Kindergeld: Bei der Einkommensteuerfestsetzung und der Kindergeldfestsetzung handelt es sich um zwei unterschiedliche Verfahren; der Einkommensteuerbescheid ist hinsichtlich des inländischen Wohnsitzes für die Kindergeldfestsetzung nicht bindend. Ändern sich nicht die tatsächlichen Verhältnisse, sondern nur die rechtliche Beurteilung durch das Finanzamt, liegen die Voraussetzungen für eine rückwirkende Änderung nach § 173 oder § 175 AO nicht vor. Die Änderungsvorschrift § 70 Abs. 2 EStG findet keine Anwendung, wenn die Fa-milienkasse das Recht von Anfang an fehlerhaft angewendet hat, Urteil des 6. Senats vom 8.8.2013, 6 K 101/13, rechtskräftig.

FINANZGERICHT HAMBURG
Az.: 6 K 101/13
Urteil des Einzelrichters vom 08.08.2013
Rechtskraft: rechtskräftig
Normen: EStG § 62, EStG § 70 Abs. 2, AO § 173, AO § 175
Leitsatz: 1. Bei der Einkommensteuerfestsetzung und der Kindergeldfestsetzung handelt es sich um unterschiedliche Verfahren, sodass der Einkommensteuerbescheid hinsichtlich des inländischen Wohnsitzes für die Kindergeldfestsetzung nicht bindend ist.
2. § 70 Abs. 2 EStG ist nicht anwendbar, wenn die Familienkasse das Recht von Anfang an fehlerhaft angewandt hat. Ändern sich nicht die tatsächlichen Verhältnisse, sondern nur die rechtliche Beurteilung durch das Finanzamt, liegen die Voraussetzungen für eine rückwirkende Änderung nicht vor.
Überschrift: Kindergeld: Rückwirkende Aufhebung einer Kindergeldfestsetzung
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die beklagte Familienkasse die Kindergeldfestsetzung rückwirkend ändern und das bereits gezahlte Kindergeld zurückfordern durfte.
Der Kläger ist seit 2004 in Deutschland zugelassener Rechtsanwalt. Seit 2005 lebt er mit seiner griechischen Ehefrau in Griechenland. Hier wurden 2006 und 2009 auch seine Kinder geboren.
Der Kläger arbeitet als angestellter Rechtsanwalt in Griechenland. Außerdem hat er eine Rechtsanwaltszulassung in Deutschland. Hier ist er auch Mitglied der Rechtsanwaltsversorgungskammer. In Deutschland ist er im Haus seiner Eltern mit Nebenwohnsitz gemeldet. 2006 stellte sich erstmalig für den Kläger die Frage, ob er in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtig ist. Das zuständige Finanzamt Hamburg-1 gelangte nach einer rechtlichen Prüfung zu der Ansicht, dass der Kläger in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtig sei, und teilte ihm dieses durch Schreiben vom 18.08.2006 mit. Nach der Geburt seines ersten Kindes teilte das Finanzamt ihm bei Abgabe seiner Einkommensteuererklärung für 2006 mit, dass er kindergeldberechtigt sei. Der Kläger beantragte daraufhin bei der zuständigen Familienkasse Kindergeld, welches ihm durch Bewilligungsbescheid vom 18.10.2007 gewährt wurde.
Der Kläger erklärte in den Jahren ab 2006 jeweils geringe Einkünfte aus seiner deutschen Rechtsanwaltstätigkeit im Rahmen seiner unbeschränkten Einkommensteuerpflicht und wurde dementsprechend veranlagt.
Die Familienkasse überprüfte den Anspruch des Klägers auf Kindergeld regelmäßig und forderte in diesem Zusammenhang einen Nachweis über die unbeschränkte Steuerpflicht. Für die Jahre 2008, 2009, 2010 und 2011 (21.09.2011) legte der Kläger Bescheinigungen des Finanzamts Hamburg-1vor, durch die ihm seine unbeschränkte Steuerpflicht bescheinigt wurde.
Durch Schreiben vom 09.08.2012 teilte das Finanzamt Hamburg-1 dem Kläger mit, dass nach Durchsicht der Akten und Unterlagen festgestellt worden sei, dass bereits seit geraumer Zeit eine unbeschränkte Steuerpflicht im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 Einkommensteuergesetz (EStG) nicht mehr gegeben sei, weil der Kläger weder einen Wohnsitz noch einen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland habe. Die Veranlagung der Einkommensteuererklärung werde daher ab dem Jahr 2011 abgelehnt.
Der Kläger reichte diese Bescheinigung am 17.08.2012 an die Familienkasse weiter und teilte mit, dass er davon ausgehe, dass ihm damit ab dem 10.08.2012 kein Kindergeld mehr zustehe. Er bitte deshalb um die Einstellung der Kindergeldzahlungen.
