Nachbarschaftshilfe: Wer haftet wann für welche Schäden?

Nachbarschaftshilfe: Wer haftet wann für welche Schäden?

Kümmert sich während eines Urlaubs der Nachbar um Haus und Garten, stellt sich die Frage: Wer haftet, wenn z. B. ein nicht abgedrehter Wasserhahn zu einer Überschwemmung führt?

Hintergrund

Der Beklagte versorgte während des Kuraufenthalts seines Nachbarn dessen Haus und bewässerte u. a. regelmäßig den Garten des Nachbarn. Dabei vergaß er, die Wasserzufuhr abzudrehen. Stattdessen drehte er nur die am Gartenschlauch befindliche Spritze ab. In der Nacht löste sich der unter Wasserdruck stehende Schlauch aus der Spritze. Das austretende Leitungswasser floss in das Gebäude des im Kururlaub befindlichen Nachbarn und führte im Untergeschoss zu erheblichen Schäden.

Die Wohngebäudeversicherung des geschädigten Nachbarn regulierte den Schaden vollständig machte dann bei dem Nachbarschaftshilfe Leistenden den Betrag geltend. Dessen Haftpflichtversicherung weigerte sich jedoch, für den Schaden aufzukommen.

Entscheidung

Das Oberlandesgericht entschied zugunsten des Beklagten. Dessen Haftpflichtversicherung habe sich zu Recht geweigert, den Schaden zu begleichen. Denn der Beklagte haftet nicht, da er nur einfach fahrlässig gehandelt habe (mittlere Fahrlässigkeit), seine Haftung aber auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit beschränkt ist.

Gegen eine grobe Fahrlässigkeit sprechen nach Ansicht des Gerichts folgende Punkte: Zwar war für den Nachbarn objektiv vorhersehbar, dass die zugedrehte Spritzdüse dem Wasserschlauch nicht standhalten und somit Leitungswasser austreten könnte. Der Schadenseintritt, also der Eintritt des Wassers in das Gebäude, war dennoch nicht voraussehbar. Denn es war nicht naheliegend, dass das austretende Wasser ins Untergeschoss des Hauses fließen und dort zu einem Wasserschaden führen würde. Dies lag an den spezielle Boden- und Gebäudeverhältnissen, mit denen der Beklagte nicht rechnen konnte.

Wohnungseigentum: Gemeinschaft darf Abschließen der Haustür nicht vorschreiben

Wohnungseigentum: Gemeinschaft darf Abschließen der Haustür nicht vorschreiben

Die Wohnungseigentümerdürfen nicht per Hausordnung verpflichtet werden, nachts die Hauseingangstür abzuschließen. Dies gilt vor allem, wenn sich die Tür von innen nicht ohne Schlüssel öffnen lässt.

Hintergrund

Die Wohnungseigentümer fassten in einer Eigentümerversammlung den Beschluss, die Hausordnung dahingehend zu ändern, dass die Haustür in der Zeit von 22.00 Uhr abends bis 6.00 Uhr morgens verschlossen zu halten ist.

Ein Wohnungseigentümer hat gegen den Beschluss Klage erhoben.

Entscheidung

Die Klage hatte Erfolg. Das Gericht entschied, dass die Regelung, während der Nachtzeiten die Haustür verschlossen zu halten, nicht ordnungsgemäßer Verwaltung entspricht. Der Beschluss war für ungültig zu erklären.

Bei abgeschlossener Haustür ist ein Verlassen des Gebäudes im Brandfall oder in einer anderen Notsituation nur möglich, wenn ein Schlüssel mitgeführt wird. Dieses schränkt die Fluchtmöglichkeit erheblich ein. Gerade in Paniksituationen ist nicht sichergestellt, dass jeder Eigentümer und jeder Besucher der Wohnungseigentumsanlage bei der Flucht einen Haustürschlüssel griffbereit mit sich führt, so dass sich eine abgeschlossene Haustür bei einem Brand oder in einem sonstigen Notfall als tödliches Hindernis erweisen kann. Das Abschließen der Hauseingangstür führt deshalb zu einer erheblichen Gefährdung der Wohnungseigentümer und ihrer Besucher.

Es gibt Haustürschließungssysteme, die einen Verschluss des Hauseingangs zulassen, auf der anderen Seite ein Öffnen durch flüchtende Bewohner aber ohne einen Schlüssel ermöglichen. Angesichts dieser Möglichkeit entspricht es nicht ordnungsgemäßer Verwaltung, zu beschließen, in den Nachtstunden die Haustür verschlossen zu halten und dadurch in Notsituationen Fluchtmöglichkeiten erschwert. Ein derartiger Beschluss überschreitet das Ermessen der Wohnungseigentümer bei der Beschlussfassung über die Hausordnung deutlich.

Überwachungskamera: Wann der Nachbar sie akzeptieren muss

Überwachungskamera: Wann der Nachbar sie akzeptieren muss

Wird ein Grundstück mit einer Videokamera überwacht, darf das Nachbargrundstück und öffentliche Bereiche eigentlich nicht erfasst werden. Im Einzelfall kann es aber zulässig sein, diese Bereiche doch zu überwachen.

Hintergrund

Ein Grundstückseigentümer hatte am Dachgauben-Fenster seines Hauses eine Videokamera angebracht, weil an seinem Haus mutwillig ein Fenster beschädigt worden war und der Täter nicht ermittelt werden konnte. Außerdem befindet sich im Garten eine Garten-Modelleisenbahn im Wert von ca. 8.000 EUR.

Die Kamera erfasst den Eingangsbereich des Grundstücks des Nachbarn und einen schmalen Streifen des Gehwegs vor dem Grundstück. Das Anbringen der Kamera war mit dem Bayerischen Landesamt für Datenschutzaufsicht und der zuständigen Polizeiinspektion abgesprochen.

Ein Nachbar befürchtet eine Überwachung durch die Kamera und verlangt deren Entfernung.

Entscheidung

Die Klage hat keinen Erfolg, die Kamera muss nicht entfernt werden.

Da durch die Aufzeichnung einer Person mit einer Videokamera in das Allgemeine Persönlichkeitsrecht der Person eingegriffen werden kann, muss bei der Videoüberwachung auf einem privaten Grundstück sichergestellt sein, dass weder der öffentliche Bereich noch das private Nachbargrundstück oder der gemeinsame Zugang hierzu erfasst werden.

Im vorliegenden Fall überwiegt jedoch das Interesse des Grundstückeigentümers am Schutz seines Eigentums das Persönlichkeitsrecht des klagenden Nachbarn. Zu berücksichtigen ist, dass der Erfassungsbereich vom Landesamt für Datenschutzaufsicht geprüft und als vertretbar erachtet worden war und dass bereits Sachbeschädigungen stattgefunden haben.

