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Gutschriften auf einem Zeitwertkonto auch bei beherrschendem Gesellschafter-Geschäftsführer kein Zufluss von Arbeitslohn

Dies hat der 12. Senat des Finanzgerichts Münster mit Urteil vom 13. März 2013 (Az. 12 K 3812/10 E) entschieden. Die Klägerin, eine GmbH, möchte ihren Arbeitnehmern flexible Arbeitszeitmodelle anbieten, bei denen in der ersten Phase ein Teil des Gehalts nicht ausbezahlt wird. Stattdessen soll die Mehrarbeitszeit auf einem Zeitwertkonto gutgeschrieben werden. In der zweiten Phase sollen die teilnehmenden Arbeitnehmer von der Arbeit unter Fortzahlung der Bezüge freigestellt werden.

Das Finanzamt erteilte der Klägerin auf Antrag eine Anrufungsauskunft (§ 42e EStG) des Inhalts, dass Gutschriften auf den Zeitwertkonten nicht zum Lohnzufluss führen. Entgegen des Antrags versah es die Auskunft allerdings mit der Einschränkung, dass dies nicht für die beherrschenden Gesellschafter-Geschäftsführer gelte. Die Klägerin begehrt demgegenüber die Erteilung der Auskunft ohne diese Einschränkung.

Das Gericht gab der Klage statt. Gutschriften auf einem Zeitwertkonto führten bei den Arbeitnehmern erst in der Freistellungsphase zu einem Lohnzufluss, da sie erst dann über die entsprechenden Beträge wirtschaftlich verfügen könnten. Dies gelte auch für die Geschäftsführer. Sie hätten es zwar aufgrund ihrer Stellung in der Hand, sich fällige Beträge auszahlen zu lassen. Der beabsichtigte Abschluss der zivilrechtlich wirksamen Vereinbarungen über das Arbeitszeitmodell führe gerade dazu, dass die Fälligkeit hinausgeschoben werde.

Das Revisionsverfahren ist beim Bundesfinanzhof unter dem Aktenzeichen VI R 23/12 anhängig.

Quelle: FG Münster, Mitteilung vom 15.05.2013 aus Newsletter 05/2013 zum Urteil 12 K 3812/10 E vom 13.03.2013

Keine Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit von § 15b EStG

Der 5. Senat des Finanzgerichts Münster hat mit Urteil vom 10. Januar 2013 (Az. 5 K 4513/09 E) entschieden, dass ein Verlustfeststellungsbescheid nach § 15b Abs. 4 EStG Grundlagenbescheid für den Einkommensteuerbescheid desselben Jahres ist und dass § 15b EStG nicht gegen das Grundgesetz verstößt.

Die Kläger erwarben eine Kapitalanlage, die mit einem Fest- und einem Bonuszins ausgestattet war und finanzierten den Anlagebetrag in voller Höhe bei der ausgebenden Bank. Die Möglichkeit der Finanzierung hatte die Bank zuvor in ihrem Prospekt, in dem die Funktionsweise der Anlage beschrieben wird, dargestellt. Da im Anlagejahr 2006 bereits Darlehenszinsen, aber noch keine Guthabenzinsen anfielen, erlitten die Kläger einen Verlust, den sie steuerlich geltend machten. Das beklagte Finanzamt erkannte den Verlust im Einkommensteuerbescheid nicht an und erließ daneben einen Bescheid über die gesonderte Feststellung des Verlustvortrags nach § 20 Abs. 2b (jetzt Abs. 7) i. V. m. § 15b Abs. 4 EStG.

Die allein gegen den Einkommensteuerbescheid erhobene Klage, mit der die Kläger insbesondere die Verfassungswidrigkeit des § 15b EStG geltend machten, hatte keinen Erfolg. Das Finanzamt sei an den bestandskräftigen Verlustfeststellungsbescheid gebunden, der auch für die Höhe des ausgleichsfähigen Verlustes des laufenden Jahres bindende Regelungen enthalte. Dies folge daraus, dass die Norm der Regelung in § 15a EStG nachgebildet sei, für die diese Frage bereits durch den Bundesfinanzhof geklärt sei.

§ 15b EStG sei auch nicht verfassungswidrig. Die Regelung sei hinreichend bestimmt, da sie mit den herkömmlichen juristischen Methoden ausgelegt werden könne. Auf das Rückwirkungsverbot könnten sich die Kläger nicht berufen, da sie die Verträge über die Kapitalanlage erst nach Veröffentlichung des Regierungsentwurfs zur Einführung des § 15b EStG am 25.09.2006 abgeschlossen hätten. Die Vorschrift sei schließlich auch mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar. Da der Verlustabzug nicht vollständig versagt, sondern nur zeitlich gestreckt ermöglicht werde, sei das objektive Nettoprinzip gewahrt.

In derselben Entscheidung hat der Senat auch zu der Frage Stellung genommen, ob Stillhalterprämien und Darlehenszinsen, die im Rahmen eines Börsengangs durch einen Gesellschafter gezahlt werden, als Kosten der späteren Aktienveräußerung abzugsfähig sind.

Die Revision ist beim Bundesfinanzhof unter dem Aktenzeichen I R 26/13 anhängig.

Quelle: FG Münster, Mitteilung vom 15.05.2013 aus Newsletter 05/2013 zum Urteil 5 K 4513/09 E vom 10.01.2013

Keine Aussetzung der Vollziehung trotz ernstlicher Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Zinsschranke

Der 9. Senat des Finanzgerichts Münster hat in einem heute veröffentlichten Beschluss vom 29. April 2013 (9 V 2400/12 K) ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der sog. Zinsschranke (§ 4h EStG i.V.m. § 8 Abs. 1, § 8a Abs. 1 KStG) geäußert. Die Zinsschranke begrenzt die Möglichkeit von Unternehmen, Zinsaufwendungen als Betriebsausgaben abzuziehen. Die Beschränkung betrifft Unternehmen, deren Zinsaufwendungen 3 Mio. EUR übersteigen. Zinsen sind danach – von Ausnahmen abgesehen – grundsätzlich nur in Höhe von 30% des um Zinsaufwendungen und bestimmte Abschreibungen erhöhten Einkommens abziehbar. Verbleibende, nicht abziehbare Aufwendungen können lediglich in die folgenden Wirtschaftsjahre vorgetragen werden. Die Zinsschranke bewirkt daher, dass Zinsaufwendungen teilweise nicht in dem Jahr als Betriebsausgaben steuermindernd berücksichtigt werden, in dem sie angefallen sind.

Im Streitfall führte die Anwendung der Zinsschranke dazu, dass die Antragstellerin – eine GmbH – von den im Jahr 2008 angefallenen Zinsen in Höhe von rund 9,6 Mio. EUR im Jahr 2008 lediglich 3,3 Mio. EUR als Betriebsausgaben abziehen und die weiteren etwa 6,3 Mio. EUR lediglich in die Folgejahre vortragen konnte. Die Antragstellerin hält die Regelung zur Zinsschranke für verfassungswidrig und begehrte daher im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens die Aussetzung der Vollziehung des Körperschaftsteuerbescheides 2008. Sie wies darauf hin, dass sie durch die Anwendung der Zinsschranke in Höhe von ca. 600.000 EUR belastet sei.

Der 9. Senat hat ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Zinsschranke. Mit der Zinsschranke sei der Gesetzgeber von seiner Grundentscheidung abgewichen, dass Betriebsausgaben in dem Jahr abziehbar sind, in dem sie anfallen und den Steuerpflichtigen belasten. Die Zinsschranke, die insbesondere eingeführt worden sei, um missbräuchliche konzerninterne Gewinnverlagerungen zu verhindern, gehe allerdings in ihrer Wirkung weit über die Fälle missbräuchlicher Gestaltungen hinaus. Sie führe auch im Bereich üblicher Fremdfinanzierungen zu erheblichen Belastungswirkungen bzw. einer Substanzbesteuerung, die besonders die Situation insolvenzbedrohter Unternehmen verschlechtern könne. Es sei zweifelhaft, ob die gesetzliche Beschränkung des Betriebsausgabenabzuges dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 GG) und dem verfassungsrechtlichen Gebot der Verhältnismäßigkeit entspreche.

Trotz der erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken sah sich der 9. Senat allerdings nicht in der Lage, dem Aussetzungsantrag der Antragstellerin zu entsprechen. Bei ernsthaften Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit einer dem Verwaltungsakt zugrundeliegenden Rechtsnorm komme – so der 9. Senat – vorläufiger Rechtsschutz in Form einer Aussetzung nur nach Abwägung des individuellen Aussetzungsinteresses gegen das öffentliche Vollziehungsinteresse in Betracht. Im Streitfall lasse sich kein gegenüber dem öffentlichen Interesse an dem Gesetzesvollzug überwiegendes besonderes Aussetzungsinteresse der Antragstellerin – insbesondere eine durch die Zinsschranke begründete Existenzgefährdung – feststellen. Der Senat folgt damit – umfassend begründet – der von der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes bisher noch überwiegend vertretenen einschränkenden Auslegung des § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO.

Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache hat das Gericht die Beschwerde zum Bundesfinanzhof zugelassen. Neben der Frage der Verfassungsmäßigkeit der Zinsschranke sieht der Senat ausdrücklich auch die Klärung der Frage, nach welchen Maßstäben eine Aussetzung der Vollziehung zu gewähren ist, wenn die Verfassungswidrigkeit einer Norm gerügt wird, als grundsätzlich bedeutsam an.
 

Finanzgericht Münster, 9 V 2400/12 K

Datum:
29.04.2013
Gericht:
Finanzgericht Münster
Spruchkörper:
9. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
9 V 2400/12 K
Sachgebiet:
Finanz- und Abgaberecht
Tenor:

Der Antrag wird abgelehnt.

Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Die Beschwerde wird zugelassen.

1Gründe:

2I.

3Streitig ist, ob Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des § 4h des Einkommensteuergesetzes (EStG) i.V.m. § 8 Abs. 1, § 8a des Körperschaftsteuergesetzes (KStG) in den für das Streitjahr geltenden Fassungen – sog. Zinsschranke – eine Aussetzung der Vollziehung (AdV) des gegenüber der Antragstellerin ergangenen Körperschaftsteuerbescheides 2008 rechtfertigen.

4Die Antragstellerin ist eine GmbH, deren Stammkapital Mitte des Jahres 2007 aus Gesellschaftsmitteln (Kapital- und Gewinnrücklagen) um 20 Mio. € auf 50 Mio. € erhöht wurde. Gesellschafter der Antragstellerin waren zu diesem Zeitpunkt und im Streitjahr 2008 die X….. Finanzbeteiligungs-GmbH & Co KG zu 50 %, A….. X….. zu 20 % (bzw. unter Berücksichtigung von Nießbrauchsrechten zu 30 %) und dessen Kinder B….. X….. und C….. X….. zu jeweils 15 % (bzw. unter Berücksichtigung von Nießbrauchsrechten zu jeweils 10 %). A….. X….. war außerdem Ende des Streitjahres 2008 unmittelbar zu 94 % und mittelbar (über die X….. Beteiligungs GmbH) zu 6 % an der X….. Finanzierungsbeteiligungs-GmbH & CO KG beteiligt.

5Gegenstand des Unternehmens der Antragstellerin ist der……………….. Dabei ist die Antragstellerin besonders stark von der Entwicklung in der Y…..branche abhängig. Die Betriebsgrundstücke und weitgehend auch die Betriebsgebäude wurden von einer weiteren zum Konzern gehörenden Gesellschaft, der X….. GmbH & Co KG, angepachtet. Am 31.12.2008 hielt die Antragstellerin 99%-ige bzw. 100%-ige Beteiligungen an dreizehn Tochtergesellschaften im Ausland.

6In ihren Jahresabschlüssen zum 31.12.2007 und 31.12.2008 wies die Antragstellerin u.a. die nachfolgenden Positionen aus (hier alle Beträge auf T€ gerundet):

7

31.12.2007

– T€ –

31.12.2008

– T€ –

Bilanzsumme
Eigenkapital

— Gezeichnetes Kapital

— Genussrechtskapital

— Bilanzgewinn

Verbindlichkeiten ggü. Kreditinstituten
Verbindlichkeiten ggü. verbundenen Unternehmen
Verbindlichkeiten ggü. Unternehmen, mit denen ein

Beteiligungsverhältnis besteht

Umsätze
Jahresüberschuss
Sonstige Zinsen und ähnliche Erträge

(davon aus verbundenen Unternehmen)

Zinsen und ähnliche Aufwendungen

(davon an verbundene Unternehmen)

Vergütung für Genussrechtskapital

8Das Genussrechtskapital betrifft fünf Genussrechtsvereinbarungen aus dem Jahr 2007 im Nennbetrag von jeweils 3 Mio. € zwischen der Antragstellerin und der X….. GmbH & Co KG (vgl. Prüfungsbericht zum Jahresabschluss 31.12.2008, S. 45 und Anlage 3/4).

9Die Bankverbindlichkeiten zum 31.12.2008 beruhten u.a. auf einem Schuldscheindarlehen der Landesbank Baden-Württemberg über 20 Mio. € und einem Konsortialkreditvertrag über einen Rahmenkredit i.H.v. 50 Mio. €, der zum 31.12.2008 i.H.v. rd. 47,4 Mio. € in Anspruch genommen worden war. Bei Nichteinhaltung bestimmter Finanzkennzahlen sollte eine Absicherung in nomineller Höhe von 26 Mio. € auf dem Grundvermögen der X….. GmbH & Co KG erfolgen (Prüfungsbericht zum Jahresabschluss 31.12.2008, S. 20).

10Die Antragstellerin erklärte in ihrer Körperschaftsteuererklärung 2008 einen Gesamtbe-trag der Einkünfte und ein zu versteuerndes Einkommen i.H.v. ./. 1.792.360 €. Darin enthalten waren nach ihren Angaben Zinsaufwendungen i.S. des § 4h Abs. 3 Satz 2 EStG i.H.v. 9.324.378 €, von denen sie 2.264.561 € als abziehbar und 7.059.817 € als nicht abzugsfähig ansah. Unter dem Vorbehalt der Nachprüfung setzte der Antragsgeg-ner (das Finanzamt – FA –) dementsprechend die Körperschaftsteuer 2008 mit 0 € fest und stellteeinen verbleibenden Zinsvortrag nach § 8a Abs. 1 KStG i.V.m. § 4h EStG i.H.v. 7.059.817 € fest (Bescheid vom 08.03.2010).

11Nachfolgend führte das Finanzamt für Groß- und Konzernbetriebsprüfung Herne bei der Antragstellerin eine Betriebsprüfung für die Jahre 2006 bis 2009 durch. Unter Tz. 2.11.2 i.V.m. Anlage 8 des Betriebsprüfungsberichts vom 08.12.2011 (Bp-Bericht), auf den wegen der weiteren Einzelheiten Bezug genommen wird, ermittelten die Prüfer das zu versteuernde Einkommen der Antragstellerin für das Streitjahr 2008 – hier verkürzt dargestellt – wie folgt:

12

Einkünfte der Antragstellerin zzgl. Einkommen

der Organgesellschaft vor Einschränkung

des Zinsabzugs

+ nicht abziehbarer Zinsaufwand gem. § 4h EStG

(6.307.311 € von insgesamt 9.599.378 € Zinsaufwand)

./. abziehbare Zuwendungen
./. Verlustrücktrag aus 2009

54.416.486 €, max. gem. § 10d EStG

zu versteuerndes Einkommen 2008

13Für das Folgejahr 2009 ermittelten die Prüfer folgende Werte (lt. Anlage 8 des Bp-Berichts, die von dessen Tz. 2.11.2 abweicht):

14

Einkünfte der Antragstellerin zzgl. Einkommen

von Organgesellschaften vor Einschränkung

des Zinsabzugs

+ nicht abziehbarer Zinsaufwand gem. § 4h EStG

(6.486.923 € von insgesamt 8.865.302 € Zinsaufwand)

./. abziehbare Zuwendungen
zu versteuerndes Einkommen 2008

15Den Gewerbesteuermessbetrag 2008 berechneten die Prüfer mit 79.033 € (unter Ansatz u.a. von Entgelten für Schulden i.H.v. 3.252.999 €, hinzugerechnet – nach Abzug des u.a. hierauf entfallenden Freibetrags – gem. § 8 Nr. 1 des Gewerbesteuergesetzes – GewStG – mit 1/4), den Gewerbesteuermessbetrag 2009 mit 0 €.

16Das FA folgte bezüglich der hier streitigen Körperschaftsteuer 2008 den Feststellungen der Prüfer und erließ gestützt auf § 164 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO) am 10.04.2012 u.a. einen geänderten Bescheid, in dem es die Körperschaftsteuer 2008 mit 11.631 € festsetzte, wodurch sich eine Zahllast in derselben Höhe ergab. Außerdem stellte es gleichzeitig den verbleibenden Zinsvortrag nach § 8a Abs. 1 KStG i.V.m. § 4h EStG mit 6.307.311 € fest. In dem ebenfalls geänderten Körperschaftsteuerbescheid 2007 vom 10.04.2012 setzte das FA die Körperschaftsteuer 2007 nunmehr u.a. ohne Berücksichtigung eines Verlustrücktrags aus dem Jahr 2008 auf 404.960 € fest.

17Die Antragstellerin legte gegen die Körperschaftsteuerbescheid 2008 und 2009, die Gewerbesteuermessbescheide 2008 und 2009 und (sinngemäß) gegen die Bescheide über gesonderte Feststellung von Besteuerungsgrundlagen gem. §§ 27 ff. KStG Einspruch ein und machte geltend, die Zinsschranke i.S. des § 4h EStG sei verfassungswidrig. Gleichzeitig beantragte sie u.a. die AdV des Körperschaftsteuerbescheides 2008, des Gewerbesteuermessbescheides 2008 und – wegen des weggefallenen Verlustrücktrags – auch des Körperschaftsteuerbescheides 2007. Auf den Wortlaut des Einspruchsschreibens vom 07.05.2012, eingegangen beim FA am 09.05.2012, wird Bezug genommen. Mit Bescheiden vom 01.06.2012 lehnte das FA die AdV der angefochtenen Bescheide ab. Den nachfolgenden Einspruch sah das FA als unzulässig an und lehnte den nach seiner Auffassung erneuten Aussetzungsantrag mit Bescheid vom 09.07.2012 wiederum ab. Den Antrag auf AdV des Körperschaftsteuerbescheides 2007 lehnte das FA mit gesondertem Bescheid vom 28.06.2012 und mit dem Hinweis ab, es fehle an einem angefochtenen Bescheid, weil die Einsprüche sich lediglich gegen die Körperschaftsteuerbescheide 2008 und 2009 richteten.

18Die Antragstellerin hat daraufhin bei Gericht einen Antrag auf AdV des angefochtenen Körperschaftsteuerbescheides 2008 i.H.v. 11.631 € gestellt. Zur Begründung trägt sie vor, der Bundesfinanzhof (BFH) äußere in seinem Beschluss vom 13.03.2012 I B 111/11 (BStBl II 2012, 611) ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des § 8a Abs. 2 Alternative 3 KStG und lasse dort offen, ob die Zinsschranke insgesamt verfassungsrechtlichen Bedenken begegne. Das FG Berlin-Brandenburg habe in seiner Entscheidung vom 13.10.2011 ebenfalls erhebliche verfassungsrechtliche Zweifel dargelegt, ohne diese auf die in § 8a KStG enthaltenen Rückausnahmen zu beschränken. Die entscheidenden Aussagen des BFH-Beschlusses beträfen nicht nur die Rückausnahmen, sondern generell die Anwendung der Zinsschranke. Diese durchbreche das Nettoprinzip, d.h. die Abziehbarkeit von Betriebsausgaben, beinhalte einen überschießenden Anwendungsbereich und führe gerade im Bereich üblicher Fremdfinanzierungen zu unverhältnismäßigen Belastungswirkungen, durch die sich insbesondere die Situation insolvenzbedrohter Unternehmen weiter verschlechtere. Dem FA sei die (sinngemäß) schwierige Lage der Antragstellerin in den Folgejahren bekannt; auf die hohen persönlichen Bürgschaften des Hauptgesellschafters und auf ergänzende Landesbürgschaften werde hingewiesen. Der Unterschied zwischen dem vorliegenden Streitfall zu dem Fall, der Gegenstand des BFH-Beschlusses gewesen sei, bestehe allein darin, dass die Antragstellerin Mutterunternehmen eines Konzerns sei. Es sei nicht erkennbar, dass dieser Sachverhalt zu der Annahme führen könne, dass inländisches Steuersubstrat gefährdet würde und missbräuchliche Steuergestaltungen gewählt würden, welche die Anwendung der Zinsschranke rechtfertigen könnten.

19Auf das gerichtliche Hinweisschreiben der Berichterstatterin vom 10.10.2012, auf das wegen der weiteren Einzelheiten verwiesen wird, hat die Antragstellerin ihr Vorbringen ergänzt. Sie geht davon aus, dass der Wortlaut der gesetzlichen Regelung zur Anwendung der Zinsschranke nach § 4h Abs. 1 EStG führen würde und dass ein Ausnahmetatbestand nicht vorliege. Die Verfassungswidrigkeit der Zinsschranke folge aus dem krassen Verstoß gegen das verfassungsrechtlich gebotene Nettoprinzip bei der Besteuerung. Die Zinsschranke möge eingeführt worden sein, um missbräuchliche Gestaltungen zu verhindern, die auf eine Minimierung der Besteuerung für Eigenkapital bzw. eigenkapitalähnliche Mittel abstelle. Ein solcher Missbrauch liege im Streitfall jedoch nicht vor. Vielmehr handele es sich bei der Antragstellerin um ein inhabergeführtes international bedeutendes Familienunternehmen mit globalen Produktions- und Vertriebsaktivitäten. Aufgrund des starken Wachstums und einer mäßigen Ertragssituation habe lediglich eine Eigenkapitalquote im Konzern von 20 % dargestellt werden können und zur Finanzierung in erheblichem Umfang auf Bankkredite zurückgegriffen werden müssen. Alternative Finanzierungen wären nur durch die Aufnahme fremder Gesellschafter möglich gewesen, was jedoch nicht der Unternehmensphilosophie entsprochen habe. Erst im Jahr 2012 sei ein chinesischer Gesellschafter einbezogen worden. Die Zinsschranke benachteilige deshalb insbesondere leistungsfähige und große mittel-ständische Familienunternehmen, die eben auch Muttergesellschaft eines Konzerns sein könnten und einen Zinssaldo von mehr als 3 Mio. € auswiesen. Die finanzielle Bedeutung des Aussetzungsantrags für die Antragstellerin ergebe sich nicht allein aus der Zahllast aufgrund des geänderten Körperschaftsteuerbescheides 2008. Zu berücksichtigen seien auch die Auswirkungen im Rahmen des Verlustrücktrags und auf die Gewerbesteuer 2008 (393.299,47 € einschließlich Nachforderungszinsen), die zur Zeit gestundet sei. Insgesamt handele es sich damit um einen Betrag von nahezu 600.000 €.

20Die Antragstellerin beantragt,

21die Vollziehung des Körperschaftsteuerbescheides 2008 vom 10.04.2012 ab Fälligkeit bis einen Monat nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung i.H.v. 11.631 € auszusetzen,

22hilfsweise, die Beschwerde zuzulassen.

