werden könne, wenn die Steuerfestsetzung bezüglich der betreffenden Punkte vorläufig ergangen sei. An diese Anweisung sei das FA im Interesse einer gleichmäßigen Besteuerung und der Gleichbehandlung aller Steuerpflichtigen gebunden.

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Mit Schreiben vom 2. Januar 2006 lehnte das FA die am 19. Dezember 2005 unter Hinweis auf § 172 Abs. 1 Satz 2 AO beantragte und in zwei Telefonaten zwischen ihm und dem Prozessbevollmächtigten der Kläger am 28. und 29. November 2005 bereits diskutierte Aufhebung der Einspruchsentscheidung mit einer ausführlichen Begründung ab, legte den Antrag im Einvernehmen mit den Klägern als Klage aus und leitete ihn an das Finanzgericht (FG) weiter.

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Das FG wies die Klage mit dem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2008, 1352 veröffentlichten Urteil als unbegründet ab.

9
Mit der Revision verfolgen die Kläger ihr Begehren weiter. Die Einspruchsentscheidung sei verfahrensfehlerhaft ergangen und daher isoliert aufzuheben. Die Verfahrensruhe nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO habe sowohl hinsichtlich der Behandlung der Rentenversicherungsbeiträge als auch hinsichtlich der entsprechenden Anwendung der steuerfreien Kostenpauschale für Abgeordnete fortgedauert. Ihre Einspruchsbegründung in Bezug auf die Rentenversicherungsbeiträge habe sich neben den Verfahren X R 65/01 und X R 66/01 auch auf das Verfahren X R 45/02 gestützt. Wie dem Senatsurteil vom 26. September 2006 X R 39/05 (BFHE 215, 1, BStBl II 2007, 222) zu entnehmen sei, umfasse § 363 Abs. 2 Satz 2 AO auch Parallelverfahren. Daher habe die Zwangsruhe erst am 8. November 2006 mit dem BFH-Urteil X R 45/02 (BFHE 216, 47, BStBl II 2007, 574) geendet. Die Fortsetzungsmitteilung vom 20. Januar 2005 sei rechtswidrig, da das FA dies verkannt und daher keine Ermessenserwägungen angestellt habe.

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Unabhängig davon habe die Einspruchserweiterung vom 24. Januar 2005 zur weiteren gesetzlichen Zwangsruhe geführt, die erst mit dem Urteil des BFH vom 11. September 2008 VI R 63/04 (BFH/NV 2008, 2018) geendet habe. Das FA habe die eingetretene Verfahrensruhe nicht lediglich mit einem in der Einspruchsentscheidung angebrachten Vorläufigkeitsvermerk ohne Fortsetzungsmitteilung nach § 363 Abs. 2 Satz 4 AO beenden können. Sie, die Kläger, hätten als Einspruchsführer aufgrund des Ruhens des Verfahrens durch das Fehlen des Vorläufigkeitsvermerks eine Rechtsposition innegehabt, die das FA durch den Vorläufigkeitsvermerk habe verändern wollen. Um der „Klarheit der Spielregeln“ willen sei in einem solchen Fall eine vorherige Fortsetzungsmitteilung notwendig. Sei der Einspruchsführer nach dem Grundsatz der Verfahrensklarheit gehalten, die Bezugsverfahren gemäß § 363 Abs. 2 Satz 2 AO exakt zu bezeichnen, verlangten dieser Grundsatz sowie der Grundsatz eines fairen Verfahrens auf der anderen Seite vom FA, die Änderung der Verfahrenslage sowie der Verfahrensposition, die der Einspruchsführer durch die verfahrensgestaltende Einspruchsbegründung erlangt habe, durch eine Fortsetzungsmitteilung gemäß § 363 Abs. 2 Satz 4 AO anzukündigen.

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Die Finanzverwaltung gehe aufgrund des im Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung geltenden BMF-Schreibens in BStBl I 2005, 794 offensichtlich selbst davon aus, dass Einspruchsverfahren nach einer Aufforderung -die nichts anderes sei als eine Fortsetzungsmitteilung- weiterhin ruhen könnten, wenn sich der Einspruchsführer auf andere Verfahren stütze. Da die vorläufige Steuerfestsetzung gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO eine Ermessensentscheidung sei, stelle das BMF-Schreiben in BStBl I 2005, 794 eine Ermessensrichtlinie dar, die zur Selbstbindung der Verwaltung führe. Ein Abweichen hiervon laufe dem sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergebenden Vertrauensgrundsatz zuwider. Für die Notwendigkeit einer Anhörung des Steuerpflichtigen spreche auch der Anwendungserlass zur Abgabenordnung (AEAO), der ausdrücklich regele, dass die Finanzbehörde, wenn sie nach § 363 Abs. 2 Satz 4 AO die Fortsetzung des bisher ruhenden Einspruchsverfahrens mitteile, vor Erlass der Einspruchsentscheidung den Beteiligten die Gelegenheit geben solle, sich erneut zu äußern.

12
Beide Vorläufigkeitsvermerke bewirkten außerdem nicht denselben umfänglichen Rechtsschutz wie eine Zwangsruhe nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO; sie verschlechterten nicht nur die verfahrenstaktische, sondern vielmehr auch die verfahrensrechtliche Position der Kläger. Die Einspruchsentscheidung mit der Aufnahme der Vorläufigkeitsvermerke sei eine Verböserung i.S. von § 367 Abs. 2 Satz 2 AO. Sie, die Kläger, hätten daher vor deren Erlass nach § 365 Abs. 1, § 91 Abs. 1 AO i.V.m. Art. 103 und Art. 20 Abs. 3 GG angehört werden müssen. So bezögen sich die Vorläufigkeitsvermerke nicht auf einfachgesetzliche Rechtsfragen, mit denen in beiden Streitpunkten dem Begehren der Kläger, ggf. im Wege verfassungskonformer Auslegung, hätte Rechnung getragen werden können. Dies wäre hinsichtlich der Rentenversicherungsbeiträge durch Bejahung des Vorrangs des § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG gegenüber § 10 Abs. 3 EStG, hinsichtlich der Kostenpauschale der Abgeordneten durch die analoge Anwendung von § 3 Nr. 12 EStG auf alle Steuerpflichtigen möglich gewesen. Auch nähmen die Vorläufigkeitsvermerke den Klägern die Möglichkeit, nach § 361 Abs. 2 Satz 2 AO die Aussetzung der Vollziehung (AdV) zu beantragen. Falls eine Aussetzung der Steuerfestsetzung (§ 165 Abs. 1 Satz 4 AO) mit einer AdV vergleichbar sein solle, stelle sich die Frage, ob eine Aussetzung der Steuerfestsetzung –wie eine Aufhebung der Vollziehung– auch rückwirkend ausgesprochen werden könne. Zudem erfassten die Vorläufigkeitsvermerke nur Verfahren, die zum Zeitpunkt ihrer Bekanntgabe bereits anhängig gewesen seien, so dass eine Änderung des Bescheids nach § 165 Abs. 2 AO nicht mehr auf später anhängig werdende Verfahren gestützt werden könne. Ferner erlaubten sie nicht, bei erfolglosem Abschluss des Musterverfahrens oder etwa anderweitiger Erledigung (Hauptsacheerledigung durch Abhilfe etc.) selbst vor Gericht zu gehen.

