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Obligationsähnliche Genussrechte – Kapitalertragsteuer – Übergang zur Abgeltungsteuer – Anfechtung einer Kapitalertragsteueranmeldung durch den Vergütungsgläubiger

Gericht: BFH 1. Senat
Entscheidungsdatum: 12.12.2012
Streitjahr: 2010
Aktenzeichen: I R 27/12
Dokumenttyp: Urteil
Normen: § 168 AO, § 20 Abs 2 S 1 Nr 7 EStG 2009, § 43 Abs 1 S 1 Nr 10 EStG 2009, § 52a Abs 10 S 7 EStG 2009, § 20 Abs 1 Nr 7 EStG 2002, § 20 Abs 2 S 1 Nr 4 S 5 EStG 2002, § 40 Abs 2 FGO, § 1 Abs 2 SolZG 1995, § 1 Abs 3 SolZG 1995, § 3 Abs 1 Nr 5 SolZG 1995, § 40 Abs 2 FGO, § 45a EStG 2009, § 44 Abs 1 EStG 2009
Obligationsähnliche Genussrechte – Kapitalertragsteuer – Übergang zur Abgeltungsteuer – Anfechtung einer Kapitalertragsteueranmeldung durch den Vergütungsgläubiger

Leitsatz

NV: Gewinne aus der Veräußerung von vor dem 1. Januar 2009 erworbenen obligationsähnlichen Genussrechten unterliegen auch nach Einführung der Abgeltungsteuer nicht dem Kapitalertragsteuerabzug.

Orientierungssatz

1. NV: Der Regelungsgehalt einer Kapitalertragsteueranmeldung ist darauf beschränkt, dass der Vergütungsschuldner die angemeldeten Beträge abzuführen hat. Da jedoch der Gläubiger der Kapitalerträge die Kapitalertragsteuer sowie den im Abzugsverfahren erhobenen Solidaritätszuschlag schuldet und demgemäß der Vergütungsschuldner die Steuerabzüge für Rechnung des Gläubigers der Kapitalerträge vorgenommen hat, werden im Fall der Rechtswidrigkeit der nach § 168 AO fingierten Steuerbescheide rechtlich geschützte Interessen des Klägers berührt. Der Gläubiger der Kapitalerträge ist befugt, die Kapitalertragsteueranmeldung anzufechten.

 

2. NV: Die mit der Steueranmeldung verbundene Steuerfestsetzung richtet sich gegen den Vergütungsschuldner. Deshalb kann im Rahmen einer hiergegen vom Vergütungsgläubiger im Wege der sog. Drittanfechtung erhobenen Klage die Steuerfestsetzung nur darauf überprüft werden, ob der Vergütungsschuldner die Steueranmeldung vornehmen durfte. Zwar ist dies bereits dann zu bejahen, wenn die Voraussetzungen für den Steuereinbehalt zweifelhaft sind. Auch ist im Rahmen dieses eingeschränkten Prüfungsumfangs im Grundsatz davon auszugehen, dass der Vergütungsschuldner zum Kapitalertragsteuerabzug dann berechtigt ist, wenn er sich hierbei auf ein Schreiben des BMF stützen kann. Dieser Grundsatz ist dann zu durchbrechen, wenn die Ansicht des Vergütungsgläubigers dem eindeutigen Wortlaut der einschlägigen Bestimmungen entspricht und auch aus deren Entstehungsgeschichte und Zweck kein Anhalt für ein abweichendes Regelungsverständnis besteht.

Fundstellen

NV (nicht amtlich veröffentlicht)
Verfahrensgang

vorgehend Hessisches Finanzgericht, 16. Februar 2012, Az: 4 K 639/11, Urteil

Tatbestand

1
I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) unterhielt bei der Beigeladenen, einer Bank, ein Direkt-Depot, auf das im Jahre 2006 Inhaber-Genussscheine … der Y-AG zum Nominalwert von 5.160 € von der Sparkasse … übertragen worden waren. Die Genussscheine gewährten ihrem Inhaber einen gegenüber dem Gewinnanteil der Aktionäre vorrangigen Anspruch auf Gewinnausschüttung sowie auf Rückzahlung nach Beendigung der Genussscheine (§ 3 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 15 der Genussscheinbedingungen –GB–). Dem Inhaber standen keinerlei Teilnahme-, Mitwirkungs- oder Stimmrechte in der Hauptversammlung der Y-AG zu (§ 3 Abs. 2 GB). Sein Gewinnanteil betrug vorbehaltlich eines ausreichenden Konzernjahresüberschusses für jedes volle Geschäftsjahr 15 % des Grundbetrags von 10 € je Genussschein (§ 4 Abs. 1 Satz 1 GB); der auf den Grundbetrag entfallende und aus der sog. negativen Gesamtkapitalrendite abgeleitete Verlustanteil war gesondert auszuweisen und durch Gewinnanteile der Folgejahre auszugleichen (§ 5 GB). Nach § 15 Abs. 6 GB nahm das Genusskapital im Falle der Auflösung der Y-AG nicht am Liquidationserlös teil. Der –gegebenenfalls um noch nicht ausgeglichene Verluste gekürzte– Rückzahlungsanspruch war gegenüber den Forderungen der anderen Gläubiger nachrangig.

 

2
Nachdem die Y-AG die Genussscheininhaber am 2. Februar 2010 zur Abgabe von Verkaufsangeboten zum Kurs von 180 % aufgefordert hatte, veräußerte der Kläger seine Anteilsscheine am 1. März 2010 zu einem Preis (Kurswert) von 9.228 €. Hiervon behielt die Beigeladene Kapitalertragsteuer in Höhe von 696,60 € sowie Solidaritätszuschlag in Höhe von 38,31 € ein. Beide Beträge wurden bei der Kapitalertragsteueranmeldung vom 1. April 2010 (betreffend März 2010) berücksichtigt.

 

3
Hiergegen legte der Kläger am 13. April 2010 Einspruch ein. Zur Begründung trug er vor, dass die Genussscheine lange vor 2006 angeschafft worden seien und den Bestandsschutzregeln zur Einführung der Abgeltungssteuer unterlägen (hier: § 52a Abs. 10 Satz 7 des Einkommensteuergesetzes 2009 –EStG 2009–). Der Rechtsbehelf blieb, nachdem der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt –FA–) die Beigeladene zum Einspruchsverfahren hinzugezogen hatte (§ 360 Abs. 3 der Abgabenordnung –AO–), ohne Erfolg.

 

4
Der Klage hat das Finanzgericht (FG) stattgegeben und die angemeldeten Steuerbeträge (Kapitalertragsteuer, Solidaritätszuschlag) in dem beantragten Umfang herabgesetzt (Hessisches FG, Urteil vom 16. Februar 2012 4 K 639/11, Entscheidungen der Finanzgerichte 2012, 1163).

 

5
Mit der Revision beantragt das FA sinngemäß, das Urteil der Vorinstanz aufzuheben und die Klage abzuweisen.

 

6
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

7
Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.

 

Entscheidungsgründe

8
II. Die Revision ist nicht begründet. Sie ist daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung –FGO–).

 

9
1. Das FG ist zu Recht davon ausgegangen, dass der Kläger anfechtungsbefugt und die Klage damit zulässig ist. Die von der Beigeladenen angemeldete Kapitalertragsteuer (§ 45a EStG 2009) steht nach § 168 AO –ebenso wie der angemeldete Solidaritätszuschlag (vgl. § 1 Abs. 2 und 3 sowie § 3 Abs. 1 Nr. 5 des Solidaritätszuschlaggesetzes 1995 –SolZG 1995–; Blümich/ Lindberg, § 1 SolZG 1995 Rz 5)– einer Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gleich. Zwar ist deren Regelungsgehalt darauf beschränkt, dass die Beigeladene die angemeldeten Beträge abzuführen hat (Senatsbeschluss vom 13. August 1997 I B 30/97, BFHE 184, 92, BStBl II 1997, 700). Da jedoch der Kläger als Gläubiger der Kapitalerträge nach § 44 Abs. 1 Satz 1 EStG 2009 (i.V.m. § 1 Abs. 2 SolZG 1995) die Kapitalertragsteuer sowie den im Abzugsverfahren erhobenen Solidaritätszuschlag schuldet und demgemäß die Beigeladene die Steuerabzüge für Rechnung des Klägers vorgenommen hat (§ 44 Abs. 1 Satz 3 EStG 2009 i.V.m. § 1 Abs. 2 SolZG 1995), werden im Fall der Rechtswidrigkeit der nach § 168 AO fingierten Steuerbescheide rechtlich geschützte Interessen des Klägers berührt (§ 40 Abs. 2 FGO; vgl. Senatsurteil vom 10. März 1971 I R 73/67, BFHE 102, 242, BStBl II 1971, 589; Buciek in Beermann/Gosch, AO § 168 Rz 24; Klein/Rüsken, AO, 11. Aufl., § 168 Rz 16, jeweils m.w.N.).

 

10
2. Nach ständiger Rechtsprechung ist hierbei allerdings zu beachten, dass sich die mit der Steueranmeldung verbundene Steuerfestsetzung gegen den Vergütungsschuldner richtet (hier: die Beigeladene) und deshalb im Rahmen einer hiergegen vom Vergütungsgläubiger (hier: dem Kläger) im Wege der sog. Drittanfechtung erhobenen Klage die Steuerfestsetzung nur darauf überprüft werden kann, ob der Vergütungsschuldner die Steueranmeldung vornehmen durfte. Zwar ist dies bereits dann zu bejahen, wenn die Voraussetzungen für den Steuereinbehalt zweifelhaft sind (Senatsbeschluss vom 25. November 2002 I B 69/02, BFHE 201, 114, BStBl II 2003, 189; Senatsurteil vom 28. Januar 2004 I R 73/02, BFHE 205, 174, BStBl II 2005, 550; Senatsbeschluss vom 7. November 2007 I R 19/04, BFHE 209, 300, BStBl II 2008, 228; Buciek in Beermann/Gosch, AO § 168 Rz 25, m.w.N.). Auch ist im Rahmen dieses eingeschränkten Prüfungsumfangs im Grundsatz davon auszugehen, dass der Vergütungsschuldner zum Kapitalertragsteuerabzug dann berechtigt ist, wenn er sich hierbei –wie vorliegend– auf ein Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) stützen kann (vgl. zur Veräußerung obligationsähnlicher Genussrechte BMF-Schreiben vom 22. Dezember 2009, BStBl I 2010, 94, Rz 319; ebenso BMF-Schreiben vom 9. Oktober 2012, BStBl I 2012, 953, Rz 319). Gleichwohl gilt dieser Grundsatz nicht ausnahmslos. Er ist jedenfalls dann zu durchbrechen, wenn die Ansicht des Vergütungsgläubigers dem eindeutigen Wortlaut der einschlägigen Bestimmungen entspricht und auch aus deren Entstehungsgeschichte und Zweck kein Anhalt für ein abweichendes Regelungsverständnis besteht. Von Letzterem ist im Streitfall auszugehen.

 

11
a) Nach § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 10 EStG 2009 wird bei Kapitalerträgen i.S. von § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 EStG 2009 die Einkommensteuer durch Abzug vom Kapitalertrag (Kapitalertragsteuer) erhoben; gleiches gilt für den hierauf entfallenden Solidaritätszuschlag (§ 1 Abs. 2 und 3 und § 3 Abs. 1 Nr. 5 SolZG 1995).

 

12
Zwischen den Beteiligten besteht Einvernehmen darüber, dass es sich bei den vom Kläger gehaltenen Genussscheinen um Kapitalforderungen i.S. von § 20 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 EStG 2009 gehandelt hat und ein aus ihrer Veräußerung erzielter Gewinn die tatbestandlichen Merkmale für den Ansatz von Kapitaleinkünften nach dem –im Zuge der Einführung der Abgeltungsteuer durch das Unternehmensteuerreformgesetz 2008 vom 14. August 2007 (BGBl I 2007, 1912, BStBl I 2007, 630)– neu geschaffenen § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 EStG erfüllt hat.