23Das FA beantragt,

24              den Antrag abzulehnen.

25Die BFH-Entscheidung I B 111/11 betreffe die Anwendung der Zinsschranke aufgrund des § 4h Abs. 2 Satz 1 Buchstabe b EStG i.V.m. § 8a Abs. 2 Alternative 3 KStG. Im Streitfall beruhe die Anwendung der Zinsschranke jedoch nicht auf den vorgenannten Normen, sondern auf § 4h Abs. 1 EStG, weil die Antragstellerin Muttergesellschaft eines Konzerns sei. Im Übrigen sei die Gefährdung inländischen Steuersubstrats nach dem Gesetzeswortlaut keine Voraussetzung für die Anwendung der Zinsschranke. Eine AdV könne deshalb im Streitfall nicht gewährt werden.

26II.

27Der Antrag ist unbegründet. Eine AdV des Körperschaftsteuerbescheides 2008 ist trotz ernstlicher Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des § 4h EStG i.V.m. § 8 Abs. 1, § 8a Abs. 1 KStG und damit an der Rechtmäßigkeit des vorgenannten Bescheides aus Gründen des öffentlichen Interesses abzulehnen.

281. Nach § 69 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) soll die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsaktes ausgesetzt werden, wenn ernstliche Zweifel an dessen Rechtmäßigkeit bestehen oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Ernstliche Zweifel liegen vor, wenn neben für die Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige, gegen die Rechtmäßigkeit sprechende Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung von Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung von Tatfragen bewirken (ständige BFH-Rechtsprechung, z.B. BFH-Beschluss vom 11.12.2012 III B 89/12, BFH/NV 2013, 582). Eine AdV setzt nicht voraus, dass die gegen die Rechtmäßigkeit sprechenden Gründe überwiegen. Ist die Rechtslage nicht eindeutig, so ist im summarischen Verfahren nicht abschließend zu entscheiden, sondern im Regelfall die Vollziehung auszusetzen (BFH-Beschluss vom 13.03.2012 I B 111/11, BFHE 236, 501, BStBl II 2012, 611). Eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte liegt vor, wenn dem Steuerpflichtigen durch die Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes wirtschaftliche Nachteile drohen, die durch eine etwaige spätere Rückzahlung der eingezogenen Beträge nicht ausgeglichen werden oder nur schwer gutzumachen sind, oder wenn die Vollziehung zu einer Gefährdung seiner wirtschaftlichen Existenz führen würde (BFH-Beschluss vom 02.04.2009 II B 157/08, BFH/NV 2009, 1146). Bei Steuerbescheiden ist die Aussetzung und die Aufhebung der Vollziehung jedoch gem. § 69 Abs. 3 Satz 4 i.V.m. Abs. 2 Satz 8 FGO auf die festgesetzte Steuer, vermindert um die festgesetzten Vorauszahlungen beschränkt; dies gilt nicht, wenn die Aussetzung oder Aufhebung der Vollziehung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der Begriff der wesentlichen Nachteile i.S. des § 69 Abs. 2 Satz 8 FGO ist nach der BFH-Rechtsprechung im Sinne der Rechtsprechung zu § 114 FGO zu verstehen (BFH-Beschlüsse vom 23.04.2012 III B 183/11, BFH/NV 2012, 1173; vom 13.03.2012 I B 111/11, BFHE 236, 501, BStBl II 2012, 611). Wesentliche Nachteile sind danach dann gegeben, wenn durch die Vollziehung der angefochtenen Steuerbescheide die wirtschaftliche oder persönliche Existenz des Steuerpflichtigen unmittelbar und ausschließlich bedroht ist oder wenn ein unabweisbares Interesse die AdV gebietet, um eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung von Grundrechten zu vermeiden, die durch eine Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann; allein ein Überwiegen der Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache genügt nicht (BFH-Beschlüsse vom 11.12.2003 IX B 177/02, BFHE 204, 367, BStBl II 2004, 367; vom 13.03.2012 I B 111/11, BFHE 236, 501, BStBl II 2012, 611 m.w.N.).

292. An der Verfassungsmäßigkeit des § 4h EStG i.V.m. § 8 Abs. 1, § 8a Abs. 1 KStG bestehen ernstliche Zweifel und damit auch an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Körperschaftsteuerbescheides 2008.

30a) An die Zweifel hinsichtlich der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Steuerbescheides sind, wenn – wie hier – die Verfassungswidrigkeit von Normen geltend gemacht wird, keine strengeren Anforderungen zu stellen als im Fall der Geltendmachung fehlerhafter Rechtsanwendung (BFH-Beschluss vom 13.03.2012 I B 111/11, BFHE 236, 501, BStBl II 2012, 611).

31b) Hiervon ausgehend erscheint ernstlich zweifelhaft, ob das FA die von der Antragstellerin geltend gemachten Schuldzinsen gemäß § 8 Abs. 1, § 8a KStG i.V.m. § 4h Abs. 1 EStG (sog. Zinsschranke) zu Recht nur teilweise als Betriebsausgaben zum Abzug zugelassen hat.

32aa) Nach der in den vorgenannten Normen geregelten sog. Zinsschranke sind Zinsaufwendungen eines Betriebes nur in Höhe des verrechenbaren EBITDA, d.h. in Höhe von 30 % des um Zinsaufwendungen und bestimmte Abschreibungen erhöhten Einkommens abziehbar. Danach verbleibende nicht abziehbare Zinsaufwendungen sind in die folgenden Wirtschaftsjahre vorzutragen. Die vorgenannte Abzugsbeschränkung greift allerdings gem. § 4h Abs. 2 Satz 1 Buchst. a) bis c) EStG nicht, falls der Betrag der Zinsaufwendungen, soweit er den Betrag der Zinserträge übersteigt, weniger als 3 Mio. € beträgt, der Betrieb nicht oder nur anteilmäßig zu einem Konzern gehört oder der Betrieb zu einem Konzern gehört und seine Eigenkapitalquote (annähernd) gleich hoch oder höher ist als die des Konzerns (Eigenkapitalvergleich).

33Die Vorgaben des § 4h Abs. 1 EStG hat das FA in dem angefochtenen Körperschaftsteuerbescheid 2008 zutreffend umgesetzt. Die Voraussetzungen einer der Ausnahmen des § 4h Abs. 2 Buchst. a)-c) EStG liegen nicht vor, weil die Zinsaufwendungen die Zinserträge um mehr als 3 Mio. € übersteigen, die Antragstellerin Muttergesellschaft eines Konzerns ist und ihre Eigenkapitalquote nicht (annähernd) gleich hoch oder höher als die des Konzerns ist. § 8a KStG führt zu keinem anderen Ergebnis; in seinem Abs. 1 finden sich lediglich abweichende Definitionen und in seinen Abs. 2 und 3 Einschränkungen zu den Ausnahmen des § 4h Abs. 2 EStG. Die Anwendung der Zinsschranke ausgehend vom Wortlaut der vorgenannten Normen ist auch zwischen den Beteiligten unstreitig; im vorliegenden summarischen Verfahren bedarf es deshalb dazu weder weiterer Ausführungen noch über den Akteninhalt hinausgehender Überprüfungen (etwa zum Eigenkapitalvergleich).

34bb) Der Senat hat im Hinblick auf den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Zinsschranke.

35Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebietet dem Gesetzgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Im Bereich des Steuerrechts hat der Gesetzgeber bei der Auswahl des Steuergegenstandes und bei der Bestimmung des Steuersatzes einen weitreichenden Entscheidungsspielraum. Die grundsätzliche Freiheit des Gesetzgebers, diejenigen Sachverhalte zu bestimmen, an die das Gesetz dieselben Rechtsfolgen knüpft und die es so als rechtlich gleich qualifiziert, wird vor allem durch zwei eng miteinander verbundene Leitlinien begrenzt: durch das Gebot der Ausrichtung der Steuerlast am Prinzip der finanziellen Leistungsfähigkeit und durch das Gebot der Folgerichtigkeit. Danach muss im Interesse verfassungsrechtlich gebotener steuerlicher Lastengleichheit darauf abgezielt werden, Steuerpflichtige bei gleicher Leistungsfähigkeit auch gleich hoch zu besteuern. Bei der Ausgestaltung des steuerrechtlichen Ausgangstatbestands muss die einmal getroffene Belastungsentscheidung zudem folgerichtig im Sinne der Belastungsgleichheit umgesetzt werden. Ausnahmen von einer folgerichtigen Umsetzung bedürften eines besonderen sachlichen Grundes (vgl. zu den vorstehenden Grundsätzen BVerfG-Beschluss vom 12.10.2010 1 BvL 12/07, BVerfGE 127, 224, DStR 2010, 2393 m.w.N). Liegen gewichtige Gründe vor, kann der Gesetzgeber auch das objektive Nettoprinzip durchbrechen und sich dabei generalisierender, typisierender und pauschalierender Regelungen bedienen (BVerfG-Beschluss vom 12.05.2009 2 BvL 1/00, BVerfGE 123, 111). Die Missbrauchsbekämpfung ist als Rechtfertigungsgrund grundsätzlich anerkannt (Schenke in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 4h Rdnr. A 166).

36Mit den Regelungen zur sog. Zinsschranke (§ 8a KStG i.V.m. § 4h EStG) ist der Gesetzgeber von seiner Grundentscheidung abgewichen, dass Betriebsausgaben in dem Jahr abziehbar sein sollen, in dem sie angefallen sind und den Steuerpflichtigen belasten. Hierdurch will er die Abzugsfähigkeit von Zinsaufwendungen in Abhängigkeit vom Gewinn zur Sicherung inländischen Steuersubstrats sowie zur Vermeidung von missbräuchlichen Steuergestaltungen beschränken. Aufgrund der weiten Auslegung der unionsrechtlichen Marktfreiheiten durch den Europäischen Gerichtshof (bzw. jetzt den Gerichtshof der Europäischen Union – EuGH –) werden speziell grenzüberschreitend verbundene Unternehmen in die Lage versetzt, mittels Gesellschafterfremdfinanzierungen inländische Gewinne in das abkommensbegünstigte Ausland zu verlagern und andererseits ohnehin entstehenden Aufwand wie Zinsen gezielt im Inland anfallen zu lassen. Der Zweck der Zinsschranke, die steuerlichen Auswirkungen speziell konzerninterner Gestaltungen zur Gewinnverlagerung zu beschränken, kommt insbesondere durch die sog. Stand-alone-Klausel des § 4h Abs. 2 Satz 1 Buchst. b EStG zum Ausdruck, nach der Betriebe, die nicht oder nur anteilmäßig zu einem Konzern gehören, insoweit folgerichtig nicht von der Zinsschranke erfasst werden (vgl. zum Vorstehenden BFH-Beschluss vom 13.03.2012 I B 111/11, BFHE 236, 501, BStBl II 2012, 611 m.w.N.). Konzerninterne Gestaltungen zur Gewinnverlagerung sind allerdings nicht von vornherein auf Gesellschafterfremdfinanzierungen beschränkt. Auch über die Entscheidung, welche Konzerngesellschaft stärker mittels Eigenkapital und welche in erster Linie durch Fremdkapital finanziert wird, lässt sich beeinflussen, in welcher Gesellschaft vorrangig Gewinne anfallen sollen. An einer derartigen Gestaltung zu Lasten eines konzernangehörigen Betriebs fehlt es allerdings, wenn dessen Eigenkapitalquote höher oder zumindest annähernd gleich hoch ist wie die des Konzerns. Diesem Gesichtspunkt wollte der Gesetzgeber erkennbar durch die sog. Escape-Klausel in § 4h Abs. 2 Satz 1 Buchst. c EStG Rechnung tragen.

37Die Zinsschranke wird insbesondere unter Hinweis auf das sog. objektive Nettoprinzip im Schrifttum überwiegend als verfassungswidrig angesehen (s. z.B. Loschelder in Schmidt, EStG, 32. Aufl., § 4h Rz. 4 m.w.N.; Hick in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG § 4h EStG Anm. 6; Goebel/Eilinghoff, DStZ 2010, 550; einschränkend Frotscher in Frotscher, EStG, § 4h Rz. 8 ff.: Verfassungswidrigkeit nur bei Substanzbesteuerung; a.A. Neumann, Ubg 2009, 461; Heuermann, DStR 13, 1; Schenke in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 4h Rdnr. A 161-191). Zudem werden Verstöße gegen die Eigentumsgarantie gemäß Art. 14 GG, gegen das Gebot der Normenklarheit und gegen die europarechtliche Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfreiheit für möglich gehalten (vgl. z.B. Loschelder in Schmidt, EStG, 33. Aufl., § 4h Rz. 4; Goebel/Eilinghoff, DStZ 10, 550; zumindest teilweise a.A. Heuermann, DStR 13, 1; Schenke in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 4h Rdnr. A 193-224). Das FG Berlin-Brandenburg hat in seinem Beschluss vom 13.10.2011 12 V 12089/11 (EFG 2012, 358) erhebliche Zweifel daran geäußert, ob die Regelungen des § 4h EStG, § 8a KStG einer verfassungsrecht-lichen Prüfung standhalten (offen gelassen im BFH-Beschluss vom 13.03.2012 I B 111/11, BFHE 236, 501, BStBl II 2012, 611, m.w.N. zum Meinungsstand).

38Bei der im vorliegenden Verfahren lediglich gebotenen summarischen Prüfung geht der Senat davon aus, dass die Zinsschranke auch im Bereich üblicher Fremdfinanzierungen zu erheblichen Belastungswirkungen und einer Substanzbesteuerung führen kann und insbesondere die Situation insolvenzbedrohter Unternehmen hierdurch häufig weiter verschlechtern wird (vgl. z.B. Neumann, Ubg 2009, 461; Hick in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 4h EStG Anm. 5). Die Zinsschranke erfasst somit nicht nur missbräuchliche Gestaltungen, sondern geht weit darüber hinaus. Allein unter dem Gesichtspunkt der Missbrauchsabwehr hätte der Gesetzgeber den ihm zustehenden Typisierungsspielraum überschritten (Schenke in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 4h Rdnr. A 187). Allerdings sind in die verfassungsrechtliche Beurteilung nicht nur die Missbrauchsbekämpfung, sondern auch anderweitige Lenkungszwecke des Gesetzgebers einzubeziehen, wie etwa die längerfristige Sicherung des deutschen Steuersub-strats. Damit hat der Gesetzgeber nicht nur auf den (nicht in ausreichender Weiserechtfertigenden) Einnahmezweck, sondern auf einen in der Konzeption der Regelung angelegten „qualifizierten Fiskalzweck“ abgestellt (vgl. dazu Heuermann, DStR 2013, 1; Schenke in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 4h Rdnr. A 169, 178 f; vgl. allgemein zum „qualifizierten Fiskalzweck“ BFH-Urteil vom 22.08.2012 I R 9/11, BFHE 238, 419, BFH/NV 2013, 161), der nach Auffassung des erkennenden Senats grundsätzlich geeignet ist, eine Durchbrechung des objektiven Nettoprinzips zu rechtfertigen. Mittels der Beschränkung auf konzernangehörige Gesellschaften und der sog. Escape-Klausel (§ 4h Abs. 2 Satz 1 Buchst. b, c) hat der Gesetzgeber erkennbar versucht, die nachteiligen Folgen der Zinsschranke auf Finanzierungsgestaltungen zu begrenzen. Außerdem ergeben sich wegen der Möglichkeit, Zinsaufwendungen, die nicht abgezogen werden dürfen, in die folgenden Wirtschaftsjahre vorzutragen (Zinsvortrag gem. § 4h Abs. 1 Satz 2 EStG in der im Streitjahr gültigen Fassung), häufig nur temporäre und keine endgültigen Steuereffekte, so dass die dem Steuerpflichtigen nachteiligen Wirkungen der Zinsschranke verfassungsrechtlich weniger gewichtig sind (vgl. dazu allgemein BFH-Urteil vom 22.08.2012 I R 9/11, BFHE 238, 419, BFH/NV 2013, 161).

39Der erkennende Senat sieht es aber gleichwohl als ernstlich zweifelhaft an, ob dem verfassungsrechtlichen Gebot der Verhältnismäßigkeit (vgl. dazu allgemein Schenke in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 4h Rdnr. A 180) genügt worden ist. Zum einen ist der Toleranzrahmen der Escape-Klausel mit – nach der im Streitjahr gültigen Fassung – 1 % nicht nur knapp bemessen, sondern eine Überschreitung dieser Grenze führt zur Anwendung der Zinsschranke auf den gesamten Zinsaufwand (in einer Verlustsituation somit unter Umständen zur vollständigen Nichtabziehbarkeit sämtlicher Zinsaufwendungen), d.h. ohne Begrenzung auf maximal den (ggf. pauschaliert ermittelten) anteiligen Zinsaufwand, der auf die im Vergleich zum Konzern überhöhte Fremdfinanzierung entfällt (Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wegen einer gemessen an der Zielsetzung quantitativ überhöhten Einschränkung des Zinsaufwands für Fremddarlehen) und ohne Berücksichtigung der Frage, ob der Betrieb nur deshalb die Voraussetzungen der Escape-Klausel nicht erfüllt, weil der Konzern insgesamt über eine hohe Eigenkapitalquote verfügt (vgl. z.B. Lenz/Dörfler, DB 2010, 18, welche vorschlagen, den Zinsabzug auch von einem bestimmen Fremdkapital-/Eigenkapital-Verhältnis abhängig zu machen). Zum anderen gilt die Norm auch für reine Inlandssachverhalte, die aus fiskalischer Sicht völlig unverdächtig sind (vgl. Hey, BB 2007, 1303; a.A. Schenke in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 4h Rdnr. A 174) und die nach der jüngeren EuGH-Rechtsprechung möglicherweise nicht mehr zwingend einbezogen werden müssten, um eine ausgewogene Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse zwischen den Mitgliedstaaten zu erreichen (vgl. dazu Schenke in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 4h Rdnr. A 284, 219). Die Möglichkeit eines Zinsvortrags mindert zwar die Belastung der Steuerpflichtigen durch die Zinsschranke, genügt allein jedoch nicht, um diese als verfassungsrechtlich unbedenklich anzusehen (wohl ebenso BFH-Beschluss vom 13.03.2012 I B 111/11, BFHE 236, 501, BStBl II 2012, 611 zu § 8a Abs. 2 Alternative 3 KStG).

40cc) Die vorgenannten ernstlichen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des § 4h Abs. 1 EStG unter Berücksichtigung der Ausnahmen in Abs. 2 der Norm betreffen die Zinsschranke insgesamt. Im Übrigen würden die Bedenken des Senats vermutlich gerade auch bei der Besteuerung der Antragstellerin deutlich werden, wenngleich es aus den nachfolgend unter II.3 dargelegten Gründen vorliegend keiner summarischen Überprüfung/Ermittlung der dafür relevanten Eigenkapitalquoten bedarf. Ausgehend von den Angaben der Antragstellerin betrug die Eigenkapitalquote im Konzern lediglich 20 % und die Zinsaufwendungen beruhten weitestgehend auf Bankverbindlichkeiten. Falls dies zutreffend wäre, könnten die Finanzierungsentscheidungen im Konzern allenfalls insoweit einer unangemessenen Gewinnverlagerung gedient haben, als die Eigenkapitalquote der Antragstellerin unterhalb von 20 % lag. Das gezeichnete Kapital der An-tragstellerin betrug jedoch bereits rd. 16 % ihrer Bilanzsumme. D.h. dem Gebot der Verhältnismäßigkeit hätte es möglicherweise nur entsprochen, lediglich insoweit eine unangemessene Gewinnverlagerung anzunehmen und den Zinsabzug zu untersagen, als 4 % der Bilanzsumme (rd. 12,7 Mio. €) wegen der Finanzierungsentscheidungen des Konzerns bei der Antragstellerin zusätzlich zu finanzieren waren (neben der konzerntypischen Fremdfinanzierungsquote von 80 %). Demgegenüber führt die Anwendung der Zinsschranke im Streitjahr 2008 zu einem nicht abzugsfähigen Zinsaufwand i.H.v. rd. 6,3 Mio. € (rd. 66 % des gesamten Zinsaufwands).

413. Allein die bestehenden ernstlichen Zweifel an der Verfassungsmäßig des § 4h EStG i.V.m. § 8a Abs. 1 KStG genügen jedoch nicht, um eine AdV des angefochtenen Körperschaftsteuerbescheides 2008 zu rechtfertigen.

42a) Bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines angefochtenen Verwaltungsakts, hat das FG dessen Vollziehung im Regelfall auszusetzen. Dies ergibt sich aus der Formulierung des § 69 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 FGO als Sollvorschrift. Nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen kann trotz Vorliegens solcher Zweifel die AdV abgelehnt werden (BFH-Beschluss vom 01.04.2010 II B 168/09, BFHE 228, 149, BStBl II 2010, 558).

43aa) Ein solcher atypischer Fall kommt in Betracht, wenn die ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes auf Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit einer dem Verwaltungsakt zugrunde liegenden Gesetzesvorschrift beruhen. Ist dies der Fall, ist die Gewährung einer AdV zwar nicht ausgeschlossen. Sie setzt aber nach langjähriger Rechtsprechung des BFH wegen des Geltungsanspruchs jedes formell verfassungsgemäß zustande gekommenen Gesetzes zusätzlich ein (besonderes) berechtigtes Interesse des Antragstellers an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes voraus (BFH-Beschluss vom 01.04.2010 II B 168/09, BFHE 228, 149, BStBl II 2010, 558 m.w.N.). Bei der Prüfung, ob ein solches berechtigtes Aussetzungsinteresse des Steuerpflichtigen besteht, ist dieses mit den gegen die Gewährung einer AdV sprechenden öffentlichen Belangen abzuwägen. Dabei kommt es maßgeblich einerseits auf die Bedeutung und die Schwere des durch die Vollziehung des angefochtenen Steuerbescheids eintretenden Eingriffs beim Steuerpflichtigen und andererseits auf die Auswirkungen einer AdV hinsichtlich des Gesetzesvollzuges und des öffentlichen Interesses an einer geordneten Haushaltsführung an; das Gewicht der ernstlichen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der betroffenen Vorschrift soll bei dieser Abwägung hingegen nicht von ausschlaggebender Bedeutung sein (BFH-Beschlüsse vom 01.04.2010 II B 168/09, BFHE 228, 149, BStBl II 2010, 558 m.w.N.; ähnlich BFH-Beschlüsse vom 11.12.012 III B 89/12, BFH/NV 2013, 582; vom 21.12.2012 III B 41/12, BFH/NV 2013, 549; vom 09.03.2012 VII B 171/11, BFH/NV 2012, 874).

44Die vorgenannte einschränkende Auslegung des § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO ist allerdings nicht nur im Schrifttum auf Kritik gestoßen (vgl. z.B. Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 69 FGO Tz. 96 ff.). Während der II., III. und VII. Senat auch in ihren jüngeren, vorstehend zitierten Entscheidungen die vorgenannte Interessenabwägung als erforderlich ansehen, haben verschiedene andere Senate des BFH zwischenzeitlich teilweise offen gelassen, ob an der bisherigen BFH-Rechtsprechung uneingeschränkt festzuhalten ist (vgl. BFH-Beschluss vom 13.03.2012 I B 111/11, BFHE 236, 501, BStBl II 2012, 611), und teilweise ausdrücklich den öffentlichen Haushaltsinteressen deutlich weniger Gewicht beigemessen als zuvor (vgl. BFH-Beschluss vom 25.08.2009 VI B 69/09, BFHE 226, 89, BStBl II 2009, 826; vom 22. 12. 2003 IX B 177/02, BFHE 204, 39, BStBl II 2004, 367).