13
Schließlich habe der Erlass der Einspruchsentscheidung ohne vorherige Anhörung den Klägern die Möglichkeit abgeschnitten, ihren Einspruch auf weitere für ihren Fall präjudizielle Musterverfahren vor dem BFH und dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zu stützen. Demgegenüber gehe der Große Senat des BFH davon aus, dass ein bereits anhängiges Rechtsmittel erweitert werden könne (Beschluss vom 23. Oktober 1989 GrS 2/87, BFHE 159, 4, BStBl II 1990, 327). Eine zielgerichtete Einspruchserweiterung sei kein Missbrauch der gesetzlichen Zwangsruhe als Mittel zum bloßen Offenhalten eines Steuerbescheids. Lägen die Voraussetzungen der Zwangsruhe vor, gehe es um effektiven, individuellen Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 GG, den in Anspruch zu nehmen niemals missbräuchlich sei.

14
Stelle die Aufnahme eines Vorläufigkeitsvermerks hingegen keine Verböserung dar und entfalle damit die Beschwer der Kläger im ursprünglich gerügten Punkt, der die Verfahrensruhe ausgelöst habe, könne die damit verbundene Änderung der Steuerfestsetzung nur eine Vollabhilfe sein. In diesem Falle dürfe eine Einspruchsentscheidung nach § 367 Abs. 2 Satz 3 AO nicht ergehen.

15
Sehe der angerufene Senat in § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO einen adäquaten Ersatz zur gesetzlichen Verfahrensruhe, komme es entscheidend darauf an, dass diese Vorschrift nicht ihrerseits verfassungswidrig sei. Insofern sei das Revisionsverfahren im Hinblick auf die unter dem Aktenzeichen 1 BvR 1359/11 anhängige Verfassungsbeschwerde, in der die Verfassungswidrigkeit dieser Vorschrift gerügt und deren Begründung ausdrücklich zum Gegenstand dieses Revisionsverfahrens gemacht werde, zum Ruhen zu bringen oder nach § 74 der Finanzgerichtsordnung (FGO) auszusetzen. Falls das Verfahren nicht ausgesetzt werde, werde angeregt, dem BVerfG gemäß Art. 100 GG die Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 165 Abs. 1 Satz 2 AO vorzulegen. Ebenso sei eine Vorlage wegen der Frage der Verfassungsmäßigkeit der einkommensteuerlichen Behandlung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung angezeigt. Hier sei bereits eine Verfassungsbeschwerde unter dem Aktenzeichen 2 BvR 598/12 anhängig, die sich gegen das Senatsurteil vom 16. November 2011 X R 15/09 (BFHE 236, 69, BStBl II 2012, 325) richte. Es werde insoweit auf die beigefügte Begründung dieser Verfassungsbeschwerde, deren Argumentation man sich zu eigen mache, Bezug genommen.

16
Die Kläger begehren ferner, die Einkommensteuerbescheide 2000 und 2001 jeweils mit einem Vorläufigkeitsvermerk hinsichtlich des Grundfreibetrages zu versehen. Die Vertreterin des FA hat daraufhin in der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Senat zu Protokoll erklärt: „Die Einspruchsentscheidung vom 24. November 2005 wird dahingehend abgeändert, dass die Einkommensteuerbescheide 2000 und 2001 hinsichtlich der Höhe des Grundfreibetrages für vorläufig erklärt werden.“

17
Die Kläger beantragen,

die Einspruchsentscheidung vom 24. November 2005 sowie das Urteil des FG aufzuheben und den Rechtsstreit an das FA zur Weiterführung des außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahrens zurückzuverweisen,

hilfsweise,

unter Änderung der Einkommensteuerbescheide 2000 und 2001 vom 23. Januar 2013 die Einkommensteuer in der Weise festzusetzen, dass die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung in voller Höhe, ggf. auch im Wege des negativen Progressionsvorbehalts berücksichtigt werden.

18
Das FA lehnt ein Ruhen des Verfahrens ab und beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe
19
B. I. Das angefochtene Urteil ist aus verfahrensrechtlichen Gründen aufzuheben, da die am 23. Januar 2013 während des Revisionsverfahrens zu Protokoll gegebene Erklärung des FA die Einkommensteuerbescheide 2000 und 2001 vom 15. November 2002 sowie die Einspruchsentscheidung vom 24. November 2005 geändert hat. Damit liegen dem FG-Urteil nicht mehr existierende Bescheide zugrunde mit der Folge, dass auch das FG-Urteil keinen Bestand haben kann (vgl. dazu Senatsurteil vom 18. April 2012 X R 62/09, BFHE 237, 434, BStBl II 2012, 721, m.w.N.).

20
Die Änderungsbescheide vom 23. Januar 2013 wurden nach § 68 Satz 1 FGO Gegenstand des Revisionsverfahrens. Da sich durch die Änderungsbescheide der bisherige Streitstoff nicht verändert hat, bedarf es keiner Zurückverweisung der Sache gemäß § 127 FGO (vgl. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 127 Rz 2). Das finanzgerichtliche Verfahren leidet nicht an einem Verfahrensmangel, so dass die vom FG getroffenen tatsächlichen Feststellungen durch die Aufhebung des Urteils nicht weggefallen sind; sie bilden daher nach wie vor die Grundlage für die Entscheidung des Senats (vgl. BFH-Urteil vom 23. Januar 2003 IV R 71/00, BFHE 201, 269, BStBl II 2004, 43).

II.
21
Der Senat entscheidet in der Sache selbst. Der Hauptantrag der Kläger ist zulässig (unten 1.), jedoch unbegründet. Das FA durfte die Einkommensteuerfestsetzungen 2000 und 2001 hinsichtlich der Nichtabziehbarkeit von Beiträgen zur Rentenversicherung als vorweggenommene Werbungskosten bei den Einkünften i.S. des § 22 Nr. 1 Satz 3 EStG sowie bezüglich der Nichtberücksichtigung pauschaler Werbungskosten bzw. Betriebsausgaben in Höhe der steuerfreien Aufwandsentschädigung nach § 12 AbgG vorläufig festsetzen und die Einsprüche im Übrigen als unbegründet zurückweisen (unten 2.). Der Hilfsantrag der Kläger ist unbegründet, da die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung weder in voller Höhe noch im Wege des negativen Progressionsvorbehalts zu berücksichtigen waren (unten 3.).