 

13
Der Senat teilt diese Beurteilung. § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG 2009 erfasst Erträge aus sonstigen Kapitalforderungen jeder Art unter der Voraussetzung, dass die Rückzahlung des Kapitalvermögens oder ein Entgelt für die Überlassung des Kapitalvermögens zur Nutzung zugesagt oder geleistet worden ist, auch wenn die Höhe der Rückzahlung oder des Entgelts von einem ungewissen Ereignis abhängt. Hierzu gehörten auch die Genussrechte des Klägers; da sie keine Beteiligung an einem Liquidationserlös der Y-AG und damit keine i.S. von § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG 2009 gesellschafterähnliche Rechtsstellung vermittelten (Urteil des Bundesfinanzhofs –BFH– vom 18. Mai 2005 VIII R 34/01, BFHE 210, 247, BStBl II 2005, 857; Senatsurteil vom 19. Januar 1994 I R 67/92, BFHE 173, 399, BStBl II 1996, 77; Intemann in Herrmann/Heurer/Raupach, § 20 EStG Rz 56), waren sie angesichts ihres „obligationsähnlichen“ Charakters (vgl. Urteil des Bundesgerichtshofs vom 9. November 1992 II ZR 230/91, BGHZ 120, 141) den sonstigen Kapitalforderungen nach § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG 2009 zugeordnet.

 

14
b) Kein Einvernehmen besteht zwischen den Beteiligten jedoch darüber, ob die hierdurch ausgelöste Pflicht zur Anmeldung und Abführung von Kapitalertragsteuer auch im Streitfall greift, der dadurch gekennzeichnet ist, dass die Genussscheine vor dem Jahre 2006 und damit vor Einführung der Abgeltungsteuer zum 1. Januar 2009 durch das Unternehmensteuerreformgesetz 2008 erworben worden sind.

 

15
aa) Die Übergangsbestimmung des § 52a Abs. 10 Satz 6 EStG 2009 sieht vor, dass § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 EStG in der Fassung des Art. 1 des Unternehmersteuerreformgesetzes 2008 erstmals auf nach dem 31. Dezember 2008 zufließende Kapitalerträge aus der Veräußerung sonstiger Kapitalforderungen anzuwenden ist. Nach § 52a Abs. 10 Satz 7 Halbsatz 1 EStG 2009 ist jedoch für Kapitalerträge aus Kapitalforderungen, die zum Zeitpunkt des vor dem 1. Januar 2009 erfolgten Erwerbs zwar Kapitalforderungen i.S. des § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG in der am 31. Dezember 2008 anzuwendenden Fassung (im Folgenden: EStG 2002), aber nicht Kapitalforderungen i.S. des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 EStG 2002 waren, § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 EStG 2009 nicht anzuwenden. Durch das Jahressteuergesetz 2009 vom 19. Dezember 2008 (BGBl I 2008, 2794, BStBl I 2009, 74) wurde § 52a Abs. 10 Satz 7 EStG 2009 um einen weiteren Halbsatz ergänzt, nach dem Kapitalforderungen i.S. des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 EStG 2002 auch dann vorliegen, wenn die Rückzahlung nur teilweise garantiert ist oder wenn eine Trennung zwischen Ertrags- und Vermögensebene möglich erscheint. Letztere Regelung ist –nach Inkrafttreten einer weiteren, für das vorliegende Verfahren jedoch nicht einschlägigen Änderung des § 52a Abs. 10 Satz 7 EStG 2009 durch das Jahressteuergesetz 2010 vom 8. Dezember 2010, BGBl I 2010, 1768, BStBl I 2010, 1394 (betreffend Stückzinsen)– heute Gegenstand des letzten Halbsatzes der Vorschrift.

 

16
bb) Das FG hat zu Recht angenommen, dass nach der Übergangsbestimmung des § 52a Abs. 10 Satz 7 EStG 2009 die Regelung des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 EStG 2009 auf die vom Kläger erzielten Veräußerungsgewinne keine Anwendung findet und deshalb auch ein Steuerabzug vom Kapitalertrag nach § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 10 EStG 2009 (i.V.m. § 1 Abs. 2 und 3 sowie § 3 Nr. 5 SolZG 1995) nicht vorzunehmen war.

 

17
aaa) Auszugehen ist hierbei davon, dass die –nach den Feststellungen der Vorinstanz vor dem Jahre 2006 erworbenen– Genussscheine zwar zu Kapitalforderungen im Sinne der vor dem 1. Januar 2009 maßgeblichen Fassung des § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG 2002, nicht jedoch zu den Kapitalforderungen i.S. des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 EStG 2002 gehört haben. Diese, durch das Gesetz zur Bekämpfung des Mißbrauchs und zur Bereinigung des Steuerrechts (Mißbrauchsbekämpfungs- und Steuerbereinigungsgesetz) vom 21. Dezember 1993 (BGBl I 1993, 2310, BStBl I 1994, 50) in das Einkommensteuergesetz eingefügte Bestimmung stand im Zusammenhang damit, dass nach der gleichfalls neu gefassten Vorschrift des § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG 1990 der Begriff der steuerbaren Kapitalerträge auf Erträge aus sog. Finanzinnovationen ausgedehnt wurde und solche Einkünfte nicht nur bei Einlösung der Wertpapiere, sondern auch im Falle ihrer Veräußerung erfasst werden sollten (BTDrucks 12/6078, S. 122 f.). Demgemäß war u.a. in § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 Satz 1 Buchst. c EStG 1990/1997/2002 vorgesehen, dass zu den Kapitaleinkünften auch Einnahmen aus der Veräußerung von sonstigen Kapitalforderungen mit Zinsforderungen gehörten, wenn die Höhe der Erträge von einem ungewissen Ereignis abhing.

 

18
Der Senat lässt unbeantwortet, ob hierunter tatbestandlich auch Genussscheine fielen, die wie vorliegend sowohl im Hinblick auf ihre Verzinsung als auch bezüglich der Kapitalrückzahlung dem Risiko der Verlustbeteiligung ausgesetzt waren (vgl. zum Erfordernis der Rückzahlungsgarantie z.B. BFH-Urteil vom 13. Dezember 2006 VIII R 79/03, BFHE 216, 187, BStBl II 2007, 562; v. Beckerath in Kirchhof, EStG, 8. Aufl., § 20 Rz 405). Jedenfalls war die Neuregelung nach dem unmissverständlichen Wortlaut des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 Satz 5 EStG 2002 insgesamt nicht auf Genussrechte i.S. von § 43 Abs. 1 Nr. 2 EStG 2002 und damit auch nicht auf die vom Kläger gehaltenen Anteilsscheine anzuwenden. In den Materialen zum Mißbrauchsbekämpfungs- und Steuerbereinigungsgesetz wird hierzu erläutert, dass „bei Genußscheinen … im Sinne von § 43 Abs. 1 Nr. 2 EStG … wie bisher nur die Erträge aus der Einlösung der Wertpapiere der Einkommensteuer“ unterliegen (BTDrucks 12/6078, S. 123).

 

19
Demnach waren die Genussrechte auch im Sinne der Übergangsvorschrift des § 52a Abs. 10 Satz 7 Halbsatz 1 EStG 2009 nicht zu den Kapitalforderungen i.S. des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 EStG 2002 zu rechnen. Letzteres ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der Überleitungsbestimmung, der nicht nur auf die in § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 Satz 1 (hier: Buchst. c) EStG 2002 genannten Kapitalanlageformen, sondern auf die Gesamtregelung jener Vorschrift und damit auch auf deren Satz 5 mit der Folge verweist, dass die –nicht § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG 2002 unterstehenden– Genussrechte insgesamt dem Anwendungsbereich des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 Sätze 1 bis 4 EStG 2002 entzogen waren; sie konnten deshalb nicht zu den in Satz 1 dieser Bestimmung genannten Kapitalanlagen gerechnet werden. Darüber hinaus entspricht nur dieses Gesetzesverständnis dem aus den Materialien zum Unternehmensteuerreformgesetz 2008 abzuleitenden Zweck des § 52a Abs. 10 Satz 7 Halbsatz 1 EStG 2009. Hiernach soll die mit der Einführung der Abgeltungsteuer verbundene Steuerbarkeit von Veräußerungsgewinnen für solche „Kapitalforderungen (keine Anwendung finden), die noch vor 2009 erworben wurden und nicht unter die bis Ende 2008 geltende Fassung von § 20 fielen“ (BTDrucks 16/4841, S. 73); die „bislang steuerfreie(n) Kursgewinne aus vor dem 1. Januar 2009 erworbenen zinstragenden Forderungen im Sinne des § 20 Abs. 1 Nr. 7 (sollten) auch weiterhin steuerfrei bleiben“ (BTDrucks 16/5491, S. 21).

 

20
bbb) Anderes ist nicht aus § 52a Abs. 10 Satz 7, letzter Halbsatz EStG 2009 abzuleiten, nach dem Kapitalforderungen i.S. des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 EStG 2002 auch dann vorliegen, wenn die Rückzahlung nur teilweise garantiert ist oder wenn eine Trennung zwischen Ertrags- und Vermögensebene möglich erscheint.

 

21
Ob letztere Voraussetzung auf die vom Kläger gehaltenen Genussrechte zugetroffen hat, kann offenbleiben. Zum einen deshalb, weil § 52a Abs. 10 Satz 7, letzter Halbsatz EStG 2009 nach seinem insoweit eindeutigen Wortlaut unberührt lässt, dass Genussrechte nach § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 Satz 5 EStG 2002 insgesamt nicht den im Falle der Veräußerung oder Abtretung sog. Finanzinnovationen geltenden Besteuerungsgrundsätzen unterworfen waren; unberührt bleibt damit auch die Grundregel des § 52a Abs. 10 Satz 7 Halbsatz 1 EStG 2009, nach welcher im Falle der Veräußerung der vor dem 1. Januar 2009 erworbenen Genussrechte § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 EStG 2009 nicht anwendbar und infolgedessen ein Kapitalertragsteuerabzug nach § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 10 EStG 2009 nicht vorzunehmen ist. Zum anderen wird dieses Verständnis durch die Entstehungsgeschichte des § 52a Abs. 10 Satz 7, letzter Halbsatz EStG 2009 gestützt. Mit der durch das Jahressteuergesetz 2009 (zunächst als zweiter Halbsatz) eingefügten Bestimmung sollte auf die Rechtsprechung des BFH reagiert werden, der zufolge eine Versteuerung von Veräußerungs- und Einlösungsgewinnen nach der sog. Marktrendite (§ 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 Sätze 2 und 3 EStG 2002) für solche Finanzanlagen ausgeschlossen war, bei denen die Ertragsebene ohne weiteres rechnerisch von einer die Vermögensebene betreffenden Wertveränderung getrennt werden konnte (z.B. BFH-Urteile vom 13. Dezember 2006 VIII R 6/05, BFHE 216, 206, BStBl II 2007, 571; VIII R 62/04, BFHE 216, 199, BStBl II 2007, 568). Darüber hinaus war nach der Rechtsprechung die Steuerbarkeit in dem Sinne beschränkt, dass § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 EStG 2002 nur den auf die garantierte Mindestrückzahlung einer Finanzanlage entfallenden Teil des Veräußerungsüberschusses erfasste (z.B. BFH-Urteil vom 4. Dezember 2007 VIII R 53/05, BFHE 219, 339, BStBl II 2008, 563). Der Gesetzgeber wollte beide (einzelfallbezogenen) Differenzierungen im Interesse der Handhabbarkeit des Kapitalertragsteuerabzugs nach Einführung der Abgeltungsteuer nicht fortführen. Er hat hierzu erläutert, dass der mit der Neuregelung verbundenen sog. unechten Rückwirkung kein überwiegend schutzwürdiges Vertrauen der Anleger gegenüberstehe, da sich vor Bekanntwerden der einschränkenden Rechtsprechung des BFH die Steuerbarkeit bei Veräußerung aller Finanzprodukte aus dem Gesetzeswortlaut des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 EStG (2002) ergeben habe (BTDrucks 16/10189, S. 66 f.; Hahne/Krause, Deutsches Steuerrecht 2008, 1724, 1728; Blümich/Treiber, § 52a EStG Rz 20). In Anbetracht dessen ist nicht ersichtlich, aus welchem Grund die darauf ausgerichtete, in dem beschriebenen Umfang rechtsprechungskorrigierende Übergangsbestimmung des § 52a Abs. 10 Satz 7, letzter Halbsatz EStG 2009 über ihren Wortlaut hinaus Anlass geben könnte, den Kapitalertragsteuerabzug auf vor dem 1. Januar 2009 erworbene Genussrechte und damit auf Kapitalanlagen zu erstrecken, die nach der unmissverständlichen und von der Rechtsprechung auch nicht in Frage gestellten Fassung des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 Satz 5 EStG 2002 unabhängig davon nicht der Veräußerungsgewinnbesteuerung für Finanzinnovationen unterlagen, ob nach den Genussrechtsbedingungen die Rückzahlung des Anlagebetrags garantiert oder eine Trennung zwischen Ertrags- und Vermögensebene möglich war (gl.A. Haisch/Danz, Deutsche Steuer-Zeitung 2008, 392, 397; Elser/Bindl, Finanz-Rundschau 2010, 360, 367).