45bb) An der einschränkenden Auslegung des § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO, wonach ein Verwaltungsakt wegen ernstlicher Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der dem Verwaltungsakt zugrunde liegenden Rechtsnormen nur nach Abwägung des individuellen Aussetzungsinteresses gegen das öffentliche Vollziehungsinteresse auszusetzen ist, ist nach Auffassung des erkennenden Senats festzuhalten. Dies folgt aus dem unverändert gültigen Grundsatz der Gewaltenteilung und der gem. Art. 100 Abs. 1 GG alleinigen Verwerfungskompetenz des BVerfG in Bezug auf formell ordnungsgemäß zustande gekommene Bundesgesetze (ebenso: Beschlüsse des FG Köln vom 04.07.2012 13 V 1408/12, EFG 2012, 204, und vom 04.07.2012 13 V 1292/12, EFG 2012, 2036, jeweils aus anderweitigen Gründen bestätigt durch BFH-Beschlüsse vom 16.10.2012 I B 125/12, BFH/NV 2013, 249 und vom 16.10.2012 I B 128/12, BFHE 238, 452, BStBl II 2013, 30; a.A. FG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13.10.2011 12 V 12089/11, EFG 2012, 358) und gilt insbesondere in den Fällen, in denen eine Aussetzung bzw. Aufhebung der Vollziehung des Steuerbescheides sich zwar formal als bloße Einzelfallentscheidung darstellt, im Ergebnis aber aufgrund gleichgerichteter gerichtlicher Entscheidungen (etwa im Anschluss an eine BFH-Entscheidung) gleichwohl zur vorläufigen Nichtanwendung eines ganzen Gesetzes oder einer bedeutenden Neuregelung eines ganzen Sachbereichs führen würde (vgl. auch BFH-Beschluss vom 09.03.2012 VII B 171/11, BFHE 236, 206, BStBl II 2012, 418).

46cc) Die vorgenannte Auslegung des § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO verstößt nicht gegen den aus Art. 19 Abs. 4 GG folgenden Anspruch auf einen umfassenden und effektiven gerichtlichen Rechtsschutz.

47Das BVerfG hat in seinen Beschlüssen vom 06.04.1988 1 BvR 146/88 (INF 1989, 335) und vom 03.04.1992 2 BvR 283/92 (HFR 1992, 726) die ältere BFH-Rechtsprechung ausdrücklich gebilligt. Auch in seinem Beschluss vom 24.10.2011 1 BvR 1848/11, 1 BvR 2162/11 (HFR 2012, 89) hat das BVerfG die der älteren BFH-Rechtsprechung folgende Spruchpraxis des II. Senats des BFH nicht verworfen, sondern unter Bestätigung der Entscheidung lediglich im Ergebnis offengelassen, ob diese Rechtsprechung in jeder Hinsicht mit Art. 19 Abs. 4 GG vereinbar ist (vgl. auch die Auslegung der vorgenannten BVerfG-Entscheidung durch den Beschluss des FG Köln vom 04.07.2012  13 V 1408/12, EFG 2012, 2040, aus anderweitigen Gründen bestätigt durch BFH-Beschluss vom 16.10.2012 I B 125/12, BFH/NV 2013, 249). Darüber hinaus hat der V. Senat des BFH durch Beschluss vom 22.11.2001 V B 100/01 (BFH/NV 2002, 519) im Zusammenhang mit § 69 Abs. 2 Satz 8 FGO entschieden, dass die Ausgestaltung des gerichtlichen Rechtsschutzes dem Gesetzgeber obliegt und dieser lediglich im Rahmen seines Gestaltungsspielraums sicherstellen muss, dass nicht aufgrund einer zu engen Begrenzung der Rechtsschutzmöglichkeiten zum Nachteil des Bürgers irreparable Folgen entstehen können. Die Verfassungsbeschwerde gegen diese Entscheidung hat das BVerfG gem. §§ 93a, 93b des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG) nicht zur Entscheidung angenommen (BVerfG-Beschluss vom 30.01.2002 Az. 1 BvR 66/02). Mit derselben Begründung hatten bereits zuvor der I. und der X. des BFH die Verfassungsmäßigkeit des § 69 Abs. 2 Satz 8 FGO bejaht (BFH-Beschlüsse vom 02.11.1999 I B 49/99, BFHE 190, 59, BStBl II 2000, 57; vom 24.01.2000 X B 99/99, BFHE 192, 197, BStBl II 2000, 559). Zumindest im Ergebnis haben sich dem auch der VI. und IX. Senat des BFH angeschlossen (Beschlüsse vom 22.12.2003 IX B 177/02, BFHE 204,39, BStBl II 2004, 367; vom 26.01.2010 VI B 115/09, BFH/NV 2010, 935). Hiervon ausgehend ist nicht nur der Gesetzgeber frei, eine AdV trotz bestehender Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides auszuschließen, sondern auch die Gerichte sind nicht von Verfassungswegen daran gehindert, dem Geltungsanspruch jedes formell verfassungsmäßig zustande gekommenen Gesetzes durch eine einschränkende Auslegung des § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO Rechnung zu tragen. Im Übrigen erscheint es dem Senat wesentlich eher sachlich gerechtfertigt, eine Einschränkung des § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO bei verfassungsrechtlichen Zweifeln an einem formell ordnungsgemäßen Gesetz vorzunehmen, als allein wegen des vorhergehenden Erlasses eines Vorauszahlungsbescheides, zumal der Steuerpflichtige unter dem Gesichtspunkt der Effektivität des Rechtsschutzes auch nicht auf dessen Anfechtung und dessen AdV verwiesen werden kann. Denn zum einen sind bei Erlass eines Bescheides über die künftigen Vorauszahlungen die späteren Besteuerungsgrundlagen noch gar nicht bekannt und zum anderen nützt dem Steuerpflichtigen selbst eine Anfechtung und ein Antrag auf AdV eines Vorauszahlungsbescheides wegen ernstlicher Zweifel an dessen Rechtmäßigkeit letztlich nichts, weil eine AdV des nachfolgenden, den Vorauszahlungsbescheid ersetzenden Jahressteuerbescheides allein aufgrund rechtlicher Zweifel an dessen Rechtmäßigkeit gem. § 69 Abs. 2 Satz 8 FGO gleichwohl ausgeschlossen sein soll (BFH-Beschluss vom 24.01.2000 X B 99/99, BFHE 192, 197, BStBl II 2000, 559; BFH-Beschluss I B 111/11 vom 13.03.2012, BFHE 236, 501, BStBl II 2012, 611: AdV der Körperschaftsteuerbescheide 2008 und 2009 wegen ernstlicher Zweifel an der Rechtmäßigkeit des § 8a Abs. 2 Alternative 3 KStG, nicht aber des zum Verfahrensgegen-stand gewordenen Körperschaftsteuerbescheides 2010, der den Vorauszahlungsbescheid 2010 ersetzte). Wenn aber bereits ein wegen ernstlicher Zweifel an seiner Rechtmäßigkeit von der Vollziehung auszusetzender bzw. ausgesetzter Vorauszahlungsbescheid die nachfolgende Aussetzung des Jahressteuerbescheides wegen ernstlicher Zweifel an seiner Rechtmäßigkeit verhindern kann, ohne dass dies nach der vorstehend zitierten BFH-Rechtsprechung verfassungsrechtlich zu beanstanden sein soll, ist nicht ersichtlich, weshalb es einen Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 GG darstellen sollte, falls erhöhte Anforderungen an die AdV eines Jahressteuerbescheides gestellt werden, sofern der AdV-Antrag ausschließlich mit verfassungsrechtlichen Zweifeln an dem zugrunde liegenden formell ordnungsmäßig zustande gekommenen Gesetz begründet wird. Der erkennende Senat misst dem Geltungsanspruch eines formell ordnungsgemäß zustande gekommenen Gesetzes verfassungsrechtlich einen wesentlich höheren Stellenwert zu als einem (angefochtenen) Vorauszahlungsbescheid.

48Ein Verständnis des Art. 19 Abs. 4 GG, wonach eine einschränkende Auslegung des § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO bei ernstlichen Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit eines formell ordnungsgemäß zustande gekommenen Gesetzes verfassungsrechtlich zulässig und ggf. geboten ist, vermeidet überdies Friktionen zum europarechtlichen Rechtsschutz. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sind zwar auch nationale Gerichte befugt, vorläufigen Rechtsschutz gegen einen nationalen Verwaltungsakt zu gewähren, der auf einem rechtlich zweifelhaften Gemeinschaftsrechtsakt beruht bzw. diesen umsetzt, allerdings nur unter den nachfolgenden einschränkenden und der nationalen Regelung des § 69 FGO vorgehenden Voraussetzungen (vgl. Urteile des EuGH vom 21.02.1991 C-143/88 und C-92/89 „Zuckerfabrik Süderdithmarschen u.a.“, DVBl 1991, 480 Tz. 22-33; vom 09.11.1995 C-465/93 „Atlanta Fruchthandelsgesellschaft u.a.“, HFR 1996, 102 Tz. 31-51; vom 26.11.1996 C-68/95 „T. Port“, HFR 1997, 179 Tz. 46-51; Gosch in Beermann/Gosch, AO/FGO, § 69 FGO Rz. 21 ff.; Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 69 FGO Tz. 13): Das nationale Gericht muss erhebliche Zweifel an der Gültigkeit des Gemeinschaftsrechtsakts haben und diese Gültigkeitsfrage dem EuGH vorlegen, sofern der Gerichtshof noch nicht mir ihr befasst ist. Die Entscheidung muss darüber hinaus dringlich in dem Sinne sein, dass der vorläufige Rechtsschutz erforderlich ist, um einen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden des Beteiligten zu vermeiden. Ein reiner Geldschaden genügt hierbei grundsätzlich nicht. Außerdem muss das Interesse der Gemeinschaft angemessen berücksichtigt werden. Bei der Prüfung der vorgenannten Voraussetzungen muss das nationale Gericht etwaige Entscheidungen oder vorläufige Anordnungen des EuG oder EuGH in der gleichen Angelegenheit beachten. Diese Voraussetzungen der EuGH-Rechtsprechung für eine AdV dürften aber kaum mit Art. 19 Abs. 4 GG vereinbar sein, falls dieser bereits bei „einfachen“ Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit einer Norm in der Regel ohne Folgenabwägung eine AdV gebieten würde. Zwar hält das BVerfG bei der innerstaatlichen Umsetzung von Richtlinien des Gemeinschaftsrechts, die den Mitgliedsstaaten keinen Umsetzungsspielraum belassen, eine Prüfung am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes für entbehrlich, solange die EuGH-Rechtsprechung einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaft generell gewährleistet, der dem vom Grundgesetz jeweils als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im Wesentlichen gleich zu achten ist (BVerfG-Beschluss vom 13.03.2007 1 BvF 1/05, BVerfGE 118, 79). Ein sehr weites Verständnis des Art. 19 Abs. 4 GG würde jedoch dem Geltungsanspruch der nationalen und europarechtlichen Rechtsetzungsakte und der fehlenden Befugnis der nachgeordneten Gerichte, diese Rechtsetzungsakte zu verwerfen, nicht gerecht und die Frage aufwerfen, ob die strengere EuGH-Rechtsprechung einem derartig weiten Verständnis des Art. 19 Abs. 4 GG noch im Wesentlichen entsprechen würde.

49b) Im Streitfall lässt sich kein gegenüber den öffentlichen Interessen an dem Gesetzesvollzug überwiegendes besonderes Aussetzungsinteresse der Antragstellerin feststellen.

50aa) Der Senat vermag nach Aktenlage nicht festzustellen, dass die Antragstellerin durch die Anwendung der Zinsschranke existenzgefährdend betroffen wird. Die streitige Körperschaftsteuer 2008, auf die sich das vorliegende Verfahren unmittelbar bezieht, beträgt nur 11.631 €. Allerdings erscheint es nicht sachgerecht, bei der gebotenen Abwägung jeweils auf einzelne Steuerarten und einzelne Jahre abzustellen. Maßgebend sind vielmehr die Auswirkungen, die sich absehbar für den jeweiligen Antragsteller aus der Anwendung der verfassungsrechtlich zweifelhaften Norm ergeben. Unter der Fragestellung, ob eine existenzgefährdende Belastung der Antragstellerin vorliegt, sind somit auch die Auswirkungen auf die Gewerbesteuer 2008 und auf den körperschaftsteuerrechtlichen Verlustrücktrag aus dem Jahr 2008 in das Jahr 2007 einzubeziehen. Insgesamt handelt es sich damit nach den schlüssigen Angaben der Antragstellerin um einen Betrag von nahezu 600.000 €. Nicht ersichtlich ist nach Aktenlage jedoch, dass die Existenz der Antragstellerin durch die Zahlung des vorgenannten Betrages bedroht wäre. Die Umsätze der Antragstellerin beliefen sich in den Jahren 2007 und 2008 auf jeweils rd. 330 Mio. €, die handelsrechtlichen Jahresüberschüsse auf jeweils über 2 Mio. €, die steuerlichen Einkommen ohne Anwendung der Zinsschranke und des Verlustrücktrags auf rd.  + 1,7 Mio. € (2007) bzw. ./. 5,7 Mio. € (2008) und das handelsrechtliche Eigenkapital wurde mit jeweils rund 65 Mio. € ausgewiesen. Im Folgejahr 2009 erlitt die Antragstellerin zwar einen steuerlichen Verlust (vor Anwendung der Zinsschranke) in Höhe von rd. 60,9 Mio. €, so dass das handelsrechtliche bilanzielle Eigenkapital (einschließlich der Genussrechte) weitgehend aufgezehrt war (vgl. auch die Anlage 3 zum Betriebsprüfungsbericht). Sichere Rückschlüsse auf die jetzige finanzielle Situation der Antragstellerin lassen die vorgenannten Daten jedoch nicht zu, zumal seit dem Jahr 2012 ein chinesischer Gesellschafter an der Antragstellerin beteiligt ist. Im Übrigen hat die Antragstellerin auf Nachfrage der Berichterstatterin vom 10.10.2012, aus welchen Gründen ein besonderes Aussetzungsinteresse geltend gemacht werde, zwar auf den obengenannten Betrag von 600.000 € und auf die Aufnahme eines neuen Gesellschafters hingewiesen, aber keine Existenzgefährdung durch eine Zahlung des vorgenannten Betrages geltend gemacht.

51bb) Selbst wenn die in Rede stehenden Steuerforderungen i.H.v. insgesamt 600.000 € eine erhebliche finanzielle Belastung für die Antragstellerin darstellten sollten, genügt dies nicht, um dem Aussetzungsinteresse der Antragstellerin den Vorrang vor den öffentlichen Interessen am sofortigen Gesetzesvollzug einzuräumen.

52(1) Aus der Sicht beider Beteiligten wie auch der Steuergläubiger geht es um Geldleistungen, also um Leistungen, die nicht von vornherein einen Zustand irreparabel verändern. Vielmehr können Steuern nach Abschluss der gerichtlichen Verfahren entweder erstmals gezahlt oder zurückgezahlt werden. Zwar wäre es nicht gerechtfertigt, einen vorläufigen Rechtsschutz gegen Geldleistungsbescheide von vornherein auszuschließen (vgl. Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 69 FGO Tz. 2), andererseits muss das öffentliche Interesse an der sofortigen Steuererhebung nicht allein deshalb zurücktreten, weil nur um Geldleistungen gestritten wird.

53Der Senat hat auch Bedenken, das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung einer gesetzlichen Steuerregelung allein nach den aufgrund dieser Regelung erwarteten Steuereinnahmen im Verhältnis zu den gesamten Steuereinnahmen zu bemessen, welches im Streitfall etwa bei 0,3 % liegen dürfte (vgl. die Angaben zum erwarteten Steueraufkommen im BFH-Beschluss vom 13.03.2012 I B 111/11, BFHE 236, 501, BStBl II 2012, 611). Denn dabei würde vernachlässigt, dass die Haushaltseinnahmen und Haushaltsausgaben vielfach fixe Größen sind, der tatsächliche Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers sich nur auf Bruchteile dieser Größe bezieht und sich z.B. die Diskussion um eine Neuverschuldung nur im einstelligen Prozentbereich des Gesamthaushalts bewegt. Ebensowenig kann eine Geldleistung für den Steuerpflichtigen allein deshalb als unerheblich angesehen werden, weil sie prozentual in Bezug auf dessen Einnahmen/Umsätze geringfügig erscheint (im Streitfall: rd. 0,18 %).

54Darüber hinaus ist das öffentliche Interesse nicht auf eine geordnete Haushaltsführung zu reduzieren, sondern es bezieht sich auch auf die Durchsetzungsfähigkeit des Gesetzgebers und damit auf den Vollzug eines formell ordnungsgemäß beschlossenen Gesetzes als solchen. Dies gilt nicht zuletzt dann, wenn ein Steuergesetz nicht nur der Einnahmeerzielung dient, sondern daneben Lenkungszwecke verfolgt, etwa einer gleichmäßigen Lastenverteilung dienen soll. Dem vorgenannten Gesichtspunkt mag keine entscheidende Bedeutung beizumessen sein, falls die geltend gemachte Verfassungswidrigkeit einer gesetzlichen Neuregelung sich lediglich auf Rand- oder Teilbereiche der Neuregelung bezieht (wie etwa die im BFH-Beschluss vom 13.03.2012 I B 111/11, BFHE 236, 501, BStBl II 2012, 611 zu entscheidende Frage). Dem Gesetzesvollzug ist jedoch ein höheres Gewicht beizumessen, wenn gegen die gesamte Konzeption der gesetzlichen Neuregelung eines Sachbereichs gewichtige verfassungsrechtliche Einwendungen erhoben werden. In derartigen Fällen hält es der Senat – auch im Interesse einer Vereinheitlichung der Beurteilungsmaßstäbe – für sachgerecht, von einem vorrangigen Aussetzungsinteresse nur dann auszugehen, wenn dem Antragsteller andernfalls wesentliche Nachteile i.S. der zu § 114 FGO entwickelten Grundsätze drohen. Derartige wesentliche Nachteile sind nicht nur bei einer Existenzgefährdung des Steuerpflichtigen anzunehmen, sondern auch dann, wenn die Verfassungswidrigkeit einer Norm klar und eindeutig erscheint und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von einer dementsprechenden Entscheidung des BVerfG auszugehen ist (wohl ebenso BFH-Beschluss vom 13.03.2012 I B 111/11, BFHE 236, 501, BStBl II 2012, 611).

55(2) Im Streitfall betreffen die von der Antragstellerin geltend gemachten verfassungsrechtlichen Zweifel den Kernbereich der Zinsschranke. Wollte man diese als ausreichend ansehen, um eine AdV zu rechtfertigen, würde faktisch der Vollzug des § 4h EStG (ggf. i.V.m. § 8a KStG) insgesamt ausgesetzt. In einem derartigen Fall ist jedoch – wie dargelegt – das öffentliche Interesse an einer Durchsetzung der gesetzgeberischen Entscheidungen vorrangig, sofern der Antragstellerin durch den Sofortvollzug keine wesentlichen Nachteile drohen. Eine Existenzgefährdung der Antragstellerin durch die Anwendung der Zinsschranke ist aus den bereits genannten Gründen nicht ersichtlich. Es besteht aber auch im Übrigen kein unabweisbares Interesse der Antragstellerin an einer AdV. Die bestehenden Zweifel des Senats an der Verfassungsmäßigkeit der Zinsschranke genügen hierfür nicht. Bei summarischer Beurteilung hält der erkennende Senat die Rechtslage nicht für eindeutig, zumal der BFH selbst an der besonders weitgehenden Teilregelung in § 8a Abs. 2 Alternative 3 KStG nur Zweifel geäußert, aber eine abweichende Beurteilung durch das BVerfG für möglich gehalten hat (BFH-Beschluss vom 13.03.2012 I B 111/11, BFHE 236, 501, BStBl II 2012, 611). Dementsprechend vermag der erkennende Senat nicht zweifelsfrei auszuschließen, dass das BVerfG § 4h EStG (ggf. i.V.m. § 8a KStG) als verfassungsmäßig ansehen könnte.

564. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.

575. Die Beschwerde ist gem. § 128 Abs. 3 i.V.m. § 115 Abs. 2 Nr. 1, 2 FGO zuzulassen. Die Frage, nach welchen Maßstäben die Entscheidung über einen Antrag auf AdV zu treffen ist, wenn die Verfassungswidrigkeit der dem angefochtenen Verwaltungsakt zugrunde liegenden Rechtsnorm gerügt wird, wird von den verschiedenen Senaten des BFH unterschiedlich beurteilt. Außerdem hat das FG Finanzgericht Berlin-Brandenburg in seinem Beschluss vom 13.10.2011  12 V 12089/11 (EFG 2012, 358) eine AdV wegen ernstlicher Zweifel an der Zinsschrankenregelung gewährt.

Gleichstehender Rechtsakt i.S. von §§ 7h, 7i EStG – Begriff des „obligatorischen Erwerbsvertrags“

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 19.2.2013, IX R 32/12

Gleichstehender Rechtsakt i.S. von §§ 7h, 7i EStG – Begriff des „obligatorischen Erwerbsvertrags“ – Annahme eines notariellen Kaufangebots nach Ablauf seiner befristeten Unwiderruflichkeit

Leitsätze

Ein erst nach Ablauf seiner befristeten Unwiderruflichkeit angenommenes, notarielles Kaufangebot stellt keinen „gleichstehenden Rechtsakt“ i.S. von § 7h Abs. 1 Satz 3 bzw. § 7i Abs. 1 Satz 5 EStG dar.