22
1. Bei den Klägern ist das erforderliche besondere Rechtsschutzinteresse an der isolierten Aufhebung der Einspruchsentscheidung (zu diesem Erfordernis vgl. BFH-Urteile vom 19. August 1982 IV R 185/80, BFHE 136, 445, BStBl II 1983, 21, und vom 19. Dezember 1995 III R 100/90, NJW 1996, 1560) gegeben. Die Rechtswidrigkeit des Widerrufs eines Ruhens des Verfahrens kann gemäß § 363 Abs. 3 AO nur durch Klage gegen die Einspruchsentscheidung geltend gemacht werden. Der Zulässigkeit einer solchen Klage steht nicht entgegen, dass die Kläger –hilfsweise– die steuerliche Berücksichtigung der von ihnen geleisteten Beiträge zur Arbeitslosenversicherung beantragt haben. Dieses Begehren haben sie ausdrücklich nur für den Fall der Abweisung ihres Antrags auf isolierte Aufhebung der Einspruchsentscheidung geltend gemacht (siehe dazu Senatsurteil in BFHE 215, 1, BStBl II 2007, 222, m.w.N.).

23
2. Der Hauptantrag ist nicht begründet. Das FA konnte im Rahmen der Einspruchsentscheidung vom 24. November 2005 die Einkommensteuer 2000 und 2001 in den beiden o.g. Punkten vorläufig festsetzen und die Einsprüche im Übrigen als unbegründet zurückweisen.

24
a) Die durch die Einsprüche vom 18. Dezember 2002 nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO bewirkte Verfahrensruhe war mit Ablauf des 21. Juli 2004 beendet.

25
aa) § 363 Abs. 2 Satz 2 AO in der bis zum 31. Dezember 2008 geltenden Fassung lautete:

26
„Ist wegen der Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsnorm oder wegen einer Rechtsfrage ein Verfahren bei dem Europäischen Gerichtshof, dem Bundesverfassungsgericht oder einem obersten Bundesgericht anhängig und wird der Einspruch hierauf gestützt, ruht das Einspruchsverfahren insoweit; dies gilt nicht, soweit nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 [in der seit dem 1. Januar 2009 geltenden Fassung auch Nr. 4] die Steuer vorläufig festgesetzt wurde.“

27
Die Verfahrensruhe beginnt und endet mit Eintritt und Fortfall ihrer Voraussetzungen automatisch (vgl. hierzu BFH-Urteil in BFHE 215, 1, BStBl II 2007, 222). Die Voraussetzungen sind u.a. dann entfallen, wenn das oder die Verfahren, um dessen oder deren Willen das Einspruchsverfahren ruhte (im Folgenden: Bezugsverfahren), nicht mehr anhängig ist oder sind.

28
bb) Auf welches oder welche Verfahren ein Einspruch im Sinne dieser Vorschrift „gestützt“ wird, ist eine Frage der Auslegung. Die Auslegung außerprozessualer Willenserklärungen, zu denen auch der Einspruch gehört, ist Gegenstand der dem FG obliegenden tatrichterlichen Würdigung (vgl. Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler –HHSp–, § 118 FGO Rz 205, 195). Sie bindet gemäß § 118 Abs. 2 FGO den BFH, sofern sie den Auslegungsgrundsätzen entspricht und nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstößt (ständige Rechtsprechung, vgl. Senatsurteil vom 19. Juli 2011 X R 26/10, BFHE 234, 239, BStBl II 2012, 856, m.w.N.).

29
Das FG hat die Einsprüche dahin ausgelegt, dass sie sich lediglich auf die zum damaligen Zeitpunkt unter den beiden Aktenzeichen X R 65/01 und X R 66/01 vor dem BFH anhängigen Verfahren bezogen. Dieses Auslegungsergebnis entspricht dem Grundsatz der Verfahrensklarheit. Wenn ein beratener Steuerpflichtiger sich ausdrücklich unter Nennung der Aktenzeichen auf bestimmte Verfahren stützt, ruht das Einspruchsverfahren nur im Hinblick auf diese Verfahren. Im Übrigen haben die Kläger dies zu dem Zeitpunkt, als das FA sie über das Ende der Verfahrensruhe informierte, noch ebenso beurteilt. Andernfalls hätten sie mit ihrem Schreiben vom 24. Januar 2005 nicht nur den Einspruch auf ein anderes Bezugsverfahren erweitert, sondern ebenfalls auf die Fortdauer des Ruhens hingewiesen.

30
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Senatsurteil in BFHE 215, 1, BStBl II 2007, 222. Der Senat hat dort sinngemäß ausgeführt, § 363 Abs. 2 Satz 2 AO bezwecke zwar in erster Linie, das Einspruchsverfahren bis zur Klärung der Rechtsfrage in einem Musterverfahren ruhen zu lassen; es reiche aber nach dem –maßgebenden– Wortlaut der Vorschrift aus, wenn sich ein Einspruchsführer auf ein zu einer solchen Rechtsfrage noch anhängiges Parallelverfahren berufe. Es genügt hingegen gerade nicht, dass ein solches Parallelverfahren lediglich existiert.

31
Die Verfahren X R 65/01 und X R 66/01 (zwischenzeitlich unter XI R 56/01 und XI R 57/01 geführt) wurden am 21. Juli 2004 unter X R 72/01 (BFH/NV 2005, 513) und X R 73/01 (NJW 2005, 93) durch Urteile abgeschlossen. Die sich anschließende Verfassungsbeschwerde (2 BvR 2299/04) war als außerordentlicher Rechtsbehelf ein anderes Verfahren (vgl. dazu BFH-Beschluss vom 29. Mai 2007 X B 66/06, BFH/NV 2007, 1693) und verlängerte die Verfahrensruhe nicht automatisch. Mit Ablauf des 21. Juli 2004 war die Verfahrensruhe nach § 363 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1 AO daher beendet, ohne dass es einer gesonderten Fortsetzungsmitteilung nach § 363 Abs. 2 Satz 4 AO bedurft hätte. Überlegungen zur Ermessensausübung stellen sich daher nicht.

32
b) Durch die Erweiterung des Einspruchs vom 24. Januar 2005 trat erneut eine Verfahrensruhe ein. Diese endete jedoch durch die Einspruchsentscheidung vom 24. November 2005.

33
Die Einspruchsentscheidung enthielt nicht nur die Entscheidung über den Einspruch (unten cc), sondern auch die konkludente Fortsetzungsmitteilung des FA gemäß § 363 Abs. 2 Satz 4 AO (unten aa) und die Bekanntgabe der entsprechenden vorläufigen Festsetzungen (unten bb).