Die hypothetische Möglichkeit, dass der Nachbar einen überwachen könnte, reicht nicht aus, eine Beeinträchtigung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts anzunehmen.

Wie oft muss der Mieter lüften?

Wie oft muss der Mieter lüften?

Um Schimmel in der Wohnung zu vermeiden, muss regelmäßig gelüftet werden. 3- bis 4-mal täglich ist für einen Mieter zumutbar.

Hintergrund

Die Mieterin hatte die Miete gemindert, weil in der Wohnung Schimmel aufgetreten war. Als Ursache des Schimmels wurde von einem Sachverständigen fehlerhaftes Lüftungsverhalten festgestellt. Der Schimmel hätte sich durch täglich 3- bis 4-maliges Stoßlüften vermeiden lassen. Die Mieterin wendet ein, sie sei berufstätig und könne daher tagsüber nicht lüften.

Der Vermieter verlangt von der Mieterin die Nachzahlung einbehaltener Miete.

Entscheidung

Die Klage des Vermieters hat Erfolg. Weil sie den Schimmel durch ihr Lüftungsverhalten selbst verursacht hat, kann die Mieterin keine Minderung geltend machen.

Das durch den Sachverständigen geforderte 3- bis 4-malige Stoßlüften ist erforderlich und zumutbar.

Ob die Mieterin aus beruflichen Gründen tagsüber abwesend ist, ist ohne Belang, denn es muss während der Abwesenheit des Mieters nicht gelüftet werden. Das ergibt sich daraus, dass bei Abwesenheit nicht geduscht, gekocht, gewaschen noch sonst Feuchtigkeit seitens des Mieters verursacht wird, die herausgelüftet werden müsste.

Grundsteuer: Klagen gegen Erhöhung der Grundsteuer in Hamm abgewiesen

Die zu Beginn des Jahres 2015 erfolgte Erhöhung des Hebesatzes der Grundsteuer B in Hamm von 500 auf 600 % des Bemessungssatzes ist rechtmäßig. Das ergibt sich aus den Urteilen des Verwaltungsgerichts Arnsberg vom 6. Januar 2016, die den Beteiligten jetzt zugestellt worden sind.

Ursprünglich hatten 259 Grundstückseigentümer vor dem Verwaltungsgericht Arnsberg gegen die Erhöhung der Grundsteuer geklagt. Ein großer Teil der Verfahren ist ohne Urteil beendet worden, teilweise dadurch, dass eine der jetzt ergangenen Entscheidungen für das weitere Vorgehen maßgeblich sein soll. Am 6. und 7. Januar 2016 hat das Gericht über 20 Klagen verhandelt. Die Urteile vom 6. Januar 2016 sind den Beteiligten jetzt zugegangen.

Die Kläger hatten verschiedene Einwände gegen die Rechtmäßigkeit der Grundsteuererhebung vorgebracht. Vor allem wurde vielfach geltend gemacht, die von Seiten der Stadt angekündigte Verwendung der zusätzlichen Einnahmen zur finanziellen Ausstattung einer Stadtentwicklungsgesellschaft stelle eine unzulässige Zweckbindung von Steuermitteln dar.

Die 5. Kammer des Gerichts ist der Argumentation der Kläger in den Urteilen vom 6. Januar 2016 nicht gefolgt und hat die Klagen abgewiesen. Zur Begründung führt das Gericht im Wesentlichen aus: Die für die Festsetzung der Steuer maßgebliche Satzung der Stadt Hamm vom 11. Dezember 2014 sei wirksam. Mit der Erhöhung des Hebesatzes werde keine als Steuer getarnte Sonderabgabe mit Finanzierungsfunktion eingeführt. Etwas anderes ergebe sich insbesondere nicht daraus, dass die erwarteten Mehrerträge von ca. 5,2 Millionen Euro nach der Begründung der Beschlussvorlage der Stadtverwaltung für Investitionen durch die Stadtentwicklungsgesellschaft vorgesehen seien. Eine Zweckbestimmung für die Verwendung von Steuermitteln sei grundsätzlich unbedenklich. Zudem enthalte die Hebesatzsatzung selbst eine solche Zweckbindung nicht. Die Stadt habe eine rechtlich verbindliche Regelung über die Verwendung des Aufkommens aus der (erhöhten) Grundsteuer B nicht getroffen. Im Übrigen hätten die Gemeinden bei der Festsetzung der Hebesätze einen weiten Entschließungsspielraum. Er finde seine Grenzen lediglich in den allgemeinen Grundsätzen des Haushalts- und Steuerrechts. Diese Grenzen seien nicht überschritten. Dies gelte unter anderem für das Gebot der wirtschaftlichen und sparsamen Haushaltsführung und für die Beachtung des Gleichheitssatzes. Die durch die Hebesatzsatzung ausgelöste Steuerbelastung sei auch nicht mit einer verfassungsrechtlich unzulässigen Erdrosselungswirkung verbunden, wie das Gericht im Einzelnen darlegt.

Über Rechtsmittel gegen die Urteile hätte das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster zu entscheiden.

Quelle: VG Arnsberg, Pressemitteilung vom 12.01.2016 zum Urteil 5 K 520/15 u. a. vom 06.01.2016

 

Einkommensteuer: FG Düsseldorf billigt Entstrickungsbesteuerung

Mit Urteil vom 19. November 2015 (Az. 8 K 3664/11 F) hat das Finanzgericht Düsseldorf die sog. Entstrickungsklausel in § 4 Abs. 1 Sätze 3 und 4 des Einkommensteuergesetzes für europarechtlich und verfassungsrechtlich unbedenklich befunden.

Hintergrund des Rechtsstreits ist die langjährige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs, wonach die Überführung von Einzelwirtschaftsgütern aus einem inländischen Stammhaus in eine ausländische Freistellungs-Betriebsstätte zu einer gewinnverwirklichenden Entnahme führt. Diese sog. Theorie der finalen Entnahme hat der Gesetzgeber durch Schaffung eines Entstrickungstatbestands mit Wirkung ab dem Veranlagungszeitraum 2006 erstmals gesetzlich geregelt. Im Jahr 2008 hat der Bundesfinanzhof seine Rechtsprechung aufgegeben. Daraufhin hat der Gesetzgeber die Entstrickungsklausel im Jahr 2010 – mit Rückwirkung – nachgebessert.