Beiladung Finanzgerichtverfahren betreffend Umsatzsteuer

Gericht: BFH 5. Senat
Entscheidungsdatum: 27.12.2012
Aktenzeichen: V B 31/11
Dokumenttyp: Beschluss
Normen: § 60 Abs 1 FGO, § 72 ZPO
Beiladung im die FG-Verfahren betreffend Umsatzsteuer

Leitsatz

NV: Durch die Möglichkeit der einfachen Beiladung ist hinreichend gewährleistet, dass widersprüchliche Entscheidungen vermieden werden können(Rn.10).

Orientierungssatz

NV: Die Möglichkeit einer Streitverkündigung, wie sie in § 72ZPO vorgesehen ist, besteht im Finanzgerichtsprozess nicht (BFH-Beschluss vom 13. Juni 2007 V B 179/06)(Rn.9).

Fundstellen

NV (nicht amtlich veröffentlicht)
Verfahrensgang

vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg, 17. Februar 2011, Az: 7 K 7402/07, Urteil
Diese Entscheidung zitiert

Rechtsprechung
Vergleiche EuGH, 26. Januar 2012, Az: C-218/10
im Text BFH, 9. April 2008, Az: V B 143/07
Vergleiche BFH, 13. Juni 2007, Az: V B 179/06
im Text BFH, 29. Oktober 2002, Az: V B 186/01

Gründe

1
Die Beschwerde der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) ist unbegründet.

 

2
1. Die Revision ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung –FGO–) zuzulassen.

 

3
a) Die Klägerin hält es für klärungsbedürftig, ob „es mit den unionsrechtlichen Grundsätzen der Effektivität und der Äquivalenz vereinbar [ist], wenn in den Gesetzen oder in der Rechtspraxis eines Mitgliedstaates keine Möglichkeiten vorgesehen sind, um Widersprüche in den Entscheidungen von Gerichten verschiedener Gerichtszweige zu vermeiden oder zu lösen, die umsatzsteuerliche Fragen oder Folgefragen des gleichen Falles (des gleichen Ausgangssachverhalts) betreffen“, ob „die Finanzbehörden und ein Finanzgericht den zivilrechtlichen Vertragspartner oder den etwaigen zivilrechtlichen Erstattungsschuldner bei dem Rechtsstreit eines Steuerpflichtigen über die umsatzsteuerrechtliche Beurteilung eines Sachverhalts hinzuziehen oder beteiligen“ müssen, ob „sich dann die Bindungswirkung des Finanzgerichts im Hinblick auf die tatsächlichen Fragestellungen und die rechtliche Beurteilung in einem nachfolgenden zivilrechtlichen Verfahren“ erstreckt und ob „dies nur in Fällen [gilt], in denen andernfalls ein Beteiligter mit der Umsatzsteuer doppelt belastet würde“. Die Rechtsfrage gehe dahin, „ob und gegebenenfalls wie das nationale Verfahrensrecht Vorkehrungen dafür treffen muss, die Gefahr von einander widersprechender Entscheidungen der Finanzgerichte einerseits und der Zivilgerichte andererseits zu vermeiden“.

 

4
b) Die von der Klägerin aufgeworfenen Fragen sind nicht klärungsbedürftig.

 

5
aa) Nach den Regelungen der FGO bestehen nur beschränkte Möglichkeiten, andere Personen als den Kläger und den Beklagten als sog. Dritte an dem finanzgerichtlichen Verfahren zu beteiligen. In Betracht kommt hierfür nur die Beiladung (§ 60 FGO).

 

6
(1) Im Rahmen der sog. einfachen Beiladung kann das Finanzgericht von Amts wegen oder auf Antrag andere beiladen, deren rechtliche Interessen nach den Steuergesetzen durch die Entscheidung berührt werden, insbesondere solche, die nach den Steuergesetzen neben dem Steuerpflichtigen haften.

 

7
Das danach bestehende Erfordernis eines „rechtlichen Interesses nach den Steuergesetzen“ ist nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) nicht eng auszulegen. So kommt nach dieser Vorschrift sowohl eine Beiladung des Leistungsempfängers im Rechtsstreit des leistenden Unternehmers als auch eine Beiladung des leistenden Unternehmers im Rechtsstreit des Leistungsempfängers in Betracht (BFH-Beschluss vom 9. April 2008 V B 143/07, BFH/NV 2008, 1339). Das rechtliche Interesse nach den Steuergesetzen kann sich dabei auch daraus ergeben, dass das Vorliegen einer steuerpflichtigen Leistung im Fall einer Preisvereinbarung zwischen leistendem Unternehmer und Leistungsempfänger, nach der sich der vereinbarte Preis um die gesetzlich für die Leistung entstehende Umsatzsteuer erhöht, für die Bestimmung der Höhe der zivilrechtlich geschuldeten Gegenleistung von Bedeutung sein kann.

 

8
(2) Eine notwendige Beiladung setzt gemäß § 60 Abs. 3 FGO voraus, dass an einem streitigen Rechtsverhältnis Dritte derart beteiligt sind, dass die Entscheidung auch ihnen gegenüber nur einheitlich ergehen kann. Der erkennende Senat verneint in seiner Rechtsprechung das Vorliegen einer derart notwendigen Beiladung im Verhältnis zwischen leistendem Unternehmer und Leistungsempfänger, da die Entscheidung z.B. über den Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers nicht einheitlich für den leistenden Unternehmer in der Weise wirkt, dass damit auch über das Bestehen einer Steuerpflicht in seiner Person entschieden wird (BFH-Beschluss vom 29. Oktober 2002 V B 186/01, BFH/NV 2003, 780). Ist der Vorsteuerabzug z.B. aufgrund von Rechnungsmängeln zu versagen, hat dies auf die Steuerpflicht des leistenden Unternehmers keinen Einfluss. Gleiches gilt für den Fall, dass der Vorsteuerabzug z.B. mangels Steuerpflicht oder mangels Unternehmereigenschaft des Leistenden zu versagen ist, aber Rechnungen mit Steuerausweis vorliegen, die nach der in den Streitjahren bestehenden Rechtslage zu einer Steuerschuld des Rechnungsausstellers nach § 14 Abs. 2 oder 3 des Umsatzsteuergesetzes führten. Dass in derartigen Fällen ein zivilrechtliches Interesse des den Vorsteuerabzug begehrenden Leistungsempfängers an einer Beiladung des leistenden Unternehmers für den Fall einer Klageabweisung bestehen kann, rechtfertigt nicht die Annahme einer notwendigen Beiladung, sondern führt nur zu einer einfachen Beiladung nach § 60 Abs. 1 FGO.

 

9
(3) Die Möglichkeit einer Streitverkündigung, wie sie in § 72 der Zivilprozessordnung vorgesehen ist, besteht im Finanzgerichtsprozess nicht (BFH-Beschluss vom 13. Juni 2007 V B 179/06, BFH/NV 2007, 2296).

 

10
bb) Die prozessualen Vorschriften der FGO tragen damit den von der Klägerin als maßgeblich angesehenen Grundsätzen der Effektivität und Äquivalenz hinreichend Rechnung. Insbesondere durch die Möglichkeit einer einfachen Beiladung gemäß § 60 Abs. 1 FGO ist hinreichend gewährleistet, dass widersprüchliche Entscheidungen unterschiedlicher Gerichtszweige vermieden werden können. Weiter gehende Erfordernisse ergeben sich entgegen der Auffassung der Klägerin auch nicht aus dem Unionsrecht und der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH). So folgt aus dem EuGH-Urteil vom 26. Januar 2012 C-218/10, ADV (Umsatzsteuer-Rundschau –UR– 2012, 175) zwar, dass es „als Verstoß gegen die Verpflichtungen des Mitgliedstaats aus der Sechsten Richtlinie angesehen werden“ könnte, wenn „verschiedene Behörden und/oder Gerichte eines Mitgliedstaats weiterhin systematisch unterschiedliche Auffassungen über die Anknüpfung ein und derselben Dienstleistung in Bezug auf den Leistungserbringer einerseits und den Leistungsempfänger andererseits vertreten, so dass insbesondere der Grundsatz der steuerlichen Neutralität verletzt wird“ (EuGH-Urteil ADV in UR 2012, 175 Rdnr. 43). Eine derartige Gefahr besteht jedoch im Hinblick auf die Möglichkeit einer einfachen Beiladung nach § 60 Abs. 1 FGO nicht. Hierdurch ist hinreichend gewährleistet, dass „die Gefahr von Widersprüchen und Konflikten zwischen den verschiedenen Gerichtsbarkeiten“ vermieden werden kann. Daher ist entgegen der Auffassung der Klägerin auch keine Vorlage an den EuGH geboten.

 

11
2. Es liegt auch kein Verfahrensfehler (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) vor. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats stellt das Unterlassen einer einfachen Beiladung nach § 60 Abs. 1 FGO keinen Verfahrensfehler i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO dar (BFH-Beschluss in BFH/NV 2003, 780). Ein Fall einer notwendigen Beiladung nach § 60 Abs. 3 FGO liegt nicht vor (s. oben 1.b aa (2)).

 

12
3. Auf den beim Finanzamt gestellten Billigkeitsantrag kommt es in dem die Steuerfestsetzung betreffenden Beschwerdeverfahren nicht an.

 

Substanzausbeute, Nutzungsüberlassung zur Bodenschatzgewinnung, Grundsätzliche Bindung des BFH an die finanzgerichtliche Auslegung von Verträgen

Gericht: BFH 9. Senat
Entscheidungsdatum: 24.10.2012
Streitjahre: 2005, 2006
Aktenzeichen: IX R 6/12
Dokumenttyp: Urteil
Normen: § 21 Abs 1 S 1 Nr 1 EStG 2002, § 23 Abs 1 S 1 Nr 1 EStG 2002, § 118 Abs 2 FGO, EStG VZ 2005, EStG VZ 2006, § 133 BGB, § 157 BGB
Substanzausbeute, Nutzungsüberlassung zur Bodenschatzgewinnung, Grundsätzliche Bindung des BFH an die finanzgerichtliche Auslegung von Verträgen

Leitsatz

1. NV: Einnahmen (und Ausgaben) aus der zeitlich begrenzten Überlassung eines Grundstücks zur Hebung der darin ruhenden Bodenschätze (sog. Ausbeuteverträge), also aus der Nutzungsüberlassung zur Bodenschatzgewinnung, zählen regelmäßig zu den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung i.S.d. § 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG. Nur in besonderen Ausnahmefällen können danach Ausbeuteverträge als Kaufverträge und damit als (außerhalb des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG) nicht steuerbare Veräußerungsvorgänge angesehen werden.

 

2. NV: Ob und inwieweit bei Ausbeuteverträgen eine zeitlich begrenzte, entgeltliche Nutzungsüberlassung eines Grundstücks/teils oder eine entgeltliche, aber steuerfreie Übertragung von Bodensubstanz gegeben ist, hat das FG als Tatsacheninstanz zu beurteilen.

Orientierungssatz

NV: Grundsätzlich ist die Tatsachen- und Beweiswürdigung durch das FG, zu der auch die Auslegung von Verträgen gehört, für das Revisionsgericht bindend. Der BFH kann nur überprüfen, ob die vorgenommene Würdigung unter Beachtung der gesetzlichen Auslegungsregeln (insbesondere §§ 133, 157 BGB) möglich ist und nicht gegen Denkgesetze verstößt.

Fundstellen

NV (nicht amtlich veröffentlicht)
Verfahrensgang

vorgehend Schleswig-Holsteinisches Finanzgericht, 2. Dezember 2011, Az: 5 K 47/10, Urteil
Diese Entscheidung zitiert

Rechtsprechung
Vergleiche BFH, 21. Juni 2012, Az: IV R 54/09
Vergleiche BFH, 28. September 2010, Az: IX B 65/10
Vergleiche BFH, 9. Dezember 2009, Az: X R 41/07
Vergleiche BFH, 4. Dezember 2006, Az: GrS 1/05
Vergleiche BFH, 3. Januar 2006, Az: IX B 162/04
Vergleiche BFH, 11. Januar 2005, Az: IX R 15/03
Vergleiche BFH, 6. Mai 2003, Az: IX R 64/98
Vergleiche BGH, 10. November 1999, Az: XII ZR 24/97
Vergleiche BFH, 21. Juli 1993, Az: IX R 9/89
Vergleiche BFH, 24. November 1992, Az: IX R 30/88
Vergleiche BVerfG, 3. Juni 1992, Az: 1 BvR 583/86
Vergleiche BVerfG, 10. Februar 1987, Az: 1 BvR 482/86
Vergleiche BFH, 27. Juni 1978, Az: VIII R 12/72
Vergleiche BFH, 26. Mai 1976, Az: I R 74/73
Vergleiche BGH, 7. Februar 1973, Az: VIII ZR 205/71
Vergleiche BFH, 12. Dezember 1969, Az: VI R 197/67

Tatbestand

1
I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) erzielte in den Jahren 2005 und 2006 (Streitjahre) u.a. Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft. Er war und ist Eigentümer von drei Flurstücken zur Gesamtgröße von ca. 30 ha, die ihm als Ackerflächen im Rahmen seines landwirtschaftlichen Betriebs dienten.