Tatbestand

1
I. Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) gaben gegenüber dem Bauträger am 10. Juli 2003 ein notariell beurkundetes Vertragsangebot zum Abschluss eines Bauträgervertrags über eine Wohneinheit (WE 1) ab. Das Vertragsangebot enthält u.a. folgende Klausel: „Der Anbieter hält sich an dieses Angebot vier Monate gerechnet ab heute unwiderruflich gebunden. Der Angebotsempfänger kann das Angebot bis zu diesem Termin annehmen. Nach Ablauf der Frist erlischt das Angebot nicht von selbst, kann jedoch durch den Anbieter jederzeit widerrufen werden.“ Mit notariell beurkundeter Erklärung vom 11. November 2003 nahm der Bauträger das Angebot an.
2
Mit Bescheid über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Grundlagen für die Einkommensbesteuerung und für die Festsetzung der Investitionszulage nach der Verordnung zu § 180 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO) stellte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt –FA–) die Grundlagen für die Einkommensbesteuerung für die Abschreibungen nach § 7 Abs. 4 und 5 des Einkommensteuergesetzes (EStG) sowie die Grundlagen für die Investitionszulage nach § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des Investitionszulagengesetzes (InvZulG) 1999 bzw. die erhöhte Investitionszulage nach § 3a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und Satz 2 i.V.m. Satz 1 Nr. 2 InvZulG 1999 gemäß § 164 Abs. 1 AO unter dem Vorbehalt der Nachprüfung fest und erkannte Anschaffungskosten für nach Kaufvertragsabschluss durchgeführte Modernisierungs- bzw. Baumaßnahmen in Höhe von 90.391 EUR an. Dabei legte es den 10. Juli 2003 als Zeitpunkt des rechtswirksamen Abschlusses des obligatorischen Kaufvertrags oder gleichstehenden Rechtsakts zugrunde. Eine Feststellung für die erhöhten Absetzungen nach §§ 7h, 7i und 10f EStG wurde in diesem Bescheid nicht getroffen.
3
Im Rahmen einer beim Bauträger durchgeführten Betriebsprüfung gelangte der Prüfer zu der Auffassung, dass zwar für die WE 1 auch begünstigte Sanierungsaufwendungen nach § 7h und 7i EStG vorlägen, dass aber maßgeblicher Zeitpunkt für die Begünstigung erst die Annahme des Vertragsangebots durch den Bauträger am 11. November 2003 sei. Ein einem obligatorischen Kaufvertrag gleichstehender Rechtsakt liege nicht schon in dem notariellen Kaufangebot, da die Annahme erst nach Ablauf der von den Klägern gesetzten Bindungsfrist erfolgt sei. Da bis zum Abschluss des Kaufvertrags bereits 69,17 % der Baumaßnahmen durchgeführt worden seien, könnten lediglich 26.829 EUR als nachträgliche Herstellungskosten anerkannt werden. Das FA schloss sich der Auffassung der Betriebsprüfung an und erließ einen entsprechenden Änderungsbescheid; der Vorbehalt der Nachprüfung wurde aufgehoben.
4
Einspruch und Klage blieben ohne Erfolg.
5
Das Finanzgericht (FG) vertrat die Auffassung, der geänderte Feststellungsbescheid in der Gestalt der Einspruchsentscheidung sei rechtmäßig. Unabhängig davon, ob das notarielle Kaufangebot vom 10. Juli 2003 durch den Bauträger innerhalb oder außerhalb der Bindungsfrist angenommen worden sei, könne dieses nicht als „gleichstehender Rechtsakt“ i.S. von § 7h EStG bzw. § 7i EStG angesehen werden. Dem Abschluss eines obligatorischen Vertrags seien nur solche Fälle gleichgestellt, die die gleichen bindenden Wirkungen für die Vertragsparteien auslösten wie der Abschluss eines Vertrags. Danach schieden alle Vorbereitungshandlungen einschließlich der Angebotsabgabe zum Abschluss eines Erwerbsvertrags aus dem Anwendungsbereich des „gleichstehenden Rechtsakts“ aus.
6
Hiergegen richtet sich die Revision der Kläger, mit der sie die Verletzung materiellen Rechts rügen. Mit Abgabe des notariellen Kaufangebots am 10. Juli 2003 liege ein dem obligatorischen Erwerbsvertrag gleichstehender Rechtsakt vor. Denn hinsichtlich des „gleichstehenden Rechtsakts“ komme es nur auf die Bindung des Steuerpflichtigen an. Insbesondere sei § 7h Abs. 1 Satz 3 bzw. § 7i Abs. 1 Satz 5 EStG kein Stufenverhältnis zu entnehmen, welches dazu führe, dass ein später abgeschlossener Erwerbsvertrag ein vorangegangenes Vertragsangebot in sich aufnehme. Im Übrigen habe auch nach Ablauf der Bindungsfrist immer noch ein die Käufer bindendes und jedenfalls bis zum 11. November 2003 unwiderrufenes Kaufvertragsangebot vorgelegen.
7
Die Kläger beantragen,das Urteil des FG aufzuheben und den Feststellungsbescheid vom 9. Juni 2008 in Gestalt der Einspruchsentscheidung dahin zu ändern, dass die Bemessungsgrundlage für Abschreibungen nach §§ 7h, 7i und 10f EStG auf 90.391 EUR festgestellt wird.
8
Das FA beantragt,die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

9
II. Die Revision ist unbegründet und deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung). Zutreffend hat das FG das streitbefangene Vertragsangebot nicht als „gleichstehenden Rechtsakt“ i.S. von § 7h EStG bzw. § 7i EStG behandelt und so für die bis zur Annahme des Vertragsangebots durchgeführten Baumaßnahmen keine erhöhten Absetzungen gewährt.
10
1. Gemäß § 7h Abs. 1 Satz 3 EStG kann der Steuerpflichtige die erhöhten Absetzungen im Jahr des Abschlusses der fraglichen Maßnahme und in diesen folgenden neun Jahren auch für Anschaffungskosten in Anspruch nehmen, die auf Maßnahmen i.S. von § 7h Abs. 1 Sätze 1 und 2 EStG entfallen, soweit diese nach dem rechtswirksamen Abschluss eines obligatorischen Erwerbsvertrags oder eines gleichstehenden Rechtsakts durchgeführt worden sind. Eine entsprechende Regelung enthält § 7i Abs. 1 Satz 5 EStG. Danach setzen die erhöhten Absetzungen grundsätzlich voraus, dass die betroffenen Maßnahmen nach einem obligatorischen Erwerb anfallen, d.h. zu einem Zeitpunkt, zu dem sich die Investition des Steuerpflichtigen in das begünstigte Gebäude dahingehend konkretisiert hat, dass er einen rechtswirksamen obligatorischen Erwerbsvertrag abgeschlossen hat. Die Alternative des gleichstehenden Rechtsakts muss einen entsprechenden Konkretisierungsgrad erreichen.
11
Mit einem obligatorischen Erwerbsvertrag wird zum einen eine beidseitige Bindung von Voreigentümer und Erwerber definiert, zum anderen –notariell beurkundet– ein objektiv eindeutiger Zeitpunkt hierfür festgelegt. Da nach § 7h Abs. 1 Satz 3 EStG „obligatorischer Erwerbsvertrag“ und „gleichstehender Rechtsakt“ gleichwertige alternative Begünstigungsvoraussetzungen darstellen, sind an den gleichstehenden Rechtsakt hinsichtlich seiner Rechtsbindung und der Rechtsklarheit dieselben Anforderungen zu stellen wie an den obligatorischen Erwerbsvertrag.
12
Der Begriff des obligatorischen Erwerbsvertrags umfasst insbesondere Kauf oder Tausch eines bebauten Grundstücks; maßgebender Zeitpunkt für den Erwerb ist die formgerechte schuldrechtliche Erwerbsverpflichtung, von der sich kein Beteiligter mehr einseitig lösen kann (s. Kleeberg in: Kirchhof/Söhn/ Mellinghoff, EStG, § 7h Rz B 21). Parallel hierzu sind gleichstehende Rechtsakte insbesondere der Erbfall, das Vermächtnis nach Annahme (s. Kleeberg in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, a.a.O.), der Zuschlag im Zwangsversteigerungsverfahren oder der Erwerb von Anteilen an einer Personengesellschaft (s. Siebenhüter in Herrmann/Heuer/Raupach, § 7h EStG Rz 18), nicht aber ein unwiderrufliches notarielles Kaufangebot (so Sächsisches FG, Beschluss vom 29. Juli 2009  6 V 736/09, juris). Denn ein solches begründet weder eine beidseitige Verpflichtung noch definiert es einen konkreten Erwerbszeitpunkt.
13
2. Nach diesen Grundsätzen stellt das im Streitfall zu beurteilende Vertragsangebot vom 10. Juli 2003 keinen gleichstehenden Rechtsakt i.S. von § 7h Abs. 1 Satz 3, § 7i Abs. 1 Satz 5 EStG dar; daran ändert auch seine befristete Unwiderruflichkeit nichts. Es kommt jedenfalls dann nicht darauf an, wie lange das Angebot bindend war, wenn –wie im Streitfall– das Angebot erst nach Ablauf der Bindungsfrist (am 11. November 2003) angenommen wurde. Daher konnten erst für Maßnahmen nach Annahme des Vertragsangebots begünstigte Sanierungsaufwendungen anfallen.

Entschädigungsklage: Unangemessene Dauer eines finanzgerichtlichen Verfahrens

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 17.4.2013, X K 3/12

Entschädigungsklage: Unangemessene Dauer eines finanzgerichtlichen Verfahrens – Beschränkung des Rechtsfolgenausspruchs auf die Feststellung der Verzögerung – Verhältnis zur Amtshaftungsklage – Beklagter im Entschädigungsklageverfahren – Kostenentscheidung – Keine Motivforschung in Bezug auf Prozesshandlungen

Leitsätze

1. Wird ein FG in einem einfach gelagerten Klageverfahren zwischen dem Eingang des letzten Schriftsatzes eines der Beteiligten und der Anberaumung der mündlichen Verhandlung fünfeinhalb Jahre lang –abgesehen von einer Aktenanforderung und einer kurzen Anfrage an den Kläger– nicht tätig, ist die Verfahrensdauer als unangemessen anzusehen.

 

2. War die finanzgerichtliche Klage unschlüssig, d.h. bereits nach dem eigenen Tatsachenvortrag des Klägers erkennbar unbegründet, hatte das verzögerte Verfahren für den Entschädigungskläger objektiv keine besondere Bedeutung. In einem solchen Fall genügt für die erforderliche Wiedergutmachung die Feststellung der Verfahrensverzögerung durch das Entschädigungsgericht; der Zuerkennung einer Geldentschädigung für immaterielle Nachteile bedarf es nicht.

 

3. Das Entschädigungsgericht kann eine Verfahrensverzögerung auch dann feststellen, wenn eine Verzögerungsrüge gar nicht oder –in den Übergangsfällen des Art. 23 Satz 2 ÜberlVfRSchG– nicht unverzüglich erhoben worden ist.

 

4. Hat der Kläger die Zuerkennung einer Geldentschädigung beantragt, beschränkt sich das Entschädigungsgericht aber auf die bloße Feststellung einer unangemessenen Verfahrensdauer, ist dem Beklagten gleichwohl der weitaus überwiegende Teil (75 %) der Kosten des Entschädigungsklageverfahrens aufzuerlegen, wenn tatsächlich eine erhebliche Verfahrensverzögerung gegeben ist, deren Größenordnung weitgehend mit derjenigen Zeitspanne deckungsgleich ist, die der Kläger seiner monetären Entschädigungsforderung zugrunde gelegt hat, und der Kläger die Höhe seiner Entschädigungsforderung auf den gesetzlichen Regelbetrag des § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG beschränkt hat.

 

5. Eine Entschädigungsklage wegen der Dauer eines Verfahrens vor dem FG Berlin-Brandenburg ist gegen das Bundesland zu richten, gegen dessen Verwaltungshandeln sich der spätere Entschädigungskläger in dem von ihm eingeleiteten finanzgerichtlichen Verfahren gewandt hat. Die Anordnung, dass das beklagte Bundesland in Entschädigungsklageverfahren durch den Präsidenten des FG vertreten wird, bedarf keiner Regelung durch ein Gesetz.