34
aa) Die Fortsetzungsmitteilung ist im Ergebnis rechtmäßig.

35
(1) Dadurch, dass das FA über den Einspruch der Kläger entscheiden wollte, hat es unmissverständlich zu erkennen gegeben, dass es das Ruhen des Verfahrens beenden wollte. In der Einspruchsentscheidung des FA ist damit die konkludente Mitteilung zu sehen, gemäß § 363 Abs. 2 Satz 4 AO das Einspruchsverfahren fortführen zu wollen. Einer ausdrücklichen Mitteilung bedarf es insoweit nicht.

36
(2) Die Mitteilung der Finanzbehörde über die Fortsetzung eines noch von der gesetzlichen Zwangsruhe betroffenen Einspruchsverfahrens ist ein rechtsgestaltender Verwaltungsakt, durch den die gesetzliche Zwangsruhe beendet wird. Die Fortsetzungsmitteilung ist eine Ermessensentscheidung; der Einspruchsführer hat zwar kein subjektives Recht darauf, dass die Finanzbehörde von einer Fortsetzung des Einspruchsverfahrens vor Beendigung der gesetzlichen Zwangsruhe absieht, er hat aber einen Anspruch auf rechtmäßige Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens (so Senatsurteil in BFHE 215, 1, BStBl II 2007, 222, m.w.N.).

37
Die Entscheidung des FA, das Einspruchsverfahren fortsetzen zu wollen, war ermessensgerecht; insbesondere hatte das FA zum Ausdruck gebracht, weshalb es im konkreten Einzelfall die gesetzliche Zwangsruhe beendet hat (vgl. dazu Senatsurteil in BFHE 215, 1, BStBl II 2007, 222, unter II.4.).

38
In der Einspruchsentscheidung vom 24. November 2005 hatte das FA zunächst zu Recht darauf hingewiesen, dass mit der Aufnahme des Vorläufigkeitsvermerks in Bezug auf die nicht als Werbungskosten abziehbaren Rentenversicherungsbeiträge dem Antrag der Kläger entsprochen werde. Dass die Kläger nunmehr in ihrer Revisionsbegründung vom 15. Januar 2009 unter IV.6. die Auffassung vertreten, sie hätten eine adäquate Rechtsschutzgewährung und nicht aber eine vorläufige Steuerfestsetzung gefordert, kann der erkennende Senat angesichts des klaren Wortlauts ihrer Einspruchsbegründung vom 18. Dezember 2002 nicht nachvollziehen.

39
In Bezug auf den pauschalen Werbungskosten- bzw. Betriebsausgabenabzug in Höhe der steuerfreien Abgeordnetenpauschale hat das FA ausgeführt, ein Ruhen des Verfahrens könne aus Gründen der Gleichbehandlung nicht gewährt werden, wenn die Steuerfestsetzung hinsichtlich des betreffenden Punktes vorläufig ergangen sei. Mit dem Schreiben vom 2. Januar 2006 konnte das FA diese Erwägungen zulässigerweise präzisieren, da eine Finanzbehörde gemäß § 102 Satz 2 FGO ihre Ermessenserwägungen hinsichtlich eines Verwaltungsakts bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz eines finanzgerichtlichen Verfahrens ergänzen kann (vgl. statt vieler Senatsurteil in BFHE 215, 1, BStBl II 2007, 222).

40
Die Erläuterungen des FA reichen aus, um die ordnungsgemäße Ausübung des Ermessens zu belegen. So hat das FA darauf hingewiesen, es dürfe für die Frage des Ruhens des Verfahrens im Lichte des Art. 3 GG keinen Unterschied machen, ob die Steuerfestsetzung bereits vorläufig ergangen sei und dann der Steuerpflichtige mangels Rechtsschutzbedürfnis keinen erfolgreichen Antrag auf Ruhen des Verfahrens mehr stellen könne oder ob sie zur Wahrung einer gleichmäßigen Besteuerung erst im Einspruchsverfahren für vorläufig erklärt werde. Es könne unter Beachtung des § 363 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 und § 363 Abs. 2 Satz 4 AO nicht Sinn und Zweck des ersten Halbsatzes des § 363 Abs. 2 Satz 2 AO sein, dem Finanzamt nach dem Erlass eines Steuerbescheids die Möglichkeit eines verfahrensabschließenden Vorläufigkeitsvermerks zu nehmen. Im Übrigen sei nicht davon auszugehen, dass das BVerfG jedem Steuerpflichtigen eine steuerfreie Kostenpauschale zubilligen werde; vielmehr sei in den bisherigen Entscheidungen des BVerfG dem Gesetzgeber sowohl eine Frist zum Erlass einer Neuregelung eingeräumt als auch die Entscheidung überlassen worden, wie die Ungleichbehandlung zu beseitigen sei.

41
(3) Das FA hat jedoch das in dem BMF-Schreiben in BStBl I 2005, 794 vorgesehene Verfahren nicht eingehalten. Danach können Einspruchsverfahren weiter ruhen, wenn vom Einspruchsführer nach Aufforderung durch das Finanzamt andere Gründe, die eine Verfahrensruhe rechtfertigten, angeführt werden.

42
(a) Das BMF-Schreiben ist für das FA bindend, da es sich um eine Verwaltungsvorschrift handelt, die die Ausübung des behördlichen Ermessens bei einer vorläufigen Steuerfestsetzung im Hinblick auf anhängige Musterverfahren regelt. Ist eine Finanzbehörde ermächtigt, nach ihrem Ermessen zu handeln, hat sie ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten (§ 5 AO). Vorgesetzte Dienststellen können dazu ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften erlassen, die unter dem Gesichtspunkt der Selbstbindung der Verwaltung und damit der Beachtung des Gleichbehandlungsgrundsatzes von Bedeutung sein können; das gilt aber nur, wenn sich die in ihnen getroffenen Regelungen –woran im Streitfall keine Zweifel bestehen– innerhalb der Grenzen halten, die das Grundgesetz und die Gesetze der Ausübung des Ermessens setzen (vgl. dazu BFH-Entscheidungen vom 10. Oktober 2001 XI R 52/00, BFHE 196, 572, BStBl II 2002, 201, m.w.N., und vom 27. Juli 2011 I R 44/10, BFH/NV 2011, 2005; siehe auch Drüen in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 4 AO Rz 93; Klein/Gersch, AO, 11. Aufl., § 4 Rz 12; Pahlke/Koenig/Pahlke, Abgabenordnung, 2. Aufl., § 4 Rz 55, § 5 Rz 29 ff.).

