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Abgabenordnung: Schätzung von Weihnachtsmarktverkäufer

Einkommensteuer: In dem Verfahren einer Steuerpflichtigen, die zeitweilig auf Weihnachts- und sonstigen Sondermärkten einen Verkaufsstand betreibt, hat der 1. Senat mit dem Finanzamt die Ordnungsmäßigkeit ihrer Aufzeichnungen verneint, der Klage jedoch überwiegend stattgegeben, weil er im Rahmen seiner eigenen Schätzungsbefugnis von dem Mittelwert für den Rohgewinnaufschlag der Richtsatzsammlung für kunstgewerbliche Er-zeugnisse im Einzelhandel wegen der Besonderheiten ihres Gewerbes gegenüber einem „Normalbetrieb“ des Einzelhandels zugunsten der Klägerin abgewichen ist (85% statt 96%), Urteil vom 18.12.2012, 1 K 172/10, rechtskräftig.

 

FINANZGERICHT HAMBURG
Az.: 1 K 172/10
Urteil des Senats vom 18.12.2012
Rechtskraft: rechtskräftig
Normen: FGO § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2, AO 158, AO 162
Leitsatz: Der Betrieb eines Steuerpflichtigen, der nur zeitweilig auf Weihnachts- und sonstigen Sondermärkten einen Verkaufsstand betreibt, weicht gegenüber dem in der Richtsatzsammlung erfassten Normalbetrieb des Einzelhandels ab, was im Rahmen der Schätzungsbefugnis des Finanzgerichts einen Abschlag vom durchschnittlichen Rohgewinnaufschlag rechtfertigt.
Überschrift: Abgabenordnung: Schätzung von Weihnachtsmarktverkäufer
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit von Schätzungsbescheiden für die Jahre 2002 bis 2003.
Die Klägerin verkaufte auf Weihnachts-, Oster- und anderen Sondermärkten, überwiegend im A-Einkaufszentrum (A) der Stadt B, auf eigenen Ständen Artikel aus Keramik und Porzellan sowie Dekorationsartikel und Weihnachtsschmuck in der Regel gegen Bargeld. Nach den Aufzeichnungen der Klägerin nahm sie wie folgt an Veranstaltungen teil:
– im Jahr 2002 insgesamt 12 Ausstellungen an insgesamt 82 Kalendertagen, davon 54 Kalendertage im A,
– im Jahr 2003 insgesamt 13 Ausstellungen an insgesamt 76 Kalendertagen, davon 41 Kalendertage im A,
– im Jahr 2004 insgesamt 12 Ausstellungen an insgesamt 69 Kalendertagen, davon 43 Kalendertage im A.
Für die Tätigkeit der Klägerin im A berechnete sich die Standmiete nach den täglichen Nettoumsätzen der Klägerin. Die Klägerin teilte dem A ihre täglichen Nettoumsätze auf sogenannten „Umsatzmeldungen“ mit. In ihren Jahreskalendern (Timer) notierte die Klägerin den Bruttoumsatz des jeweiligen Tages sowie teilweise das jeweilige „Kleingeld/Wechselgeld“. Soweit die Klägerin auf Notizzetteln die anfängliche Summe des Kleingeldes notierte, warf sie diese Zettel teilweise nach Erfassung des Bruttoumsatzes weg.
Der Beklagte erließ erklärungsgemäß Einkommensteuerbescheide …. Den Umsatzsteuererklärungen stimmte der Beklagte zu.
Im Rahmen einer Betriebsprüfung gelangte die Prüferin zu der Auffassung, die Klägerin führe kein ordnungsmäßiges Kassenbuch. Die Prüferin schätzte unter Berücksichtigung eines Abschlages in Höhe von 5 vom Hundert (v. H.) auf den Wareneinkauf wegen Bruchs/Diebstahls und eines Rohgewinnaufschlages in Höhe von 96 v. H. (Mittelwert der Richtsatzsammlung für kunstgewerbliche Erzeugnisse im
Einzelhandel) Umsätze hinzu. Warenbestandsveränderungen berücksichtigte die Prüferin nicht. Die Prüferin kam danach zu Mehrumsätzen …. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Betriebsprüfungsbericht vom 26.09.2006 verwiesen.
Der Beklagte folgte der Auffassung der Betriebsprüferin und erließ am … geänderte Einkommensteuerbescheide für 2002 bis 2004, in denen er die Einkommensteuer … höher festsetzte. Des Weiteren erließ der Beklagte Umsatzsteuerbescheide für 2002 bis 2004, in denen er die Umsatzsteuer höher festsetzte, sowie erstmalige Bescheide über den Gewerbesteuermessbetrag und die Gewerbesteuer für 2003 und 2004, in denen er den Gewerbesteuermessbetrag festsetzte.