 

2
Am 13. September 2003 „verkaufte“ der Kläger der Firma X-GmbH „unwiderruflich das ausschließliche Recht, das unter den vorgenannten Grundstücken befindliche Vorkommen an brauchbarem Kies und Füllsand sich anzueignen, das Vorkommen abzubauen sowie das Grundstück zu gewerblichen Zwecken mit Beförderungsmitteln gleich welcher Art zu befahren“.

 

3
Der Sand wurde sodann von der X-GmbH im Zeitraum von Anfang April bis Ende Oktober 2005 abgebaut und ausschließlich für ein nahe gelegenes Bauvorhaben der D-AG verwandt. Dem Kläger flossen zunächst im Zeitraum von Mai 2005 bis Oktober 2005 monatliche Beträge von jeweils 20.000 € und eine Restzahlung im November 2005 von 42.500 € zu. Im Jahr 2006 erzielte der Kläger weitere Einnahmen in Höhe von 15.768,07 €. Diese fielen an, weil man sich nach Differenzen schließlich im Jahr 2006 auf die tatsächliche Gesamtmenge des abgebauten Sandes mit 142.614 qm einigte. Nach Ende der Abbaumaßnahme planierte die X-GmbH den Abbaubereich und füllte Muttererde auf, so dass die Flächen vom Kläger danach wieder als Ackerland genutzt werden konnten.

 

4
Die Kläger behandelten die aufgrund des Vertrages mit der X-GmbH erzielten Erlöse im Streitjahr 2005 als steuerfreie Vermögensumschichtung. Dagegen erfasste der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt –FA–) diese Einnahmen (in Höhe von 175.000 €) als Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung und setzte die Einkommensteuer entsprechend fest. Für das Streitjahr 2006 veranlagte das FA die Kläger unter Berücksichtigung von Werbungskosten mit Einkünften aus Vermietung und Verpachtung in Höhe von 15.420 € insoweit erklärungsgemäß.

 

5
Im Laufe der Einspruchsverfahren wurde der Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr 2005 dahin geändert, dass nunmehr unter Berücksichtigung von Werbungskosten in Höhe von 1.500 € lediglich die tatsächlich zugeflossenen 161.000 € als Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung angesetzt wurden. Ferner wurden für beide Streitjahre weitere Änderungsbescheide erlassen, die aber die hier streitige Frage nicht berührten. Die Einsprüche blieben erfolglos.

 

6
Die dagegen erhobene Klage wies das Finanzgericht (FG) mit in Entscheidungen der Finanzgerichte 2012, 840 veröffentlichtem Urteil als unbegründet ab. Der hier streitige Vertrag sei als Substanzausbeutevertrag und damit als Pachtvertrag zu bewerten und die daraus erzielten Einnahmen bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung des Klägers einzuordnen.

 

7
Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts (§ 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes –EStG–). Das Urteil des Niedersächsischen FG vom 22. April 1998 XIII 255/95 (Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst –DStRE– 1999, 502) als Vorinstanz und ihm folgend der Bundesfinanzhof –BFH– (Urteil vom 6. Mai 2003 IX R 64/98, BFH/NV 2003, 1175) hätten die zeitlich begrenzte Überlassung eines Grundstücks zur Sandausbeute als Kaufvertrag und die zugeflossenen Einnahmen als steuerfreie private Vermögensumschichtung beurteilt. Daran habe sich der Kläger bei der Vertragsgestaltung orientiert; die dortigen Ausführungen, insbesondere die vom BFH akzeptierte Würdigung des Niedersächsischen FG, seien daher auf den Streitfall übertragbar. So sei nach ständiger Rechtsprechung des BFH unter bestimmten Voraussetzungen in Ausnahmefällen bei Substanzausbeuteverträgen von einer Veräußerung des Bodenschatzes auszugehen. Der vorliegende Vertrag sei nach seinem wirtschaftlichen Gehalt angesichts der einmaligen Bodenschatz-Lieferung als Kaufvertrag und damit als Veräußerung der Bodensubstanz zu beurteilen. Der Verkauf der Bodensubstanz sei aus der Sicht der Vertragsparteien das wertbestimmende Leistungselement, die weiteren Vertragselemente stellten lediglich Nebenpflichten (Mutterboden abräumen, später rekultivieren) dar, die als Mittel zum Zweck der Vorbereitung und Durchführung des Abbaus dienten. Weder trete dadurch die Nutzung der Grundstücksflächen in den Vordergrund noch seien diese Nebenpflichten als kaufvertragsatypisch einzustufen.

 

8
Zudem beträfen die Nebenpflichten wie Abtragen, Lagerung und insbesondere Rekultivierung den Grund und Boden des land- und forstwirtschaftlichen Grundstücks. Ihr wirtschaftlicher Gehalt liege darin, die durch die Veräußerung des Bodenschatzes entstandenen Schäden bzw. Wertminderungen am Grund und Boden zu beseitigen. Das Wirtschaftsgut Bodenschatz selbst werde durch die Nebenpflichten nicht berührt. Vielmehr sei der vorliegen-de Vertrag auf die Entnahme bzw. den Verbrauch des Bodenschatzes gerichtet; ein Pachtrecht an einem Bodenschatz sei daher kaum denkbar, es werde auch nicht durch die Übernahme der Rekultivierung der Flächen begründet.

 

9
Selbst bei einer Beurteilung als Pachtvertrag bestünden erheb-liche Zweifel an der Besteuerung einer Substanzausbeute gemäß § 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG. Insoweit werde auf die mehrfache Kritik an der BFH-Rechtsprechung in der Literatur und auf verfassungsrechtliche Bedenken hingewiesen (vgl. dazu Niedersächsisches FG in DStRE 1999, 502; s.a. zur gesonderten Berechnung des Kaufpreises für den Bodenschatz zuletzt BFH-Urteil vom 4. September 1997 IV R 88/96, BFHE 184, 400, BStBl II 1998, 657).

 

10
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des FG aufzuheben und die Einkommensteuerbescheide 2005 und 2006, zuletzt jeweils geändert durch Bescheide vom 20. Oktober 2009, in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 1. Februar 2010 so zu ändern, dass die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung für 2005 um 161.000 € und für 2006 um 15.420 € gemindert werden und die Einkommensteuer entsprechend neu festgesetzt wird.

 

11
Das FA beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

12
II. Die Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung –FGO–). Die Entscheidung des FG, die aus dem Substanzausbeutevertrag resultierenden –der Höhe nach unstreitigen– Einnahmen als steuerpflichtige Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung zu beurteilen, ist im Ergebnis revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

 

13
1. Einkünfte gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6, § 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG) erzielt, wer einem anderen zeitlich begrenzt unbewegliches Vermögen gegen Entgelt zum Gebrauch oder zur Nutzung überlässt. So hat der BFH in ständiger Rechtsprechung (z.B. Urteile vom 24. November 1992 IX R 30/88, BFHE 170, 71, BStBl II 1993, 296; vom 21. Juli 1993 IX R 9/89, BFHE 172, 498, BStBl II 1994, 231, m.w.N.) und in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs –BGH– (z.B. Urteile vom 7. Februar 1973 VIII ZR 205/71, Wertpapier-Mitteilungen –WM– 1973, 386, Monatsschrift für Deutsches Recht –MDR– 1973, 386: Sandausbeute; vom 10. November 1999 XII ZR 24/97, WM 2000, 545, MDR 2000, 202: Kiesausbeute, m.w.N.) die zeitlich begrenzte Überlassung von Grundstücken zur Hebung der darin ruhenden Bodenschätze (sog. Ausbeuteverträge) grundsätzlich als Pachtverträge beurteilt und Einnahmen daraus zu den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung gezählt (s.a. Beschluss des Großen Senats des BFH vom 4. Dezember 2006 GrS 1/05, BFHE 216, 168, BStBl II 2007, 508, unter C.II.2.c dd; Urteil vom 21. Juni 2012 IV R 54/09, BFHE 238, 194, BStBl II 2012, 692, unter II.1. b). Nur in besonderen Ausnahmefällen können danach Ausbeuteverträge als Veräußerungsvorgänge angesehen werden, wenn es sich nämlich z.B. um einen zeitlich begrenzten Abbau und die Lieferung einer festbegrenzten Menge an Bodensubstanz handelt (vgl. BFH-Urteile vom 12. Dezember 1969 VI R 197/67, BFHE 97, 542, BStBl II 1970, 210; in BFHE 172, 498, BStBl II 1994, 231, und in BFH/NV 2003, 1175, m.w.N.). Ein solcher Ausnahmefall ist indes nicht gegeben, wenn der Vertrag wesentliche veräußerungs-atypische Elemente enthält (vgl. dazu BFH-Urteile in BFHE 97, 542, BStBl II 1970, 210; vom 27. Juni 1978 VIII R 12/72, BFHE 125, 528, BStBl II 1979, 38; s.a. BFH-Urteil vom 26. Mai 1976 I R 74/73, BFHE 119, 485, BStBl II 1976, 721). Entscheidend kommt es steuerrechtlich daher darauf an, ob sich der zu beurteilende Sachverhalt als Überlassung zur Frucht“gewinnung“ und damit als Nutzung (s. § 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG: „z.B. … Mineralgewinnungsrecht“; dazu Weber-Grellet, Finanz-Rundschau 2007, 515, 516 f.) darstellt oder als Übertragung des überlassenen Gegenstands/Rechts und damit als (außerhalb des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG nicht steuerbarer) Veräußerungsvorgang.

 

14
b) Ob und inwieweit bei Substanzausbeuteverträgen eine zeitlich begrenzte, unter § 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG fallende entgeltliche Nutzungsüberlassung eines Grundstücks/teils und/oder eine entgeltliche, aber nicht steuerbare Übertragung von Bodensubstanz gegeben ist, hat das FG als Tatsacheninstanz zu beurteilen. Dabei ist maßgebend auf den wirtschaftlichen Gehalt der zugrundeliegenden Vereinbarung/en abzustellen, wie er sich nach dem Gesamtbild der gestalteten Verhältnisse des Einzelfalls unter Berücksichtigung des wirklichen Willens der Vertragsparteien ergibt (einhellige Auffassung; BFH-Beschlüsse vom 28. September 2010 IX B 65/10, BFH/NV 2011, 43; vom 3. Januar 2006 IX B 162/04, BFH/NV 2006, 738, m.w.N. zur BFH-Rechtsprechung). Die Tatsachen- und Beweiswürdigung durch das FG, zu der auch die Auslegung von Verträgen gehört, ist für das Revisionsgericht grundsätzlich bindend. Die revisionsrechtliche Überprüfung durch den BFH beschränkt sich daher darauf, ob die vorgenommene Würdigung unter Beachtung der gesetzlichen Auslegungsregeln (insbesondere §§ 133, 157 des Bürgerlichen Gesetzbuchs) möglich ist und nicht gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstoßen wurde (z.B. BFH-Urteile vom 11. Januar 2005 IX R 15/03, BFHE 209, 77, BStBl II 2005, 477; vom 9. Dezember 2009 X R 41/07, BFH/NV 2010, 860).

 

15
2. Diesen Grundsätzen entspricht die Vorentscheidung; sie ist daher revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

 

16
a) Das FG hat auf der Basis der einschlägigen BFH-Rechtsprechung (vgl. oben unter 1.) die für die Annahme eines Pachtvertrages (Verpachtung) und für die Annahme eines Kaufvertrages (Veräußerung) sprechenden Indizien gegeneinander abgewogen und ist zu dem Ergebnis gelangt, dass der vorliegende Vertrag unter Berücksichtigung der Gesamtumstände als Pachtverhältnis zu beurteilen ist, insbesondere liege „keine einmalige Lieferung“ von Bodensubstanz vor, zumal der Kläger den Sand auch nicht in Eigenregie abgebaut hat oder hat abbauen lassen. Steht danach die Nutzungsüberlassung zur Fruchtgewinnung (Bodenschatz als Grundstücksertrag) im Vordergrund, ist es revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn das FG die vom Kläger erzielten Einnahmen –auch angesichts der von der X-GmbH vertraglich auf eigene Kosten übernommenen umfangreichen, das Grundstück und dessen Nutzung betreffenden Nebenpflichten– als Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung einordnet.