43
(b) Damit musste das FA die Kläger auffordern, andere Gründe anzuführen, die eine Verfahrensruhe rechtfertigen könnten. Diese Aufforderung ist vor dem Erlass der Einspruchsentscheidung vom 24. November 2005 jedoch nicht erfolgt.

44
(c) Die im BMF-Schreiben genannte „Aufforderung“ umschreibt –wie die Kläger zu Recht meinen– die Pflicht, den betroffenen Steuerpflichtigen anzuhören. Diese Anhörung konnte das FA gemäß § 126 Abs. 1 Nr. 3 AO nachholen und die Nichtbeachtung der Anforderungen des BMF-Schreibens in BStBl I 2005, 794 heilen.

45
Vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Gewährleistung des rechtlichen Gehörs kann eine Heilung des Verfahrensmangels allerdings nur dann möglich sein, wenn der Sinn und Zweck der Anhörung –das Überdenken der Entscheidung anhand der Stellungnahme des Beteiligten– überhaupt noch erreicht werden kann. Das bedeutet, dass auf der einen Seite dem Steuerpflichtigen ausreichend Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt werden muss und dass auf der anderen Seite die Finanzbehörde die Ergebnisse der nachgeholten Anhörung nicht lediglich zur Kenntnis nehmen darf, sondern auch bereit sein muss, die bisherige Entscheidung kritisch zu überdenken (so zu Recht Rozek in HHSp, § 126 AO Rz 41 f.; ebenso Seer in Tipke/Kruse, a.a.O., § 126 AO Rz 7). Nach § 126 Abs. 2 AO kann die Anhörung bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz eines finanzgerichtlichen Verfahrens nachgeholt werden.

46
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist im Streitfall eine ausreichende nachträgliche Anhörung darin zu sehen, dass die Kläger ihre Einwendungen gegen die Einspruchsentscheidung in ihrem Antrag auf Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 19. Dezember 2005 geltend machen konnten und sie zudem die Möglichkeit hatten, ihren Standpunkt am 28. und 29. November 2005 in zwei Telefonaten ihres Prozessbevollmächtigten mit dem FA zu verdeutlichen. Die ausführliche Stellungnahme des FA vom 2. Januar 2006 zeigt, dass es sich noch vor Beginn des finanzgerichtlichen Verfahrens mit den Argumenten der Kläger gegen die Fortführung des Verfahrens inhaltlich intensiv auseinandergesetzt und dies den Klägern mitgeteilt hat – wenn auch nicht mit dem von den Klägern angestrebten Ergebnis.

47
bb) Die in der Einspruchsentscheidung vom 24. November 2005 enthaltene vorläufige Steuerfestsetzung hinsichtlich des pauschalen Werbungskostenabzugs in Höhe der steuerfreien Abgeordnetenpauschale war rechtmäßig und führte zum Ende der Verfahrensruhe.

48
(1) Die Vorläufigkeit konnte gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO angeordnet werden. Eine solche Anordnung steht im Ermessen der Finanzbehörde (BFH-Urteile vom 26. Oktober 1988 I R 189/84, BFHE 155, 8, BStBl II 1989, 130, und vom 7. Februar 1992 III R 61/91, BFHE 167, 279, BStBl II 1992, 592). Ermessensausübungsfehler sind nicht erkennbar.

49
(2) Die Anordnung der Vorläufigkeit stand im Einklang mit § 363 Abs. 2 Satz 2 AO.

50
(a) Zwar enthält § 363 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 AO die Formulierung „wurde“. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die vorläufige Festsetzung dem Einspruch vorangegangen sein muss. Auch untersagt die bis dahin bestehende Verfahrensruhe nicht den Erlass eines durch Aufnahme des Vorläufigkeitsvermerks geänderten Bescheids, da § 363 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 AO zum Ausdruck bringt, dass der Vorläufigkeitsvermerk die Verfahrensruhe ersetzen kann.

51
(b) Die durch vorläufige Festsetzung geänderten Bescheide entsprachen auch den tatbestandlichen Anforderungen des § 363 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 AO. Sie reichten so weit wie die Verfahrensruhe. Sie betrafen dieselbe Rechtsfrage wie das Bezugsverfahren und eröffneten insoweit dieselben Änderungsmöglichkeiten wie die Verfahrensruhe, hielten die Steuerbescheide also hinsichtlich dieser Frage in demselben Umfange offen.

52
Zwar erfasst ein Vorläufigkeitsvermerk nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO lediglich die Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit höherrangigem Recht, nicht aber einfachgesetzliche Rechtsfragen. § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AO ist erst seit dem 1. Januar 2009 in Kraft, so dass trotz Vorläufigkeitsvermerks eine auf Fragen einfachen Rechts gestützte Verfahrensruhe fortgedauert hätte (Birkenfeld in HHSp, § 363 AO Rz 213). Dies spielt im Streitfall jedoch keine Rolle, da die von den Klägern für geboten erachtete verfassungskonforme Auslegung eine Frage der Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht ist (so BFH-Urteil vom 30. September 2010 III R 39/08, BFHE 231, 7, BStBl II 2011, 11, unter B.II.2.a).

53
(3) Die Änderung der Steuerbescheide durch Aufnahme der Vorläufigkeitsvermerke war verfahrensrechtlich als Teilabhilfe im Einspruchsverfahren nach § 367 Abs. 2 Satz 1 AO zulässig.

54
(a) Zu einer Vollabhilfe konnte es im Einspruchsverfahren –im Gegensatz zu den Überlegungen der Kläger– nicht kommen, da das FA in der Einspruchsentscheidung u.a. die Auffassung der Kläger, die Kürzung des Vorwegabzugs gemäß § 10 Abs. 3 Nr. 2 Satz 2 Buchst. a EStG sei bei Arbeitnehmern rechtswidrig, zurückgewiesen hat.

55
(b) Einer vorherigen Anhörung der Kläger gemäß § 367 Abs. 2 Satz 2 AO bedurfte es nicht. Zwar unterläuft dem FA ein wesentlicher Verfahrensmangel, wenn es eine verbösernde Einspruchsentscheidung ohne Hinweis auf die Verböserungsmöglichkeit erlässt (BFH-Urteile vom 4. September 1959 III 286/57 U, BFHE 69, 569, BStBl III 1959, 472; vom 1. Dezember 1961 VI 264/61 U, BFHE 74, 371, BStBl III 1962, 140). Die Gerichte haben den Betroffenen dann so zu stellen, dass er durch das unrechtmäßige Verhalten keinen Schaden erleidet (ständige Rechtsprechung, vgl. BFH-Beschluss vom 14. Juli 2004 IX B 102/03, BFH/NV 2004, 1514, m.w.N.). Die Aufnahme der Vorläufigkeitsvermerke stellte jedoch keine Verböserung dar. Im Gegensatz zur Auffassung der Kläger werden ihre Rechtsposition und ihre Rechtsschutzmöglichkeiten nicht beeinträchtigt.