Tatbestand …

Entscheidungsgründe

23
III. Die Klage ist zulässig, aber nur teilweise begründet.
24
Sie ist gegen den richtigen Beklagten gerichtet (unten 1.). Die Übertragung der Vertretung des beklagten Bundeslandes Berlin auf den Präsidenten des FG Berlin-Brandenburg ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden (unten 2.). Das finanzgerichtliche Verfahren, dessen Dauer vorliegend zu beurteilen ist, ist unangemessen verzögert worden (unten 3.). Ein Anspruch des Klägers ist nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil das Ausgangsgericht das Verfahren kurzfristig nach Erhebung der Verzögerungsrüge zu Ende geführt hat (unten 4.) oder die Entschädigungsklage als rechtsmissbräuchlich anzusehen wäre (unten 5.). Allerdings ist nach den besonderen Umständen des vorliegenden Falles die Feststellung einer unangemessenen Verfahrensdauer für die erforderliche Wiedergutmachung ausreichend; ein Entschädigungsanspruch in Geld steht dem Kläger nicht zu (unten 6.). Weil ein derartiger Feststellungsausspruch keine vorherige Verzögerungsrüge des Klägers voraussetzt, kann offenbleiben, ob der Kläger die Verzögerungsrüge im Ausgangsverfahren noch „unverzüglich“ nach Inkrafttreten des ÜberlVfRSchG erhoben hat (unten 7.).
25
1. Der Kläger hat mit dem Land Berlin den richtigen Beklagten bezeichnet.
26
a) Die Bestimmung des Anspruchsgegners bei Entschädigungsklagen wegen überlanger Verfahrensdauer richtet sich nach § 200 Satz 1 GVG. Danach haftet das Land für Nachteile, die aufgrund von Verzögerungen bei Gerichten eines Landes eingetreten sind. Da das FG Berlin-Brandenburg gemäß Art. 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 des Staatsvertrags über die Errichtung gemeinsamer Fachobergerichte der Länder Berlin und Brandenburg vom 26. April 2004 (Gesetz- und Verordnungsblatt für Berlin 2004, 380) –Staatsvertrag– ein gemeinsames Fachobergericht der Bundesländer Berlin und Brandenburg ist, seinen Sitz aber im Land Brandenburg hat, lässt sich dem Wortlaut des § 200 Satz 1 GVG unmittelbar noch keine Bestimmung des richtigen Beklagten entnehmen.
27
Nach Auffassung des erkennenden Senats –die vom Kläger und nunmehr auch vom Beklagten geteilt wird– üben die gemeinsamen Fachobergerichte der Länder Berlin und Brandenburg jeweils Rechtsprechungsgewalt desjenigen Bundeslandes aus, aus dem das Ausgangsverfahren stammt. Der Senat verweist insoweit auf die ausführlichen Darlegungen des Verfassungsgerichtshofs des Landes Berlin im Beschluss vom 19. Dezember 2006 45/06 (juris, unter II.1.a), denen er sich anschließt. Der Verfassungsgerichtshof hat sich dabei insbesondere auf die Gesetzesmaterialien zum Staatsvertrag sowie die einfachere staatsrechtliche Handhabbarkeit gestützt. Demgegenüber hat er denjenigen Einzelregelungen im Staatsvertrag, die an das Sitzprinzip anknüpfen, keine entscheidende Bedeutung zugemessen (Rz 32 des Beschlusses). Dieser Auffassung ist auch das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg im Beschluss vom 10. Mai 2007  8/07 (juris, unter B.I.1.). Beiden Beschlüssen lagen jeweils Verfahren aus der Verwaltungsgerichtsbarkeit zugrunde.
28
In Übereinstimmung damit hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in seiner Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde eines Richters am früheren FG Berlin, der sich unmittelbar gegen den Staatsvertrag gewandt hatte, ausgeführt, das FG Berlin-Brandenburg sei ein Gericht, „welches (auch) zur Berliner Landesgerichtsbarkeit gehört“ (Beschluss vom 14. Juli 2006  2 BvR 1058/05, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung –HFR– 2006, 1030, unter III.2.b aa). Die richterliche Tätigkeit an einem länderübergreifenden Gericht stelle sich als „Ausübung der Rechtsprechung für die an dem Gericht beteiligten Länder dar“ (BVerfG-Beschluss in HFR 2006, 1030, unter III.2.b bb). Damit hat auch das BVerfG eine Anwendung des reinen Sitzprinzips –maßgeblich wäre danach stets der Sitz des gemeinsamen FG im Land Brandenburg– abgelehnt.
29
b) Vorliegend stammt das Ausgangsverfahren aus dem Land Berlin, da eine Berliner Finanzbehörde den Ablehnungsbescheid erlassen hatte, der zu der vom Kläger vor dem damals noch bestehenden FG Berlin erhobenen Verpflichtungsklage geführt hat. Auch soweit ab dem 1. Januar 2007 das FG Berlin-Brandenburg an die Stelle des FG Berlin getreten ist, übte es im Ausgangsverfahren Rechtsprechungsgewalt des Landes Berlin aus, das damit Anspruchsgegner im Entschädigungsklageverfahren ist.
30
2. Die Übertragung der Vertretung des beklagten Bundeslandes Berlin auf den Präsidenten des FG Berlin-Brandenburg (Anordnung über die Vertretung des Landes Berlin im Geschäftsbereich der Senatsverwaltung für Justiz vom 20. September 2007, Amtsblatt Berlin 2007, 2641) ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden. Insbesondere durfte diese Übertragung durch eine Verwaltungsanweisung vorgenommen werden; ein Gesetz war nicht erforderlich.
31
a) Organisationsregelungen innerhalb eines Ressorts werden traditionell nicht dem zwingenden Gesetzesvorbehalt unterstellt. Die Exekutive hat hier eine eigene Organisationsgewalt (vgl. hierzu Krebs in Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band V, § 108 Rz 99, m.w.N.).
32
Diese Organisationsgewalt unterliegt aber in doppelter Hinsicht Begrenzungen.
33
aa) Zum einen darf der Parlamentsgesetzgeber hierauf jederzeit Zugriff nehmen und ausdrückliche gesetzliche Organisationsregelungen treffen (Ossenbühl in Handbuch des Staatsrechts, a.a.O., § 101 Rz 72). Solange indes derartige Spezialregelungen nicht existieren, bleibt es bei der Organisationsgewalt der Exekutive.
34
bb) Zum anderen verpflichten das Rechtsstaats- und das Demokratieprinzip den Parlamentsgesetzgeber, die wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen. Dieser „Wesentlichkeitsvorbehalt“ gilt zwar vor allem für den Bereich der Grundrechtsausübung, erfasst darüber hinaus aber auch andere für das Gemeinwesen grundlegende Entscheidungen (ausführlich, auch zum Folgenden, Urteil des Verfassungsgerichtshofs für das Land Nordrhein-Westfalen vom 9. Februar 1999  11/98, Neue Juristische Wochenschrift –NJW– 1999, 1243, m.w.N., betr. Zusammenlegung des Innen- und Justizministeriums). Danach fallen Organisationsentscheidungen dann unter den Gesetzesvorbehalt, wenn sie wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte oder anderer tragender Verfassungsprinzipien (z.B. Rechtsstaatsprinzip, Gewaltenteilung, Sicherung einer eigenständigen und unabhängigen rechtsprechenden Gewalt) oder die Wahrnehmung der Staatsleitung sind.
35
b) Für die vorliegend entscheidungserhebliche Frage der organisationsrechtlichen Zuständigkeit für die Vertretung des Landes in Entschädigungsklageverfahren sind landes- oder bundesgesetzliche Regelungen nicht ersichtlich. § 200 Satz 1 GVG bestimmt lediglich, wer in Entschädigungsfällen der richtige Beklagte ist (das Bundesland). Zu der Vertretung innerhalb des Bundeslandes enthält das GVG keine Regelungen, was in einem Bundesgesetz auch nicht möglich wäre.
36
Die in der Vertretungsanordnung getroffene Organisationsregelung enthält auch keine Entscheidung, die so wesentlich wäre, dass sie vom Gesetzgeber hätte getroffen werden müssen. Sie berührt weder die Verwirklichung der Grundrechte noch anderer tragender Verfassungsprinzipien oder die Wahrnehmung der Staatsleitung. Dabei ist vor allem von Bedeutung, dass der FG-Präsident in Entschädigungsklageverfahren lediglich Vertreter eines Verfahrensbeteiligten, nicht aber entscheidungsbefugt ist.
37
3. Das finanzgerichtliche Verfahren ist unangemessen verzögert worden. Diese –auf den konkreten Streitfall bezogene– Würdigung ist möglich, ohne dass der Senat bereits den vorliegenden Einzelfall zum Anlass nehmen müsste, allgemeine Leitlinien für die vom Rechtsschutzsuchenden im Regelfall noch hinzunehmende Dauer eines finanzgerichtlichen Verfahrens zu entwickeln.
38
a) Nach § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG richtet sich die Angemessenheit der Verfahrensdauer nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter.
39
Diese gesetzlichen Maßstäbe beruhen auf der ständigen Rechtsprechung des EGMR, wonach die Angemessenheit der Verfahrensdauer im Lichte der Umstände der Rechtssache sowie unter Berücksichtigung der Komplexität des Falles, des Verhaltens des Entschädigungsklägers und der zuständigen Behörden sowie der Bedeutung des Rechtsstreits für den Beschwerdeführer zu beurteilen ist (Urteil vom 2. September 2010  46344/06 –Rumpf/ Deutschland–, NJW 2010, 3355, Rz 41, m.w.N.).
40
Auch das BVerfG geht von vergleichbaren Kriterien aus. Danach lässt sich nicht generell festlegen, ab wann von einer überlangen, die Gewährung effektiven Rechtsschutzes unzumutbar beeinträchtigenden und deshalb verfassungsrechtlich nicht mehr hinnehmbaren Verfahrensdauer auszugehen ist; dies ist vielmehr eine Frage der Abwägung und Entscheidung im Einzelfall. Dabei sind vor allem die Bedeutung der Sache für die Parteien (Beteiligten), die Schwierigkeit der Sachmaterie, das den Parteien zuzurechnende Verhalten sowie vom Gericht nicht oder nur eingeschränkt beeinflussbare Tätigkeiten Dritter, etwa von Sachverständigen, in Rechnung zu stellen. Mit zunehmender Verfahrensdauer verdichtet sich allerdings die Pflicht des Gerichts, sich nachhaltig um eine Förderung, Beschleunigung und Beendigung des Verfahrens zu bemühen (BVerfG-Beschluss vom 27. Juli 2004  1 BvR 1196/04, NJW 2004, 3320, unter II.2.a, m.w.N.). Vor diesem Hintergrund hat das BVerfG in seiner jüngeren Rechtsprechung entschieden, dass bei einem Instanzgericht jedenfalls ein Abwarten von 30 Monaten den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht mehr genügt (Beschluss vom 13. August 2012  1 BvR 1098/11, Europäische Grundrechte Zeitschrift –EuGRZ– 2012, 666, unter B.I.2.). Vor dem BVerfG selbst kann mit Rücksicht auf den abweichenden Wortlaut der maßgeblichen Vorschriften (vgl. § 97a des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht –BVerfGG– einerseits und § 198 GVG andererseits) sowie die besonderen Aufgaben des BVerfG eine längere Verfahrenslaufzeit hinzunehmen sein, insbesondere wenn ein Pilotverfahren ausgewählt wird und entsprechende Parallelverfahren vorerst zurückgestellt werden (BVerfG-Beschluss vom 1. Oktober 2012  1 BvR 170/06 – Vz 1/12, juris).
41
Diese vom EGMR und dem BVerfG entwickelten Kriterien sind nach dem Willen des Gesetzgebers, der im Wortlaut und der Entstehungsgeschichte des Gesetzes –bei dem es sich um eine Reaktion auf die häufigen Verurteilungen der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) durch den EGMR handelt– zum Ausdruck kommt, auch der Prüfung nach § 198 GVG zugrunde zu legen (BTDrucks 17/3802, 18).
42
b) Da im Ausgangsverfahren der Wechsel der vorbereitenden Schriftsätze zwischen den Beteiligten am 2. Juni 2006 endete, war das erstmalig am 17. Februar 2010 erkennbare Tätigwerden des FG (Aktenanforderung) erheblich zu spät. Geht man mit der jüngeren Rechtsprechung des BVerfG davon aus, dass „jedenfalls ein Abwarten von 30 Monaten“ den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht genügt (Beschluss in EuGRZ 2012, 666, unter B.I.2.), das Gericht also im Regelfall nach etwa 24 bis 30 Monaten tätig werden muss, hätte das FG das Ausgangsverfahren im ersten Halbjahr 2008 zumindest in die Richtung einer Entscheidung vorantreiben müssen.
43
c) Der Staat kann sich zur Rechtfertigung einer überlangen Verfahrensdauer nicht auf Umstände innerhalb seines Verantwortungsbereichs berufen (so zutreffend BTDrucks 17/3802, 19, unter Verweis auf die ständige Rechtsprechung des BVerfG und EGMR). Deshalb ist die Zusammenlegung der Finanzgerichte Berlin und Brandenburg zum 1. Januar 2007 bereits dem Grunde nach kein Umstand, der vom Kläger zu vertreten wäre und eine Verlängerung der noch als angemessen anzusehenden Verfahrensdauer rechtfertigen könnte. Danach kann der Senat offenlassen, ob der Beklagte sein Vorbringen, der Umzug des FG Berlin nach Cottbus habe zu einer zehnmonatigen Unterbrechung der Arbeitsfähigkeit des vormaligen FG Berlin und des späteren FG Berlin-Brandenburg geführt, hinreichend substantiiert hat.
44
d) Dem Kläger ist allerdings im Rahmen der Prüfung der Gründe für die eingetretene Verzögerung der Umstand zuzurechnen, dass er es unterlassen hat, auf die Anfrage des FG vom 1. März 2010 zu reagieren. Nicht beizupflichten ist jedoch dem Beklagten darin, dass die unterbliebene Reaktion des Klägers das FG für das gesamte Jahr 2010 von der Pflicht zur weiteren Förderung des Verfahrens befreit hat. Das Schweigen des Klägers auf die Anfrage hätte für das Gericht angesichts der bereits in diesem Zeitpunkt eingetretenen Verzögerung des Verfahrens vielmehr entweder Anlass sein müssen, den Kläger an die ausstehende Antwort zu erinnern, oder dem FG die Möglichkeit eröffnet, ohne Berücksichtigung der betroffenen Akten –und ggf. unter Anwendung eines reduzierten Beweismaßes zu Lasten des insoweit nicht an der Sachaufklärung mitwirkenden Klägers (vgl. hierzu Senatsurteil vom 23. März 2011 X R 44/09, BFHE 233, 297, BStBl II 2011, 884, unter II.2.)– zu entscheiden. Denn mit zunehmender Verfahrensdauer verdichtet sich –wie oben dargelegt– die Pflicht des Gerichts, sich nachhaltig um eine Beschleunigung des Verfahrens zu bemühen. Gleichwohl ist das FG erst wieder am 18. Januar 2012 tätig geworden.
45
e) Danach bewegt sich die dem Beklagten zuzurechnende Verzögerung des Verfahrens jedenfalls in der Nähe des vom Kläger seiner Entschädigungsforderung zugrunde gelegten Zeitraums von vier Jahren, ohne dass der Senat –der sich auf den Ausspruch einer Feststellung der Unangemessenheit der Verfahrensdauer beschränkt (siehe unten 6.)– im Streitfall nähere Festlegungen treffen müsste.
46
4. Ein auf § 198 GVG gestützter Feststellungs- oder Entschädigungsanspruch des Klägers ist nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil das FG das Ausgangsverfahren kurzfristig nach Erhebung der Verzögerungsrüge vom 14. Februar 2012 zu Ende geführt hat.
47
Die gegenteilige vom Beklagten vertretene Rechtsauffassung kann jedenfalls in Fällen, die –wie vorliegend– eine Verzögerung betreffen, die bereits vor Inkrafttreten des ÜberlVfRSchG eingetreten ist, nicht zutreffend sein. Denn schon vor Inkrafttreten des genannten Gesetzes war die Bundesrepublik Deutschland aufgrund Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) verpflichtet, Rechtsschutz in angemessener Zeit zu gewähren. Ferner musste die Bundesrepublik Deutschland gewährleisten, dass für Fälle der Verletzung des genannten Anspruchs eine  wirksame Beschwerdemöglichkeit zur Verfügung stand (Art. 13 EMRK). Würde nun eine vor Inkrafttreten des ÜberlVfRSchG eingetretene Verzögerung dadurch rückwirkend „geheilt“, dass das Gericht das Verfahren kurzfristig nach einer –erstmals ab dem Inkrafttreten des Gesetzes überhaupt möglichen– Verzögerungsrüge beendet, stünde dem Betroffenen hinsichtlich der eingetretenen Verzögerung weder ein wirksamer Rechtsbehelf noch ein Entschädigungsanspruch zu. Dies wäre mit den aus der EMRK folgenden und vom EGMR mehrfach festgestellten Pflichten Deutschlands unvereinbar.
48
Im Übrigen hat der EGMR im Urteil vom 29. März 2006  36813/97 –Scordino/Italien– (NJW 2007, 1259, Rz 185) ausgeführt: „Es versteht sich, dass in Ländern, in denen eine Konventionsverletzung wegen der Dauer des Verfahrens schon eingetreten ist, ein nur auf Beschleunigung gerichteter Rechtsbehelf, so wünschenswert er für die Zukunft ist, zur Wiedergutmachung nicht ausreicht, wenn das Verfahren offensichtlich schon übermäßig lang gedauert hat.“ In diesem Sinne ist die vom deutschen Gesetzgeber nunmehr geschaffene Verzögerungsrüge ein „nur auf Beschleunigung gerichteter Rechtsbehelf“, der allein aber zur Wiedergutmachung einer in der Vergangenheit liegenden Verzögerung nicht ausreichen kann, wenn der neue Rechtsbehelf in der Vergangenheit noch gar nicht zur Verfügung stand.
49
In seinen Entscheidungen, die nach Inkrafttreten des ÜberlVfRSchG ergangen sind, verweist der EGMR die Beschwerdeführer auch in solchen Verfahren, die bei ihm bereits vor Inkrafttreten des Gesetzes anhängig waren, auf den nationalen Rechtsbehelf der Entschädigungsklage. Er führt aber zugleich aus, dass er diese Position in Zukunft überprüfen werde, was insbesondere von der Fähigkeit der innerstaatlichen Gerichte abhängig sei, im Hinblick auf das ÜberlVfRSchG eine konsistente und den Erfordernissen der EMRK entsprechende Rechtsprechung zu etablieren (so ausdrücklich Entscheidung des EGMR vom 29. Mai 2012  53126/07 –Taron/Deutschland–, EuGRZ 2012, 514, Rz 45). Vor diesem Hintergrund hat der Senat bei der Auslegung der durch das ÜberlVfRSchG in das deutsche Recht aufgenommenen Normen auch die Erfordernisse eines effektiven Menschenrechtsschutzes zu berücksichtigen. Mit diesem wäre es unvereinbar, wenn eine bereits eingetretene Verzögerung durch nachträgliches staatliches Handeln ohne Zuerkennung einer Wiedergutmachung ungeschehen gemacht werden könnte.
50
5. Ein Anspruch des Klägers scheitert auch nicht daran, dass die Erhebung der Entschädigungsklage als rechtsmissbräuchlich anzusehen wäre.
51
Der Beklagte meint insoweit, der Kläger habe die Verzögerungsrüge angesichts des drohenden Prozessverlusts im Ausgangsverfahren als Druckmittel einsetzen wollen, um eine ihm günstige Kostenentscheidung zu erreichen. Da dies nicht gelungen sei, sei die spätere Erhebung der Entschädigungsklage als „Trotzreaktion“ anzusehen, die rechtlich unbeachtlich sei.
52
Dem ist nicht beizupflichten. Nach allgemeinen Grundsätzen sind Prozesshandlungen im Interesse der erforderlichen Rechtsklarheit bedingungsfeindlich (vgl. BFH-Urteil vom 6. Juli 2005 XI R 15/04, BFHE 210, 4, BStBl II 2005, 644, unter II.2.). Grund hierfür ist das im gerichtlichen Verfahren in besonderer Weise bestehende Bedürfnis nach Rechtssicherheit und -klarheit. Daraus folgt aber zugleich, dass auch eine Motivforschung in Bezug auf Prozesshandlungen –insbesondere hinsichtlich der Gründe für die Erhebung einer Klage– ausscheidet.
53
6. Nach den besonderen Umständen des vorliegenden Falles ist die Feststellung einer unangemessenen Verfahrensdauer ausreichend für die erforderliche Wiedergutmachung; ein Entschädigungsanspruch in Geld steht dem Kläger nicht zu.
54
a) Gemäß § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG wird ein Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert hat. Dies beruht auf der Rechtsprechung des EGMR, der „eine starke, aber widerlegbare Vermutung“ dafür annimmt, dass die überlange Verfahrensdauer einen Nichtvermögensschaden verursacht hat (Urteil in NJW 2007, 1259, Rz 204).
55
Vorliegend ist diese gesetzliche Vermutung weder durch das Vorbringen des Beklagten noch durch den sonstigen Akteninhalt widerlegt.
56
b) Ist die Vermutungsregel –wie hier– nicht widerlegt, ordnet § 198 Abs. 2 Satz 2 GVG hinsichtlich der Rechtsfolgen bei Erleiden eines solchen Nichtvermögensnachteils an, dass eine Geldentschädigung „nur beansprucht werden [kann], soweit nicht nach den Umständen des Einzelfalles Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß Absatz 4 ausreichend ist“. Die Feststellung der Unangemessenheit der Verfahrensdauer durch das Entschädigungsgericht ist im Gesetz ausdrücklich als eine der Möglichkeiten bezeichnet, Wiedergutmachung auf andere Weise als durch Zuerkennung eines Geldanspruchs zu leisten (§ 198 Abs. 4 Satz 1 GVG).
57
Für das Verhältnis zwischen den Rechtsfolgen „Geldentschädigung“ einerseits und „Feststellungsausspruch“ andererseits gilt danach weder ein Vorrang der Geldentschädigung noch eine anderweitige Vermutungsregel. Damit ist jedenfalls nach dem Gesetzeswortlaut vor der Zuerkennung einer Geldentschädigung jeweils konkret zu prüfen, ob Wiedergutmachung durch einen bloßen Feststellungsausspruch möglich ist.
58
Soweit demgegenüber in der Literatur vereinzelt die Auffassung vertreten wird, ein Feststellungsausspruch müsse sich auf diejenigen Ausnahmefälle beschränken, in denen sich der Entschädigungskläger im Ausgangsverfahren rechtsmissbräuchlich verhalten habe (so Böcker, Deutsches Steuerrecht 2011, 2173, 2177), vermag der Senat dem nicht zu folgen. Das von dieser Auffassung als Beleg angeführte EGMR-Urteil vom 10. Dezember 1982  8304/78 –Corigliano/Italien– (EGMR-E 2, 199, Rz 53) enthält zwar einen bloßen Feststellungsausspruch. Allerdings lässt sich der genannten Entscheidung nicht entnehmen, dass dieser Ausspruch auf einem rechtsmissbräuchlichen Verhalten des dortigen Beschwerdeführers beruht. Vielmehr führt der EGMR aus, bereits durch die Feststellung der Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK sei eine hinreichende Entschädigung für den immateriellen Schaden bewirkt worden. Das darüber hinaus angeführte EGMR-Urteil vom 13. November 2008  26073/03 –M.O./ Deutschland– (juris) ist als Beleg für die Gegenauffassung schon deshalb ungeeignet, weil dem dortigen Beschwerdeführer –eine Person, die einer breiten Öffentlichkeit bekannt war– durch die überlange Dauer eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens und dessen Öffentlichkeitswirkung unstreitig ein erheblicher immaterieller Schaden entstanden war.
59
c) Nach den Gesetzesmaterialien (BTDrucks 17/3802, 20) soll ein derartiger Feststellungsausspruch beispielsweise in Verfahren ausreichen, die für „einen Verfahrensbeteiligten“ (gemeint kann indes nur der Entschädigungskläger sein, nicht aber dessen Gegner im Ausgangsverfahren) keine besondere Bedeutung hatten, in denen ein Verfahrensbeteiligter durch sein Verhalten erheblich zur Verzögerung beigetragen hat oder der Beklagte darlegt, dass der Entschädigungskläger –abgesehen von der Überlänge des Verfahrens als solcher– keinen weitergehenden immateriellen Schaden erlitten hat.
60
d) Auch in Bezug auf diese Rechtsfrage bietet der Streitfall keine Veranlassung, allgemeine Grundsätze zur Auslegung des § 198 Abs. 4 GVG aufzustellen oder sich abschließend zu den in den Gesetzesmaterialien angestellten Erwägungen zu äußern.
61
Die angeführten Erwägungen des Gesetzgebers könnten allerdings insoweit auf Bedenken stoßen, als eine dem Entschädigungskläger zuzurechnende Verzögerung bereits bei der Prüfung zu berücksichtigen ist, ob überhaupt der Tatbestand einer unangemessenen Verfahrensdauer erfüllt ist, und dann nicht nochmals bei der Entscheidung über die Rechtsfolgen einer als unangemessen zu beurteilenden Verfahrensdauer berücksichtigt werden darf. Auch könnte das Verlangen nach einem Nichtvermögensschaden, der über das Erdulden der Überlänge als solcher hinausgeht, in einem Spannungsverhältnis zu der Forderung des EGMR nach einem effektiven Rechtsschutz gegen Verfahrensverzögerungen stehen. Im Streitfall kommt hinzu, dass dem finanzgerichtlichen Verfahren –jedenfalls abstrakt– auch eine „besondere Bedeutung“ für den Kläger nicht abzusprechen war, da Gegenstand seiner Klage immerhin ein streitiger Steuerbetrag im Umfang von ca. einem Drittel der insgesamt für den Veranlagungszeitraum 2002 gegen den Kläger festgesetzten Einkommensteuer war.
62
e) Im Streitfall ist die Beschränkung auf einen bloßen Feststellungsausspruch aber deshalb gerechtfertigt, weil die Klage unschlüssig, d.h. bereits auf der Grundlage des eigenen Tatsachenvortrags des Klägers erkennbar unbegründet war. Denn der Kläger hat schon in der –kurz nach Klageerhebung eingereichten– Klagebegründung vom 24. März 2006 eingeräumt, dass im Nachlass genügend Masse vorhanden war, um die Steuernachzahlung begleichen zu können. Damit hätte die vom Kläger begehrte Beschränkung seiner Erbenhaftung auf den Nachlass aber von vornherein nicht zu einer Reduzierung seiner Pflicht zur Zahlung der festgesetzten Einkommensteuer führen können.
63
aa) Soweit der Kläger erstmals im Entschädigungsklageverfahren –ohne Substantiierung durch Vorlage von Unterlagen– behauptet, ab dem Jahr 2001 seien weitere Forderungen gegen den Nachlass geltend gemacht worden, was im Jahr 2004 zum Antrag auf Eröffnung eines Nachlassinsolvenzverfahrens geführt habe, ist dies für die Beurteilung durch den Senat ohne Bedeutung. Denn ob eine Klage sich als unschlüssig darstellt, ist aus der –verobjektivierten– Sicht des zur Entscheidung über diese Klage berufenen Spruchkörpers zu beurteilen. Im Übrigen vermag der Senat dieses neue Vorbringen nicht nachzuvollziehen, da es zu den früheren Tatsachenbehauptungen des Klägers in Widerspruch steht. So hat er nicht nur in der Klagebegründung vom 24. März 2006 –lange nach der angeblichen Erhebung weiterer Forderungen und dem behaupteten Antrag auf Eröffnung eines Nachlassinsolvenzverfahrens–, sondern nochmals im Schreiben vom 2. Februar 2012 erklärt, letztlich habe sich herausgestellt, dass der Nachlass ergiebig gewesen sei.
64
In einem solchen Fall, in dem sich allein aus der kurz nach Klageerhebung eingereichten Klagebegründung ohne weitere Ermittlungshandlungen des Gerichts die Unschlüssigkeit des Klagevorbringens ergibt, hat das verzögerte Verfahren –jedenfalls bei konkreter Betrachtung– für den Entschädigungskläger objektiv keine besondere Bedeutung. Denn dann ist für jeden Rechtskundigen von Anfang an klar, dass die Klage keine Aussicht auf Erfolg haben kann.
65
Selbst wenn sich –was der Senat vorliegend nicht zu entscheiden braucht– aus einer EMRK-konformen Auslegung des § 198 Abs. 2 Satz 2 GVG ein gewisser Vorrang der Geldentschädigung ergeben könnte, zeigt die Rechtsprechung des EGMR, dass auch dieser in vielen Fällen lediglich einen Feststellungsausspruch als Wiedergutmachung ausreichen lässt (vgl. die umfassende Zusammenstellung dieser Rechtsprechung bei Steinbeiß-Winkelmann/ Ott, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, Kommentar, Anhang 2). Es sind aber kaum Fallgruppen denkbar, in denen die Betroffenheit des Klägers durch eine überlange Verfahrensdauer geringer ist als bei einer nach dem eigenen Klagevorbringen bereits unschlüssigen Klage. Die Betroffenheit durch die Verzögerung beschränkt sich in diesen Fällen auf den Umstand, dass der Abschluss des finanzgerichtlichen Verfahrens lange auf sich hat warten lassen. Angesichts der von Beginn an feststehenden Unschlüssigkeit der Klage sind mit der Verzögerung aber keine weiteren Risiken oder Nachteile für die prozessuale oder sonstige Situation des Klägers verbunden.
66
bb) Betrachtet man die Rechtsprechung des EGMR bis zum Inkrafttreten des ÜberlVfRSchG, ist zwar festzustellen, dass der EGMR Deutschland in Fällen überlanger Verfahrensdauer zunehmend zur Zahlung von Geldentschädigungen verurteilt und sich nicht auf die –gemäß Art. 41 EMRK ebenfalls mögliche– bloße Feststellung einer Verletzung der EMRK beschränkt hat. Bei genauer Betrachtung liegt dies aber daran, dass der EGMR im Zeitablauf zu der Erkenntnis gelangt ist, dass in Deutschland seinerzeit ein strukturelles Problem vorhanden gewesen sei. Deutschland wurde daher in den jüngeren Entscheidungen nicht allein wegen einer Verletzung des Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren innerhalb angemessener Frist) verurteilt, sondern vor allem auch wegen einer Verletzung des in Art. 13 EMRK garantierten Rechts auf eine wirksame Beschwerde gegen Verletzungen der EMRK bei einer innerstaatlichen Instanz (vgl. EGMR-Urteil vom 8. Juni 2006  75529/01 –Sürmeli/ Deutschland–, NJW 2006, 2389). Eine solche Beschwerdemöglichkeit in Fällen überlanger Gerichtsverfahren (Untätigkeitsbeschwerde, Verzögerungsrüge) fehlte in Deutschland bis zum Inkrafttreten des ÜberlVfRSchG; dieses strukturelle Problem der deutschen Gesetzgebung –und nicht nur die tatsächliche Verzögerung eines gerichtlichen Verfahrens im Einzelfall– hat der EGMR mit der Zuerkennung von Geldentschädigungen sanktionieren wollen (vgl. EGMR-Urteil in NJW 2006, 2389, Rz 136 ff.).
67
Mit dem Inkrafttreten des ÜberlVfRSchG ist das strukturelle Problem beseitigt worden. Im Vordergrund steht nunmehr wieder die Einzelfallbetrachtung der Umstände des konkreten Verfahrens. Damit würde –hätte der EGMR über einen derartigen Fall zu entscheiden– wieder die Grundregel des Art. 41 EMRK zur Anwendung kommen, wonach der EGMR nur dann über die bloße Feststellung einer Konventionsverletzung hinaus eine „gerechte Entschädigung“ (Geldentschädigung für Nichtvermögensschäden) zuspricht, wenn das innerstaatliche Recht „nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser Verletzung“ gestattet. Die Hauptsacheentscheidung des EGMR liegt in der Feststellung einer Konventionsverletzung; die darüber hinausgehende Zuerkennung einer Geldentschädigung ist nur eine unselbständige Nebenentscheidung (so Dörr, in: Grote/Marauhn, EMRK/GG, Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2006, Kap. 33 Rz 10). Der EGMR spricht nur dann eine Geldentschädigung zu, wenn der Betroffene aufgrund der Rechtsverletzung nachweislich einen „spürbaren Nachteil“ erlitten hat (Dörr, in: Grote/Marauhn, a.a.O., Kap. 33 Rz 18).
68
7. Der Senat kann offenlassen, ob der Kläger seine am 14. Februar 2012 beim FG eingegangene Verzögerungsrüge „unverzüglich nach Inkrafttreten“ des ÜberlVfRSchG erhoben hat.
69
a) Gemäß der Übergangsregelung des Art. 23 Satz 1 ÜberlVfRSchG ist das genannte Gesetz auch auf Verfahren anwendbar, die bei seinem Inkrafttreten (3. Dezember 2011) bereits anhängig waren. War ein solches anhängiges Verfahren beim Inkrafttreten des Gesetzes schon verzögert, gilt die in § 198 Abs. 3 GVG vorgesehene Obliegenheit zur Erhebung einer Verzögerungsrüge mit der Maßgabe, dass diese „unverzüglich nach Inkrafttreten erhoben werden muss“ (Art. 23 Satz 2 ÜberlVfRSchG). In diesem Fall wahrt die Verzögerungsrüge einen Anspruch nach § 198 GVG auch für den vorausgehenden Zeitraum (Art. 23 Satz 3 ÜberlVfRSchG).
70
Der Beklagte meint –unter Verweis auf die Rechtsprechung der Zivilgerichte zu § 121 Abs. 1 Satz 1 BGB, die wiederum die für außerordentliche fristlose Kündigungen geltende zweiwöchige gesetzliche Ausschlussfrist des § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB heranzieht (Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 14. Dezember 1979  7 AZR 38/78, BAGE 32, 237, unter IV.2.)–, Verzögerungsrügen in Übergangsfällen hätten innerhalb von zwei Wochen nach dem Inkrafttreten des ÜberlVfRSchG, also bis zum 17. Dezember 2011, erhoben werden müssen, um einen Anspruch auch für die Vergangenheit zu wahren.
71
b) Der Senat kann offenlassen, ob eine solche Auslegung unter Berücksichtigung anderweitiger gesetzlicher Wertungen sachgerecht und mit der Rechtsprechung des EGMR vereinbar wäre. So steht z.B. für die Erhebung einer Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz eine einjährige Frist zur Verfügung (§ 93 Abs. 3 BVerfGG). Zudem gilt für die Beschwerden zum EGMR eine sechsmonatige Frist (Art. 35 Abs. 1 EMRK). Auch geht es darum, mittels der Auslegung des ÜberlVRSchG eine den Erfordernissen der EMRK entsprechende Rechtsprechung zu etablieren (vgl. EGMR-Entscheidung in EuGRZ 2012, 514, Rz 45).
72
Indes bedarf es im Streitfall, in dem lediglich die Feststellung einer Verfahrensverzögerung auszusprechen ist, der vorherigen (unverzüglichen) Erhebung einer Rüge durch den Kläger nicht. Denn die Feststellung einer unangemessenen Verfahrensdauer kann –im Gegensatz zur Zuerkennung einer Geldentschädigung– nach der ausdrücklichen Regelung des § 198 Abs. 4 Satz 3 GVG auch dann ausgesprochen werden, „wenn eine oder mehrere Voraussetzungen des Abs. 3 nicht erfüllt sind“. Die Obliegenheit zur Erhebung einer Verzögerungsrüge ist aber –neben anderen– in § 198 Abs. 3 GVG genannt. Diese Obliegenheit entfällt, wenn das Entschädigungsgericht sich auf einen bloßen Feststellungsausspruch beschränkt, nicht nur im gesetzlichen Regelfall des § 198 Abs. 3 GVG, sondern auch in Fällen der –vorliegend einschlägigen– Übergangsregelung des Art. 23 Satz 2 ÜberlVfRSchG. Denn nach dieser Vorschrift „gilt § 198 Abs. 3 GVG mit der Maßgabe, dass die Verzögerungsrüge unverzüglich nach Inkrafttreten erhoben werden muss“. Von dem Verweis der genannten Übergangsregelung auf § 198 Abs. 3 GVG ist daher auch die in § 198 Abs. 4 Satz 3 GVG angeordnete Ausnahme vom Erfordernis des § 198 Abs. 3 GVG umfasst.
73
Da der Senat vorliegend einen Feststellungsausspruch als Wiedergutmachung für ausreichend hält, war die Erhebung einer Verzögerungsrüge nicht erforderlich.
74
8. Die Kostenentscheidung beruht auf § 201 Abs. 4 GVG. Danach entscheidet das Gericht über die Kosten nach billigem Ermessen, wenn –wie hier– zwar kein Entschädigungsanspruch besteht, aber eine unangemessene Verfahrensdauer festgestellt wird.
75
Diese Regelung soll auch dann eine „angemessene Kostenentscheidung“ ermöglichen, wenn ein Kläger seine Rügeobliegenheit nicht erfüllt hat, gleichwohl aber eine überlange Verfahrensdauer festgestellt wird (BTDrucks 17/3802, 26). In einem solchen Fall soll sogar eine vollständige Freistellung des Klägers von den Kosten des Entschädigungsrechtsstreits möglich sein (BTDrucks 17/3802, 19, zu § 198 Abs. 2 Satz 2 GVG).
76
In einem Fall wie dem vorliegenden, in dem (1.) tatsächlich eine erhebliche Verfahrensverzögerung gegeben ist, (2.) deren Größenordnung weitgehend mit derjenigen Zeitspanne deckungsgleich ist, die der Kläger seiner monetären Entschädigungsforderung zugrunde gelegt hat, und (3.) der Kläger die Höhe seiner Entschädigungsforderung auf den gesetzlichen Regelbetrag des § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG beschränkt hat, entspricht es billigem Ermessen, dem Beklagten auch dann den weitaus überwiegenden Teil der Verfahrenskosten aufzuerlegen, wenn das Gericht letztlich keinen Entschädigungsanspruch gewährt, sondern lediglich die Unangemessenheit der Verfahrensdauer feststellt.
77
Auch der EGMR hat in seinem Urteil in NJW 2007, 1259 (Rz 201) ausgeführt, die Vorschriften über die Kosten in Entschädigungsklageverfahren könnten vom allgemeinen Kostenrecht abweichen, um zu vermeiden, dass Parteien in Fällen, in denen die Klage begründet ist, eine übermäßige Last tragen.
78
Zu keinem anderen Ergebnis führt die Erwägung des Beklagten, das konkrete Prozessverhalten des Klägers im Entschädigungsklageverfahren zeige, dass es diesem wirtschaftlich auf die Erlangung einer Geldentschädigung ankomme und der Feststellungsausspruch für ihn nur von untergeordneter Bedeutung sei, was sich auch in der Kostenentscheidung widerspiegeln müsse. Denn nach der menschenrechtlichen Konzeption der §§ 198 ff. GVG dient sowohl der Feststellungsausspruch als auch die Zuerkennung einer Geldentschädigung für immaterielle Schäden –auf die der Kläger seinen Antrag beschränkt hat– der Genugtuung für die erlittenen immateriellen Nachteile eines unangemessen verzögerten Gerichtsverfahrens. Vor diesem Hintergrund ist –auch– für die Kostenentscheidung der Umstand, dass das Entschädigungsgericht eine Verfahrensverzögerung in der vom Kläger geltend gemachten Größenordnung bejaht, von größerem Gewicht als die Wahl zwischen den verschiedenen Rechtsfolgenaussprüchen.
79
In Anwendung dieser Grundsätze legt der Senat diesen „weitaus überwiegenden“, in derartigen Fällen vom Beklagten zu tragenden Teil der Verfahrenskosten typisierend auf 75 % fest.