Durch Bescheid vom 04.10.2012 hob die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung rückwirkend ab Januar 2011 auf und forderte das Kindergeld für die Monate Januar 2011 bis August 2012 in Höhe von 7.360 € zurück.
Am 16.10.2012 legte der Kläger Einspruch ein, welcher durch Einspruchsentscheidung vom 27.03.2013 als unbegründet zurückgewiesen wurde.
Hiergegen hat der Kläger am 29.04.2013 Klage erhoben. Zur Begründung trägt er vor, die Voraussetzungen für eine Änderung gem. § 70 Abs. 2 EStG seien nicht gegeben, denn an den tatsächlichen persönlichen Lebensumständen habe sich seit der Bewilligung des Kindergeldes in 2007 nichts geändert. Es sei für den Kläger deshalb auch nicht nachvollziehbar, warum das Finanzamt zu einer anderen Rechtsansicht gelangt sei. Eine andere rechtliche Beurteilung durch das Finanzamt oder die Familienkasse stelle keine Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 70 Abs. 2 EStG dar.
Darüber hinaus verstoße die rückwirkende Aufhebung der Kindergeldfestsetzung und die Rückforderung des bereits gezahlten Kindergeldes gegen Treu und Glauben, denn er, der Kläger, habe nach den regelmäßigen Prüfungen durch die Beklagte davon ausgehen können, dass ihm das Kindergeld zustehe und habe dieses Kindergeld auch bereits ausgegeben.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
der Aufhebungsbescheid vom 04.10.2012 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 27.03.2013 dahingehend zu ändern, dass die Kindergeldfestsetzung erst ab September 2012 aufgehoben wird und
den Rückforderungsbescheid vom 04.10.2012 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 27.03.2013 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung trägt die Beklagte vor, dass der Kläger im Inland weder einen Wohnsitz noch einen gewöhnlichen Aufenthalt habe und deshalb nicht gem. § 62 EStG kindergeldberechtigt sei. Die Feststellungen des Finanzamtes zur unbeschränkten Steuerpflicht seien für das Kindergeldverfahren gem. der für sie
geltenden Dienstanweisung grundsätzlich bindend. Die Urteile des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 20. November 2008 III R 53/05 (BFH/NV 2009, 564) und vom 24. Mai 2012 III R 14/10 (BFHE 237, 239, BStBl II 2012) seien noch nicht in ihre Dienstanweisung umgesetzt worden. Die unbeschränkte Steuerpflicht sei in der Regel durch die vom zuständigen Finanzamt erstellte Bescheinigung gem. § 39c EStG nachzuweisen. Das zuständige Finanzamt habe durch sein Schreiben vom 09.08.2012 eine unbeschränkte Steuerpflicht des Klägers abgelehnt. Rechtsgrundlage für die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung sei § 70 Abs. 2 EStG. Die Erstattungspflicht ergebe sich aus § 37 Abs. 2 Abgabenordnung (AO).
Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet und ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch die Berichterstatterin erklärt. Auf das Sitzungsprotokoll des Erörterungstermins vom 18.06.2013 wird verwiesen. Dem Gericht haben die Kindergeldakten des Klägers vorgelegen.
Entscheidungsgründe:
Das Gericht entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten durch die Berichterstatterin ohne mündliche Verhandlung (§ 79a Abs. 4 i. V. m. Abs. 3 Finanzgerichtsordnung (FGO) und § 90 Abs. 2 FGO).
I.
Die zulässige Klage ist begründet. Die angefochtenen Aufhebungs- und Rückforderungsbescheide vom 04.10.2012 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 27.03.2013 sind rechtswidrig und verletzen den Klägers in seinen Rechten (§ 100 Abs. 1 FGO) sofern der Aufhebungsbescheid den Zeitraum vor September 2012 betrifft.
1. Der Aufhebungsbescheid ist rechtswidrig, denn die Voraussetzungen für eine rückwirkende Änderung liegen nicht vor.
a) Die Voraussetzungen für eine Änderung gem. § 70 Abs. 2 EStG liegen nicht vor.
Gem. § 70 Abs. 2 EStG kann mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse die Kindergeldfestsetzung aufgehoben oder verändert werden, wenn in den Verhältnissen, die für den Anspruch auf Kindergeld erheblich sind, Änderungen eingetreten sind.