56
(aa) Bei isolierter Betrachtung führten die Vorläufigkeitsvermerke lediglich zu den Änderungsmöglichkeiten nach § 165 Abs. 2 Satz 1 AO, die sich unter den konkreten Umständen nur zu Gunsten der Kläger auswirken konnten. Allerdings kann auch die Verschlechterung der verfahrensrechtlichen Stellung des Steuerpflichtigen eine Verböserung i.S. von § 367 Abs. 2 Satz 2 AO darstellen (vgl. BFH-Urteil vom 9. Dezember 2009 II R 39/07, BFH/NV 2010, 821, unter II.2.b, m.w.N.). Die vorläufigen Festsetzungen beendeten gemäß § 363 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 AO die durch das Bezugsverfahren VI R 63/04 begründete Verfahrensruhe. Damit verschlechterte sich aber nur die „verfahrenstaktische“, nicht jedoch die verfahrensrechtliche Position der Kläger.

57
(bb) Die vorläufige Festsetzung führt zwar zur Beendigung der Verfahrensruhe und erlaubt es der Finanzverwaltung, das Einspruchsverfahren abzuschließen, so dass die Möglichkeit, gemäß § 361 Abs. 2 AO AdV zu beantragen, entfällt.

58
Dies stellt jedoch keinen verfahrensrechtlichen Nachteil dar, da dem Steuerpflichtigen ein vergleichbarer Rechtsschutz in Gestalt der Aussetzung der Festsetzung nach § 165 Abs. 1 Satz 4 AO zur Verfügung steht. Nach dieser Vorschrift kann unter den Voraussetzungen der Sätze 1 und 2 die Steuerfestsetzung auch gegen oder ohne Sicherheitsleistung ausgesetzt werden. Damit ist die vorläufige Freistellung von der Steuer nach § 155 Abs. 1 Satz 3 AO, mithin die vorläufige Nichtfestsetzung der Steuer gemeint (Schuster in HHSp, § 155 AO Rz 26; Heuermann in HHSp, § 165 AO Rz 20 ff.; Pahlke/Koenig/Cöster, a.a.O., § 165 Rz 39; dem Grunde nach wohl ebenso Seer in Tipke/Kruse, a.a.O., § 165 AO Rz 23). Sie stellt den Steuerpflichtigen formell und materiell nicht schlechter als die AdV – unabhängig davon, ob es sich bei der AdV um eine Aussetzung oder Aufhebung der Vollziehung handelt.

59
Die Aussetzung der Festsetzung gemäß § 165 Abs. 1 Satz 4 AO ist eine Ermessensentscheidung des FA. Sie kann sich grundsätzlich auf alle Vorläufigkeitsgründe des § 165 Abs. 1 AO beziehen, wie sich aus § 165 Abs. 1 Satz 4 AO ergibt. Bei einer Aussetzung der Festsetzung in den Fällen des § 165 Abs. 1 Nrn. 2 und 3 AO ist jedoch –ebenso wie bei der AdV (siehe dazu auch BFH-Beschluss vom 1. April 2010 II B 168/09, BFHE 228, 149, BStBl II 2010, 558, m.w.N.)– zu beachten, dass sie nur bei Vorliegen eines (besonderen) berechtigten Aussetzungsinteresses des Steuerpflichtigen zu gewähren ist. Wie die AdV kann die vorläufige Aussetzung der Festsetzung den Steueranspruch ganz oder teilweise umfassen und damit ebenso differenziert nach Streitpunkten ausgesprochen werden. Dies ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 3 AO, wonach eine Freistellung ausdrücklich ganz oder teilweise erfolgen kann.

60
Nachteilige Zinsfolgen der Aussetzung der Festsetzung gegenüber der AdV sind ebenfalls nicht erkennbar. Eine etwaige Verzinsung nach § 233a AO übersteigt die Verzinsung nach § 237 AO nicht. Schließlich spricht nichts dagegen, ebenso wie bei der AdV eine Aussetzung der Festsetzung nachträglich auszusprechen.

61
(cc) Die Annahme der Kläger, ein Vorläufigkeitsvermerk beziehe sich nicht auf neu anhängig werdende Verfahren zu derselben Rechtsfrage, trifft nicht zu. Er bezieht sich vielmehr, wenn es nicht ausdrücklich anders formuliert ist, auch auf später anhängig werdende Verfahren und geht insoweit über die Reichweite der Verfahrensruhe noch hinaus. Der Senat nimmt zur weiteren Begründung Bezug auf das BFH-Urteil in BFHE 231, 7, BStBl II 2011, 11 (unter B.II.1.b) und schließt sich den dortigen Ausführungen einschließlich der Abgrenzung zu dem Senatsurteil vom 31. Mai 2006 X R 9/05 (BFHE 213, 199, BStBl II 2006, 858) an.

62
(dd) Die Kläger sind ebenfalls nicht gehindert, ihren Rechtsstreit selbst zu Ende zu führen. Endet ein Bezugsverfahren nicht im Sinne des Steuerpflichtigen oder ohne Sachentscheidung, so dass die Vorläufigkeit ins Leere geht, so kann er anschließend den Streit in der Sache selbst fortsetzen (vgl. BFH-Urteil in BFHE 231, 7, BStBl II 2011, 11, unter B.II.2.d, m.w.N.).

63
(ee) Soweit die Kläger schließlich meinen, der Nachteil liege darin, dass sie ihren Einspruch nicht mehr um weitere Gründe ergänzen könnten, liegt darin keine Verböserung i.S. des § 367 Abs. 2 Satz 2 AO. Gegen diese Änderung der Verfahrenslage besitzen sie kein Abwehrrecht, weil sie nicht in ihren subjektiven Rechten verletzt werden. Art. 19 Abs. 4 GG verpflichtet nicht dazu, Einspruchsverfahren möglichst lange offenhalten zu können, damit der Steuerpflichtige an künftigen Änderungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu derzeit nicht streitigen Rechtsfragen teilhaben kann (ständige BFH-Rechtsprechung, z.B. Urteile vom 6. Oktober 1995 III R 52/90, BFHE 178, 559, BStBl II 1996, 20; in BFHE 215, 1, BStBl II 2007, 222, unter II.6.; Beschluss vom 6. Juli 1999 IV B 14/99, BFH/NV 1999, 1587). Auch § 363 Abs. 2 Satz 2 AO dient nicht diesem Zweck (vgl. Senatsurteil in BFHE 215, 1, BStBl II 2007, 222, unter II.4.).