Klägerin des Verfahrens ist eine in Deutschland ansässige Personengesellschaft mit niederländischen Gesellschaftern. Im Jahr 2005 übertrug sie Patent-, Marken- und Gebrauchsmusterrechte auf ihre niederländische Betriebsstätte. Die Betriebsprüfung war der Ansicht, dass die Überführung der Rechte in Anwendung der sog. Betriebsstätten-Verwaltungsgrundsätze zum Fremdvergleichswert und damit unter Aufdeckung der stillen Reserven von rund 4,7 Mio. Euro erfolgen müsse; allerdings könne aus Billigkeitsgründen ein korrespondierender Ausgleichsposten gebildet und über zehn Jahre gewinnerhöhend aufgelöst werden. Hiergegen wendet sich das Unternehmen mit seiner Klage.

Das Finanzgericht Düsseldorf hatte die Frage der Europarechtskonformität der Entstrickungsklausel dem Gerichtshof der Europäischen Union zur Vorabentscheidung vorgelegt. Dieser hat die Regelung mit Urteil vom 21. Mai 2015 (Rs. C-257/13) im Ergebnis gebilligt.

Das Finanzgericht Düsseldorf hat die Klage nunmehr unter Zugrundelegung dieser Vorabentscheidung abgewiesen. Die Überführung der Rechte in die niederländische Betriebsstätte der Klägerin stelle eine (der Höhe nach unstreitige) Entnahme im Sinne der auch im Streitjahr 2005 geltenden Entstrickungsklausel dar. Dem Entnahmegewinn stehe ein diesen neutralisierender Merkposten gegenüber, der linear über zehn Jahre gewinnerhöhend aufzulösen sei.

Die Anwendung der Entstrickungsklausel im Streitjahr 2005 verstoße nicht gegen das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot. Zwar handele es sich um eine konstitutive Änderung des Gesetzes, deren Anwendungsregelung – grundsätzlich unzulässige – echte Rückwirkung entfalte. Diese sei indes – ausnahmsweise -zulässig, da mit dem Entstrickungstatbestand nur eine frühere höchstrichterliche Rechtsprechung nach Änderung der Rechtsanwendungspraxis festgeschrieben worden sei.

Schließlich liege – wie der Gerichtshof der Europäischen Union festgestellt habe – kein Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit vor.

Das Finanzgericht Düsseldorf hat die Revision zum Bundesfinanzhof wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen.

Quelle: FG Düsseldorf, Pressemitteilung vom 13.01.2016 zum Urteil 8 K 3664/11 F vom 19.11.2015

Abgabenordnung: BFH zur Erstattung unionsrechtlicher Abgaben: Verzinsung ab dem Zeitpunkt ihrer Zahlung

Der VII. Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) hat mit Urteil vom 22. September 2015 VII R 32/14 entschieden, dass unionsrechtliche Abgaben, soweit sie zu Unrecht erhoben wurden und dem Abgabepflichtigen deshalb zu erstatten sind, ab dem Zeitpunkt ihrer Zahlung durch den Abgabepflichtigen zu verzinsen sind.

Die Klägerin des Streitfalls ist ein Zucker erzeugendes Unternehmen, das für mehrere Wirtschaftsjahre eine auf Unionsrecht beruhende marktordnungsrechtliche Produktionsabgabe zu zahlen hatte. Die der Abgabenerhebung zugrundeliegende unionsrechtliche Verordnung zur Festsetzung der Produktionsabgaben im Zuckersektor wurde später vom Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) für nichtig erklärt, weil die Methode der Abgabenberechnung zu einer überhöhten Belastung der Zuckererzeuger geführt hat. Der Rat der EU trug diesem EuGH-Urteil Rechnung und erließ eine neue Verordnung, die zu einer für die Klägerin geringeren Produktionsabgabe führte.

Das beklagte Hauptzollamt erstattete daraufhin der Klägerin den zu viel entrichteten Abgabenbetrag und berechnete ab Rechtshängigkeit, d. h. ab dem Zeitpunkt der Klageerhebung, Zinsen auf diesen Erstattungsbetrag. Die Klägerin verlangte hingegen, Zinsen bereits von dem Tag an zu berechnen, an dem sie die Produktionsabgabe entrichtet hatte.

Das im Streitfall hinsichtlich der Frage der Verzinsung anzuwendende nationale Recht, nämlich die Abgabenordnung, sieht für den Fall, dass Abgaben aufgrund einer gerichtlichen Entscheidung zu erstatten sind, vor, dass der Erstattungsbetrag vom Tag der Rechtshängigkeit an zu verzinsen ist. Allerdings hat der EuGH in einem Urteil vom 18. April 2013 entschieden, das nationale Recht dürfe nicht dazu führen, dass dem Abgabepflichtigen eine angemessene Entschädigung für diejenigen Einbußen vorenthalten werde, die er durch eine zu Unrecht gezahlte unionsrechtliche Abgabe erlitten habe. Zinsen auf Erstattungsbeträge müssten deshalb für den Zeitraum berechnet werden, in welchem die Mittel dem Abgabepflichtigen nicht zur Verfügung gestanden hätten.

Der BFH hat keinen Grund gesehen, im Streitfall von dieser EuGH-Rechtsprechung abzuweichen. Für den Fall, dass die Finanzbehörden aufgrund einer gerichtlichen Entscheidung Abgaben zu erstatten haben, wird daher für die Berechnung der Zinsen auf den Erstattungsbetrag künftig zwischen unionsrechtlichen und nationalen Abgaben zu unterscheiden sein.

BFH, Pressemitteilung Nr. 2/16 vom 13.01.2016 zum Urteil VII R 32/14 vom 22.09.2015

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 22.9.2015, VII R 32/14

Anspruch auf Verzinsung des Erstattungsbetrags ab Zahlung einer unionsrechtswidrig erhobenen Abgabe

Leitsätze

Abgaben, die auf der Grundlage einer für ungültig erklärten Unionsverordnung erhoben wurden, sind ab dem Zeitpunkt der Zahlung der unionsrechtswidrig erhobenen Abgabe zu verzinsen.

Tenor

Soweit die Beteiligten den Rechtsstreit über die Abgabenfestsetzung für das Wirtschaftsjahr 2004/2005 übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt erklärt haben, wird das Verfahren eingestellt.

Auf die Revision des Hauptzollamts wird das Urteil des Finanzgerichts Düsseldorf vom 9. Januar 2013  4 K 189/10 VZr dahin geändert, dass die Klage gegen den Abgabenbescheid für das Wirtschaftsjahr 2002/2003 in Gestalt des Änderungsbescheids vom 24. März 2014 abgewiesen wird.

Im Übrigen wird die Revision des Hauptzollamts als unbegründet zurückgewiesen.