 

17
Diese Würdigung ist möglich und in sich schlüssig, sie verstößt auch nicht gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze oder gesetzliche Auslegungsregeln. Der BFH ist daher an diese zu den tatsächlichen Feststellungen gehörende Gesamtwürdigung des FG gebunden (vgl. § 118 Abs. 2 FGO).

 

18
b) Dem steht das Urteil des BFH (in BFH/NV 2003, 1175) nicht entgegen, das dieselben Rechtsgrundsätze seiner Entscheidung zugrunde legt.

 

19
Entgegen der Ansicht der Revision bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken, dass Entgelte für die Überlassung von Bodenschätzen als Einkünfte i.S. von § 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG steuerpflichtig sind (so Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Februar 1987 1 BvR 482/86, Betriebs-Berater 1987, 598; vom 3. Juni 1992 1 BvR 583/86, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1993, 36, Neue Juristische Wochenschrift 1993, 1189).

 

Schätzungsbefugnis bei einer Einnahmen-Überschussrechnung, wenn der Steuerpflichtige zur Dokumentation seiner Betriebseinnahmen die Erstellung von Kassenberichten wählt

Gericht: BFH 10. Senat
Entscheidungsdatum: 13.03.2013
Streitjahre: 2004, 2005, 2006
Aktenzeichen: X B 16/12
Dokumenttyp: Beschluss
Normen: § 162 AO, § 115 Abs 2 Nr 2 Alt 2 FGO, § 4 Abs 3 EStG 2002, EStG VZ 2005, EStG VZ 2006, § 145 AO, § 146 AO
Schätzungsbefugnis bei einer Einnahmen-Überschussrechnung, wenn der Steuerpflichtige zur Dokumentation seiner Betriebseinnahmen die Erstellung von Kassenberichten wählt

Leitsatz

NV: Auch wenn ein Steuerpflichtiger, der seinen Gewinn zulässigerweise nach § 4 Abs. 3 EStG ermittelt, zur Führung eines Kassenbuches nicht verpflichtet ist, müssen die von ihm erklärten Betriebseinnahmen auf ihre Vollständigkeit und Richtigkeit überprüfbar sein. Dokumentiert der Steuerpflichtige seine Betriebseinnahmen in Kassenberichten, ist das FA zur Schätzung befugt, wenn diese wiederholt korrigiert und in sich widersprüchlich sind.

Fundstellen

NV (nicht amtlich veröffentlicht)
Verfahrensgang

vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht, 8. Dezember 2011, Az: 12 K 389/09, Urteil
Diese Entscheidung zitiert

Rechtsprechung
im Text BFH, 4. November 2010, Az: VII B 60/10
im Text BFH, 7. Februar 2008, Az: X B 189/07
im Text BFH, 20. Juni 2007, Az: X B 116/06
Vergleiche BFH, 16. Februar 2006, Az: X B 57/05

Tatbestand

1
I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) betreibt einen Kiosk und erzielt daraus Einkünfte aus Gewerbebetrieb. Seinen Gewinn ermittelt er nach § 4 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes in der in den Streitjahren geltenden Fassung (EStG). In diesen Jahren führte der Kläger eine offene Ladenkasse, seine Tageseinnahmen trug er in Kassenberichte ein.

 

2
Im Rahmen einer Außenprüfung stellte die Prüferin fest, dass der Kläger die Eintragungen in den Kassenberichten wiederholt –auch mehrfach– durchgestrichen und durch andere Zahlen ersetzt oder die Tageseinnahmen mit einem anderen Stift als die übrigen Angaben geschrieben hatte. Der Versuch der Prüferin, eine Nachkalkulation durchzuführen, scheiterte daran, dass der Kläger keine den Prüfungszeitraum betreffenden, sondern nur aktuelle Preislisten zur Verfügung stellte. Anhand dieser ermittelte sie Rohgewinnaufschlagsätze für die verschiedenen Warengruppen, rundete diese jedoch aufgrund verschiedener Unsicherheiten erheblich ab und gelangte so zu einer Hinzuschätzung in Höhe von 4.000 € netto jährlich. Für das Jahr 2006 hatte sie eine Nachkalkulationsdifferenz von über 9.000 € und so einen Unsicherheitsabschlag in Höhe von 56 % vorgenommen.

 

3
Die Klage blieb ohne Erfolg. Das Finanzgericht (FG) sah den Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt –FA–) infolge der in sich inkonsistenten und teilweise widersprüchlichen Aufzeichnungen der Bareinnahmen im Rahmen der Kassenberichte dem Grunde nach als zur Schätzung der Einkünfte des Klägers befugt an. Auch hinsichtlich der Höhe der Schätzung hatte das FG letztlich aufgrund der erheblichen Unsicherheitsabschläge keine Bedenken.

 

4
Mit Schriftsatz vom 21. Februar 2012 begründete der Prozessbevollmächtigte des Klägers die Zulassung der Revision mit dem Erfordernis einer Entscheidung durch den Bundesfinanzhof (BFH) zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 der Finanzgerichtsordnung –FGO–). Am 16. März 2012 ging ein von dem Vater des Klägers verfasster Schriftsatz ein, in dem dieser geltend machte, die Revision sei zudem nach § 115 Abs. 2 Nrn. 1 und 3 FGO zuzulassen.

 

Entscheidungsgründe

5
II. Die Beschwerde ist unzulässig.

 

6
1. Eine Entscheidung des BFH zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung ist geboten, wenn das angefochtene FG-Urteil in seinen tragenden Gründen von einer Entscheidung des BFH oder eines anderen Gerichts abweicht (z.B. Senatsbeschluss vom 20. Juni 2007 X B 116/06, BFH/NV 2007, 1705).

 

7
a) Zur Darlegung dieses Zulassungsgrundes sind die tragenden Erwägungen der FG-Entscheidung und der (angeblichen) Divergenzentscheidung des anderen Gerichts so herauszuarbeiten und gegenüberzustellen, dass eine Abweichung im grundsätzlichen Ansatz erkennbar wird, der sich auf die Entscheidung bei einem gleichen oder vergleichbaren Sachverhalt bezieht (Gräber/ Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 116 Rz 40 ff., m.w.N. aus der Rechtsprechung des BFH).

 

8
b) Dem entspricht die Beschwerdebegründung nicht. Der Kläger macht lediglich geltend, der BFH führe in seinem Beschluss vom 16. Februar 2006 X B 57/05 (BFH/NV 2006, 940) aus, dass es bei der Einnahmen-Überschussrechnung keine Bestandskonten und somit auch kein Kassenkonto gebe, die Feststellung eines Kassenbestandes somit nicht in Betracht komme. Hiervon (angeblich) abweichende Rechtssätze des FG-Urteils führt er nicht an. Vielmehr bemängelt er, das FG habe sich zur Begründung der Schätzungsbefugnis zu Unrecht auf den Senatsbeschluss vom 7. Februar 2008 X B 189/07 (nicht veröffentlicht, juris) berufen. Insoweit wendet der Kläger sich gegen die materielle Richtigkeit des Urteils. Hiermit kann jedoch die Zulassung der Revision grundsätzlich nicht begründet werden (z.B. BFH-Beschluss vom 4. November 2010 VII B 60/10, BFH/NV 2011, 869).

 

9
Der Kläger lässt auch außer Acht, dass der erkennende Senat aus der wiedergegebenen Passage lediglich gefolgert hat, ein Steuerpflichtiger, der seinen Gewinn zulässigerweise nach § 4 Abs. 3 EStG ermittele, sei nicht verpflichtet, ein Kassenbuch zu führen (Senatsbeschluss in BFH/NV 2006, 940, m.w.N.). Hiervon ist das FG ersichtlich ausgegangen. Der Kläger setzt sich dagegen nicht damit auseinander, dass ein Steuerpflichtiger auch im Fall der Gewinnermittlung nach § 4 Abs. 3 EStG selbstredend seine Betriebseinnahmen und -ausgaben –sei es durch entsprechende Aufzeichnungen einschließlich Belegsammlung oder im Wege einer geordneten Belegablage– so festhalten muss, dass das FA diese auf Richtigkeit und Vollständigkeit überprüfen kann (vgl. Schmidt/Heinicke, EStG, 31. Aufl., § 4 Rz 375). Letzteres hatte die Klägerin in dem –dem Beschluss in BFH/NV 2006, 940 zugrunde liegenden– Fall durch chronologische Ablage der Ausgangsrechnungen getan. Erfasst der Steuerpflichtige –wie zulässigerweise der Kläger– seine Tageseinnahmen in einer Summe, muss er das Zustandekommen der Summe (bspw. durch einen Kassenbericht) auch nachweisen können (Klein/Rätke, AO, 11. Aufl., § 146 Rz 8).

 

10
Nach den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und deshalb bindenden Feststellungen des FG wird die von dem Kläger gewählte Dokumentation seiner Tageseinnahmen in Form der Kassenberichte den Anforderungen der Rechtsprechung an eine nachprüfbare vollständige und richtige Aufzeichnung nicht gerecht. Ausgehend von dieser materiell-rechtlich maßgebenden Auffassung des FG hat dieses die Schätzungsbefugnis des FA gemäß § 162 Abs. 2 der Abgabenordnung dem Grunde nach zu Recht bejaht.

 

11
2. Unabhängig davon, dass nicht ersichtlich ist, dass es sich bei dem Vater des Klägers um eine Person i.S. des § 62 Abs. 4 Satz 3 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 FGO handelt, kommt eine Zulassung der Revision nach § 115 Abs. 2 Nrn. 1 und 3 FGO bereits deshalb nicht in Betracht, weil die Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung und eines Verfahrensfehlers erstmals nach Ablauf der Begründungsfrist und damit verspätet geltend gemacht wurden. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH ist die Zulässigkeit der Nichtzulassungsbeschwerde hinsichtlich der Anforderungen an ihre Begründung nur nach den innerhalb der Begründungsfrist vorgebrachten Ausführungen zu beurteilen. Spätere Darlegungen sind –abgesehen von bloßen Erläuterungen und Ergänzungen des fristgemäßen Vorbringens– nicht zu berücksichtigen (z.B. Senatsbeschluss in BFH/NV 2007, 1705). Der Vollständigkeit halber merkt der Senat an, dass eine Revisionszulassung auch unter Berücksichtigung des Schriftsatzes vom 11. März 2012 nicht in Betracht käme.

 

12
3. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat nach § 116 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 FGO ab.

 

Erledigung der Hauptsache ohne Erledigungserklärung des beigetretenen BMF

Gericht: BFH 3. Senat
Entscheidungsdatum: 18.03.2013
Streitjahr: 2006
Aktenzeichen: III R 5/09
Dokumenttyp: Beschluss
Normen: § 122 Abs 2 FGO, § 136 Abs 1 S 3 FGO, § 138 Abs 1 FGO, § 138 Abs 2 S 1 FGO, § 143 Abs 1 FGO
(Erledigung der Hauptsache ohne Erledigungserklärung des beigetretenen BMF – Kostenentscheidung nach Teilabhilfe und insgesamt erfolgter Hauptsacheerledigung – Geringfügigkeit des Unterliegens i.S.d. § 136 Abs. 1 Satz 3 FGO)

Leitsatz
1. NV: Hat sich der Rechtsstreit durch übereinstimmende Erklärungen des Klägers und der Beklagten in der Hauptsache erledigt, kommt es nicht darauf an, ob auch das dem Verfahren beigetretene Bundesministerium der Finanzen eine Erledigungserklärung abgibt (Rn.2).

2. NV: Es entspricht regelmäßig dem billigen Ermessen, wenn der Kläger in Höhe des von der Abhilfe nicht erfassten Teils des Klageanspruchs die Kosten zu tragen hat (Rn.5).

3. NV: § 136 Abs. 1 Satz 3 FGO ist im Rahmen der Kostenentscheidung, die nach Teilabhilfe und insgesamt erfolgter Hauptsacheerledigung zu treffen ist, anwendbar (Rn.6).

Orientierungssatz
1. NV: Ist aufgrund der übereinstimmenden Erklärungen des Klägers und Revisionsklägers und der Beklagten und Revisionsbeklagten der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt, ist damit das Urteil des Finanzgerichts einschließlich der darin enthaltenen Kostenentscheidung gegenstandslos geworden (vgl. BFH-Rechtsprechung) (Rn.1).