64
Der Beschluss des Großen Senats des BFH in BFHE 159, 4, BStBl II 1990, 327 steht dem nicht entgegen, da sich der Große Senat in dieser Entscheidung nicht zu der streitrelevanten Frage des möglichen Offenhaltens eines Einspruchsverfahrens geäußert, sondern vielmehr erläutert hat, dass es zulässig sei, eine Anfechtungsklage nach Ablauf der Klagefrist zu erweitern, sofern nicht bereits eine –im Einkommensteuerrecht regelmäßig nicht anzunehmende– Teilbestandskraft eingetreten sei.

65
(4) Aus den vorstehend dargestellten Gründen bestehen nach Auffassung des erkennenden Senats die von den Klägern durch die Übernahme der Begründung der Verfassungsbeschwerde 1 BvR 1359/11 gerügten Rechtsschutzlücken nicht. Eine Richtervorlage gemäß Art. 100 GG kommt nicht in Betracht.

66
cc) Durch die Einspruchsentscheidung vom 24. November 2005 selbst werden die Kläger ebenfalls nicht in ihren Rechten verletzt.

67
(1) Wird die Bekanntgabe der vorläufigen Festsetzung mit der Bekanntgabe der die vorherige Beendigung der Verfahrensruhe voraussetzenden Einspruchsentscheidung verbunden, so genügt es zur Erfüllung der Voraussetzungen des § 363 Abs. 2 Satz 2 AO, wenn erstere der Einspruchsentscheidung unmittelbar vorangeht. Für eine längere Zwischenfrist besteht keine Notwendigkeit.

68
(2) Erforderlich ist jedoch, dass die Finanzbehörde, wenn sie dem Steuerpflichtigen die Fortsetzung eines ruhenden Einspruchsverfahrens nach § 363 Abs. 2 Satz 4 AO mitteilt, den Beteiligten vor Erlass einer Einspruchsentscheidung Gelegenheit gibt, sich erneut zu äußern (Ziffer 3 Satz 1 AEAO zu § 363 AO, AO-Kartei NW § 363 AO Karte 1). Dieses hat das FA im Streitfall unterlassen.

69
Die unterbliebene Anhörung konnte aber –ebenso wie die durch das BMF-Schreiben in BStBl I 2005, 794 geforderte und ebenfalls unterbliebene Aufforderung– gemäß § 126 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. Abs. 2 AO rechtzeitig vor Abschluss des Verwaltungsverfahrens nachgeholt werden. Die Gelegenheit zur Äußerung im Rahmen des Antrags der Kläger auf Aufhebung der Einspruchsentscheidung gemäß § 172 Abs. 1 Satz 2 AO vom 19. Dezember 2005, die beiden Telefonate des Prozessvertreters der Kläger mit dem FA im November 2005 sowie die ausführliche Stellungnahme des FA vom 2. Januar 2006 haben den Verfahrensfehler geheilt (vgl. dazu oben B.II.2.b.aa(3)(c)).

70
3. Der Hilfsantrag, die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung in voller Höhe, ggf. auch im Wege des negativen Progressionsvorbehalts zu berücksichtigen, ist unbegründet.

71
Der erkennende Senat hat in seinem Urteil in BFHE 236, 69, BStBl II 2012, 325 entschieden, der Gesetzgeber sei verfassungsrechtlich nicht verpflichtet gewesen, Beiträge an die Bundesanstalt für Arbeit (heute: Beiträge zu Versicherungen gegen Arbeitslosigkeit) einkommensteuerlich in vollem Umfang und nicht nur in dem durch § 10 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a i.V.m. Abs. 3 EStG vorgegebenen Rahmen zum Abzug zuzulassen. Dabei hat sich der Senat auf die Rechtsprechung des BVerfG gestützt, in der eine verfassungsrechtliche Pflicht, unter dem Gesichtspunkt der „Zwangsläufigkeit“ Ausgaben bis zur Höhe der Pflichtsozialversicherungsbeiträge zum Abzug von der einkommensteuerlichen Bemessungsgrundlage zuzulassen, ausdrücklich verneint wird, da das Prinzip der Steuerfreiheit des Existenzminimums dem Steuerpflichtigen lediglich den Schutz des Lebensstandards auf Sozialhilfeniveau gewährleistet, nicht aber auf dem Niveau, das durch die Leistungen der gesetzlichen Sozialversicherung erreicht werden kann. Auch eine steuerliche Berücksichtigung der Beiträge an die Bundesanstalt für Arbeit im Wege des negativen Progressionsvorbehalts gemäß § 32b EStG wurde vom Senat abgelehnt, da in § 32b Abs. 1 Nrn. 2 und 3 EStG (heute § 32b Abs. 1 Satz 1 Nrn. 2 bis 5 EStG) ausdrücklich der Begriff der „Einkünfte“ verwendet wird, auf deren Höhe sich Sonderausgaben gemäß § 2 Abs. 4 EStG nicht auswirken. Die Beiträge an die Bundesanstalt für Arbeit stellen nach Auffassung des erkennenden Senats keine Werbungskosten dar, da der Gesetzgeber die Vorsorgeaufwendungen mit konstitutiver Wirkung –und Vorrang gegenüber der allgemeinen Regelung des Einleitungssatzes des § 10 Abs. 1 EStG– den Sonderausgaben zugewiesen und ihren Abzug nur in den Grenzen der in § 10 Abs. 3 EStG bestimmten Höchstbeträge zugelassen hat.

72
In der Verfassungsbeschwerde 2 BvR 598/12 wird zwar die Auffassung vertreten, der gebotene verfassungsrechtlich abgesicherte Anspruch auf steuerliche Berücksichtigung der Beiträge zur Bundesanstalt für Arbeit als pflichtbestimmter, indisonibler Aufwand folge aus der verfassungskonformen Beachtung und Berücksichtigung des objektiven und subjektiven Nettoprinzips. Hilfsweise seien die Beiträge bei der Ermittlung des besonderen Steuersatzes gemäß § 32b Abs. 1 Nr. 1 EStG als vorweggenommene Werbungskosten zu berücksichtigen, was der folgerichtigen und gebotenen Umsetzung der Systematik der Einkommensteuer entspreche.

73
Mit sämtlichen Argumenten hat sich der Senat bereits in seinem Urteil in BFHE 236, 69, BStBl II 2012, 325 auseinandergesetzt, die Verfassungsmäßigkeit der nur eingeschränkten steuerlichen Berücksichtigung der Beiträge indes bejaht (vgl. dazu auch FG Hamburg, Urteil vom 21. September 2012 3 K 144/11, EFG 2013, 26 zu § 10 Abs. 4 EStG in der Fassung des Bürgerentlastungsgesetzes Krankenversicherung). Insofern wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Urteilsbegründung in BFHE 236, 69, BStBl II 2012, 325 (unter II.2.a und b) verwiesen.