Gegen die geänderten Einkommensteuerbescheide 2002 bis 2004 legte die Klägerin am 28.03.2007 Einsprüche ein, gegen die geänderten Umsatzsteuerbescheide 2002 bis 2004 sowie die Bescheide über den Gewerbesteuermessbetrag und die Gewerbesteuer 2003 und 2004 am 15.06.2007. Der Beklagte wies die Einsprüche mit Einspruchsentscheidungen vom 12.08.2010 zurück.
Hiergegen richtet sich die am 13.09.2010 erhobene Klage. Die Klägerin ist der Auffassung, es fehle an einer Schätzungsbefugnis dem Grunde nach. Sie habe jeden Abend „Kassensturz“ gemacht und ihre Umsätze ordnungsgemäß aufgezeichnet. Da die Umsatzmeldungen für das A anerkannt worden seien, seien ihre Unterlagen sachlich richtig. Selbst wenn eine Schätzungsbefugnis dem Grunde nach gegeben sein sollte, seien für die Zeiträume der Veranstaltungen im A die hierfür angefertigten Umsatzmeldungen zugrunde zu legen. Die Schätzung des Beklagten sei im Übrigen deshalb fehlerhaft, da er die Besonderheiten ihres Betriebes nicht berücksichtigt habe. Aufgrund der Beschaffenheit ihrer Waren komme ein nicht unerheblicher Teil zu Bruch. Zudem müsse von einer höheren Diebstahlsquote ausgegangen werden, da sie kein Ladengeschäft habe und ihre Ware nur auf offen zugänglichen Ständen von ca. 9 m² Größe anbiete. Wegen ihrer geringen Kosten habe sie die Ware deutlich preiswerter anbieten können. Im Übrigen sei es nicht möglich, die erworbenen Artikel noch im selben Jahr wieder zu verkaufen. Denn die Artikel der Klägerin unterlägen starken Modeschwankungen. Die in ihren Einnahme-Überschussrechnungen dargestellten Warenbestände habe sie in der Weise ermittelt, dass sie nur die Gegenstände gezählt habe, die in dem betreffenden Jahr eingekauft und nicht wieder verkauft worden seien. Für das Jahr 2003 sei in dieser Weise ein Warenbestand in Höhe von … EUR ermittelt worden. Soweit Waren aus Vorjahren noch vorhanden gewesen seien, seien diese in den Warenbeständen nicht enthalten.
Die Klägerin beantragt,
die Einkommensteuerbescheide 2002 bis 2004 vom 26.03.2007 sowie die Umsatzsteuerbescheide 2002 bis 2004 und Bescheide über den Gewerbesteuermessbetrag und die Gewerbesteuer 2003 und 2004, jeweils vom 05.06.2007, in Gestalt der Einspruchsentscheidungen vom 12.08.2010 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er ist der Auffassung, die Schätzung sei dem Grunde und der Höhe nach nicht zu beanstanden. Warenbestände seien im Streitfall unter Berücksichtigung des Mittelwerts der Richtsatzsammlung zu schätzen. Der Beklagte sei nicht gehalten, bei einer groben Verletzung von Aufzeichnungspflichten von dem unteren Wert der Richtsatzsammlung auszugehen, sondern könne auch bis an die obere Grenze gehen.
Auf eine mündliche Verhandlung haben die Klägerin mit Schriftsatz vom 17.10.2012, bei Gericht eingegangen am 19.10.2012, und der Beklagte mit Schriftsatz vom 12.11.2012, bei Gericht eingegangen am 13.11.2012, verzichtet.
Entscheidungsgründe:
I.
Das Gericht entscheidet gemäß § 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung.
II.
Die zulässige Klage ist teilweise begründet. Die angefochtenen Bescheide sind in der Weise rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO), als der Beklagte zu hohe Einnahmen bzw. Umsätze hinzugeschätzt hat. Die Hinzuschätzung erfolgt nach Maßgabe der Entscheidungsgründe und führt dazu, dass die Einkommensteuer 2002 bis 2004 und die Umsatzsteuer 2004 nicht ganz in dem begehrten Umfang herabgesetzt sowie die Umsatzsteuerbescheide 2002 und 2003 und die Bescheide über den Gewerbesteuermessbetrag und die Gewerbesteuer 2003 und 2004, jeweils vom 05.06.2007 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 12.08.2010, aufgehoben werden. Die Berechnung wird gemäß § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO dem Beklagten übertragen.
Im Übrigen ist die Klage unbegründet.