Die Kosten des finanzgerichtlichen Verfahrens tragen die Klägerin und das Hauptzollamt je zur Hälfte, die Kosten des Revisionsverfahrens tragen die Klägerin zu 30 % und das Hauptzollamt zu 70 %.

Tatbestand

1
I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist ein Zucker erzeugendes Unternehmen und war als solches gemäß der Verordnung (EG) Nr. 1260/2001 (VO Nr. 1260/2001) des Rates vom 19. Juni 2001 über die gemeinsame Marktorganisation für Zucker (sog. Grundverordnung, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. L 178/1) für die streitgegenständlichen Wirtschaftsjahre 2002/2003 und 2004/2005 verpflichtet, Produktionsabgaben zu zahlen; diese wurden als Eigenmittel an die Europäische Kommission abgeführt.
2
Mit Bescheiden vom 29. Dezember 2009 setzte der Beklagte und Revisionskläger (das Hauptzollamt –HZA–) auf der Grundlage der sich zuletzt aus der Verordnung (EG) Nr. 1193/2009 (VO Nr. 1193/2009) der Kommission vom 3. November 2009 zur Berichtigung der Verordnungen (EG) Nr. 1762/2003, (EG) Nr. 1775/2004, (EG) Nr. 1686/2005 und (EG) Nr. 164/2007 sowie zur Festsetzung der Produktionsabgaben im Zuckersektor für die Wirtschaftsjahre 2002/2003, 2003/2004, 2004/2005 und 2005/2006 (Amtsblatt der Europäischen Union –ABlEU– Nr. L 321/1) ergebenden Abgabensätze gegen die Klägerin eine B-Abgabe in Höhe von … EUR für das Wirtschaftsjahr 2002/2003 und eine Ergänzungsabgabe in Höhe von … EUR für das Wirtschaftsjahr 2004/2005 fest.
3
Das gegen die Bescheide nach erfolglosen Einsprüchen gerichtete Klageverfahren wurde zunächst mit Beschluss vom 22. Februar 2010 ausgesetzt und der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) um eine Vorabentscheidung zu der Frage ersucht, ob die VO Nr. 1193/2009 gültig ist (Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache C-113/10).
4
Mit Urteil Jülich II vom 27. September 2012 in den verbundenen Rechtssachen C-113/10, C-147/10 und C-234/10 (EU:C:2012:591, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung –HFR– 2012, 1210) erklärte der EuGH die VO Nr. 1193/2009 in ihrer Gesamtheit für nichtig. Der Gerichtshof urteilte, die Europäische Kommission habe die gemäß der VO Nr. 1260/2001 zu entrichtenden Abgaben in den betreffenden Jahren falsch berechnet und die Methode, nach der die Abgaben festgesetzt worden waren, habe zu einer überhöhten Belastung der Zuckererzeuger geführt. Darüber hinaus entschied der EuGH, dass Rechtssuchende wegen der Ungültigkeit der VO Nr. 1193/2009 einerseits Anspruch auf Erstattung der zu Unrecht erhobenen Produktionsabgaben und andererseits Anspruch auf Zahlung der auf diese Beträge anfallenden Zinsen haben.
5
Das Finanzgericht (FG) hob daraufhin den Bescheid des HZA für das Wirtschaftsjahr 2002/2003 insoweit auf, als die festgesetzte B-Abgabe mehr als … EUR betrug; den Bescheid für das Wirtschaftsjahr 2004/2005 hob das FG insoweit auf, als die Ergänzungsabgabe auf mehr als … EUR festgesetzt worden war. Darüber hinaus sprach das FG der Klägerin Zinsen auf den zu erstattenden Betrag in Höhe von 0,5 % pro Monat ab dem Zeitpunkt der Überzahlung der geschuldeten Abgaben bis zum Eintritt der Rechtshängigkeit zu.
6
Das FG entschied, die Tatbestandsvoraussetzungen des § 74 der Finanzgerichtsordnung (FGO) für eine Aussetzung des Verfahrens bis zum Inkrafttreten einer unionsweit einheitlichen Regelung der Produktionsabgaben durch die Europäische Kommission seien nicht gegeben. Der EuGH habe der Europäischen Kommission in seinem Urteil nicht aufgegeben, die anzuwendenden Zuckerabgabensätze neu zu regeln und aus der Verpflichtung gemäß Art. 266 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union ergebe sich ebenfalls keine Pflicht des erkennenden Gerichts, eine entsprechende Entscheidung der Europäischen Kommission abzuwarten. Die Gefahr von Anlastungen für den Bundeshaushalt könne –auch angesichts der Unsicherheiten über das Ob und gegebenenfalls das Wann der Entscheidung der Europäischen Kommission– nicht zu einer Verzögerung der Festsetzung des Erstattungsanspruchs der Klägerin führen; nach Abwägung der beiderseitigen Interessen sei der Klägerin ein weiteres Abwarten nicht zuzumuten. Den in den angefochtenen Bescheiden festgesetzten Abgaben fehle die Rechtsgrundlage; einer Herabsetzung der Abgabenbeträge unter Zugrundelegung des Berechnungsvorschlags der Schwedischen Ratspräsidentschaft aus dem Jahr 2009 stehe daher nichts entgegen.
7
Der Zinsanspruch der Klägerin ergebe sich nach dem EuGH-Urteil Jülich II (EU:C:2012:591, HFR 2012, 1210) unmittelbar aus Unionsrecht; die Höhe des Zinssatzes betrage gemäß § 12 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes zur Durchführung der gemeinsamen Marktorganisationen und Direktzahlungen (MOG) i.V.m. § 238 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) 0,5 % für jeden vollen Monat.
8
Mit Änderungsbescheid (§ 68 FGO) vom 24. März 2014 setzte das HZA die B-Abgabe für das Wirtschaftsjahr 2002/2003 gemäß der zwischenzeitlich erlassenen Verordnung (EU) Nr. 1360/2013 (VO Nr. 1360/2013) des Rates vom 2. Dezember 2013 zur Festsetzung der Produktionsabgaben im Zuckersektor für die Wirtschaftsjahre 2001/2002, 2002/2003, 2003/2004, 2004/2005 und 2005/2006, des Koeffizienten für die Berechnung der Ergänzungsabgabe für die Wirtschaftsjahre 2001/2002 und 2004/2005 und der Beträge, die die Zuckerhersteller den Zuckerrübenverkäufern für die Differenz zwischen dem Höchstbetrag der Abgaben und dem Betrag dieser für die Wirtschaftsjahre 2002/2003, 2003/2004 und 2005/2006 zu erhebenden Abgaben zu zahlen haben (ABlEU Nr. L 343/2) auf x EUR fest. Hinsichtlich der für das Wirtschaftsjahr 2004/2005 zu zahlenden Ergänzungsabgabe wurde das Verfahren durch übereinstimmende Erledigungserklärungen der Beteiligten beendet.
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Mit seiner Revision betreffend den verbliebenen Teil der Klage macht das HZA geltend, mit der am 19. Dezember 2013 (richtig: 20. Dezember 2013) in Kraft getretenen VO Nr. 1360/2013 sei der Berechnung der allein streitig verbleibenden Höhe der B-Abgabe für das Wirtschaftsjahr 2002/2003 eine neue Rechtslage zugrunde zu legen, die von der Berechnungsgrundlage des FG-Urteils abweiche und zu dem festgesetzten Betrag führe. Außerdem hätte das FG das Verfahren analog § 74 FGO bis zum Erlass der VO Nr. 1360/2013 aussetzen müssen und sei nicht berechtigt gewesen, eine eigene, vorgreifende Entscheidung zu treffen. Schließlich habe das FG gegen § 233 AO verstoßen, indem es der Klägerin einen ergänzenden Anspruch auf Zinsen ab Überzahlung der Abgaben zugesprochen habe. § 236 AO, wonach zu erstattende Beträge lediglich vom Tag der Rechtshängigkeit an zu verzinsen seien, genüge den Vorgaben des Unionsrechts.
10
Die Klägerin trägt vor:Der streitig verbliebene Abgabenbescheid für das Wirtschaftsjahr 2002/2003 regele eine Abgabenlast, die mit Erlass der VO Nr. 1360/2013 nun teilweise dem Wirtschaftsjahr 2001/2002 zugerechnet werde, obwohl für diesen Zeitraum bereits ein bestandskräftiger Bescheid ergangen sei. Die im Wirtschaftsjahr 2002/2003 im Wege des Verlustvortrags überhöht festgesetzten Abgaben für das Wirtschaftsjahr 2001/2002 könnten jedoch nicht rückwirkend von der gebotenen Korrektur ausgeschlossen werden, da dies in jenen Fällen zu einer Rechtsschutzlücke führte, in denen der Bescheid für das Wirtschaftsjahr 2001/2002 nicht mehr änderbar ist und der Betroffene deshalb keine Möglichkeit der Erstattung der überzahlten Beträge mehr habe. Bezüglich eines Anspruchs auf Zinszahlung ab Überzahlung der Abgaben macht die Klägerin geltend, der EuGH habe mit seinem Urteil Irimie vom 18. April 2013 C-565/11 (EU:C:2013:250, HFR 2013, 659) die Vorgaben des Effektivitätsprinzips dahin konkretisiert, dass die Verzinsung eines Erstattungsbetrags ab Zahlung einer unionsrechtswidrig erhobenen Abgabe zwingend sei. Diese Rechtsprechung sei nicht auf von den Mitgliedstaaten unionsrechtswidrig erhobene Abgaben begrenzt. Neben dem unmittelbar aus Unionsrecht erwachsenden Erstattungsanspruch greife also ein Zinsanspruch aus § 12 Abs. 1 Satz 1 MOG i.V.m. einer europarechtskonformen Anwendung des § 233a bzw. § 236 AO.