74
Eine –behauptete– Verletzung des durch Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verfassungsrechtlich garantierten Rechts auf den gesetzlichen Richter ist ebenfalls nicht erkennbar; auch insoweit wird auf die Begründung des Senatsurteils in BFHE 236, 69, BStBl II 2012, 325 (unter II.2.a cc) Bezug genommen.

III.
75
Trotz der beim BVerfG anhängigen Verfassungsbeschwerden 1 BvR 1359/11 sowie 2 BvR 598/12 war der erkennende Senat nicht verpflichtet, das Verfahren in analoger Anwendung des § 74 FGO auszusetzen.

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1. Nach § 74 FGO kann das Gericht die Aussetzung des Verfahrens u.a. dann anordnen, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet. Die Entscheidung über die Aussetzung des Verfahrens ist eine Ermessensentscheidung des Gerichts, bei der insbesondere prozessökonomische Gesichtspunkte und die Interessen der Beteiligten abzuwägen sind (ständige Rechtsprechung des BFH, siehe u.a. Beschluss vom 4. April 2003 V B 199/02, BFH/NV 2003, 1081, m.w.N.). Eine Aussetzung des Verfahrens entsprechend § 74 FGO kann dann geboten sein, wenn vor dem BVerfG bereits ein nicht als aussichtslos erscheinendes Musterverfahren gegen eine im Streitfall anzuwendende Norm anhängig ist, zahlreiche Parallelverfahren vorliegen und keiner der Verfahrensbeteiligten ein besonderes berechtigtes Interesse an einer Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der umstrittenen gesetzlichen Regelung trotz des beim BVerfG anhängigen Verfahrens hat (ständige Rechtsprechung des BFH, u.a. Beschlüsse vom 9. Juni 2010 II B 154/09, BFH/NV 2010, 1652, und vom 1. August 2012 IV R 55/11, BFH/NV 2012, 1826, m.w.N.). Sind die oben genannten Voraussetzungen erfüllt, ist im Regelfall das Ermessen auf Null reduziert und das Verfahren auszusetzen. Dennoch bleibt die Aussetzung bei einem anhängigen Musterverfahren eine einzelfallbezogene Ermessensentscheidung (so zu Recht Brandis in Tipke/Kruse, a.a.O., § 74 FGO Rz 14).

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2. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist es ermessensgerecht, das Verfahren nicht auszusetzen.

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a) Der erkennende Senat teilt ausdrücklich nicht die Auffassung der Kläger, ein Revisionskläger könne ohne jegliche Einschränkungen bestimmen, ob er sein Verfahren selbst fortführen oder den Ausgang eines vorgreiflichen Verfahrens abwarten will. Zwar hat der BFH entschieden, es gehöre zum Recht individueller Prozessführung eines Bürgers, dass sein Verfahren zum vorübergehenden Stillstand gebracht werde, wenn bereits Prozesse anhängig seien; dies gelte jedenfalls dann, wenn das Begehren auf Ruhen oder Aussetzung des Verfahrens nicht von sachwidrigen Motiven getragen sei (Urteil vom 29. April 2003 VI R 140/90, BFHE 202, 49, BStBl II 2003, 719, und Senatsbeschluss in BFH/NV 2007, 1693). Diese Erwägungen sind jedoch im Rahmen von Kostenentscheidungen ergangen und können nicht dergestalt verallgemeinert werden, dass ein Kläger jederzeit Anspruch auf vorübergehenden Stillstand seines Verfahrens hat. Sie stünden ansonsten im Widerspruch zu den Vorschriften zum Ruhen des Verfahrens, das von der Zustimmung beider Parteien abhängig ist (vgl. § 251 der Zivilprozessordnung), zur Klage- oder Revisionsrücknahme, die nach einer mündlichen Verhandlung oder dem Ergehen eines Gerichtsbescheids nur mit Einwilligung des Prozessgegners möglich ist (§ 72 Abs. 1 Satz 2 FGO, § 125 Abs. 1 Satz 2 FGO) sowie in Bezug auf die Aussetzung des Verfahrens gemäß § 74 FGO, die grundsätzlich im Ermessen des Gerichts steht.

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b) Bei der Abwägung der jeweiligen Interessenlagen ist nicht zu verkennen, dass die Kläger ein begründetes Interesse an der Aussetzung des Verfahrens haben. Sollte nämlich das BVerfG in der Verfassungsbeschwerde 1 BvR 1359/11 zum Ergebnis kommen, der BFH habe in seinem Urteil in BFHE 231, 7, BStBl II 2011, 11 mit § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO eine verfassungswidrige Vorschrift angewandt bzw. sie sei von ihm nicht verfassungskonform ausgelegt worden, wäre dies auch im Streitfall zu berücksichtigen.

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Dem steht aber das Interesse des FA gegenüber, das Verfahren zügig zu beenden und Rechtssicherheit u.a. in Bezug auf die Rechtsfrage zu erhalten, ob das FA die durch die Berufung auf ein präjudizielles Verfahren bewirkte Verfahrensruhe im Einspruchsverfahren durch einen Vorläufigkeitsvermerk derselben Reichweite beenden kann.

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Eine Aussetzung des Verfahrens ist indes bereits deswegen nicht zwingend, weil für den Senat nicht erkennbar ist, dass zahlreiche Parallelfälle existieren. Bislang sind lediglich die beiden oben genannten Verfahren vor dem BVerfG anhängig. Zusätzlich sind vor dem BFH Revisionsverfahren eines Ehepaares anhängig, die u.a. die Verfassungsmäßigkeit sowohl des Zusammenwirkens der Vorschriften der gesetzlichen Zwangsruhe gemäß § 363 Abs. 2 Satz 2 AO mit der vorläufigen Steuerfestsetzung gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO als auch der eingeschränkten steuerlichen Berücksichtigung der Beiträge zur Bundesanstalt für Arbeit zum Gegenstand haben. Diese Verfahren wurden jedoch mit Zustimmung aller Beteiligten zum Ruhen gebracht.

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c) Hinzu kommt ein weiterer Aspekt, der gegen die Aussetzung des Verfahrens spricht: Das mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene BFH-Urteil in BFHE 231, 7, BStBl II 2011, 11 bezieht sich vor allem auf die Verfassungsmäßigkeit eines Vorläufigkeitsvermerks nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO. Im Streitfall sind hingegen die Voraussetzungen für den Eintritt sowie die Beendigung der Zwangsruhe gemäß § 363 Abs. 2 AO durch eine vorläufige Steuerfestsetzung sowie die Rechtmäßigkeit der durch den Vorläufigkeitsvermerk eingetretenen Änderung der Steuerbescheide streitig. Es ist daher sinnvoll, das Verfahren nicht auszusetzen, sondern erneut –diesmal schwerpunktmäßig zu einem anderen Teilbereich– zu entscheiden.