1. Die Besteuerungsgrundlagen sind dem Grunde nach zu schätzen.

Das Gericht hat die Besteuerungsgrundlagen zu schätzen, wenn der Steuerpflichtige Bücher oder Aufzeichnungen, die er nach den Steuergesetzen zu führen hat, nicht vorlegen kann oder wenn die Buchführung oder die Aufzeichnungen der Besteuerung nicht nach § 158 der Abgabenordnung (AO) zugrunde gelegt werden können (§ 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 FGO in Verbindung mit – i. V. m. – § 162 Abs. 2 Satz 2 AO). Gemäß § 158 AO sind die Buchführung und die Aufzeichnungen des Steuerpflichtigen, die den Vorschriften der §§ 140 bis 148 AO entsprechen, der Besteuerung zugrunde zu legen, soweit nach den Umständen des Einzelfalls kein Anlass besteht, ihre sachliche Richtigkeit zu beanstanden.
Die Klägerin hat Aufzeichnungen nach den Steuergesetzen zu führen. Auch die Überschussrechnung nach § 4 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes – EStG -, die die Klägerin vornahm, setzt voraus, dass die Betriebseinnahmen und Betriebsausgaben durch Belege nachgewiesen werden. Dabei ergibt sich die Pflicht zur Einzelaufzeichnung aus § 22 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) i. V. m. §§ 63 bis 68 der Umsatzsteuer-Durchführungsverordnung (UStDV). Die
Aufzeichnungsverpflichtung aus einem Steuergesetz wirkt, sofern dieses Gesetz keine Beschränkung auf seinen Geltungsbereich enthält oder sich eine Beschränkung aus der Natur der Sache nicht ergibt, unmittelbar auch für andere Steuergesetze, also auch für das EStG (Bundesfinanzhof – BFH -, Urteil vom 26.02.2004 XI R 25/02, Sammlung der Entscheidungen des BFH – BFHE – 205, 249, Bundessteuerblatt Teil II – BStBl II – 2004, 599 mit weiteren Nachweisen – m. w. N. -). Gemäß § 22 Abs. 2 Nr. 1 UStG sind die vereinnahmten Entgelte aufzuzeichnen. Des Weiteren müssen nach § 63 Abs. 1 UStDV die Aufzeichnungen so beschaffen sein, dass es einem sachverständigen Dritten innerhalb einer angemessenen Zeit möglich ist, einen Überblick über die Umsätze des Unternehmens und die abziehbaren Vorsteuern zu erhalten.
Die Aufzeichnungen der Klägerin entsprechen nicht der Vorschrift des § 146 AO. Diese Norm gilt auch für die Gewinnermittlung nach § 4 Abs. 3 EStG. Die allgemeinen Ordnungsvorschriften in den §§ 145 ff. AO betreffen grundsätzlich jegliche zu Besteuerungszwecken gesetzlich geforderten Aufzeichnungen, also auch solche, zu denen der Steuerpflichtige aufgrund anderer Steuergesetze verpflichtet ist, wie z. B. nach § 22 UStG (BFH-Urteil vom 24.06.2009 VIII R 80/06, BFHE 225, 302, BStBl II 2010, 452 m. w. N.). Dabei ist bei der Überschussrechnung im Fall von Kasseneinnahmen die Vorschrift des § 146 Abs. 1 Satz 2 AO als spezielle Aufzeichnungsnorm zu beachten (vergleiche – vgl. – Drüen, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 146 AO Rz. 30a m. w. N.). Entscheidend ist, dass die für die Besteuerung maßgebenden Vorgänge vollständig erfasst werden und die Einnahmeermittlung nachvollziehbar dokumentiert und überprüfbar ist (Finanzgericht – FG – des Saarlandes, Urteil vom 21.06.2012, 1 K 1124/10, Entscheidungen der Finanzgerichte – EFG – 2012, 1816 m. w. N.).
Im Streitfall sind die Aufzeichnungen der Klägerin der Besteuerung nicht zugrunde zu legen, da die Aufzeichnungen der Klägerin den Vorgaben des § 146 AO nicht genügen. Gemäß § 146 Abs. 1 Satz 1 AO sind die Buchungen und die sonst erforderlichen Aufzeichnungen vollständig, richtig, zeitgerecht und geordnet vorzunehmen. Kasseneinnahmen und Kassenausgaben sollen täglich festgehalten werden (§ 146 Abs. 1 Satz 2 AO). Zwar ergibt sich aus den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung für Einzelhandelsunternehmer, die im Allgemeinen Waren an ihnen der Person nach nicht bekannte Kunden über den Ladentisch gegen Barzahlung verkaufen, in der Regel nicht die Verpflichtung, die baren Betriebseinnahmen einzeln aufzuzeichnen (BFH-Urteil vom 12.05.1966 IV 472/60, BStBl III 1966, 372; Bundesministerium der Finanzen – BMF -, Schreiben vom 24.02.2004, IV D 2 – S 0315 – 4/04, BStBl I 2004, 419). Die Kassenaufzeichnungen müssen jedoch so beschaffen sein, dass ein Buchsachverständiger jederzeit in der Lage ist, den Sollbestand mit dem Istbestand der Geschäftskasse zu vergleichen (vgl. auch BFH-Urteil vom 14.12.2011 XI R 5/10, juris, m. w. N.; vgl. zu den Anforderungen an die Kassenbuchführung/Kassenaufzeichnungen auch BFH-Urteil vom 20.6.1985 IV R 41/82, Sammlung der Entscheidungen des BFH – BFH/NV – 1985, 12 m. w. N.; BFH-Urteil vom 21.02.1990 X R 54/87, BFH/NV 1990, 683; FG des Saarlandes, Urteil vom 21.06.2012, 1 K 1124/10, EFG 2012, 1816 m. w. N.). Diese sogenannte Kassensturzfähigkeit liegt bei der Klägerin nicht vor. Es ist nicht möglich, den Sollbestand mit dem Istbestand der Geschäftskasse zu vergleichen. Die Klägerin hat lediglich den Gesamtbruttoumsatz der jeweiligen Tage in ihren Timern aufgezeichnet. Angaben zu Anfangsbeständen in ihrer Kasse sind nur rudimentär – ebenfalls in den Timern, wobei die Klägerin die Beträge als „Kleingeld“ bezeichnete – vorhanden. Nach eigenen Angaben hat die Klägerin Notizzettel, auf
denen Angaben zum Kassenanfangsbestand (dem „Kleingeld“) vorhanden waren, vernichtet.