Entscheidungsgründe

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II. Soweit der Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt worden ist, ist das Verfahren einzustellen. Das FG-Urteil ist insoweit gegenstandslos.
12
Die Revision des HZA betreffend den verbliebenen Teil der Klage ist zum Teil begründet (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FGO). Das FG-Urteil ist dahin zu ändern, dass die Klage gegen den Abgabenbescheid für das Wirtschaftsjahr 2002/2003 in Gestalt des Änderungsbescheids vom 24. März 2014 abzuweisen ist (1.). Im Übrigen ist die Revision des HZA unbegründet und deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO). Das FG hat insoweit zu Recht Zinsen für den Erstattungsbetrag ab dem Zeitpunkt der Überzahlung der Abgaben gewährt (2.).
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1. Der Änderungsbescheid vom 24. März 2014 ist rechtmäßig. Die B-Abgabe für das Wirtschaftsjahr 2002/2003 beträgt x EUR.
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a) Mit Änderungsbescheid vom 24. März 2014 hat das HZA die B-Abgabe für das streitige Wirtschaftsjahr 2002/2003 auf der Grundlage der aktuell gültigen VO Nr. 1360/2013 neu festgesetzt. Dabei hat es gemäß Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Nr. 1 Buchst. b des Anhangs zu VO Nr. 1360/2013 den Abgabensatz je Tonne Weißzucker in Höhe von 103,447 EUR (= 10,3447 EUR/dt) zugrunde gelegt. Die maßgebliche auch den Berechnungen der Klägerin zugrunde liegende Zuckermenge für das Wirtschaftsjahr 2002/2003 beträgt … dt.
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b) Sollte –wie von der Klägerin geltend gemacht– im ursprünglich (zuletzt mit Bescheid vom 29. Dezember 2009) festgesetzten Abgabenbetrag für das Wirtschaftsjahr 2002/2003 eine „im Wege des Verlustvortrags“ nacherhobene Abgabe für das Wirtschaftsjahr 2001/2002 enthalten sein, so ist der überschießende Betrag als in der zu erstattenden Differenz zwischen dem absoluten ursprünglich im Wirtschaftsjahr 2002/2003 erhobenenB-Abgabenbetrag und dem für das Wirtschaftsjahr 2002/2003 nach der VO Nr. 1360/2013 neu festgesetzten B-Abgabenbetrag enthalten anzusehen.
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Wie die Klägerin selbst –zumindest zunächst– feststellt, gründete die erste ihr gegenüber erfolgte Abgabenfestsetzung für das Wirtschaftsjahr 2001/2002 auf der korrekten Berechnungsmethode für die Produktionsabgabe und blieb deshalb unangetastet bestehen. Die spätere „periodenfremde“ Korrektur, die die Kommission im Wege der nachträglich für ungültig erklärten Verordnung (EG) Nr. 1762/2003 der Kommission vom 7. Oktober 2003 zur Festsetzung der Produktionsabgaben im Zuckersektor für das Wirtschaftsjahr 2002/2003 (ABlEU Nr. L 254/4) für das Wirtschaftsjahr 2001/2002 vorgenommen hat, wirkte sich demnach ausschließlich durch eine zusätzliche Abgabenlast im Rahmen des Abgabenbescheids für das Wirtschaftsjahr 2002/2003 aus. Die von der Kommission zur Neuberechnung der Produktionsabgabe erlassene VO Nr. 1193/2009 änderte an dieser Berücksichtigung der zusätzlichen Abgabenlast für das Wirtschaftsjahr 2001/2002 im Rahmen des Abgabenbescheids für das Wirtschaftsjahr 2002/2003 nichts. Wird nunmehr die Abgabenlast für das Wirtschaftsjahr 2002/2003 gemäß der aktuellen VO Nr. 1360/2013 korrekt festgesetzt und der über den dadurch ermittelten Abgabenbetrag für das Wirtschaftsjahr 2002/2003 geleistete absolute Mehrbetrag der Klägerin erstattet, so muss in dieser Erstattung auch eine etwaige „periodenfremd“ in diesem Wirtschaftsjahr erhobene zusätzliche Abgabenlast enthalten sein, die die Kommission durch einen „Verlustvortrag“ vom Wirtschaftsjahr 2001/2002 in das Wirtschaftsjahr 2002/2003 eingerechnet hat. Die Mehrbelastung der Klägerin durch die jeweils ungültige Berücksichtigung einer Abgabennacherhebung für das Wirtschaftsjahr 2001/2002 wird also in demselben Wirtschaftsjahr rückabgewickelt, in dem sie auferlegt wurde.
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c) Selbst wenn aber die zuviel erhobenen Abgaben, die vorher allein auf das Wirtschaftsjahr 2002/2003 entfielen, nach der VO Nr. 1360/2013 nun buchungsmäßig auf zwei Jahre aufgeteilt und nach Änderung der Abgabenbescheide sowohl für das –auch dem ursprünglichen Vorbringen der Klägerin– korrekt berechnete Wirtschaftsjahr 2001/2002 als auch das Wirtschaftsjahr 2002/2003 getrennt für die beiden Wirtschaftsjahre erstattet werden, ist Gegenstand des Verfahrens weiterhin ausschließlich der Abgabenbescheid für das Wirtschaftsjahr 2002/2003. Der darin ursprünglich festgesetzte B-Abgabenbetrag ist mit Änderungsbescheid vom 24. März 2014 auf der Grundlage der gültigen VO Nr. 1360/2013 auf die korrekte Höhe geändert worden. Diesen Betrag zweifelt auch die Klägerin nicht an. Die Abgabenfestsetzung für das Wirtschaftsjahr 2001/2002 steht dagegen nicht in Streit. Ob für dieses Wirtschaftsjahr der Abgabenbescheid noch geändert werden kann, ist im vorliegenden Fall nicht zu entscheiden.
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2. Zinsen für die zu erstattenden Beträge sind entsprechend dem FG-Urteil ab dem Zeitpunkt der Überzahlung der Abgaben zu leisten.
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a) In seinem Urteil Jülich II (EU:C:2012:591, HFR 2012, 1210, Rz 66) hat der EuGH unter Verweis auf seine insoweit ständige Rechtsprechung (vgl. Urteil Metallgesellschaft vom 8. März 2001 C-397/98 und C-410/98, EU:C:2001:134, HFR 2001, 628, Rz 84 ff., und Urteil Littlewoods Retail u.a. vom 19. Juli 2012 C-591/10, EU:C:2012:478, HFR 2012, 1018, Rz 24 ff.) bekräftigt, dass sich im Fall von Steuerbeträgen, die unter Verstoß gegen Vorschriften des Unionsrechts erhoben worden sind, ein Anspruch auf Erstattung der erhobenen Beträge zuzüglich Zinsen unmittelbar aus dem Unionsrecht ergibt. Diesem Grundsatz folgend haben Rechtssuchende, die einen Anspruch auf die Erstattung von Beträgen haben, die aufgrund einer ungültigen Verordnung zu Unrecht gezahlt wurden, auch Anspruch auf Zahlung der entsprechenden Zinsen (Urteil Jülich II, EU:C:2012:591, HFR 2012, 1210, Rz 67, 69).