2. NV: Zu Leitsatz 3: Bei einer Quote von 8 % kann nicht mehr von einer Geringfügigkeit des klägerischen Unterliegens ausgegangen werden (vgl. BFH-Rechtsprechung) (Rn.6).

Fundstellen
NV (nicht amtlich veröffentlicht)
Verfahrensgang
vorgehend FG Düsseldorf, 22. Dezember 2008, Az: 10 K 404/08 Kg, Urteil
vorgehend BFH, 21. Oktober 2010, Az: III R 5/09, EuGH-Vorlage
vorgehend EuGH, 12. Juni 2012, Az: C-611/10, Urteil
Diese Entscheidung zitiert
Rechtsprechung
Vergleiche BFH, 29. August 2012, Az: X R 5/12
Vergleiche BFH, 11. Mai 2009, Az: VIII R 81/05
Vergleiche BFH, 20. April 2005, Az: X R 53/04
Vergleiche BFH, 29. Mai 1996, Az: I R 79/95
Vergleiche BFH, 23. November 1994, Az: II B 157/92
Vergleiche BFH, 25. Januar 1994, Az: V R 128/85
Vergleiche BFH, 24. Mai 1993, Az: V B 33/93
Vergleiche BFH, 23. August 1990, Az: V R 79/88
Vergleiche BFH, 13. August 1986, Az: V R 112/80
Vergleiche BFH, 14. Mai 1975, Az: VII R 107/72

Gründe
1
1. Aufgrund der übereinstimmenden Erklärungen des Klägers und Revisionsklägers (Kläger) und der Beklagten und Revisionsbeklagten (Familienkasse) ist der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt. Das Urteil des Finanzgerichts ist damit einschließlich der darin enthaltenen Kostenentscheidung gegenstandslos geworden (Beschlüsse des Bundesfinanzhofs –BFH– vom 29. Mai 1996 I R 79/95, BFH/NV 1996, 846; vom 25. Januar 1994 V R 128/85, BFH/NV 1995, 918; vom 29. August 2012 X R 5/12, BFH/NV 2013, 53). Gemäß § 143 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) hat der BFH durch Beschluss nur noch über die Kosten zu entscheiden.

2
Für den durch die Abgabe der übereinstimmenden Erledigungserklärungen bewirkten Wegfall der Rechtshängigkeit der Hauptsache kommt es nicht darauf an, dass auch das dem Verfahren beigetretene Bundesministerium der Finanzen eine Erledigungserklärung abgegeben hat (ständige Rechtsprechung des BFH, vgl. Beschlüsse vom 14. Mai 1975 VII R 107/72, BFHE 115, 425, und in BFH/NV 2013, 53).

3
2. Die nach Erledigung der Hauptsache zu treffende Kostenentscheidung richtet sich nach § 138 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 1 FGO.

4
a) Die Familienkasse hat dem Antrag des Klägers, Kindergeld für seine Tochter für die Monate Februar bis Dezember 2006 in Höhe von insgesamt 1.694 € festzusetzen, nur teilweise entsprochen. Sie hat nach Anrechnung polnischer Familienleistungen im Abhilfebescheid lediglich Differenzkindergeld in Höhe von 1.551,55 € festgesetzt.

5
b) Mithin sind die Kosten des Verfahrens verhältnismäßig zu teilen. Soweit die Familienkasse dem Klagebegehren abgeholfen hat, trägt sie die Kosten gemäß § 138 Abs. 2 Satz 1 FGO. In Bezug auf den von der Abhilfe nicht erfassten Teil des Begehrens trifft den Kläger die Kostenpflicht nach § 138 Abs. 1 FGO. Denn es entspricht regelmäßig dem billigen Ermessen, wenn der Kläger in Höhe des von der Abhilfe nicht erfassten Teils des Klageanspruchs die Kosten trägt (BFH-Beschlüsse vom 13. August 1986 V R 112/80, BFH/NV 1987, 54; vom 23. November 1994 II B 157/92, BFH/NV 1995, 332; vom 11. Mai 2009 VIII R 81/05, BFH/NV 2009, 1447).

6
c) Von der Anwendung des § 136 Abs. 1 Satz 3 FGO, wonach einem Beteiligten die Kosten ganz auferlegt werden können, wenn der andere nur zu einem geringen Teil unterlegen ist, war im Streitfall abzusehen. Zwar ist die genannte Vorschrift grundsätzlich auch bei Hauptsacheerledigung nach erfolgter Teilabhilfe anwendbar (BFH-Beschluss vom 23. August 1990 V R 79/88, BFH/NV 1991, 472), doch fehlt es vorliegend an der Geringfügigkeit des klägerischen Unterliegens. Bei einer Quote von 8 % kann davon nach der Spruchpraxis des BFH nicht mehr ausgegangen werden (BFH-Beschluss vom 24. Mai 1993 V B 33/93, BFH/NV 1994, 133; BFH-Urteil vom 20. April 2005 X R 53/04, BFHE 210, 100, BStBl II 2005, 698).

Kein Vertrauensschutz bei bloßer Weiterzahlung von Kindergeld

Gericht: BFH 5. Senat
Entscheidungsdatum: 13.03.2013
Aktenzeichen: V B 133/11
Dokumenttyp: Beschluss
Norm: § 62 EStG
Kein Vertrauensschutz

Leitsatz
NV: Die bloße Weiterzahlung von Kindergeld trotz Kenntnis von Umständen, die zum Wegfall des Kindergeldanspruchs führen, steht einer Rückforderung nicht entgegen.

Fundstellen
NV (nicht amtlich veröffentlicht)
Verfahrensgang
vorgehend Hessisches Finanzgericht, 14. April 2011, Az: 13 K 51/10, Urteil
Diese Entscheidung zitiert
Rechtsprechung
Vergleiche BFH, 23. Mai 2011, Az: III B 177/10
Vergleiche BFH, 3. März 2011, Az: III R 11/08
Vergleiche BFH, 28. Januar 2010, Az: III B 37/09
Vergleiche BFH, 26. November 2007, Az: III B 121/06
Vergleiche BFH, 27. Mai 2005, Az: III B 197/04
Vergleiche BFH, 15. Juni 2004, Az: VIII R 93/03
Vergleiche BFH, 14. Oktober 2003, Az: VIII R 56/01
im Text BFH, 26. Juli 2001, Az: VI R 163/00

Gründe
1
Die Beschwerde der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) hat keinen Erfolg.

2
Der Rechtssache kommt keine grundsätzliche Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung –FGO–) zu.

3
a) Die Klägerin führt für die grundsätzliche Bedeutung an, dass die Rechtsprechung bei „der Beurteilung der Frage, ab welchem Zeitraum bei unberechtigter Kindergeldzahlung von einem erheblichem Zeitraum auszugehen ist“, der zu einem Vertrauenstatbestand führt, uneinheitlich sei.

4
aa) Durch die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ist demgegenüber bereits geklärt, dass die Weiterzahlung des Kindergeldes selbst bei Mitteilung der Umstände, die zum Wegfall des Kindergeldanspruchs führen, nicht ausreicht, um einen Vertrauenstatbestand zu schaffen. Hinzutreten müssen vielmehr besondere Umstände, die die Geltendmachung des Rückforderungsanspruchs als illoyale Rechtsausübung erscheinen lassen. Bei einem Massenverfahren wie im Kindergeldrecht ist dabei ein besonders eindeutiges Verhalten der Familienkasse zu fordern, dem zu entnehmen ist, dass sie auch nach Prüfung des Falls unter Berücksichtigung veränderter Umstände von einem Fortbestehen des Kindergeldanspruchs ausgeht, so dass ein anderer Eindruck beim Kindergeldempfänger nicht entstehen kann. Dem Verhalten der Familienkasse muss also die konkludente Zusage zu entnehmen sein, dass der Kindergeldempfänger mit einer Rückforderung des Kindergeldes nicht zu rechnen brauche (z.B. BFH-Urteile vom 14. Oktober 2003 VIII R 56/01, BFHE 203, 472, BStBl II 2004, 123, und vom 15. Juni 2004 VIII R 93/03, BFH/NV 2005, 153; BFH-Beschlüsse vom 26. November 2007 III B 121/06, BFH/NV 2008, 553, und vom 28. Januar 2010 III B 37/09, BFH/NV 2010, 837).

5
bb) Danach ist geklärt, dass die Weiterzahlung des Kindergeldes selbst bei einer –wie von der Klägerin behaupteten– zeitnahen Mitteilung der Umstände, die zum Wegfall des Kindergeldanspruchs führen, zur Schaffung eines Vertrauenstatbestandes allein nicht ausreicht (vgl. BFH-Beschlüsse vom 27. Mai 2005 III B 197/04, BFH/NV 2005, 1486, und vom 23. Mai 2011 III B 177/10, BFH/NV 2011, 1507).

6
b) Im Übrigen ist die Revision auch nicht zur Fortbildung des Rechts und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO) zuzulassen, da keine höchstrichterliche Entscheidung zur Frage erforderlich ist, ob es sich bei einer Rückforderung nach langer Zeit um eine illoyale Rechtsausübung handelt und die Rückforderung unverhältnismäßig ist. Ohne Erfolg beruft sich die Klägerin insoweit auf das BFH-Urteil vom 26. Juli 2001 VI R 163/00 (BFHE 196, 274, BStBl II 2002, 174), nach dem der Rückforderung von zu viel gezahltem Kindergelds der Grundsatz von Treu und Glauben entgegenstehen kann, wenn der Beklagte und Beschwerdegegner (die Familienkasse) mit der Geltendmachung des Rückforderungsanspruchs zu lange zuwartet. Dass allein die Weiterzahlung trotz Kenntnis der zum Wegfall der Voraussetzungen für den Kindergeldanspruch führenden Umstände einer Rückforderung entgegensteht, lässt sich dem bezeichneten Urteil nicht entnehmen, wie sich aus der Zurückverweisung zur weiteren Aufklärung der Umstände, die zu einem Schutzwürdigen Vertrauen führen könnten, ergibt.

7
Dabei steht, wie der BFH unter Bezugnahme auf das Urteil in BFHE 196, 274, BStBl II 2002, 174 bereits entschieden hat, „die bloße Weiterzahlung trotz Kenntnis von Umständen, wie zum Wegfall des Kindergeldanspruchs führen, … der Rückforderung nicht entgegen“ (BFH-Urteil vom 3. März 2011 III R 11/08, BFHE 233, 41, BStBl II 2001, 722, unter II.d).

 

Zulässigkeit einer Fortsetzungsfeststellungsklage

Gericht: BFH 3. Senat
Entscheidungsdatum: 18.03.2013
Streitjahr: 2006
Aktenzeichen: III R 5/09
Dokumenttyp: Beschluss
Normen: § 122 Abs 2 FGO, § 136 Abs 1 S 3 FGO, § 138 Abs 1 FGO, § 138 Abs 2 S 1 FGO, § 143 Abs 1 FGO
(Erledigung der Hauptsache ohne Erledigungserklärung des beigetretenen BMF – Kostenentscheidung nach Teilabhilfe und insgesamt erfolgter Hauptsacheerledigung – Geringfügigkeit des Unterliegens i.S.d. § 136 Abs. 1 Satz 3 FGO)

Leitsatz

1. NV: Hat sich der Rechtsstreit durch übereinstimmende Erklärungen des Klägers und der Beklagten in der Hauptsache erledigt, kommt es nicht darauf an, ob auch das dem Verfahren beigetretene Bundesministerium der Finanzen eine Erledigungserklärung abgibt (Rn.2).

 

2. NV: Es entspricht regelmäßig dem billigen Ermessen, wenn der Kläger in Höhe des von der Abhilfe nicht erfassten Teils des Klageanspruchs die Kosten zu tragen hat (Rn.5).

 

3. NV: § 136 Abs. 1 Satz 3 FGO ist im Rahmen der Kostenentscheidung, die nach Teilabhilfe und insgesamt erfolgter Hauptsacheerledigung zu treffen ist, anwendbar (Rn.6).

Orientierungssatz

1. NV: Ist aufgrund der übereinstimmenden Erklärungen des Klägers und Revisionsklägers und der Beklagten und Revisionsbeklagten der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt, ist damit das Urteil des Finanzgerichts einschließlich der darin enthaltenen Kostenentscheidung gegenstandslos geworden (vgl. BFH-Rechtsprechung) (Rn.1).

 

2. NV: Zu Leitsatz 3: Bei einer Quote von 8 % kann nicht mehr von einer Geringfügigkeit des klägerischen Unterliegens ausgegangen werden (vgl. BFH-Rechtsprechung) (Rn.6).