Der Mangel der Aufzeichnungen der Klägerin ist derart gravierend, dass er den Aufzeichnungen der Klägerin die Ordnungsmäßigkeit nimmt. Mängel in der Kassenaufzeichnung können den gesamten Aufzeichnungen die Ordnungsmäßigkeit nehmen. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Kassenaufzeichnungen wesentlicher Teil der Aufzeichnungen sind, weil der Steuerpflichtige nach der Art seines Unternehmens – wie im Streitfall – vorwiegend Bargeschäfte tätigt (vgl. auch BFH-Beschluss vom 02.12.2008 X B 69/08, juris, m. w. N.; BFH-Urteil vom 14.12.2011 XI R 5/10, juris, m. w. N.).
Eine Schätzung scheidet nicht deswegen aus, weil die durch die Fehler der Aufzeichnungen verursachten Unklarheiten und Zweifel durch anderweitige zumutbare Ermittlungen beseitigt werden könnten (BFH-Urteil vom 14.12.2011 XI R 5/10, juris, m. w. N.). Die Fehler der Kassenaufzeichnung können nicht durch anderweitige Ermittlungen zur Höhe der Einnahmen des Betriebs beseitigt werden. Solche Möglichkeiten sind weder vorgetragen noch nach Aktenlage erkennbar.
2. Das Gericht macht von seiner eigenen Schätzungsbefugnis gemäß § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 FGO Gebrauch. Danach erfolgt die Schätzung anhand der Richtsatzsammlung unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Betriebes der Klägerin.
Ziel der Schätzung ist der Ansatz derjenigen Besteuerungsgrundlagen, die die größte Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit für sich haben. Die Schätzung muss in sich schlüssig, wirtschaftlich vernünftig und möglich sein (BFH-Urteil vom 24.6.1997 VIII R 9/96, BStBl II 1998, 51). Die Auswahl der Schätzungsmethode steht im pflichtgemäßen Ermessen der Finanzbehörde bzw. des Finanzgerichts, das an die von der Behörde gewählte Schätzungsmethode nicht gebunden ist und nach § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO eine eigene Schätzungsbefugnis besitzt. Das Gericht ist in der Wahl seiner Schätzungsmethode frei. Schätzungsunsicherheiten gehen zu Lasten des Steuerpflichtigen (vgl. auch BFH-Urteil vom 18.12.1984 VIII R 195/82, BFHE 142, 558, BStBl II 1986, 226 m. w. N.).
Das Gericht übernimmt zunächst den Abschlag in Höhe von 5 v. H. des Wareneinkaufs für Bruch bzw. Diebstahl. Mangels konkreter Anhaltspunkte ist nicht ersichtlich, dass ein höherer Satz in Betracht kommt.
Sodann ist für die Schätzung von dem Mittelwert der Richtsatzsammlung für kunstgewerbliche Erzeugnisse im Einzelhandel auszugehen (96 v. H.; Richtsatzsammlung 2002, BStBl I 2003, 342). Allerdings weicht das Gericht von dem Mittelsatz ab, da dies aufgrund der besonderen betrieblichen Verhältnisse der Klägerin begründet ist, die nicht durch Entnormalisierungen erfassbar oder ansonsten betragsmäßig feststellbar sind (vgl. auch Nr. 10.2.1 Richtsatzsammlung 2002).
Die Klägerin ist nicht mit einem „Normalbetrieb“ des Einzelhandels vergleichbar. Aufgrund der Besonderheiten des Streitfalls ist von dem Mittelwert nach unten abzuweichen. Das Gericht geht davon aus, dass die Klägerin ihre Waren mit einem niedrigeren Rohgewinnaufschlag verkaufte, um die Ware preiswerter anzubieten und mehr Kundschaft zu erreichen. Die Klägerin konnte dies tun, da sie im Vergleich zu
einem Normalbetrieb geringere Kosten hat. Die Kostenstruktur der Klägerin weicht von der eines Normalbetriebs erheblich ab. Insbesondere war die Klägerin nicht durchgehend im Jahr in einem eigenen Ladengeschäft tätig, sondern verkaufte – mit Aushilfskräften – nur an wenigen Tagen im Jahr auf Ausstellungen auf einem Stand ihre Waren. Angesichts der Art ihrer Ware – überwiegend Saisonartikel -, die sie auf zeitlich begrenzten Ständen anbot, erscheint es dem Senat zudem nicht ausgeschlossen, dass die Klägerin gegen Ende der Ausstellungszeiten ihre Ware mit weiteren Preisnachlässen anbot, um die Ware zu verkaufen. Nicht zuletzt erscheint auch die Möglichkeit nach allgemeiner Lebenserfahrung nicht ausgeschlossen, dass die Klägerin vermehrt Kunden gegenüberstand, die über den Preis der Ware stärker verhandelten, als es sonst im Einzelhandel verbreitet ist. Danach ist der Rohgewinnaufschlag griffweise in Höhe von 85 v. H. anzusetzen.
Hinzu kommt, dass die Warenbestandsänderungen auch bei der Klägerin zu erfassen sind. Mangels anderer Anhaltspunkte ist für die laufenden Warenbestände von den Beträgen auszugehen, die die Klägerin ermittelt hatte.
3. Ausgehend vom Wareneingang, den die Betriebsprüferin ermittelte, ergeben sich die hinzuzuschätzenden Beträge danach wie folgt:
2002 2003 2004
Wareneingang laufendes Jahr … EUR … EUR … EUR
abzüglich Bruch/Diebstahl (5 v. H.) … EUR … EUR … EUR
zuzüglich Warenbestand am Anfang
des Wirtschaftsjahres
(2002: geschätzt) … EUR … EUR … EUR
abzüglich Warenbestand am Ende
des Wirtschaftsjahres … EUR … EUR … EUR
Wareneinsatz … EUR … EUR … EUR
Rohgewinnaufschlag (85 v. H.) … EUR … EUR … EUR
Umsatz … EUR … EUR … EUR
abzüglich erklärte Verkaufserlöse … EUR … EUR … EUR
Hinzuschätzung … EUR … EUR … EUR
zuzüglich USt (16 v. H.) … EUR … EUR … EUR
4. Danach sind die Einkommensteuerbescheide 2002 bis 2004 unter Berücksichtigung folgender Gewinne/Verluste der Klägerin bei ihren Einkünften aus Gewerbebetrieb zu ändern:

Die Berechnung wird dem Beklagten gemäß § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO übertragen.
Die Bescheide über den Gewerbesteuermessbetrag und die Gewerbesteuer 2003 und 2004 vom 05.06.2007 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 12.08.2010 werden aufgehoben. Ein Gewerbesteuermessbetrag wäre allenfalls mit 0 EUR festzusetzen. Der Gewinn 2003 liegt unter dem Freibetrag des § 11 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 des Gewerbesteuergesetzes (GewStG). Im Jahr 2004 erzielte die Klägerin einen geringen Verlust.
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 136 Abs. 1 Satz 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 1 und Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10 und 711 der Zivilprozessordnung (ZPO).
Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 FGO nicht vorliegen.

Wiedereinsetzung gem. § 110 AO 4 Wochen nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung ausgeschlossen

Die Gewährung von Wiedereinsetzung in die Wiedereinsetzungsfrist gem. § 110 AO ist ausgeschlossen, wenn sich aus dem Tatbestand der Einspruchsentscheidung ergibt, dass die Frist um 3 Tage versäumt worden ist und dann nicht innerhalb von 4 Wochen nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung der Wiedereinsetzungsantrag gestellt wird. Der Umstand, dass das Finanzamt mit der Einspruchsentscheidung Wiedereinsetzung wegen Versäumung der Einspruchsfrist gewährt hat, schließt ein Verschulden insoweit nicht aus.

Erweisen sich die für die Geltendmachung von Betriebsausgaben vorgelegten Rechnungen als Scheinrechnungen, besteht kein Anlass für die Schätzung von Betriebsausgaben, wenn der Steuerpflichtige insoweit keine Angaben zu den Empfängern (hier Subunternehmer oder Hilfsarbeiter) macht, Urteil des 2. Senats vom 10.10.2012, 2 K 130/11, rechtskräftig.

 

FINANZGERICHT HAMBURG
Az.: 2 K 130/11
Urteil des Senats vom 10.10.2012
Rechtskraft: rechtskräftig
Normen: AO § 110 Abs. 1, AO § 110 Abs. 2, EStG § 4 Abs. 4
Leitsatz: 1. Die Gewährung von Wiedereinsetzung gem. § 110 AO ist ausgeschlossen, wenn sich aus dem Tatbestand der Einspruchsentscheidung ergibt, dass die Frist um 3 Tage versäumt worden ist und dann nicht innerhalb von 4 Wochen nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung der Wiedereinsetzungsantrag gestellt wird. Der Umstand, dass das Finanzamt mit der Einspruchsentscheidung Wiedereinsetzung wegen Versäumung der Einspruchsfrist gewährt hat, schließt ein Verschulden insoweit nicht aus.