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Im Hinblick auf die Konkretisierung des Begriffs „entsprechende“ Zinsen stellt der EuGH in diesem Urteil (EU:C:2012:591, HFR 2012, 1210, Rz 60, 61) lediglich fest, dass es Sache der nationalen Stellen und insbesondere der nationalen Gerichte ist, in Fällen der Erstattung von Abgaben, die auf der Grundlage für ungültig erklärter Unionsverordnungen zu Unrecht erhoben wurden, alle mit dieser Erstattung zusammenhängenden Nebenfragen, wie etwa die der Zahlung von Zinsen, gemäß ihren innerstaatlichen Vorschriften über den Zinssatz und den Zeitpunkt, von dem an die Zinsen zu berechnen sind, zu regeln. Die Bedingungen für die Zahlung solcher Zinsen müssten dabei den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität entsprechen, d.h. sie dürften insbesondere nicht so ausgestaltet sein, dass sie die Ausübung der Rechte, die die Unionsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich machen. Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung des EuGH im Hinblick auf die Erstattung zu Unrecht erhobener Steuerbeträge und diesbezüglicher Zinsen (vgl. EuGH-Urteil Roquette frères/Kommission vom 21. Mai 1976 Rs. 26/74, EU:C:1976:69, Rz 9 ff.; EuGH-Urteil Express Dairy Foods vom 12. Juni 1980 Rs. 130/79, EU:C:1980:155, Zeitschrift für Zölle und Verbrauchsteuern 1981, 45, Rz 11 ff., und EuGH-Urteil Littlewoods Retail u.a., EU:C:2012:478, HFR 1012, 1018, Rz 27).
21
b) Die Abgabenordnung sieht im Zusammenhang mit Erstattungsansprüchen zwar lediglich einen Anspruch auf Prozesszinsen ab Rechtshängigkeit gemäß § 236 AO vor; Ausnahmen hiervon sind in § 233a AO abschließend normiert und greifen im Streitfall nicht ein. Mit Blick auf den Grundsatz der Effektivität hat der Bundesfinanzhof (BFH) zunächst entschieden, die Frage, in welcher Weise der jeweilige Mitgliedstaat eine Erstattung oder eine Entschädigung für die finanzielle Einbuße regelt, die der Steuerpflichtige infolge eines Unionsrechtsverstoßes erlitten hat, sei mangels einer Unionsrechtsregelung Sache des innerstaatlichen Rechts. Unter Umständen könne der Steuerpflichtige zusätzlich einen Schadensersatzanspruch geltend machen. Der Gesetzgeber sei aber nicht zu einer lückenlosen Verzinsung jeglicher Erstattungsansprüche verpflichtet (BFH-Beschluss vom 18. September 2007 I R 15/05, BFHE 219, 1, 3, BStBl II 2008, 332); eine Verletzung des Grundsatzes der Effektivität durch das innerstaatliche Regelungsgefüge sei dabei nicht ersichtlich.
22
c) Jedoch erklärt der EuGH in seinem Urteil Irimie (EU:C:2013:250, HFR 2013, 659, 660, Rz 29) eine nationale Regelung für unionsrechtswidrig, die die bei der Erstattung einer unionsrechtswidrig erhobenen Steuer zu zahlenden Zinsen auf jene Zinsen beschränkt, die ab dem auf das Datum des Antrags auf Erstattung der Steuer folgenden Tag angefallen sind. Eine derartige nationale Regelung dürfe im Hinblick auf die Erfordernisse des Grundsatzes der Effektivität nicht dazu führen, dass dem Steuerpflichtigen eine angemessene Entschädigung für die Einbußen, die er durch die zu Unrecht gezahlte Steuer erlitten habe, vorenthalten werde (EuGH-Urteil Irimie, EU:C:2013:250, HFR 2013, 659, 660, Rz 26, 27). Die Einbußen hingen u.a. davon ab, wie lange der unter Verstoß gegen das Unionsrecht zu Unrecht gezahlte Betrag nicht zur Verfügung gestanden habe und entstünden somit grundsätzlich im Zeitraum vom Tag der zu Unrecht geleisteten Zahlung der fraglichen Steuer bis zum Tag ihrer Erstattung (EuGH-Urteil Irimie, EU:C:2013:250, HFR 2013, 659, 660, Rz 28).
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In seinem Irimie-Urteil (EU:C:2013:250, HFR 2013, 659), in dem er erstmals über die Unionsrechtskonformität einer nationalen Regelung zur Verzinsung von Erstattungsansprüchen zu befinden hatte, hat der EuGH eindeutig entschieden, Zinsen auf unionsrechtswidrig erhobene Steuern für den Zeitraum, in dem die Mittel nicht zur Verfügung stehen, zuzusprechen und er hat diese Rechtsprechung zum Zinsbeginn in einem späteren Urteil bestätigt (EuGH-Urteil Rafinăria Steaua Română vom 24. Oktober 2013 C-431/12, EU:C:2013:686, HFR 2013, 1163). Der Anspruch auf Zahlung von Zinsen ab dem Tag der zu Unrecht geleisteten Abgabenzahlung ergibt sich unmittelbar aus dem Unionsrecht. Den anderslautenden BFH-Beschluss in BFHE 219, 1, BStBl II 2008, 332 sieht der erkennende Senat als durch die aktuelle EuGH-Rechtsprechung überholt an.
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3. Die Frage nach der damals gebotenen Aussetzung des Verfahrens gemäß § 74 FGO bis zum Erlass einer neuen Verordnung zur Berechnung der Produktionsabgaben bedarf keiner weiteren Klärung. Selbst wenn dem FG diesbezüglich ein Verfahrensfehler anzulasten sein sollte, hätte sich die Aussetzung des Verfahrens durch den Erlass der VO Nr. 1360/2013 erledigt. Die Zurückverweisung der Sache an das FG könnte daher nicht zur Heilung einer fehlerhaft unterlassenen Aussetzung gemäß § 74 FGO führen. Vielmehr kann der Senat die Rechtmäßigkeit des Änderungsbescheids, der gemäß § 68 FGO zum Gegenstand des Verfahrens geworden ist, anhand der VO Nr. 1360/2013 prüfen und das FG-Urteil ändern, ohne dass eine Zurückverweisung gemäß § 127 FGO erforderlich ist.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 und 2, § 138 Abs. 1 Satz 1 FGO.