Fundstellen

NV (nicht amtlich veröffentlicht)
Verfahrensgang

vorgehend FG Düsseldorf, 22. Dezember 2008, Az: 10 K 404/08 Kg, Urteil
vorgehend BFH, 21. Oktober 2010, Az: III R 5/09, EuGH-Vorlage
vorgehend EuGH, 12. Juni 2012, Az: C-611/10, Urteil
Diese Entscheidung zitiert

Rechtsprechung
Vergleiche BFH, 29. August 2012, Az: X R 5/12
Vergleiche BFH, 11. Mai 2009, Az: VIII R 81/05
Vergleiche BFH, 20. April 2005, Az: X R 53/04
Vergleiche BFH, 29. Mai 1996, Az: I R 79/95
Vergleiche BFH, 23. November 1994, Az: II B 157/92
Vergleiche BFH, 25. Januar 1994, Az: V R 128/85
Vergleiche BFH, 24. Mai 1993, Az: V B 33/93
Vergleiche BFH, 23. August 1990, Az: V R 79/88
Vergleiche BFH, 13. August 1986, Az: V R 112/80
Vergleiche BFH, 14. Mai 1975, Az: VII R 107/72

Gründe

1
1. Aufgrund der übereinstimmenden Erklärungen des Klägers und Revisionsklägers (Kläger) und der Beklagten und Revisionsbeklagten (Familienkasse) ist der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt. Das Urteil des Finanzgerichts ist damit einschließlich der darin enthaltenen Kostenentscheidung gegenstandslos geworden (Beschlüsse des Bundesfinanzhofs –BFH– vom 29. Mai 1996 I R 79/95, BFH/NV 1996, 846; vom 25. Januar 1994 V R 128/85, BFH/NV 1995, 918; vom 29. August 2012 X R 5/12, BFH/NV 2013, 53). Gemäß § 143 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) hat der BFH durch Beschluss nur noch über die Kosten zu entscheiden.

 

2
Für den durch die Abgabe der übereinstimmenden Erledigungserklärungen bewirkten Wegfall der Rechtshängigkeit der Hauptsache kommt es nicht darauf an, dass auch das dem Verfahren beigetretene Bundesministerium der Finanzen eine Erledigungserklärung abgegeben hat (ständige Rechtsprechung des BFH, vgl. Beschlüsse vom 14. Mai 1975 VII R 107/72, BFHE 115, 425, und in BFH/NV 2013, 53).

 

3
2. Die nach Erledigung der Hauptsache zu treffende Kostenentscheidung richtet sich nach § 138 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 1 FGO.

 

4
a) Die Familienkasse hat dem Antrag des Klägers, Kindergeld für seine Tochter für die Monate Februar bis Dezember 2006 in Höhe von insgesamt 1.694 € festzusetzen, nur teilweise entsprochen. Sie hat nach Anrechnung polnischer Familienleistungen im Abhilfebescheid lediglich Differenzkindergeld in Höhe von 1.551,55 € festgesetzt.

 

5
b) Mithin sind die Kosten des Verfahrens verhältnismäßig zu teilen. Soweit die Familienkasse dem Klagebegehren abgeholfen hat, trägt sie die Kosten gemäß § 138 Abs. 2 Satz 1 FGO. In Bezug auf den von der Abhilfe nicht erfassten Teil des Begehrens trifft den Kläger die Kostenpflicht nach § 138 Abs. 1 FGO. Denn es entspricht regelmäßig dem billigen Ermessen, wenn der Kläger in Höhe des von der Abhilfe nicht erfassten Teils des Klageanspruchs die Kosten trägt (BFH-Beschlüsse vom 13. August 1986 V R 112/80, BFH/NV 1987, 54; vom 23. November 1994 II B 157/92, BFH/NV 1995, 332; vom 11. Mai 2009 VIII R 81/05, BFH/NV 2009, 1447).

 

6
c) Von der Anwendung des § 136 Abs. 1 Satz 3 FGO, wonach einem Beteiligten die Kosten ganz auferlegt werden können, wenn der andere nur zu einem geringen Teil unterlegen ist, war im Streitfall abzusehen. Zwar ist die genannte Vorschrift grundsätzlich auch bei Hauptsacheerledigung nach erfolgter Teilabhilfe anwendbar (BFH-Beschluss vom 23. August 1990 V R 79/88, BFH/NV 1991, 472), doch fehlt es vorliegend an der Geringfügigkeit des klägerischen Unterliegens. Bei einer Quote von 8 % kann davon nach der Spruchpraxis des BFH nicht mehr ausgegangen werden (BFH-Beschluss vom 24. Mai 1993 V B 33/93, BFH/NV 1994, 133; BFH-Urteil vom 20. April 2005 X R 53/04, BFHE 210, 100, BStBl II 2005, 698).

 

Baden-Württemberg will Verjährungsfrist für Steuerhinterziehung verlängern

Die Landesregierung Baden-Württemberg möchte den Kampf gegen Steuerhinterziehung verschärfen und hat deshalb eine Bundesratsinitiative beschlossen, die eine Verlängerung der Verjährungsfrist für Steuerhinterziehung vorsieht.

Mit dem Gesetzesantrag soll die Frist für die strafrechtliche Verfolgung von allen Fällen einer Steuerhinterziehung auf zehn Jahre verlängert werden. Bislang ist die Strafverfolgung über einen Zeitraum von zehn Jahren nur in besonders schweren Fällen von Steuerhinterziehung möglich. In den übrigen Fällen von Steuerhinterziehung tritt Verfolgungsverjährung derzeit bereits fünf Jahre nach Vollendung der Tat ein.

Die Neuregelung führe zu mehr Steuereinnahmen. Denn durch die Verlängerung der Frist für die Verfolgungsverjährung müssten im Rahmen einer Selbstanzeige bislang nicht erklärte Erträge über einen Zeitraum von zehn Jahren angegeben werden. Damit stünden diese Angaben auch für die Festsetzung der hinterzogenen Steuern zur Verfügung.

Die Initiative soll am 03.05.2013 in den Bundesrat eingebracht werden.

Abzugsfähigkeit von Kosten für doppelte Haushaltsführung bei berufstätigem Kind

Gericht/Institution: BFH
Erscheinungsdatum: 24.04.2013
Entscheidungsdatum: 16.01.2013
Aktenzeichen: VI R 46/12

Der BFH hat entschieden, dass erwachsene, wirtschaftlich eigenständige Kinder, die zusammen mit ihren Eltern oder einem Elternteil in einem gemeinsamen Haushalt wohnen, Aufwendungen für eine doppelte Haushaltsführung als Werbungskosten geltend machen können, wenn ihnen die Zweitwohnung am Beschäftigungsort lediglich als Schlafstätte dient.

Nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 EStG sind notwendige Mehraufwendungen, die einem Arbeitnehmer wegen einer aus beruflichem Anlass begründeten doppelten Haushaltsführung entstehen, Werbungskosten. Eine doppelte Haushaltsführung liegt nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 Satz 2 EStG vor, wenn der Arbeitnehmer außerhalb des Ortes, in dem er einen eigenen Hausstand unterhält, beschäftigt ist und auch am Beschäftigungsort wohnt. Keinen eigenen Hausstand unterhält nach der bisherigen Rechtsprechung z.B., wer in den Haushalt der Eltern eingegliedert ist, ohne die Haushaltsführung wesentlich mitzubestimmen. Das gilt insbesondere für junge Arbeitnehmer, die nach Beendigung ihrer Ausbildung, wenn auch gegen Kostenbeteiligung, weiterhin im Haushalt der Eltern ein Zimmer bewohnen.

Im Streitfall machte der Kläger, ein 43 Jahre alter promovierte Diplomchemiker, vergeblich die Kosten für eine Unterkunft am Beschäftigungsort geltend. Dort hatte er seinen Zweitwohnsitz begründet. Seinen Hauptwohnsitz behielt er im Einfamilienhaus seiner im Streitjahr 71 Jahre alten Mutter bei. In diesem nutze er nach seinem Vortrag ein Schlaf- und Arbeitszimmer sowie ein Badezimmer allein. Die Küche, das Ess- und Wohnzimmer wurden von ihm und seiner Mutter gemeinsam genutzt. Einspruch und Klage blieben ohne Erfolg. Gegen die Entscheidung legte der Kläger Revision ein.

Der BFH hat die Vorentscheidung aufgehoben und die Sache an das Finanzgericht zurückverwiesen.

Anders als bei jungen Arbeitnehmern sei bei einem erwachsenen und wirtschaftlich eigenständigen Kind grundsätzlich davon auszugehen, dass es die gemeinsame Haushaltsführung mit den Eltern oder einem Elternteil wesentlich mitbestimme, so der BFH. Es könne deshalb im elterlichen Haushalt auch einen „eigenen Hausstand“ unterhalten und eine steuerliche doppelte Haushaltsführung begründen.

Das Finanzgericht müsse nun noch feststellen, ob das der Fall war.

Vorinstanz
FG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 14.02.2012 – 3 K 2338/09

 

Doppelte Haushaltsführung – gemeinsamer Haushalt von Eltern und erwachsenen, wirtschaftlich eigenständigen Kindern

 Leitsatz

1. Dient die Wohnung am Beschäftigungsort dem Steuerpflichtigen lediglich als Schlafstätte, ist regelmäßig davon auszugehen, dass der Mittelpunkt der Lebensführung noch am Heimatort zu verorten ist und dort der Haupthausstand geführt wird.

2. Ein eigener Hausstand kann auch dann unterhalten werden, wenn der Erst- oder Haupthausstand gemeinsam mit den Eltern oder einem Elternteil geführt wird. Einer gleichmäßigen Beteiligung des Kindes an den laufenden Haushalts- und Lebenshaltungskosten bedarf es hierfür nicht.

3. Bei erwachsenen, berufstätigen Kindern, die zusammen mit ihren Eltern oder einem Elternteil in einem gemeinsamen Haushalt wohnen, ist im Regelfall davon auszugehen, dass sie die Führung des Haushalts maßgeblich mitbestimmen.

 Gesetze

EStG § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5

 Instanzenzug

FG Rheinland-Pfalz vom 14. Februar 2012 3 K 2338/09 (EFG 2012, 1921) BFH VI R 46/12

 Gründe

1  I. Streitig ist, ob die Voraussetzungen einer doppelten Haushaltsführung vorliegen.

2  Der im Jahre 1964 geborene Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist alleinstehend und erzielte im Streitjahr 2007 als Chemiker Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Er arbeitete im Streitjahr in B. Diese Stelle hatte er im Jahr 2006 angetreten und dort auch seinen Zweitwohnsitz begründet. Seinen Hauptwohnsitz behielt er in N bei und wohnte dort zusammen mit seiner Mutter im Einfamilienhaus, das im Streitjahr seiner (im Streitjahr 71 Jahre alten) Mutter zu 3/4 und dem Kläger und seiner Schwester zu jeweils 1/8 gehörte. Er nutzte nach eigenen Angaben in dem Einfamilienhaus ein Schlaf- und Arbeitszimmer sowie ein Badezimmer allein. Die Küche, das Ess- und Wohnzimmer wurden von ihm und seiner Mutter gemeinsam genutzt. Im Jahr 2010 wurde das Anwesen auf den Kläger übereignet.

3  In seiner Einkommensteuererklärung für das Streitjahr machte der Kläger erfolglos Mehraufwendungen für eine doppelte Haushaltsführung in Höhe von insgesamt 7.053 € als Werbungskosten bei seinen Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit geltend. Einspruch und Klage blieben ebenfalls ohne Erfolg. Zwar seien sich die Beteiligten inzwischen einig, dass der Kläger das Fortbestehen seines Lebensmittelpunktes am Heimatort durch geeignete Belege nachgewiesen habe. Gleichwohl habe der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt —FA—) die geltend gemachten Aufwendungen für eine doppelte Haushaltsführung bei der angefochtenen Einkommensteuerfestsetzung zu Recht nicht berücksichtigt. Denn der Kläger habe in N keinen eigenen Hausstand unterhalten, sondern sei lediglich in den Haushalt der Mutter eingegliedert gewesen. Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2012, 1921 veröffentlicht.

4  Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung formellen und materiellen Rechts.

5  Er beantragt,

das Urteil des Finanzgerichts (FG) Rheinland-Pfalz vom 14. Februar 2012 3 K 2338/09 und die Einspruchsentscheidung vom 11. September 2009 aufzuheben sowie den Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2007 vom 4. März 2009 dahingehend abzuändern, dass bei den Einkünften des Klägers aus nichtselbständiger Arbeit Aufwendungen für eine doppelte Haushaltsführung in Höhe von 2.949 € als Werbungskosten berücksichtigt werden, hilfsweise

das Ruhen des Verfahrens bis zu einer Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) oder des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der derzeitigen Gesetzeslage bzw. Verwaltungspraxis.