EuGH-Vorlage zu den Voraussetzungen der Steuerfreiheit der Umsätze eines ambulanten Pflegedienstes

Der Bundesfinanzhof (BFH) hat durch Beschluss vom 2. März 2011 XI R 47/07 dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) Fragen zu den Voraussetzungen der Steuerfreiheit der Umsätze eines ambulanten Pflegedienstes vorgelegt.

 

Nach § 4 Nr. 16 Buchst. e des Umsatzsteuergesetzes (UStG) 1993 waren steuerfrei u.a. „die mit dem Betrieb … der Einrichtungen zur ambulanten Pflege kranker und pflegebedürftiger Personen eng verbundenen Umsätze, wenn bei Einrichtungen zur vorübergehenden Aufnahme pflegebedürftiger Personen und bei Einrichtungen zur ambulanten Pflege kranker und pflegebedürftiger Personen im vorangegangenen Kalenderjahr die Pflegekosten in mindestens zwei Drittel der Fälle von den gesetzlichen Trägern der Sozialversicherung oder Sozialhilfe ganz oder zum überwiegenden Teil getragen worden sind“.

 

Der BFH hat dem EuGH die Frage vorgelegt, ob diese Vorschrift mit dem Unionsrecht vereinbar ist und ob unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Neutralität der Mehrwertsteuer für die Antwort auf diese Frage von Bedeutung ist, dass der nationale Gesetzgeber dieselben Leistungen unter anderen Voraussetzungen als steuerfrei behandelt, wenn sie von amtlich anerkannten Verbänden der freien Wohlfahrtspflege und der freien Wohlfahrtspflege dienenden Körperschaften, Personenvereinigungen und Vermögensmassen, die einem Wohlfahrtsverband als Mitglied angeschlossen sind, ausgeführt werden (§ 4 Nr. 18 UStG).

 

In dem vom BFH entschiedenen Fall hatte eine examinierte Krankenschwester ab Anfang 1993 einzelne Patienten selbständig ambulant gepflegt und zum 1. Juni 1993 einen ambulanten Pflegedienst angemeldet. Zum 1. Oktober 1993 wurde sie zu den Krankenkassen zugelassen. Von den Personen, die sie im gesamten Jahr 1993 behandelte, waren 68 % Privatzahler. Daraufhin versagte das Finanzamt (FA) die Steuerfreiheit der von der Klägerin im Jahr 1993 erbrachten Leistungen. Die Steuerfreiheit für die von der Klägerin im Folgejahr erbrachten Leistungen nach § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG versagte das FA, weil die Vorschrift auf die Verhältnisse des Vorjahres abstelle.

 

Beschluss vom 02.03.11   XI R 47/07

 

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 19.3.2013, XI R 47/07

Umsatzsteuerbefreiung von Umsätzen bei Einrichtungen zur ambulanten Pflege kranker und pflegebedürftiger Personen

Leitsätze

Scheitert die Anerkennung des sozialen Charakters einer Einrichtung zur ambulanten Pflege kranker und pflegebedürftiger Personen allein an der in § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG normierten Pflicht, diesbezüglich ausschließlich auf die Verhältnisse des vorangegangenen Kalenderjahrs abzustellen, sind die Umsätze dieser Einrichtung nach Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG steuerfrei.

Tatbestand

1
I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) betreibt in A einen ambulanten Pflegedienst. Sie ist examinierte Krankenschwester und arbeitete 1992 als angestellte Pflegedienstleiterin in einer Sozialstation. Daneben betreute sie ab Anfang 1993 einzelne Patienten selbständig und meldete zum 1. Juni 1993 einen ambulanten Pflegedienst an. Auf ihren Antrag vom 27. August 1993 wurde sie zum 1. Oktober 1993 für die Leistungen der Häuslichen Krankenpflege (§ 37 des Fünften Buchs Sozialgesetzbuch in der damals geltenden Fassung –SGB V–), Häuslichen Pflegehilfe (§§ 53 bis 56 SGB V) und Haushaltshilfe (§ 38 SGB V) zu den Krankenkassen zugelassen.
2
In den Umsatzsteuererklärungen für 1993 und 1994 (Streitjahre) behandelte sie ihre Umsätze als gemäß § 4 Nr. 16 Buchst. e des Umsatzsteuergesetzes 1993 (UStG) steuerfrei.
3
Im Jahr 1999 stellte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt –FA–) fest, dass die Klägerin (mit ihrem Personal) im Jahr 1993 insgesamt 76 Personen behandelt hatte, von denen 52 Personen (= 68 %) Privatzahler waren. Daraufhin versagte das FA die Steuerfreiheit der von der Klägerin im Jahr 1993 erbrachten Leistungen gemäß § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG unter Hinweis darauf, dass nach dieser Vorschrift in mindestens zwei Drittel der Fälle die Kosten von den gesetzlichen Trägern der Sozialversicherungen oder der Sozialhilfe ganz oder zum überwiegenden Teil getragen worden sein müssten. Die Steuerfreiheit für die von der Klägerin im Jahr 1994 erbrachten Leistungen nach § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG versagte das FA, weil die Vorschrift auf die Verhältnisse des Vorjahrs abstelle. Allerdings greife die Umsatzsteuerbefreiung nach § 4 Nr. 14 UStG ein, soweit die Klägerin Leistungen der Behandlungspflege erbracht habe; deren Anteil schätzte das FA auf ein Drittel (Umsatzsteuerbescheide für 1993 und 1994 vom 27. April 1999).
4
Dagegen erhob die Klägerin nach erfolglosem Einspruch Klage. Während des Klageverfahrens legte sie ein an sie gerichtetes Schreiben der Verwaltung A vom 19. Oktober 2005 vor, nach dem sie zum einen spätestens seit 1988 die gleichen Leistungen erbracht bzw. die gleichen Tätigkeiten ausgeführt habe wie die Pflegestationen (Sozialstationen) aus dem Kreis der Liga der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege in Berlin und zum anderen sie bzw. ihr Unternehmen in sozialrechtlicher Hinsicht als Einrichtung mit sozialem Charakter anerkannt worden sei.
5
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage überwiegend statt. Es führte aus, die im Streitjahr 1993 bis zum 1. Oktober ausgeführten Umsätze der Klägerin seien, soweit sie auf die Behandlungspflege entfielen, gemäß § 4 Nr. 14 Satz 1 UStG steuerfrei; deren Anteil schätzte das FG auf der Grundlage von Berechnungen, die die Klägerin im Klageverfahren vorgelegt hatte, auf 75 %.
6
Für den Zeitraum vom 1. Oktober 1993 bis 31. Dezember 1994 könne die Klägerin die Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG beanspruchen. Ab diesem Zeitraum seien mindestens zwei Drittel dieser Umsätze auf Personen entfallen, bei denen die Pflegekosten von den gesetzlichen Trägern der Sozialversicherung oder Sozialhilfe ganz oder überwiegend getragen worden seien. § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG sei richtlinienkonform dahingehend auszulegen, dass erst der Zeitraum ab Oktober 1993 heranzuziehen sei.
7
Das Urteil des FG ist veröffentlicht in Entscheidungen der Finanzgerichte 2007, 624.
8
Mit seiner Revision rügt das FA die Verletzung des § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG.
9
Die Klägerin hingegen beruft sich für die Steuerfreiheit ihrer Umsätze unmittelbar auf Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern (Richtlinie 77/388/EWG).
10
Der Senat hat mit Beschluss vom 2. März 2011 XI R 47/07 (BFHE 232, 568, BStBl II 2012, 699) das Revisionsverfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
11
„1. Erlauben es Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g und/oder Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 77/388/EWG dem nationalen Gesetzgeber, die Steuerbefreiung der Leistungen zur ambulanten Pflege kranker und pflegebedürftiger Personen davon abhängig zu machen, dass bei diesen Einrichtungen ‚im vorangegangenen Kalenderjahr die Pflegekosten in mindestens zwei Drittel der Fälle von den gesetzlichen Trägern der Sozialversicherung oder Sozialhilfe ganz oder zum überwiegenden Teil getragen worden sind‘ (§ 4 Nr. 16 Buchst. e UStG)?
12
2. Ist es unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Neutralität der Mehrwertsteuer für die Antwort auf diese Frage von Bedeutung, dass der nationale Gesetzgeber dieselben Leistungen unter anderen Voraussetzungen als steuerfrei behandelt, wenn sie von amtlich anerkannten Verbänden der freien Wohlfahrtspflege und der freien Wohlfahrtspflege dienenden Körperschaften, Personenvereinigungen und Vermögensmassen, die einem Wohlfahrtsverband als Mitglied angeschlossen sind, ausgeführt werden (§ 4 Nr. 18 UStG)?“
13
Der EuGH hat diese Fragen mit Urteil vom 15. November 2012 C-174/11 –Zimmermann– (Umsatzsteuer-Rundschau –UR– 2013, 35, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung –HFR– 2013, 84) wie folgt beantwortet:
14
„Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage verbietet es bei einer Auslegung im Licht des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität, dass die Mehrwertsteuerbefreiung der von gewerblichen Leistungserbringern erbrachten ambulanten Pflege von einer Bedingung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden abhängig gemacht wird, nach der die Kosten dieser Pflege im vorangegangenen Kalenderjahr in mindestens zwei Drittel der Fälle von den gesetzlichen Trägern der Sozialversicherung oder Sozialhilfe ganz oder zum überwiegenden Teil getragen worden sein müssen, wenn diese Bedingung nicht geeignet ist, im Rahmen der für die Zwecke dieser Vorschrift erfolgenden Anerkennung des sozialen Charakters von Einrichtungen, die keine Einrichtungen des öffentlichen Rechts sind, die Gleichbehandlung zu gewährleisten.“
15
Das FA hat sich zur Entscheidung des EuGH nicht geäußert.
16
Die Klägerin sieht ihre Rechtsauffassung bestätigt.
17
Das FA beantragt, das FG-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen, soweit das FG die Klagestattgabe für den Zeitraum vom 1. Oktober 1993 bis zum 31. Dezember 1994 auf § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG gestützt hat.
18
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

19
II. Die Revision ist unbegründet und war daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung –FGO–). Das FG hat im Ergebnis zu Recht entschieden, dass die streitigen Umsätze der Klägerin von der Steuer befreit sind.
20
1. Der Senat versteht das Revisionsbegehren des FA trotz dessen (umfassenden) Antrags, die Klage insgesamt abzuweisen, unter Zugrundelegung der Revisionsbegründung dahingehend, dass das FG-Urteil nur insoweit angegriffen werden soll, als das FG seine Klagestattgabe –für den Zeitraum vom 1. Oktober 1993 bis 31. Dezember 1994– auf § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG gestützt hat.
21
Soweit das FG entschieden hat, die im Zeitraum vom 1. Januar bis 30. September 1993 ausgeführten Umsätze der Klägerin seien bei einem (geschätzten) Anteil der Behandlungspflege von 75 % nach § 4 Nr. 14 Satz 1 UStG steuerfrei, hat das FA keine Rechts- oder Verfahrensfehler geltend gemacht.
22
Dass Leistungen der Behandlungspflege (nicht aber Leistungen der Grundpflege und der haushaltswirtschaftlichen Versorgung) durch dazu qualifiziertes Krankenpflegepersonal nach § 4 Nr. 14 Satz 1 UStG steuerfrei sind, entspricht der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs –BFH– (vgl. z.B. Urteil vom 22. April 2004 V R 1/98, BFHE 205, 514, BStBl II 2004, 849; Nachfolgeentscheidung zum EuGH-Urteil vom 10. September 2002 C-141/00 –Kügler–, Slg. 2002, I-6833, BFH/NV Beilage 2003, 30).
23
2. a) Nach § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG in der in den Streitjahren 1993 und 1994 geltenden Fassung waren von den unter § 1 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 UStG fallenden Umsätzen steuerfrei u.a. „die mit dem Betrieb … der Einrichtungen zur ambulanten Pflege kranker und pflegebedürftiger Personen eng verbundenen Umsätze, wenn

a) diese Einrichtungen von juristischen Personen des öffentlichen Rechts betrieben werden“ –was im Streitfall ausscheidet– „oder

e) … im vorangegangenen Kalenderjahr die Pflegekosten in mindestens zwei Drittel der Fälle von den gesetzlichen Trägern der Sozialversicherung oder Sozialhilfe ganz oder zum überwiegenden Teil getragen worden sind“.

24
b) Die Vorschrift beruht auf Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG –nunmehr Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwStSystRL). Danach befreien unbeschadet sonstiger Vorschriften „die Mitgliedstaaten unter den Bedingungen, die sie zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der nachstehenden Befreiungen sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen festsetzen, von der Steuer:

g) die eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundenen Dienstleistungen und Lieferungen von Gegenständen, einschließlich derjenigen der Altenheime, durch Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder andere von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialen Charakter anerkannte Einrichtungen“.

25
Nach Art. 13 Teil A Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 77/388/EWG –nunmehr Art. 133 MwStSystRL– können die Mitgliedstaaten die Gewährung der unter Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG vorgesehenen Befreiung für Einrichtungen, die keine Einrichtungen des öffentlichen Rechts sind, von Fall zu Fall von der Erfüllung näher bezeichneter Bedingungen abhängig machen.
26
3. Die streitbefangenen Leistungen der Klägerin sind nicht nach § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG steuerfrei.
27
Zwar hat das FG für den Senat bindend festgestellt (§ 118 Abs. 2 FGO), dass die Klägerin zum 1. Oktober 1993 für die Leistungen der Häuslichen Krankenpflege (§ 37 SGB V), Häuslichen Pflegehilfe (§§ 53 bis 56 SGB V) und Haushaltshilfe (§ 38 SGB V) zu den Krankenkassen zugelassen worden ist, und dass in dem im Revisionsverfahren allein noch verbliebenen Streitzeitraum vom 1. Oktober 1993 bis 31. Dezember 1994 mindestens zwei Drittel ihrer Umsätze auf Personen entfallen sind, bei denen die Pflegekosten von den gesetzlichen Trägern der Sozialversicherung oder Sozialhilfe ganz oder überwiegend getragen worden sind. Der Tatbestand des § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG ist jedoch insoweit nicht erfüllt, als die Pflegekosten nicht „im vorangegangenen Kalenderjahr“ in mindestens zwei Drittel der Fälle von den gesetzlichen Trägern der Sozialversicherung oder Sozialhilfe ganz oder zum überwiegenden Teil getragen worden sind.
28
4. Für die Steuerfreiheit der streitbefangenen Leistungen kann sich die Klägerin jedoch mit Erfolg unmittelbar auf Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG berufen (vgl. dazu EuGH-Urteil –Zimmermann– in UR 2013, 35, HFR 2013, 84, Rz 32; BFH-Urteile vom 18. August 2005 V R 71/03, BFHE 211, 543, BStBl II 2006, 143; vom 1. Dezember 2010 XI R 46/08, BFHE 232, 232).
29
a) Die Klägerin hat in Ausübung der ambulanten Pflege eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Leistungen i.S. des Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG erbracht (vgl. EuGH-Urteile –Kügler– in Slg. 2002, I-6833, BFH/NV Beilage 2003, 30, Rz 44; –Zimmermann– in UR 2013, 35, HFR 2013, 84, Rz 22 bis 24). Dies ist zwischen den Beteiligten auch unstreitig.
30
b) Bei der Klägerin handelt es sich zudem um eine als Einrichtung mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtung i.S. von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG.
31
aa) Vorgenannte Vorschrift legt die Voraussetzungen und Modalitäten der Anerkennung nicht fest. Es ist daher grundsätzlich Sache des innerstaatlichen Rechts jedes Mitgliedstaats, die Regeln aufzustellen, nach denen diesen Einrichtungen eine solche Anerkennung gewährt werden kann. Die Mitgliedstaaten verfügen insoweit über ein Ermessen (EuGH-Urteile vom 26. Mai 2005 C-498/03 –Kingscrest Associates und Montecello–, Slg. 2005, I-4427, UR 2005, 453, Rz 49, 51; –Zimmermann– in UR 2013, 35, HFR 2013, 84, Rz 26).
32
Es ist Sache des nationalen Gerichts, anhand aller maßgeblichen Umstände zu bestimmen, ob der Steuerpflichtige eine als Einrichtung mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtung im Sinne dieser Bestimmung ist (EuGH-Urteile –Kügler– in Slg. 2002, I-6833, BFH/NV Beilage 2003, 30, Rz 61; –Zimmermann– in UR 2013, 35, HFR 2013, 84, Rz 32).
33
bb) Nach dem EuGH-Urteil –Zimmermann– (UR 2013, 35, HFR 2013, 84) geht es vorliegend im Wesentlichen darum, ob die Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) bei der Ausgestaltung der Anerkennung i.S. von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG die Grenzen des ihr zustehenden Ermessens beachtet hat (vgl. Rz 28; s.a. EuGH-Urteil –Kügler– in Slg. 2002, I-6833, BFH/NV Beilage 2003, 30, Rz 55). Ficht ein Steuerpflichtiger die Anerkennung oder die Nichtanerkennung der Eigenschaft als Einrichtung mit sozialem Charakter i.S. von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG an, haben die nationalen Gerichte demgemäß zu prüfen, ob die zuständigen Behörden die Grenzen des ihnen in diesem Artikel eingeräumten Ermessens unter Beachtung der Grundsätze des Unionsrechts eingehalten haben, einschließlich insbesondere des Grundsatzes der Gleichbehandlung, der im Mehrwertsteuerbereich im Grundsatz der steuerlichen Neutralität zum Ausdruck kommt (EuGH-Urteile –Kügler– in Slg. 2002, I-6833, BFH/NV Beilage 2003, 30, Rz 56; –Zimmermann– in UR 2013, 35, HFR 2013, 84, Rz 33).
34
cc) Hierzu führt der EuGH in seinem Urteil –Zimmermann– (UR 2013, 35, HFR 2013, 84) näher aus:
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„31
Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs geht jedoch hervor, dass es bei der Bestimmung der Einrichtungen, deren ’sozialer Charakter‘ im Sinne von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Sechsten Richtlinie für die Zwecke dieser Bestimmung anzuerkennen ist, Sache der nationalen Behörden ist, im Einklang mit dem Unionsrecht und unter der Kontrolle der nationalen Gerichte mehrere Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Zu ihnen können das Bestehen spezifischer Vorschriften – seien es nationale oder regionale, Rechts- oder Verwaltungsvorschriften, Steuervorschriften oder Vorschriften im Bereich der sozialen Sicherheit –, das mit den Tätigkeiten des betreffenden Steuerpflichtigen verbundene Gemeinwohlinteresse, die Tatsache, dass andere Steuerpflichtige mit den gleichen Tätigkeiten bereits in den Genuss einer ähnlichen Anerkennung kommen, und der Gesichtspunkt zählen, dass die Kosten der fraglichen Leistungen unter Umständen zum großen Teil von Krankenkassen oder anderen Einrichtungen der sozialen Sicherheit übernommen werden (vgl. in diesem Sinne Urteile Kügler, Randnrn. 57 und 58, und Kingscrest Associates und Montecello, Randnr. 53, sowie entsprechend Urteile vom 6. November 2003, Dornier, C-45/01, Slg. 2003, I-12911, Randnrn. 72 und 73, L. u. P., Randnr. 53, und CopyGene, Randnrn. 65 und 71).