Die Regelung betrifft den Fall, dass eine ursprünglich rechtmäßige Festsetzung durch Änderung der für den Bestand des Kindergeldanspruchs maßgeblichen Verhältnisse des Anspruchsberechtigten oder des Kindes nachträglich unrichtig wird (BFH-Urteil vom 25. Juli 2001 VI R 18/99, BFHE 196, 260, BStBl II 2002, 81). Eine Änderung der Verhältnisse i. S. des § 70 Abs. 2 EStG ist die Änderung der tatsächlichen oder auch rechtlichen Verhältnisse des Anspruchsberechtigten oder des Kindes. § 70 Abs. 2 EStG ist daher nicht anwendbar, wenn die Familienkasse das Recht von Anfang an fehlerhaft angewandt hat.
Nach § 62 Abs. 1 EStG hat Anspruch auf Kindergeld nach dem EStG u. a., wer im Inland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (§ 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG) oder wer ohne Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland nach § 1
Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wird (§ 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG).
Es muss an dieser Stelle nicht entschieden werden, ob der Kläger in den von Januar 2011 bis August 2012 unbeschränkt steuerpflichtig gewesen ist, denn entscheidend ist ausschließlich, dass keine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse in diesem Zeitraum eingetreten ist. Denn der Kläger hat sich weder in Deutschland abgemeldet, noch hat er seine Aufenthaltszeiten in Deutschland verändert bzw. reduziert oder in Griechenland erst seinen Wohnsitz neu begründet.
Eine Änderung der Verhältnisse ergibt sich jedenfalls nicht aus der vom Finanzamt vorgenommenen anderweitigen steuerrechtlichen Qualifikation als nicht unbeschränkt steuerpflichtig und der entsprechenden Ablehnung der Einkommensteuerveranlagung für 2011. Denn bei der Einkommensteuerfestsetzung und der Kindergeldfestsetzung handelt es sich um unterschiedliche Verfahren, sodass der Einkommensteuerbescheid hinsichtlich des inländischen Wohnsitzes für die Kindergeldfestsetzung nicht bindend ist (vgl. BFH-Urteile vom 20. November 2008 III R 53/05, BFH/NV 2009, 564; vom 24. Mai 2012 III R 14/10, BFHE 237, 239, BStBl II 2012, 897; BFH-Beschluss vom 28. September 2007 III S 28/06 (PKH), BFH/NV 2008, 50). § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG setzt für die Anspruchsberechtigung nur einen Wohnsitz oder einen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland voraus und stellt nicht auf die einkommensteuerrechtliche Behandlung ab.
b) Auch die Voraussetzungen der in Betracht kommenden Korrekturvorschriften der §§ 172 ff. AO, die auf Kindergeldbescheide gemäß § 155 Abs. 4 AO, § 31 Satz 3 EStG sinngemäß anzuwenden sind und zu § 70 Abs. 2 bis 4 EStG nicht im Verhältnis der Spezialität oder Subsidiarität stehen (vgl. BFH-Urteil vom 25. Juli 2001 VI R 18/99, BFHE 196, 260, BStBl II 2002, 81), sind im Streitfall nicht erfüllt.
aa) Die Voraussetzungen für eine Änderung gem. § 173 AO liegen nicht vor.
Gem. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen.
Tatsache i. S. des § 173 AO ist, was Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Steuertatbestandes sein kann, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen und Eigenschaften materieller oder immaterieller Art. Keine Tatsachen sind dagegen rechtliche Schlussfolgerungen, insbesondere juristische Wertungen und Subsumtionen oder eine geänderte Rechtsauffassung der Finanzverwaltung, d. h. eine andere rechtliche Wertung bereits bekannter Tatsachen (BFH-Urteil vom 28. Juni 2006 III R 13/06, BStBl II 2007, 714).
Bei den Bescheinigungen des Finanzamts handelt es sich weder um Tatsachen noch um Beweismittel, sondern um eine rechtliche Würdigung durch das Finanzamt. Wie bereits oben dargelegt, setzt § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG für die Anspruchsberechtigung nur einen Wohnsitz oder einen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland voraus und stellt nicht auf die einkommensteuerrechtliche Behandlung durch das Finanzamt ab.
bb) Die Voraussetzungen für eine Änderung gem. § 175 AO sind ebenfalls nicht gegeben, denn weder stellt die Bescheinigung des Finanzamts einen
Grundlagenbescheid für die Kindergeldfestsetzung dar, noch ist ein rückwirkendes Ereignis eingetreten.
2. Wegen der Rechtswidrigkeit des Aufhebungsbescheides liegt auch kein Rechtsgrund für die Rückforderung des gezahlten Kindergeldes vor, denn das zurückgeforderte Kindergeld wurde nicht ohne Rechtsgrund gezahlt.
II.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 135 Abs. 1 FGO und die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 151 Abs. 1 und 3 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung.
Die Revision wird nicht gem. § 115 Abs. 2 FGO zugelassen.