6  Das FA beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

7  II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung —FGO—).

8  1. Gemäß § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 des Einkommensteuergesetzes (EStG) sind notwendige Mehraufwendungen, die einem Arbeitnehmer wegen einer aus beruflichem Anlass begründeten doppelten Haushaltsführung entstehen, Werbungskosten. Eine doppelte Haushaltsführung liegt nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 Satz 2 EStG vor, wenn der Arbeitnehmer außerhalb des Ortes, in dem er einen eigenen Hausstand unterhält, beschäftigt ist und auch am Beschäftigungsort wohnt. Dies gilt grundsätzlich auch für einen alleinstehenden Arbeitnehmer; auch er kann einen doppelten Haushalt führen (ständige Rechtsprechung des Senats, zuletzt Urteil vom 21. April 2010 VI R 26/09, BFHE 230, 5 , BStBl II 2012, 618, m.w.N.).

9  a) Hausstand i.S. des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 Satz 2 EStG ist der Haushalt, den der Arbeitnehmer am Lebensmittelpunkt führt, also sein Erst- oder Haupthaushalt. Bei einem alleinstehenden Arbeitnehmer ist entscheidend, dass er sich in dem Haushalt, im Wesentlichen nur unterbrochen durch die arbeits- und urlaubsbedingte Abwesenheit, aufhält; denn allein das Vorhalten einer Wohnung für gelegentliche Besuche oder für Ferienaufenthalte ist noch nicht als Unterhalten eines Hausstands zu bewerten. Ebenfalls wird ein eigener Hausstand nicht unterhalten, wenn der nicht verheiratete Arbeitnehmer als nicht die Haushaltsführung wesentlich bestimmender bzw. mitbestimmender Teil in einen Hausstand eingegliedert ist, wie es regelmäßig bei jungen Arbeitnehmern der Fall ist, die nach Beendigung der Ausbildung weiterhin —wenn auch gegen Kostenbeteiligung— im elterlichen Haushalt ihr Zimmer bewohnen. Die elterliche Wohnung kann in einem dieser häufigen Fälle zwar, auch wenn das Kind am Beschäftigungsort eine Unterkunft bezogen hat, wie bisher der Mittelpunkt seiner Lebensinteressen sein, sie ist aber nicht ein von dem Kind unterhaltener eigener Hausstand (BFH-Urteil vom 5. Oktober 1994 VI R 62/90 , BFHE 175, 430 , BStBl II 1995, 180). Bei älteren, wirtschaftlich selbständigen, berufstätigen Kindern, die mit ihren Eltern oder einem Elternteil in einem gemeinsamen Haushalt leben, ist hingegen davon auszugehen, dass sie die Führung des Haushalts maßgeblich mitbestimmen, so dass ihnen dieser Hausstand als „eigener” zugerechnet werden kann. Diese Regelvermutung gilt insbesondere, wenn die Wohnung am Beschäftigungsort dem Arbeitnehmer im Wesentlichen nur als Schlafstätte dient. Denn dort ist regelmäßig weder der Haupthausstand noch der Mittelpunkt der Lebensinteressen des Steuerpflichtigen zu verorten. Entspricht die Wohnsituation am Heimatort der Wohnung am Beschäftigungsort in Größe und Ausstattung oder übertrifft sie diese, ist dies vielmehr ein wesentliches Indiz dafür, dass der Mittelpunkt der Lebensführung nicht an den Beschäftigungsort verlegt worden ist, sondern der Haupthausstand dort fortgeführt wird (vgl. BFH-Urteil in BFHE 175, 430 , BStBl II 1995, 180). Dies gilt umso mehr, wenn der Steuerpflichtige dort sein Privatleben führt, weil zum Heimatort die engeren persönlichen Beziehungen bestehen, beispielsweise wegen der —mit steigender Lebenserwartung immer häufiger— alten, betreuungs- oder sogar pflegebedürftigen Eltern (BFH-Urteile in BFHE 175, 430 , BStBl II 1995, 180; vom 9. August 2007 VI R 10/06, BFHE 218, 380 , BStBl II 2007, 820).

10  b) Der Umstand, dass der Arbeitnehmer dabei am Heimatort nicht über eine abgeschlossene Wohnung verfügt, steht dieser Vermutung nicht entgegen. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH können die durch das Leben am Beschäftigungsort zusätzlich entstehenden notwendigen Aufwendungen grundsätzlich auch dann zu Werbungskosten führen, wenn die Wohnverhältnisse des Steuerpflichtigen am Ort seines Lebensmittelpunktes vergleichsweise einfach oder beengt sein sollten (BFH-Urteil vom 14. Oktober 2004 VI R 82/02 , BFHE 207, 292 , BStBl II 2005, 98, m.w.N.). Insbesondere müssen die dem Arbeitnehmer zur ausschließlichen Nutzung überlassenen Räumlichkeiten nicht den bewertungsrechtlichen Anforderungen an eine Wohnung gerecht werden (BFH-Urteil in BFHE 207, 292 , BStBl II 2005, 98). Der Senat hat es in dieser Entscheidung auch für unerheblich angesehen, dass sich der Arbeitnehmer in der ihm von seinen Eltern überlassenen Wohnung die Sanitäreinrichtung mit seiner Schwester teilen musste, weil ihm die übrigen Räumlichkeiten eine eigenständige Haushaltsführung ermöglichten (vgl. auch BFH-Urteil vom 15. Dezember 2005 III R 27/05 , BFHE 212, 376 , BStBl II 2006, 561, m.w.N.). Entsprechendes gilt, wenn dem Arbeitnehmer die Küche nicht zur alleinigen Verfügung steht (BFH-Urteil vom 30. Juli 2009 VI R 13/08 , BFH/NV 2009, 1986 ). Deshalb kann ein eigener Hausstand auch dann unterhalten werden, wenn der Erst- oder Haupthausstand gemeinsam mit den Eltern oder einem Elternteil geführt wird (Senatsurteil vom 26. Juli 2012 VI R 10/12, zur amtlichen Veröffentlichung bestimmt, BFH/NV 2013, 112 ).

11  c) Auch bedarf es der Übernahme einer besonderen finanziellen Verantwortung für den (gemeinsamen) Hausstand durch die gleichmäßige Beteiligung an den laufenden Haushalts- und Lebenshaltungskosten durch den Steuerpflichtigen nicht. Denn eine finanzielle Beteiligung, aus der auf eine gemeinsame Haushaltsführung von Eltern und Kindern geschlossen werden kann, kann auch vorliegen, wenn etwa eine Aufteilung nach laufenden und einmaligen Kosten oder nach gewöhnlichem und außergewöhnlichem Aufwand vorgenommen wird. Im Übrigen ist dem Merkmal der Entgeltlichkeit lediglich —eine gewichtige— Indizfunktion beizumessen. Denn die Entgeltlichkeit ist keine unerlässliche Voraussetzung (conditio sine qua non) einer steuererheblichen doppelten Haushaltsführung. Dies gilt sowohl für die Überlassung der Wohnung selbst als auch für die Kostentragung im Übrigen. Es ist deshalb nicht ausgeschlossen, dass ein alleinstehender Steuerpflichtiger auch dann einen eigenen Haushalt unterhält, wenn nicht er selbst, sondern Dritte für diese Kosten aufkommen. Denn eine eigene Haushaltsführung des auswärts Beschäftigten ist nicht zwingend ausgeschlossen, wenn sich dessen finanzielle Beteiligung am Haushalt nicht feststellen lässt, wie auch umgekehrt aus einem finanziellen Beitrag allein nicht zwingend auf das Unterhalten eines eigenen Haushalts zu schließen ist (Senatsurteile vom 28. März 2012 VI R 87/10 , BFHE 236, 553 , BStBl II 2012, 800, und in BFH/NV 2013, 112 ).

12  2. Die Entscheidung des FG entspricht diesen Grundsätzen nicht. Denn die Vorinstanz hat zum einen die gleichmäßige Beteiligung von Eltern und Kindern an den laufenden Haushalts- und Lebenshaltungskosten zu einer unverzichtbaren Voraussetzung für eine doppelte Haushaltsführung im Rahmen eines Mehrgenerationenhaushalts erhoben. Zum anderen hat das FG verkannt, dass bei einem erwachsenen, wirtschaftlich selbständigen Kind —wie dem Kläger, ein im Streitjahr 43 Jahre alter promovierter Diplomchemiker— regelmäßig vermutet werden kann, dass es nicht als Gast in den elterlichen Haushalt eingegliedert ist, sondern jedenfalls dann, wenn es dort lediglich unterbrochen durch Arbeits- und Urlaubsaufenthalte gemeinsam mit den Eltern oder einem Elternteil wohnt und deshalb dort der Mittelpunkt der Lebensinteressen zu verorten ist, auch die gemeinsame Haushaltsführung wesentlich mitbestimmt. Schließlich hat die Vorinstanz im Streitfall auch nicht alle maßgeblichen Umstände in ihre Überzeugungsbildung einbezogen. Denn es hat weder die Wohnsituationen am Heimat- wie Beschäftigungsort in den Blick genommen noch gegeneinander abgewogen. Dies stellt einen materiell-rechtlichen Fehler dar. Auch deshalb bindet die Würdigung des FG, der Kläger habe keinen steuererheblichen doppelten Haushalt geführt, den Senat gemäß § 118 Abs. 2 FGO nicht.

13  3. Die Sache ist nicht entscheidungsreif. Das FG wird daher im zweiten Rechtsgang unter Beachtung der vorgenannten Rechtsgrundsätze entsprechende weitere Feststellungen zu dem behaupteten Haupthausstand, insbesondere zu den Wohnsituationen des Klägers am Heimat- wie Beschäftigungsort zu treffen haben. Sollte es dabei zu der Erkenntnis gelangen, dass der Kläger am Beschäftigungsort nur über eine kleine bescheidene Unterkunft (Schlafstätte) verfügt —wofür die geltend gemachten Unterkunftskosten von weniger als 200 € monatlich sprechen— und am Heimatort bei seiner Mutter zwei Zimmer und ein Badezimmer alleine nutzt, liegt es nahe, aufgrund des Alters des Klägers und seiner wirtschaftlichen Unabhängigkeit sowie dem Umstand, dass der Lebensmittelpunkt von den Beteiligten unstreitig am Heimatort verortet wird, vom Vorliegen einer doppelten Haushaltsführung i.S. des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 EStG auszugehen. Demgegenüber kommt es nicht darauf an, ob der Kläger sich an den laufenden Haushaltskosten (beispielsweise für Wasser, Strom und Gas) beteiligt hat. Im Übrigen spricht das Vorbringen des Klägers, der behauptete gemeinsame Haushalt sei —abredegemäß— dergestalt finanziert worden, dass seine Mutter die laufenden Haushaltskosten und er die einmaligen hohen Kosten (beispielsweise für Instandhaltungsmaßnahmen, Schönheitsreparaturen, Gartenpflege u.Ä.) übernommen habe, ohnehin gegen eine unentgeltliche Überlassung der vom Kläger zu Wohnzwecken genutzten Räumlichkeiten.

14  4. Der Senat muss nicht entscheiden, ob dem FG die von dem Kläger gerügten Verfahrensfehler unterlaufen sind. Der Kläger hat seine Revision auch auf die Verletzung materiellen Rechts gestützt. In einem solchen Fall muss der BFH das angefochtene Urteil in vollem Umfang auf die Verletzung revisiblen Rechts prüfen, ohne dabei an die vorgebrachten Revisionsgründe gebunden zu sein (Senatsurteil vom 21. Januar 2010 VI R 51/08, BFHE 228, 85 , BStBl II 2010, 700; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung , 7. Aufl., § 118 Rz 73). Da die Revision aus anderen Gründen zur Aufhebung der Vorentscheidung führt, muss der Senat nicht noch darüber entscheiden, ob der Kläger auch infolge eines Verfahrensfehlers in seinen Rechten verletzt ist.

Bundestag debattiert über deutsch-schweizerisches Steuerabkommen

Das bisher nicht zu Stande gekommene deutsch-schweizerische Steuerabkommen beschäftigt die Abgeordneten des Deutschen Bundestages. Unter der Überschrift „Große Vermögen durch Neuverhandlung des deutsch-schweizerischen Steuerabkommens sowie durch eine Vermögensabgabe heranziehen“ werden die Abgeordneten am Nachmittag des 24.04.2013 in einer Aktuellen Stunde über deutsche Auslandsvermögen debattieren. Die Aktuelle Stunde findet auf Verlangen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen statt.

Quelle: Deutscher Bundestag