35
Was zunächst die Zwei-Drittel-Grenze betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass nach der in Randnr. 31 des vorliegenden Urteils dargestellten Rechtsprechung die Tatsache, dass die Kosten der fraglichen Leistungen unter Umständen zum großen Teil von Krankenkassen oder anderen Einrichtungen der sozialen Sicherheit übernommen werden, einen Gesichtspunkt darstellt, der bei der Festlegung der Einrichtungen berücksichtigt werden kann, deren ’sozialer Charakter‘ im Sinne von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Sechsten Richtlinie für die Zwecke dieser Bestimmung anzuerkennen ist.
37
Entsprechend ist das Erfordernis einer wie im Ausgangsverfahren auf zwei Drittel der Fälle festgesetzten Schwelle für die Zwecke der Anwendung von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Sechsten Richtlinie zu beurteilen. Durch das Erfordernis einer solchen Schwelle wird nämlich auf ähnliche Weise dem Bedürfnis entsprochen, bei der Anwendung dieser Vorschrift den sozialen Charakter von Einrichtungen anzuerkennen. Ebenso überschreitet ein Mitgliedstaat das ihm nach Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Sechsten Richtlinie zustehende Ermessen grundsätzlich nicht dadurch, dass er auch im Zusammenhang mit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bedingung verlangt, dass die Kosten für die betreffenden Leistungen der ambulanten Pflege ganz oder zum überwiegenden Teil von den gesetzlichen Sozialversicherungs- oder Sozialhilfeträgern übernommen worden sein müssen.

40
… ist es erforderlichenfalls Sache des vorlegenden Gerichts, zu beurteilen, ob in den Situationen, in denen von Beginn der betreffenden Tätigkeiten an der ’soziale Charakter‘ im Sinne von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Sechsten Richtlinie nach der in Randnr. 31 des vorliegenden Urteils dargestellten Rechtsprechung anzuerkennen wäre, die Pflicht, ausschließlich auf das vorangegangene Kalenderjahr abzustellen, zur Folge hat, dass hinsichtlich des ersten Kalenderjahrs dieser Tätigkeiten oder sogar ihrer ersten beiden Kalenderjahre die Anerkennung des ’sozialen Charakters‘ des betreffenden Leistungserbringers im Sinne dieser Vorschrift automatisch und zwangsläufig ausgeschlossen ist.
41
Soweit die Pflicht, ausschließlich auf das vorangegangene Kalenderjahr abzustellen, dies zur Folge hätte, kann sie nicht auf der Grundlage des Einleitungssatzes von Art. 13 Teil A Abs. 1 der Sechsten Richtlinie gerechtfertigt werden.“
36
dd) Unter Anlegung dieser Maßstäbe hat Deutschland bei der Ausgestaltung der Anerkennung i.S. von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG die Grenzen des ihm zustehenden Ermessens nicht beachtet.
37
Zwar hat der EuGH im Urteil –Zimmermann– (UR 2013, 35, HFR 2013, 84) die Zwei-Drittel-Grenze des § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG sowie die dort normierte Bedingung, dass die Kosten für die betreffenden Leistungen der ambulanten Pflege ganz oder zum überwiegenden Teil von den gesetzlichen Sozialversicherungs- oder Sozialhilfeträgern übernommen worden sein müssen, ausdrücklich gebilligt. Durch die in § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG normierte Pflicht, diesbezüglich jeweils auf das vorangegangene Kalenderjahr abzustellen, würde jedoch die Anerkennung des „sozialen Charakters“ der Klägerin für den Streitzeitraum, in dem sie dem Grunde nach Umsätze i.S. des § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG ausführte, automatisch und zwangsläufig ausgeschlossen. Hierfür bietet Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG keine Grundlage (EuGH-Urteil –Zimmermann– in UR 2013, 35, HFR 2013, 84, Rz 40, 41).
38
Aus den Ausführungen des EuGH ergibt sich ferner, dass insofern auf die Tätigkeit der Klägerin im Zeitraum ab dem 1. Oktober 1993 abzustellen ist, ab dem die Zwei-Drittel-Grenze erfüllt ist, und nicht auf das Kalenderjahr 1993.
39
c) Die Steuerbefreiung der streitigen Leistungen ist nicht nach Art. 13 Teil A Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 77/388/EWG ausgeschlossen.
40
aa) Nach Art. 13 Teil A Abs. 2 Buchst. b erster Gedankenstrich der Richtlinie 77/388/EWG sind von der Steuerbefreiung Dienstleistungen ausgeschlossen, wenn sie zur Ausübung der von der Steuer befreiten Tätigkeiten nicht unerlässlich sind (vgl. EuGH-Urteil –Zimmermann– in UR 2013, 35, HFR 2013, 84, Rz 61, m.w.N.).
41
Vorliegend ist weder durch das FG festgestellt noch überhaupt vom FA geltend gemacht, dass die Klägerin solche von der Steuerbefreiung ausgeschlossenen Dienstleistungen getätigt hätte.
42
bb) Hinsichtlich Art. 13 Teil A Abs. 2 Buchst. b zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 77/388/EWG, nach dem Dienstleistungen und Lieferungen von Gegenständen von der in Art. 13 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG vorgesehenen Steuerbefreiung ausgeschlossen sind, wenn sie im Wesentlichen dazu bestimmt sind, der Einrichtung zusätzliche Einnahmen durch Tätigkeiten zu verschaffen, die in unmittelbarem Wettbewerb mit Tätigkeiten von der Mehrwertsteuer unterliegenden gewerblichen Unternehmen durchgeführt werden, sind diese Voraussetzungen für einen Ausschluss der Steuerbefreiung weder vorgetragen noch ersichtlich.

Fehlende Beschwer für Antrag auf mündliche Verhandlung

BUNDESFINANZHOF Beschluss vom 27.3.2013, IV R 51/10

Fehlende Beschwer für Antrag auf mündliche Verhandlung

Tatbestand

1
I. Mit Gerichtsbescheid vom 13. Dezember 2012 hat der Senat die Revision des Beklagten und Revisionsklägers (Finanzamt –FA–) gegen das Urteil des Finanzgerichts Rheinland-Pfalz vom 20. November 2009  5 K 1593/08 (Entscheidungen der Finanzgerichte 2011, 791) als unbegründet zurückgewiesen und dem FA die Kosten des Verfahrens auferlegt. Der Bevollmächtigten des Klägers und Revisionsbeklagten (Kläger) wurde der Gerichtsbescheid am 24. Januar 2013 zugestellt. Durch seine Bevollmächtigte stellte der Kläger am 22. Februar 2013 einen Antrag auf mündliche Verhandlung, ohne diesen zu begründen. Mit Schreiben vom 5. März 2013 wurden die Beteiligten des Rechtsstreits zur mündlichen Verhandlung am 11. April 2013 geladen. Zugleich wurde der Kläger aufgefordert, seine Einwendungen gegen die im Gerichtsbescheid vertretene Rechtsauffassung des Senats bis zum 22. März 2013 schriftlich mitzuteilen. Bis zum Ablauf der Frist ist eine Stellungnahme des Klägers nicht eingegangen.

Entscheidungsgründe

2
II. Der Antrag auf mündliche Verhandlung ist unzulässig und war daher durch Beschluss abzulehnen.
3
1. Gegen einen Gerichtsbescheid kann nur derjenige Beteiligte einen Antrag auf mündliche Verhandlung nach § 90a Abs. 2 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) stellen, der durch den Gerichtsbescheid beschwert ist. Denn der Antrag setzt wie jeder Rechtsbehelf ein Rechtsschutzinteresse voraus. Ist dem Antrag des Beteiligten durch den Gerichtsbescheid in vollem Umfang entsprochen worden und macht der Beteiligte nicht ein besonderes Rechtsschutzinteresse geltend, ist der Antrag unzulässig (Beschluss des Bundesfinanzhofs –BFH– vom 1. Juli 2009 VII R 3/08, juris; Brandis in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 90a FGO Rz 9, m.w.N.; Gräber/ Koch, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 90a Rz 20; Schallmoser in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 90a FGO Rz 60). Er ist in entsprechender Anwendung des § 126 Abs. 1 FGO ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss abzulehnen (BFH-Beschluss vom 1. Juli 2009 VII R 3/08, juris).
4
2. Der Kläger hat trotz ausdrücklicher Aufforderung durch den Senat keine Begründung für den Antrag auf mündliche Verhandlung gegeben. Ein Rechtsschutzinteresse ist nicht ersichtlich, weil dem Begehren des Klägers mit dem Gerichtsbescheid durch die Zurückweisung der Revision als unbegründet in vollem Umfang entsprochen worden ist. Dass der Senat dem Begehren des Klägers aus anderen als von diesem vorgebrachten Gründen entsprochen hat, vermittelt dem Kläger kein ausreichendes Rechtsschutzinteresse. Denn die Beschwer aus einer Entscheidung ergibt sich aus deren Entscheidungssatz (Tenor) und nicht aus der dafür gegebenen Begründung (BFH-Beschluss vom 1. Februar 1983 VIII R 30/80, BFHE 138, 4, BStBl II 1983, 534). Eine Beschwer des Klägers ergibt sich auch nicht im Hinblick auf eine Bindungswirkung der Entscheidung für spätere Besteuerungszeiträume. Nach dem Grundsatz der Abschnittsbesteuerung sind die Voraussetzungen für die Anwendung des § 13a des Einkommensteuergesetzes (EStG) in jedem Jahr eigenständig zu prüfen. Eine Besonderheit ist nicht in der Bindungsfrist des § 13a Abs. 2 EStG zu sehen. Diese könnte den Kläger nur betreffen, wenn die Ermittlung des Gewinns durch Einnahmen-Überschussrechnung Folge eines Antrags nach § 13a Abs. 2 Satz 1 EStG wäre. Dies ist aber nach dem Gerichtsbescheid nicht der Fall, weil der Senat die Voraussetzungen für einen solchen Antrag als nicht gegeben angesehen hat.
5
3. Der Antrag auf mündliche Verhandlung war danach abzulehnen. Demgemäß wirkt der Gerichtsbescheid nach §§ 121, 90a Abs. 3 FGO als Urteil.
6
4. Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei.

Bindungswirkung des Einkommensteuerbescheids für die Beihilfe

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 19.2.2013, IX R 31/11

Bindungswirkung des Einkommensteuerbescheids für die Beihilfe; Zurechnung der Einkünfte aus einem Erbbaugrundstück

Tatbestand

1
I. Die verheirateten Kläger und Revisionskläger (Kläger) wurden im Streitjahr (2008) zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Neben einer Altersrente bezog der Kläger Versorgungsbezüge als beihilfeberechtigter Bundesbeamter im Ruhestand. Die Klägerin verfügt nicht über eigene (Alters-)Einkünfte. Streitig ist, ob der vom Kläger als eigene Einkünfte erklärte Überschuss aus einem im Eigentum der Klägerin stehenden, mit einem Erbbaurecht belasteten Grundstück dem Kläger oder der Klägerin zuzurechnen ist.
2
Bereits im Jahr 1961 wurde an dem maßgeblichen Grundstück von dem seinerzeitigen Eigentümer ein Erbbaurecht auf 99 Jahre zugunsten eines Dritten bestellt. Im Rahmen der notariellen Erbbaurechtsbestellung vereinbarten die Parteien u.a. einen jährlichen Erbbauzins von 16.500 DM (8.436 EUR), der in das Grundbuch einzutragen war. Außerdem trafen die Parteien eine schuldrechtliche Vereinbarung über die Anpassung des Erbbauzinses bei Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse. Bei einer etwaigen Änderung des Erbbauzinses war eine Grundbuchberichtigung durchzuführen.
3
Der Kläger übertrug mit notariell beurkundetem Vertrag vom 15. Oktober 1969 das –von ihm zwischenzeitlich im Wege der Gesamtrechtsnachfolge erworbene– Eigentum an dem erbbaubelasteten Grundstück unentgeltlich auf die Klägerin, die mit sofortiger Wirkung neben den „Nutzungen und öffentlichen Lasten“ aus dem Grundstück auch das darauf lastende Erbbaurecht „mit allen sich daraus ergebenden Verpflichtungen zur weiteren Duldung“ übernahm. Im Vorgriff darauf hatte die Klägerin bereits am 8. Oktober 1969 privatschriftlich „alle Einkünfte, die im Laufe (ihrer) Ehezeit aus diesem Grundstück erzielt werden“, dem Kläger „unwiderruflich abgetreten“. Auf demselben Schriftstück hatte der Kläger taggleich die Annahme dieser Abtretung erklärt.
4
In ihrer Einkommensteuererklärung für das Streitjahr ermittelten die Kläger Einkünfte aus dem Erbbaugrundstück in Höhe von (unstreitig) 83.186 EUR, die sie ausschließlich dem Kläger als Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung nach § 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) zurechneten. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt –FA–) berücksichtigte im Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr indes die Einkünfte in der erklärten Höhe bei der Klägerin als Grundstückseigentümerin und ermittelte Altersentlastungsbeträge nach § 24a EStG in Höhe von 133 EUR für den Kläger und 1.748 EUR für die Klägerin, insgesamt also 1.881 EUR. Einen Antrag der Kläger auf schlichte Änderung des Einkommensteuerbescheides mit Blick auf die Zurechnung der Einkünfte aus dem erbbaurechtsbelasteten Grundstück lehnte das FA ab. Der Einspruch der Kläger hatte keinen Erfolg.
5
Die hiergegen erhobene Klage blieb erfolglos. Das Finanzgericht (FG) vertrat die Auffassung, das Abtretungsverbot für noch nicht fällige (dingliche) Erbbauzinsleistungen nach § 9 Abs. 2 des Erbbaurechtsgesetzes (ErbbauRG) verhindere das notwendige Verbleiben des Klägers in der „Vermieter- bzw. Verpächterstellung“, obgleich sich „nach außen“ nichts geändert habe. Daneben liege ein stillschweigend vorbehaltenes, vertragliches Nutzungsrecht trotz jahrzehntelanger Durchführung schon deshalb nicht vor, weil keine (zusätzlichen) schuldrechtlichen Vereinbarungen über den Erbbauzins getroffen worden seien. Die tatsächliche Überlassung des Entgelts von der Klägerin an den Kläger sei bloße Einkommensverwendung.
6
Mit ihrer Revision rügen die Kläger die Verletzung materiellen Rechts (§ 21 Abs. 1 EStG). Zur Begründung tragen sie vor, die Gestaltung sei nur gewählt worden, um die Klägerin für den Fall der Ehescheidung finanziell abzusichern. Entsprechend führe die Vorausabtretung wirtschaftlich lediglich zu einer (unentgeltlichen) Grundstücksübertragung unter Vorbehaltsnießbrauch. Die Erbbauzinseinkünfte seien weiter dem Kläger zuzurechnen, der wirtschaftlich in der Stellung eines (obligatorisch) Nutzungsberechtigten verblieben sei. Im Außenverhältnis trete (allein) der Kläger als Vermieter auf und im Innenverhältnis lägen alle Chancen und Risiken der Entwicklung des (indexierten) Erbbauzinses bei ihm. Er allein könne über das Konto verfügen, auf dem der vereinnahmte Erbbauzins eingehe. Eine Zahlung der darauf entfallenden Einkommensteuerschuld sei der Klägerin deshalb gar nicht möglich. Entgegen der Auffassung des FG komme es auf die Frage der zivilrechtlichen Wirksamkeit der Abtretung nicht an.
7
Die Kläger beantragen sinngemäß,

das angefochtene Urteil des FG, die Einspruchsentscheidung des FA vom 27. April 2010 und den Ablehnungsbescheid vom 15. Dezember 2009 aufzuheben und den Einkommensteuerbescheid für 2008, zuletzt geändert durch Bescheid vom 4. Februar 2010, dahin zu ändern, dass die Einkünfte aus dem mit dem Erbbaurecht belasteten Grundstück in Höhe von 83.186 EUR anstelle der Klägerin nunmehr dem Kläger zugerechnet werden.

8
Das FA beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

9
II. Die Revision ist begründet und führt nach § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Entscheidung in der Sache selbst durch Stattgabe der Klage. Zu Unrecht hat das FG –entgegen § 39 der Abgabenordnung (AO)– die Einkünfte aus dem Erbbaugrundstück der Klägerin zugerechnet.
10
1. Im Ergebnis zutreffend ist das FG von der Zulässigkeit der Klage ausgegangen.
11
a) Nach § 40 Abs. 2 FGO ist eine Klage nur zulässig, wenn der Kläger geltend macht, durch den angefochtenen Steuerverwaltungsakt in seinen Rechten verletzt zu sein. Die Beschwer muss sich dabei grundsätzlich aus der Steuerfestsetzung selbst und damit dem Tenor des angefochtenen Bescheides ergeben; denn die festgestellten Besteuerungsgrundlagen sind nach § 157 Abs. 2 AO lediglich Teil der nicht selbständig anfechtbaren Begründung des Steuerbescheides. Etwas anderes gilt nur, wenn und soweit den Besteuerungsgrundlagen (gesetzliche) Bindungswirkung für andere Bescheide zukommt (vgl. etwa zur Bindungswirkung der in einem Steuerbescheid ausgewiesenen positiven Einkünfte nach §§ 21, 22, 24 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes: Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. Juli 1992  5 B 113/92, Buchholz 436.36 § 21 BAföG Nr. 18; Urteile des Bundesfinanzhofs –BFH– vom 29. Mai 1996 III R 49/93, BFHE 180, 238, BStBl II 1996, 654; vom 20. Dezember 1994 IX R 124/92, BFHE 176, 409, BStBl II 1995, 628).
12
b) Im Streitfall besteht die Rechtsverletzung nicht in einer zu hohen Steuerfestsetzung. Denn entgegen der Auffassung des FG führt die von den Klägern begehrte Änderung der Einkünftezurechnung nicht –über einen höheren Altersentlastungsbetrag– zu einer Minderung der Steuerfestsetzung selbst. Nach § 24a Satz 5 EStG liegt der Altersentlastungshöchstbetrag für beide Kläger bei jeweils 36,8 % der relevanten Einkünfte bzw. bei höchstens 1.748 EUR: Beide Ehegatten hatten im Jahr 2006 ihr 64. Lebensjahr vollendet und gehörten somit nach § 24a Sätze 3 und 4 EStG (erst) ab 2007 zum begünstigten Personenkreis. Der Höchstbetrag von 1.900 EUR, den das FG seiner Prüfung zugrunde gelegt hat, gilt indes nur für Steuerpflichtige, die die maßgeblichen Voraussetzungen bereits ab dem Jahr 2005 erfüllt haben.
13
c) Zu Recht hat das FG allerdings eine Beschwer aufgrund der Bindungswirkung des Steuerbescheides für den Beihilfeanspruch der Klägerin nach § 80 Abs. 1 Sätze 1 und 3, Abs. 4 des Bundesbeamtengesetzes i.V.m. § 4 Abs. 1 Sätze 1 und 4 der Bundesbeihilfeverordnung (BBhV) bejaht. Nach der Verordnungsermächtigung im Bundesbeamtengesetz wird Beihilfe auch für Aufwendungen der Ehegattin eines Versorgungsempfängers gewährt, die kein zur wirtschaftlichen Selbständigkeit führendes Einkommen hat. Konkretisierend regelt die BBhV in § 4 Abs. 1 Satz 1, dass die Ehegattin eines Beihilfeberechtigten nur dann (selbst) berücksichtigungsfähig ist, wenn der Gesamtbetrag ihrer (eigenen) Einkünfte nach § 2 Abs. 3 EStG oder vergleichbarer ausländischer Einkünfte im zweiten Kalenderjahr vor Beantragung der Beihilfe 17.000 EUR nicht übersteigt. Nach Satz 4 der Vorschrift ist der Gesamtbetrag der Einkünfte durch Vorlage einer Ablichtung des Steuerbescheides nachzuweisen. Da die Klägerin durch die –unzutreffende, für die Entscheidung über die Beihilfefähigkeit der Ehefrau jedoch bindende– Zurechnung von Einkünften aus dem erbbaubelasteten Grundstück diese Einkünftegrenze überschreiten würde, ist sie i.S. des § 40 Abs. 2 FGO beschwert.
14
2. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben, weil das FG die Einkünfte aus dem Erbbaugrundstück zu Unrecht der Klägerin zugerechnet hat. Soweit das FG dabei ausschließlich auf das zivilrechtliche Abtretungsverbot nach § 9 Abs. 2 ErbbauRG abgestellt hat, hat es § 39 AO verletzt.
15
a) Einkünfte sind demjenigen zuzurechnen, der sie „erzielt“, d.h. der den Tatbestand der Einkunftserzielung verwirklicht. Den objektiven Tatbestand der Einkunftsart Vermietung und Verpachtung verwirklicht, wer als Inhaber (Eigentümer, sonstiger Nutzungsberechtigter, tatsächlich Nutzender) die maßgebenden wirtschaftlichen Dispositionsbefugnisse über eines der in § 21 Abs. 1 EStG genannten Wirtschaftsgüter („das Nutzungsobjekt“) innehat und damit eine Vermietertätigkeit selbst (ggf. auch durch einen Vertreter oder Verwalter) ausübt (vgl. BFH-Urteil vom 15. Dezember 2009 IX R 55/08, BFH/NV 2010, 863, m.w.N.).
16
b) Die vom Kläger vereinnahmten Erbbauzinsen stellen Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung des Erbbaugrundstücks nach § 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG dar (vgl. BFH-Urteil vom 20. September 2006 IX R 17/04, BFHE 215, 139, BStBl II 2007, 112, m.w.N.). Denn steuerrechtlich umfasst das Erbbaurechtsverhältnis nach § 1 Abs. 1 ErbbauRG das veräußerliche und vererbliche Recht, auf oder unter der Oberfläche des (belasteten) Grundstücks ein Bauwerk zu haben; als solches steht es einem Miet- oder Pachtverhältnis gleich. Die Besonderheit des Erbbaurechts besteht nur darin, dass die Rechtsbeziehungen verdinglicht werden, so dass sie auch zwischen den Nachfolgern im Erbbaurecht und im Grundstückseigentum gelten (vgl. BFH-Urteil vom 23. September 2003 IX R 65/02, BFHE 203, 355, BStBl II 2005, 159, m.w.N.).
17
c) Trotz dieser „dinglichen Wirkung“ ist der –grundsätzlich dem Grundstückseigentümer zustehende– Erbbauzinsanspruch im Streitfall mit der (unentgeltlichen) Übertragung des Erbbaugrundstücks nicht auf die Klägerin übergegangen, sondern beim Kläger verblieben. Denn nach § 39 Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 AO sind –abweichend von der abgabenrechtlichen Grundregel des § 39 Abs. 1 AO und der zivilrechtlichen Regelung des § 9 Abs. 2 ErbbauRG– Wirtschaftsgüter dann nicht dem (Grundstücks-)Eigentümer zuzurechnen, wenn ein anderer als der Eigentümer die tatsächliche Herrschaft über ein Wirtschaftsgut in der Weise ausübt, dass er den Eigentümer im Regelfall für die gewöhnliche Nutzungsdauer von der Einwirkung auf das Wirtschaftsgut wirtschaftlich ausschließen kann.
18
aa) Mit Vertrag vom 15. Oktober 1969 hat der Kläger das Eigentum an dem erbbaurechtsbelasteten Grundstück unentgeltlich auf die Klägerin übertragen, die damit sowohl die „Nutzungen“ aus dem Grundstück wie auch die sich aus dem Erbbaurecht ergebenden „Verpflichtungen zur weiteren Duldung“ übernahm. Nicht zu den insoweit individualvertraglich auf die Klägerin übertragenen „Nutzungen“ zählte der Zinsanspruch aus dem Erbbaurecht; dieses Wirtschaftsgut ist beim Kläger verblieben, da diesem nach dem Gesamtbild der Verhältnisse, insbesondere nach den zwischen den Beteiligten getroffenen vertraglichen Vereinbarungen, auch nach der Übertragung des Eigentums am Grundstück wirtschaftlich –i.S. des § 39 Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 AO– die Stellung eines Nutzungsberechtigten am Erbbaurecht zukommt. Entgegen der Auffassung des FG erschöpft sich die (Voraus-)Abtretung der Zinseinkünfte aus dem Erbbaurecht im Streitfall nicht in einer –einkommensteuerrechtlich unerheblichen– Verwendung erzielter Einkünfte, sondern führte rechtlich zu dem Ergebnis, dass dem Kläger die Einkunftsquelle selbst zur (eigenen) Nutzung verblieb.
19
Zwar kann eine (Voraus-)Abtretung als solche aus steuerrechtlicher Sicht auch für eine bloße Verwendung eigener (künftiger) Einnahmen sprechen (vgl. BFH-Urteil vom 30. März 1979 III R 88/77, BFHE 128, 85, BStBl II 1979, 540). Aus den vom FG festgestellten, den BFH nach § 118 Abs. 2 FGO bindenden Tatsachen ergibt sich im Streitfall jedoch, dass dem Kläger nicht nur (bereits „erzielte“) Einkünfte aus dem Erbbaurecht abgetreten, sondern die mit der Erbbaurechtsbestellung verbundenen grundlegenden Rechtspositionen –insbesondere das Recht zur schuldrechtlichen Anpassung der Zinsansprüche und zum Einzug der fälligen Forderungen– übertragen wurden. Unstreitig trat der Kläger nach der Grundstücksübertragung unverändert weiter als Erbbauverpflichteter nach außen auf, verhandelte über die Anpassung des Erbbauzinses und vereinnahmte die insoweit fälligen Zahlungen. Diese Handhabung entsprach dem Willen der Parteien, wonach sich die Grundstücksübertragung wirtschaftlich erst im Fall der Beendigung der Ehe zugunsten der Klägerin auswirken sollte. Die Beschränkung der (Voraus-)Abtretung auf die Ehezeit steht einer wirksamen Nutzungsüberlassung an den Kläger bis zur tatsächlichen Beendigung der Ehe nicht entgegen. Etwas anderes könnte nur dann gelten, wenn diese auflösende Bedingung schon vor ihrem Eintreten als Eingriff in die Dispositionsbefugnis des Nutzungsberechtigten anzusehen wäre (vgl. BFH-Urteil vom 19. November 2003 IX R 54/00, BFH/NV 2004, 1079). Dafür bestehen im Streitfall indes keine Anhaltspunkte; der Kläger hat vielmehr für die Ehezeit eine gesicherte Rechtsposition erlangt, durch die er die Klägerin als Grundstückseigentümerin von der Einwirkung auf das Erbbaurechtsverhältnis ausschließen kann. Der wirtschaftliche Zweck der Grundstücksübertragung erschöpft sich insoweit in einem (künftigen) Sicherungszweck zugunsten der Klägerin.
20
bb) Die Zurechnung der Einkünfte gemäß § 39 Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 AO beim Kläger scheitert auch nicht am Abtretungsverbot des § 9 Abs. 2 ErbbauRG. Soweit das FG ein umfassendes Nutzungsrecht des Klägers allein deshalb für ausgeschlossen hält, weil eine Übernahme der dinglichen Rechte und Pflichten im Fall des Erbbaurechts zivilrechtlich nicht möglich sei, berücksichtigt es nicht, dass Nutzungsberechtigter im steuerrechtlichen Sinn auch derjenige sein kann, dem –wie hier– ein dinglich gesichertes Nutzungsrecht entgeltlich oder unentgeltlich, formlos oder konkludent zur Ausübung überlassen wurde (vgl. BFH-Urteil vom 6. September 2006 IX R 13/05, BFH/NV 2007, 406). Das noch fortbestehende   dingliche,   von der Klägerin nicht ausgeübte Erbbaurecht steht mithin einer steuerrechtlich beachtlichen   schuldrechtlichen   Nutzungsvereinbarung nicht entgegen.
21
3. Die Sache ist spruchreif. Dem Kläger sind die –der Höhe nach unstreitigen– Einkünfte aus dem Erbbaugrundstück gemäß § 39 Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 AO als Nutzungsberechtigtem zuzurechnen.