2. Erweisen sich die für die Geltendmachung von Betriebsausgaben vorgelegten Rechnungen als Scheinrechnungen, besteht kein Anlass für die Schätzung von Betriebsausgaben, wenn der Steuerpflichtige insoweit keine Angaben zu den Empfängern (hier Subunternehmer oder Hilfsarbeiter) macht.
Überschrift: Abgabenordnung/Einkommensteuergesetz: Wiedereinsetzung in die Wiedereinsetzungsfrist/Keine Schätzung von Betriebsausgaben bei Vorlage von Scheinrechnungen

Tatbestand:

Streitig ist in formeller Hinsicht, ob die Voraussetzungen für die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Einspruchsfrist erfüllt sind. Materiell besteht Streit über die Höhe der Betriebsausgaben.
Der Kläger lebt seit 1989 in Deutschland und ist hier seit 1999 gewerblich tätig. Für die Streitjahre erklärte er Einkünfte aus Gewerbebetrieb in Höhe von 14.272 € (Einnahmen lt. Gewinnermittlung 28.887,90 €, Ausgaben 14.615,87 €) für 2003 und in Höhe von 17.132 € (Einnahmen lt. Gewinnermittlung 64.391,80 €, Ausgaben 47.275,32 €) für 2004. Das seinerzeit zuständige Finanzamt A verzichtete gem. § 156 der Abgabenordnung (AO) auf die Festsetzung von Einkommensteuer. Im Januar 2008 wurde ein Steuerstrafverfahren gegen den Kläger für 2003 eingeleitet und im Juni 2008 auf 2004 erweitert. Aufgrund der Erkenntnisse der Steuerfahndung berücksichtigte der Beklagte mit Einkommensteuer- und Gewerbesteuermessbescheiden vom 12.10.2009 für 2003 einen Gewinn von 74.110 € und für 2004 von 84.459 €. Die Bescheide waren an den Kläger persönlich adressiert. Mit beim Beklagten am 15.12.2009 eingegangenem Schriftsatz legitimierte sich der jetzige Verfahrensbevollmächtigte für den Kläger und beantragte Aussetzung der Vollziehung, weil „über die Steuerfestsetzungen für 2003 und 2004“ noch streitig zu verhandeln sein werde und erbat eine Frist für die Sachverhaltsaufklärung bis zum 15.01.2010.

Mit beim Beklagten am 18.01.2010 eingegangenem Schriftsatz vom 12.01.2010 beantragte der Klägervertreter Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Einspruchsfristen. Der Kläger habe sich seit mehreren Jahren von Dipl. Kaufmann B, …, vertreten lassen, ohne zu wissen, dass dieser kein öffentlich bestellter Steuerberater gewesen sei. Dieser habe die buchhalterischen Aufgaben erfüllt und den Kläger auch in allen steuerlichen Angelegenheiten beraten und dabei den Eindruck erweckt, hierzu auch berechtigt zu sein. Diesen habe der Kläger beauftragt, Einsprüche gegen die Bescheide einzulegen. Erst am 15.12.2009 habe der Kläger auf energisches Nachfragen erfahren, dass Einsprüche nicht eingelegt worden seien. In der Sache beantragte der Klägervertreter die Änderung der Bescheide, weil bislang nicht berücksichtigte Betriebsausgaben in Ansatz zu bringen seien. Die von der Steuerfahndung festgestellten Aufträge habe der Kläger nicht alleine ausführen können und hierfür Subunternehmer eingesetzt. Erst jetzt habe der Kläger Rechnungen von Subunternehmern gefunden, die noch zu berücksichtigen seien. Für 2003 berief sich der Kläger auf drei Rechnungen in Höhe von insgesamt 50.112,00 €, für 2004 auf drei Rechnungen in Höhe von insgesamt 48.520 ,00 €.

Mit Einspruchsentscheidung vom 14.06.2011 gewährte der Beklagte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und setzte die Steuer niedriger fest unter Zurückweisung der Einsprüche im Übrigen. Zwar seien die vorgelegten Rechnungen der Firma C als Scheinrechnungen zu qualifizieren, es bestünden aber gewisse Unsicherheiten beim Betriebsausgabenabzug. Für 2004 seien daher weitere Betriebsausgaben in Höhe von 9.000 € zu berücksichtigen. Am 05.07.2011 hat der Kläger Klage erhoben.