Quelle: BFH

Sozialversicherungsrecht: Einnahmen aus dem Betrieb einer Solaranlage sind auf Altersrente anzurechnen

Das Sozialgericht Mainz hat entschieden, dass Einnahmen aus dem Betrieb einer Solaranlage auf eine Altersrente anzurechnen sind und bei Überschreitung der Hinzuverdienstgrenze dazu führen können, dass bereits ausgezahlte Rentenleistungen zurückerstattet werden müssen (Urteil vom 27.11.2015, Az. S 15 R 389/13).

Der Kläger bezog eine Altersrente und hatte zusätzlich Einnahmen aus einem sog. „400-Euro-Job“. Durch Auskunft des zuständigen Finanzamtes erfuhr die Rentenversicherung, dass der Kläger ausweislich seines Einkommensteuerbescheides darüber hinaus noch Einnahmen aus dem Betrieb einer Solaranlage i. H. v. 253 Euro im Kalenderjahr hatte. Daraufhin hob die Rentenversicherung den Rentenbescheid teilweise auf und forderte vom Kläger insgesamt 2.411,66 Euro zurück. Die zusätzlichen Einnahmen aus dem Betrieb der Solaranlage hätten zusammen mit dem monatlichen Einkommen in Höhe von 400 Euro dazu geführt, dass die zum damaligen Zeitpunkt geltende Hinzuverdienstgrenze von 400 Euro überschritten worden sei. Der Kläger habe daher nur noch Anspruch auf eine Rente in Höhe von 2/3 der Vollrente. Hiergegen wehrte sich der Kläger vor dem Sozialgericht Mainz.

Er machte insbesondere geltend, dass es darauf ankomme, ob das Einkommen einer Tätigkeit entspringe. Hierunter könnten nicht Einnahmen aus dem Betrieb einer Solaranlage fallen, die eher mit Erträgen aus einer Kapitalanlage vergleichbar seien. Im Übrigen seien die Einnahmen aus dem Gewerbebetrieb versehentlich in seiner Steuererklärung und nicht in der seiner Ehefrau aufgetaucht.

Das Sozialgericht schloss sich der Argumentation des Klägers nicht an. Es betonte, dass Einnahmen aus dem Betrieb einer Solaranlage Arbeitseinkommen im Sinne des Rentenrechts seien. Ausreichend sei hierfür, dass der Kläger eine unternehmerische Stellung innehabe, welche ihm die Einkünfte vermittle. Dabei sei für die Höhe des Arbeitseinkommens der Einkommensteuerbescheid maßgeblich. Das Gesetz sehe eine volle Parallelität von Einkommensteuerrecht und Rentenversicherungsrecht sowohl bei der Zuordnung von Arbeitseinkommen als auch bei der Höhe des Arbeitseinkommens vor, so dass die Rentenversicherung die Zahlen des Finanzamtes übernehmen könne. Etwaige Fehler der Finanzverwaltung seien nicht durch die Rentenversicherung zu korrigieren.