Kein Abzug nicht einkünftebezogener Steuerberatungskosten

BUNDESFINANZHOF Beschluss vom 25.3.2013, IX B 186/12

Kein Abzug nicht einkünftebezogener Steuerberatungskosten – Behauptete fehlerhafte Auslegung eines „Vergleichs“ kein verfahrensrechtlicher Fehler

Gründe

1
Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
2
1. Es kann offenbleiben, ob der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) den behaupteten Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung –FGO–) hinreichend i.S. des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO dargelegt hat. Denn es ist jedenfalls höchstrichterlich geklärt, dass ein Abzug von nicht einkünftebezogenen Steuerberatungskosten nach der Streichung von § 10 Abs. 1 Nr. 6 des Einkommensteuergesetzes a.F. von Gesetzes wegen nicht mehr in Betracht kommt und dies auch von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden ist (Urteile des Bundesfinanzhofs –BFH– vom 4. Februar 2010 X R 10/08, BFHE 228, 317, BStBl II 2010, 617; vom 16. Februar 2011 X R 10/10, BFH/NV 2011, 977).
3
2. Die behauptete Divergenz (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 2. Alternative FGO) ist nicht entsprechend den Anforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO durch das Gegenüberstellen einander widersprechender abstrakter Rechtssätze aus der Entscheidung der Vorinstanz einerseits und der behaupteten –überdies fehlerhaft bezeichneten– Divergenzentscheidung des BFH vom 9. Februar 1994 IX R 110/90 (BFHE 175, 212, BStBl II 1995, 47) andererseits erkennbar gemacht worden. Der Kläger wendet sich nach dem sachlichen Gehalt seines Beschwerdevorbringens im Grunde nur gegen die erstinstanzliche Entscheidung des Finanzgerichts (FG) und setzt seine eigene Rechtsauffassung an die Stelle des FG; mit der bloßen Rüge einer „abweichenden Beurteilung“ –d.h. einer fehlerhaften Rechtsanwendung– legt der Kläger keine Abweichung im Grundsätzlichen dar.
4
3. Der Kläger hat auch keinen Verfahrensmangel hinreichend i.S. des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO dargelegt. Insbesondere die behauptete fehlerhafte Auslegung der vom Kläger als „Vergleich“ bezeichneten, in einem früheren Verfahren getroffenen tatsächlichen Verständigung wäre kein verfahrensrechtlicher, sondern ein materieller Fehler, der als solcher die Zulassung der Revision nicht rechtfertigen kann.

Steuerliche Nichtanerkennung eines nicht vertragsgemäß durchgeführten Mietverhältnisses zwischen „nahen Angehörigen“

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 22.1.2013, IX R 70/10

Steuerliche Nichtanerkennung eines nicht vertragsgemäß durchgeführten Mietverhältnisses zwischen „nahen Angehörigen“ – Wegfall der Einkünfteerzielungsabsicht bei Verzicht auf außerordentliche Kündigung eines notleidenden Mietverhältnisses

Tatbestand

1
I. Streitig ist, ob die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) im Streitjahr (1997) einen Werbungskostenüberschuss bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung erzielt hat.
2
Mit notariell beurkundetem Kaufvertrag vom 3. November 1993 erwarb die Klägerin von ihrem Lebensgefährten das Grundstück X. Nach § 4 Abs. 2 des Kaufvertrages bestand im Zeitpunkt der Veräußerung ein „langfristiges Nutzungsrecht der Eltern des Verkäufers“ an dem Grundstück. Aufgrund der von den Kaufvertragsparteien abgegebenen Erklärungen wurde im Grundbuch zugunsten der Klägerin eine Auflassungsvormerkung an dem Grundstück X eingetragen. Eine Eigentumsumschreibung zugunsten der Klägerin erfolgte nicht, da diese die fällige Grunderwerbsteuer nicht entrichtet hat; das zivilrechtliche Eigentum verblieb danach weiterhin bei ihrem Lebensgefährten. Das Grundstück X wurde ab Mai 2000 zwangsverwaltet und im Juli 2003 im Wege der Zwangsversteigerung veräußert.
3
Die Klägerin ließ das Objekt X in den Jahren 1994 und 1995 durch die Anfang Januar 1994 gegründete Z-GmbH, deren Gesellschafter-Geschäftsführerin sie war, sanieren; der Sanierungsaufwand belief sich auf 447.825 DM (1994: 380.652 DM; 1995: 67.173 DM). Der Betrieb der GmbH wurde zum 29. Dezember 1997 wieder aufgegeben.
4
Unter dem 1. Januar 1995 schloss die Klägerin –als Vermieterin– mit der durch Gesellschaftsvertrag vom 23. November 1994 gegründeten A-GmbH –als Mieterin– einen befristeten Mietvertrag über die Anmietung des Objekts X für die Zeit vom 1. Februar 1995 bis zum 1. Januar 2005. Gesellschafter der A-GmbH waren die Eltern des Lebensgefährten der Klägerin und zivilrechtlichen (Noch-)Eigentümers des Grundstücks. Die A-GmbH beantragte am 1. November 1996 die Eröffnung des Gesamtvollstreckungsverfahrens über ihr Vermögen. Der Antrag wurde mangels Masse im Frühjahr 1997 abgelehnt.
5
Die A-GmbH entrichtete die Miete für Februar 1995 am 27. Januar 1995. Die Miete für März 1995 wurde verspätet –nämlich am 24. März 1995– geleistet; die Miete für April 1995 hat die A-GmbH unter dem 28. April und dem 22. Mai 1995 in zwei Teilzahlungen entrichtet. Die Miete für Mai 1995 ging am 26. Juni 1995, die Miete für Juni 1995 als Bareinzahlung ohne Herkunftsangabe am 31. August 1995 auf dem Konto der Klägerin ein. Die Miete für Juli 1995 überwies die A-GmbH unter dem 27. September 1995. Danach gingen überhaupt keine Mietzahlungen der A-GmbH bei der Klägerin mehr ein. Unter dem 9. Oktober 1997 und dem 15. März 1998 forderte die Klägerin die A-GmbH auf, offene Mietforderungen zu begleichen; rechtliche Schritte zur Einziehung der offenen Mietforderungen hat die Klägerin indes nicht unternommen. Das Mietverhältnis wurde auch nicht gekündigt.
6
Die Klägerin machte in ihrer Einkommensteuererklärung für das Streitjahr bei den Einkünften aus der Vermietung des Objekts X einen Werbungskostenüberschuss in Höhe von 284.745 DM geltend, der sich im Wesentlichen aus Schuldzinsen (in Höhe von 46.235 DM) und Absetzungen für Abnutzung (13.540 DM) sowie Sonderabschreibungen nach § 4 des Fördergebietsgesetzes (223.913 DM) zusammensetzte. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt –FA–) setzte mit Bescheid vom 6. Oktober 2003 die Einkommensteuer für das Streitjahr auf 0 EUR fest. Dabei ließ das FA die erklärten Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung u.a. hinsichtlich des Objekts X wegen Fehlens einer Einkünfteerzielungsabsicht unberücksichtigt. Zugleich erließ das FA wegen anderweitig erzielter negativer Einkünfte einen Bescheid über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs zur Einkommensteuer zum 31. Dezember 1997. Der gegen diesen Bescheid gerichtete Einspruch der Klägerin, mit dem sie eine Berücksichtigung der geltend gemachten Werbungskostenüberschüsse aus Vermietung und Verpachtung begehrte, hatte keinen Erfolg.
7
Das Finanzgericht (FG) wies die hiergegen gerichtete Klage mit seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte 2011, 974 veröffentlichten Urteil als unbegründet ab. Das FG vertrat die Auffassung, hinsichtlich des Objekts X sei keine Einkünfteerzielungsabsicht festzustellen. Zwar sei das Objekt vermietet gewesen, jedoch habe die Klägerin den Entschluss zur Einkünfteerzielung aufgegeben, nachdem die Mieterin bereits im Sommer 1995 die laufenden Mietzahlungen eingestellt habe und sie, die Klägerin, daraufhin keine ernsthaften Bemühungen unternommen habe, diesen Zustand zu beenden. Insbesondere habe die Klägerin nur deshalb nicht von dem ihr zustehenden Kündigungsrecht Gebrauch gemacht, weil es sich bei den Gesellschaftern der Mieterin um die Eltern ihres Lebensgefährten gehandelt habe. Auch habe sich die Klägerin nicht ernsthaft und nachhaltig bemüht, einen anderen, solventen Mieter zu finden.
8
Mit ihrer hiergegen gerichteten Revision verfolgt die Klägerin ihr Begehren nach Berücksichtigung des geltend gemachten Werbungskostenüberschusses hinsichtlich des Objekts X weiter. Sie vertritt die Auffassung, ihre mit Abschluss des Mietvertrages begründete Einkünfteerzielungsabsicht sei nicht durch den Verzicht auf dessen Kündigung entfallen. Denn die Mieterin habe –trotz Nichterfüllung der Hauptleistung– weiterhin die Mietnebenkosten und die Kosten anfallender Reparaturen getragen. Damit seien zumindest Teile der Mietzinsforderung erfüllt worden. Von dem die A-GmbH betreffenden Gesamtvollstreckungsverfahren habe sie, die Klägerin, nichts erfahren. Insgesamt sei es daher wirtschaftlich sinnvoll gewesen, bis zum Finden eines geeigneten Nachmieters für die auf die Belange der A-GmbH zugeschnittene Immobilie noch keine Kündigung auszusprechen. Auf diese Weise seien wenigstens die Nebenkosten der Immobilie sowie die Reparaturkosten getragen worden. Zwar habe die A-GmbH ab Mitte 1995 keine Miete mehr gezahlt, jedoch hätte eine Kündigungs- und Räumungsklage im gleichen Zeitraum zwischen Mitte 1995 und dem Ende des Streitjahres angesichts der Verfahrensdauer bei Gericht wohl nicht erfolgreich durchgeführt werden können. Da sie, die Klägerin, von dem Gesamtvollstreckungsverfahren gegen die A-GmbH keine Kenntnis gehabt habe, sei dieser Umstand für die Beurteilung der Einkünfteerzielungsabsicht ohnehin nicht von Bedeutung.
9
Die Klägerin beantragt sinngemäß,

das angefochtene Urteil des FG vom 24. Februar 2010 aufzuheben sowie den Bescheid über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs zur Einkommensteuer zum 31. Dezember 1997 vom 6. Oktober 2003 i.d.F. der Einspruchsentscheidung vom 20. Mai 2005 dahin zu ändern, dass der hinsichtlich des Objekts X geltend gemachte Werbungskostenüberschuss in Höhe von 285.745 DM berücksichtigt wird.

10
Das FA beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

11
Es vertritt die Auffassung, dass das Festhalten der Klägerin an dem notleidenden Mietverhältnis mit der A-GmbH sowie die fehlende Suche nach einem geeigneten Nachmieter vom FG zu Recht als Indiz für eine fehlende Einkünfteerzielungsabsicht gewertet wurden.

Entscheidungsgründe

12
II. Die Revision ist unbegründet und nach § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zurückzuweisen. Das FG ist im Ergebnis zu Recht davon ausgegangen, dass der von der Klägerin im Rahmen der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung hinsichtlich des Objekts X geltend gemachte Werbungskostenüberschuss nicht zu berücksichtigen ist.
13
1. Nach § 9 Abs. 1 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) in der in den Streitjahren geltenden Fassung sind Werbungskosten Aufwendungen zur Erwerbung, Sicherung und Erhaltung von Einnahmen. Sie sind nach § 9 Abs. 1 Satz 2 EStG bei der Einkunftsart Vermietung und Verpachtung abzuziehen, wenn sie durch sie veranlasst sind. Die Berücksichtigung von Aufwand als Werbungskosten bei der Einkunftsart Vermietung und Verpachtung setzt danach voraus, dass der Steuerpflichtige sich endgültig entschlossen hat, aus dem Objekt durch Vermieten Einkünfte nach § 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG zu erzielen und diese Entscheidung später nicht aufgegeben hat.
14
2. Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob, wovon das FG ausgeht, im Einzelfall eine durch Aufnahme der Vermietungstätigkeit begründete Einkünfteerzielungsabsicht des Steuerpflichtigen bereits dann entfallen kann, wenn dieser ein notleidendes Mietverhältnis nicht unverzüglich durch außerordentliche Kündigung (§ 543 Abs. 2 Nr. 3 des Bürgerlichen Gesetzbuchs –BGB–) beendet. Denn im Streitfall ist der geltend gemachte Werbungskostenüberschuss schon deshalb nicht zu berücksichtigen, weil das gesamte Mietverhältnis der Besteuerung nicht zugrunde gelegt werden kann.
15
a) Auf das Mietverhältnis der Klägerin mit der A-GmbH sind die Grundsätze zur steuerrechtlichen Anerkennung von Vertragsverhältnissen zwischen nahestehenden Personen anzuwenden; diese sind u.a. davon abhängig, dass der maßgebliche Vertrag bürgerlich-rechtlich wirksam vereinbart worden ist und sowohl seine Gestaltung als auch die tatsächliche Durchführung des Vereinbarten dem zwischen Fremden Üblichen entspricht. Diese Anforderungen gründen auf der Überlegung, dass es zwischen diesen Personen typischerweise an einem Interessengegensatz mangelt und somit zivilrechtliche Gestaltungsmöglichkeiten steuerrechtlich missbraucht werden können. Im Interesse einer effektiven Missbrauchsbekämpfung ist es daher geboten und zulässig, an den Beweis des Abschlusses und an den Nachweis der Ernstlichkeit von Vertragsgestaltungen zwischen nahe stehenden Personen strenge Anforderungen zu stellen (vgl. Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts vom 7. November 1995  2 BvR 802/90, BStBl II 1996, 34; vom 20. November 1984  1 BvR 1406/84, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1985, 283; Urteile des Bundesfinanzhofs –BFH– vom 7. Juni 2006 IX R 4/04, BFHE 214, 173, BStBl II 2007, 294; vom 31. Juli 2007 IX R 8/07, BFH/NV 2008, 350, m.w.N.).
16
b) Was unter „nahe stehenden Personen“ zu verstehen ist, ist gesetzlich nicht definiert. Im Rahmen der Prüfung, ob ein Mietverhältnis dem steuerlich bedeutsamen (§ 9 Abs. 1 EStG) oder dem privaten Bereich (§ 12 EStG) zuzuordnen ist, ist maßgeblich zu berücksichtigen, ob ein den Gleichklang wirtschaftlicher Interessen indizierendes, den Einzelfall bestimmendes Näheverhältnis angenommen werden kann (BFH-Beschlüsse vom 25. Mai 2012 IX B 20/12, BFH/NV 2012, 1308; vom 10. Februar 2010 IX B 163/09, BFH/NV 2010, 887; Blümich/Heuermann, § 21 EStG Rz 126). Im Streitfall besteht ein solches Näheverhältnis zwischen der Klägerin und der von den Eltern ihres Lebensgefährten beherrschten GmbH aufgrund der persönlichen Lebensbeziehungen der beteiligten Personen (s. hierzu auch BFH-Beschluss vom 22. April 2002 IX B 186/01, BFH/NV 2002, 1155), und zwar unbeschadet der Frage, ob die Klägerin –als bloße wirtschaftliche Eigentümerin des Objektes X– die Mietvereinbarungen ausschließlich in ihrem eigenen Interesse oder auch im Interesse und/oder mit Billigung ihres Lebensgefährten –als dem zivilrechtlichen Eigentümer der Immobilie– geschlossen hat.
17
c) Im Streitfall kann das zwischen der Klägerin und der ihr „nahe stehenden“ A-GmbH abgeschlossene Mietverhältnis schon deshalb nicht der Besteuerung zugrunde gelegt werden, weil es tatsächlich nicht durchgeführt wurde. Die der Mieterin obliegende Vertragshauptpflicht zur Leistung des Mietzinses wurde von der A-GmbH von Vertragsbeginn an nicht entsprechend den getroffenen Vereinbarungen erfüllt; denn schon die Mietzinszahlung für März 1995 ging verspätet bei der Klägerin ein. Auch alle weiteren Mietzahlungen (für April bis August 1995) wurden nicht entsprechend den getroffenen Vereinbarungen geleistet. Die Klägerin hat die Nichterfüllung dieser Vertragspflichten über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr nicht beanstandet und auch im Übrigen keine rechtlichen Maßnahmen zur Beitreibung offener Forderungen unternommen. Die Nichtdurchführung des Mietvertrages hat seine Ursache nicht, wie die Klägerin meint, in einer bloßen Leistungsstörung auf Seiten der Mieterin, sondern beruht auf dem besonderen Verhältnis der Klägerin zu den Gesellschaftern der A-GmbH. Vor diesem Hintergrund führt die Würdigung des Verhaltens der Klägerin zu dem Schluss, dass die Nichterfüllung der geschuldeten Leistungen und die Untätigkeit der Klägerin nicht im Rahmen eines einkommensteuerlich beachtlichen Verhaltens, sondern ausschließlich aus privaten Gründen (§ 12 EStG) zu verstehen ist. Mangels eines tatsächlichen Vollzugs des Vereinbarten muss der Senat auch nicht entscheiden, ob das Mietverhältnis so, wie es die Klägerin vereinbart hat, dem Fremdvergleich entspricht.
18
3. Die Sache ist spruchreif. Aufgrund der nicht angegriffenen Feststellungen des FG steht fest, dass der Mietvertrag tatsächlich nicht wie vereinbart durchgeführt wurde. Der Senat kann die im Streitfall erforderliche Würdigung auf der Grundlage der vom FG hinreichend getroffenen Feststellungen selbst vornehmen (vgl. BFH-Urteil vom 22. August 2007 III R 89/06, BFH/NV 2008, 351); die Revision ist zurückzuweisen, weil eine Berücksichtigung des von der Klägerin geltend gemachten Werbungskostenüberschusses mangels eines steuerrechtlich erheblichen Verhaltens unter keinem denkbaren rechtlichen Gesichtspunkt in Betracht kommt.