Hinsichtlich der Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hat der Kläger während des Klageverfahrens am 22.05.2012 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Wiedereinsetzungsfrist beantragt, nachdem im Erörterungstermin vom 25.04.2012 angesprochen worden war, dass der Wiedereinsetzungsantrag vom 18.01.2010 verspätet eingegangen sei. Zur Begründung trägt der klägerische Verfahrensbevollmächtigte vor, er habe davon ausgehen können, dass der Wiedereinsetzungsantrag vom 12.01.2010, der ausweislich des Postausgangsbuchs am 12.01.2010 abgesandt worden sei, innerhalb der gesetzlichen Frist beim Finanzamt eingehen werde. In seinem Büro sei sichergestellt, dass die Post an den Tagen, wie im Posteingangsbuch eingetragen, abgesandt werde.
In der Sache trägt der Klägervertreter vor, die Beauftragung von Subunternehmern sei erforderlich gewesen, weil der Kläger allein das Auftragsvolumen nicht habe bewältigen können. Hiervon gehe ersichtlich auch die Steuerfahndung aus, die Betriebsausgaben von 117.000 € im Zusammenhang mit der Einschaltung des Subunternehmers D anerkannt habe. Die jetzt streitigen Rechnungen des Subunternehmers E seien ebenfalls zum Betriebsausgabenabzug zuzulassen. Zwar seien sie auf inkorrekten Formularen erstellt worden, der C, die 2003 und 2004 nicht existent gewesen sei. Der Kläger habe aber den Kontakt unmittelbar zu E als seinem Subunternehmer gehabt und in gutem Glauben handelnd die Rechnungen akzeptiert, weil E als Geschäftsführer ausgewiesen gewesen sei. Dieser habe den Erhalt der Beträge -insgesamt 98.632 €– auch persönlich bestätigt. Nur weil die ursprünglichen Rechnungen verloren gegangen seien, seien nachträglich die Rechnungen nochmals erstellt worden. Soweit der Beklagte die Authentizität der Unterschriften von E in Zweifel gezogen habe, verkenne er, dass auch die Druckbuchstaben der Unterschrift eine individuelle Zuordnung ermöglichten, auch wenn sie nicht so akkurat ausgeführt worden sei wie die Vergleichsprobe aus den Handelsregisterunterlagen.

Im steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahren habe der Kläger mangels steuerlicher Beratungshilfe die für ihn günstigen Umstände nicht vortragen können. Er habe sich zudem als Ausländer unsicher gefühlt.
Der Kläger beantragt, unter Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Einspruchsfrist die Einkommensteuerbescheide und die Gewerbesteuermessbescheide für 2003 und 2004, jeweils vom 12.10.2009, in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 14.06.2011 mit der Maßgabe zu ändern, dass ein Gewinn aus Gewerbebetrieb unter Berücksichtigung weiterer Betriebsausgaben in 2003 von 56.756 € und in 2004 von 53.243 € berücksichtigt wird.

der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Der Beklagte ist der Ansicht, dass der Kläger die geltend gemachten Betriebsausgaben nicht nachgewiesen habe. Während der Vernehmung im Steuerfahndungsverfahren habe der Kläger angegeben, die Namen seiner vier bis fünf Subunternehmer nicht nennen zu können. Erstmals im Einspruchsverfahren habe er sich für die Geltendmachung weiterer Betriebsausgaben auf nunmehr nach diversen Umzügen aufgefundene Eingangsrechnungen der Firma C berufen. Diese Rechnungen seien aber nicht unter ihrem Ausstellungsdatum verfasst worden, denn die C GmbH sei erst später am … 2006 in das Handelsregister eingetragen worden. Dies habe der Kläger damit zu erklären versucht, dass der Gesellschafter-Geschäftsführer der C GmbH, E, als Einzelunternehmer für ihn tätig geworden sei und ihn getäuscht habe. Insoweit habe der Kläger weder neue Rechnungen von E noch die angekündigte eidesstattliche Versicherung des E vorgelegt. Auch die vorgelegten Quittungen von E seien unzulänglich.

Der Kläger habe zudem das Verlangen nach Empfängerbenennung gem. § 160 der Abgabenordnung (AO) nicht erfüllt. Im Zusammenhang mit E existierten vier Handelsregistereintragungen, die dort hinterlegten Unterschriften von E stimmten nicht mit denen auf den Eingangsrechnungen überein (wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Schriftsätze des Beklagten vom 22.07.2011 und 02.09.2011 Bezug genommen).
Wegen der weiteren Einzelheiten wird im Übrigen auf die Sitzungsniederschriften über den Erörterungstermin und die Senatssitzung Bezug genommen.
Die den Kläger betreffenden Einkommen- und Gewerbesteuerakten zur Steuernummer …/…/… nebst RB-Akten haben vorgelegen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg.