Quelle: SG Mainz, Pressemitteilung vom 12.01.2016 zum Urteil S 15 R 389/13 vom 27.11.2015

 

Versicherungsvertragsrecht: BGH zur Unwirksamkeit zweier Klauseln in Riester-Rentenversicherungsverträgen

Der unter anderem für das Versicherungsvertragsrecht zuständige IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat zwei Teilklauseln in den Bedingungen von Riester-Rentenversicherungsverträgen eines deutschen Versicherungsunternehmens, welche dieKostenüberschussbeteiligung der Versicherungsnehmer betreffen, für intransparent und deshalb unwirksam erklärt. Damit bleibt es bei dem auf Klage zweier Verbraucherschutzverbände von der Vorinstanz (OLG Stuttgart) gegenüber dem Versicherer ausgesprochenen Verbot, diese Klauseln weiterhin zu verwenden.

Das Transparenzgebot nach § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB verlangt vom Verwender Allgemeiner Geschäftsbedingungen, dass die Rechte und Pflichten des Vertragspartners möglichst klar und durchschaubar dargestellt sind und die Klauseln darüber hinaus die wirtschaftlichen Nachteile und Belastungen so weit erkennen lassen, wie dies nach den Umständen gefordert werden kann. Eine Regelung hält deshalb einer Transparenzkontrolle unter anderem dann nicht stand, wenn sie an verschiedenen Stellen in den Bedingungen niedergelegt ist, die nur schwer miteinander in Zusammenhang zu bringen sind, oder wenn der Regelungsgehalt auf andere Weise durch die Verteilung auf mehrere Stellen verdunkelt wird.Nach Auffassung des Senats wecken die beanstandeten Textstellen“Wir beteiligen Sie nach § 153 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) an den Überschüssen …“

und – speziell zur Verteilung u. a. von Überschüssen aus Kosteneinsparungen –

„Auch von diesen Überschüssen erhalten die … Versicherungsnehmer mindestens den in der jeweils aktuellen Fassung der MindZV genannten Prozentsatz (derzeit … 50 Prozent …).“

bei dem Versicherungsinteressenten die Erwartung, in jedem Falle an den Kostenüberschüssen beteiligt zu werden, während ihm entgegen der insoweit scheinbar uneingeschränkten Zusage nicht ausreichend verdeutlicht wird, dass Rentenversicherungsverträge, deren Garantiekapital ein von der Beklagten in ihrem Geschäftsbericht festzusetzendes Volumen (derzeit 40.000 Euro) unterschreitet, aufgrund weiterer, an anderer Stelle getroffener Regelungen von der Beteiligung an Kostenüberschüssen von vornherein ausgeschlossen sind. Einen so weitgehenden und grundsätzlichen Ausschluss kann der durchschnittliche Vertragsinteressent, auf dessen Sicht es insoweit maßgeblich ankommt, dem Bedingungswerk nicht ausreichend entnehmen. Die Bedingungen enthalten keinen hinreichenden Hinweis darauf, dass Verträge mit geringem Garantiekapital, die nach den Feststellungen des Berufungsgerichts unstreitig 30 bis 50 % des Riester-Rentenversicherungsverträge-Bestandes der Beklagten ausmachen, von der Beteiligung an den Kostenüberschüssen gänzlich ausgeschlossen werden sollen. Das erschließt sich erst über eine Kette von komplizierten Verweisungen, die bis zum jährlichen Geschäftsbericht des beklagten Versicherers führen, wo an nicht hervorgehobener Stelle darüber informiert wird, dass der für die Kostenüberschussbeteiligung maßgebliche Zusatzüberschussanteil nur bei Versicherungen mit laufender Beitragszahlung und – bei so genannten Grundbausteinen – bestimmten Garantiekapitalgrenzen gewährt wird.

Soweit die Beklagte darauf verwiesen hat, ihr Verteilungssystem sei sachgerecht und entspreche inhaltlich den gesetzlichen Vorgaben, ist das Berufungsgericht dem nicht entgegengetreten. Darauf kommt es hier auch nicht an. Maßgebend ist nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vielmehr, dass die von den Klägern angegriffenen Klauseln beim durchschnittlichen Versicherungsinteressenten die Erwartung erweckten, in jedem Falle immerhin mit einer Mindestbeteiligung auch an den Kostenüberschüssen zu partizipieren. Der Versicherer hat aber die Pflicht, den Versicherungsinteressenten das Nachteilsrisiko – mag es auch systembedingt zwangsläufig sein und wirtschaftlich nicht schwer wiegen (nach der Behauptung der Beklagten wären beispielsweise bei gleichmäßiger Verteilung des im Jahr 2012 insgesamt für die Kostenüberschussbeteiligung verwendeten Betrages von 300.000 Euro auf jeden Vertrag rechnerisch lediglich 60 Cent entfallen) – aufzuzeigen, weil es geeignet ist, deren Anlageentscheidung zu beeinflussen.

Quelle: BGH, Pressemitteilung vom 13.01.2016 zum Urteil IV ZR 38/14 vom 13.01.2016

 

Ordnungswidrigkeitenrecht: Anschließen eines Handys zum Laden während der Fahrt begründet Bußgeld

Der Senat für Bußgeldsachen des Oberlandesgerichts Oldenburg hat einen Lkw-Fahrer, der während der Fahrt ein Handy zum Laden angeschlossen hat, zur Zahlung eines Bußgeldes in Höhe von 60 Euro verurteilt.

Der Mann befuhr die A 28 in Oldenburg. Er hielt ein Handy in der Hand, um es zum Laden anzuschließen. Dabei wurde er von der Polizei beobachtet.

Das Amtsgericht Oldenburg verurteilte den Mann wegen verbotswidriger Benutzung eines Mobiltelefons zu einer Geldbuße von 60 Euro. Dagegen stellte dieser beim Oberlandesgericht Oldenburg einen Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde. Der Senat für Bußgeldsachen ließ die Rechtsbeschwerde zu und bestätigte die Entscheidung des Amtsgerichts. Zur Begründung führten die Richter aus, dass die Nutzung eines Mobil- oder Autotelefons für denjenigen, der ein Fahrzeug führe, verboten sei, wenn er das Gerät hierfür aufnehmen oder halten müsse, § 23 Abs. 1a StVO. Das Anschließen eines Handys zum Laden stelle eine Nutzung in diesem Sinne dar. Durch § 23 Abs. 1a StVO solle gewährleistet werden, dass der Fahrzeugführer beide Hände für die Bewältigung der Fahraufgabe frei habe. Die Nutzung schließe daher sämtliche Bedienfunktionen (z. B. Versendung von Kurznachrichten) und auch Tätigkeiten zur Vorbereitung der Nutzung wie das Anschließen zum Laden ein.

Die Entscheidung ist rechtskräftig.

Quelle: OLG Oldenburg, Pressemitteilung vom 13.01.2016 zum Beschluss 2 Ss (OWi) 290/15 vom 07.12.2015 (rkr)

 

Steuern & Recht vom Steuerberater M. Schröder Berlin