I. Die Klage ist bereits in formeller Hinsicht unbegründet. Es fehlt an der für die Klage erforderlichen Sachurteilsvoraussetzung der Zulässigkeit des Einspruchs. Der Einspruch gegen die angegriffenen Bescheide ist verspätet eingelegt worden, die
Voraussetzungen für die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sind nicht erfüllt.
a) Gem. § 110 Abs. 1 AO kann Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden, wenn jemand ohne Verschulden gehindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten; das Verschulden eines Vertreters ist dem Vertretenen zuzurechnen. Der Antrag muss innerhalb eines Monats nach Wegfall des Hindernisses gestellt werden, § 110 Abs. 2 AO. Die in diesem Verfahren streitigen Bescheide vom 12.10.2009 gelten gem. § 122 AO als am 15.10.2009 bekannt gegeben; die gem. § 355 Abs. 1 AO einen Monat betragende Einspruchsfrist lief damit am Montag, den 16.11.2009 ab (§ 108 Abs. 3 AO). Einspruch eingelegt und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Einspruchsfrist beantragt hat der Verfahrensbevollmächtigte des Klägers mit Schriftsatz vom 12.01.2010, der am 18.01.2010 beim Beklagten eingegangen ist. Am 18.01.2010 war die Wiedereinsetzungsfrist aber bereits abgelaufen. Diese begann am 15.12.2009 zu laufen, denn an diesem Tage hatten der Kläger und sein Bevollmächtigter erfahren, dass der vormalige Bevollmächtigte des Klägers es versäumt hatte, Einspruch einzulegen. Daraufhin hatte sich der jetzige Verfahrensbevollmächtigte des Klägers am 15.12.2009 beim Beklagten gemeldet und Aussetzung der Vollstreckung beantragt, weil „über die Einkommen-, Umsatz- und Gewerbesteuern 2003 und 2004 noch streitig zu verhandeln sein wird“. Zugleich beantragte er „für die genaue Sachverhaltsaufklärung und Darstellung“ eine Frist bis 15.01.2010.
Der Beklagte hat zwar mit der Einspruchsentscheidung das Schreiben vom 15.12.2009 als Einspruch gewertet und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt. Diese Entscheidung bindet das Gericht aber nicht, weil es die Sachurteilsvoraussetzungen, zu denen auch die Rechtzeitigkeit des Einspruchs gehört, von Amts wegen zu prüfen hat. Tatsächlich kann das Schreiben vom 15.12.2009 aber nicht als Einspruch gewertet werden. Es ist von einem mit dem Verfahrensrecht vertrauten Berufsträger verfasst worden und bezieht sich allein auf einen Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung. Verbunden ist dieser Antrag lediglich mit der Bitte um Einräumung einer Frist für die Sachverhaltsaufklärung und die weitere Darstellung. Dass der Verfahrensbevollmächtigte dieses Schreiben selbst nicht als Einspruch verstanden wissen wollte, zeigt sich daran, dass er erst mit dem am 18.01.2010 eingegangenen Schriftsatz vom 12.01.2010 Einspruch eingelegt und Wiedereinsetzung hat. Selbst wenn in Übereinstimmung mit dem Beklagten das Schreiben vom 15.12.2009 als Einspruch gewertet würde, wären die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung nicht erfüllt, weil innerhalb der Monatsfrist des § 110 Abs. 2 Satz 2 AO der Antrag nicht begründet und glaubhaft gemacht worden ist.

b) Allerdings kann auch wegen Versäumung der Wiedereinsetzungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden (Bundesfinanzhof -BFH– vom 25.01.1989 V B 143/87, BFH/NV 1989, 705; vom 19.08.1992, V B 27792, BFH/NV 1993, 480). Im Streitfall sind die Voraussetzungen hierfür aber nicht erfüllt.
Der klägerische Verfahrensbevollmächtigte hat nach einem Hinweis auf den verspäteten Eingang des Wiedereinsetzungsantrages im Erörterungstermin vom 25.04.2012 am 22.05.2012 einen entsprechenden Wiedereinsetzungsantrag gestellt unter Hinweis darauf, dass er angesichts der Aufgabe zur Post seines Schriftsatzes vom 12.01.2009 noch am selben Tage mit einem rechtzeitigen Eingang beim Beklagten habe rechnen können. Die Aufgabe zur Post hat er durch Vorlage seines Postausgangsbuchs belegt. Allerdings kann auch insoweit Wiedereinsetzung nur gewährt werden, wenn es an einem Verschulden für die Fristversäumnis fehlt und der Antrag innerhalb eines Monats nach Wegfall des Hindernisses gestellt wird (§ 110 Abs. 2 Satz 1 AO). Der Klägervertreter hat den Wiedereinsetzungsantrag zwar binnen eines Monats nach dem Erörterungstermin gestellt, in dem über die Versäumung der Wiedereinsetzungsfrist gesprochen worden ist. Tatsächlich begann diese Wiedereinsetzungsfrist aber bereits früher zu laufen, und zwar mit der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung vom 14.06.2011, d. h. am 17.06.2011. Denn im Tatbestand dieser Einspruchsentscheidung heißt es, dass der Wiedereinsetzungsantrag am 18.01.2010 gestellt worden sei.

Das Gericht verkennt nicht, dass es angesichts des Umstandes, dass der Beklagte mit eben dieser Einspruchsentscheidung Wiedereinsetzung gewährt hatte, einer gewissen Umsicht bedurfte, wahrzunehmen, dass die Wiedereinsetzungsfrist versäumt war und die Beantragung von Wiedereinsetzung in die Wiedereinsetzungsfrist geboten gewesen wäre. Gleichwohl beginnt die Frist zu laufen, wenn der Beteiligte bei sorgfältiger Prüfung die Fristversäumnis hätte erkennen können und müssen (vgl. z. B. BFH v. 18.02.2004 I R 45/03, BFH/NV 2004, 1108; vom 22.08.2006 I R 24/05, BFH/NV 2007, 63). Bei sorgfältiger Lektüre des Tatbestandes der Einspruchsentscheidung hätte ohne weiteres erkannt werden können, dass der Wiedereinsetzungsantrag verspätet eingegangen war. Als mit dem Verfahrensrecht vertrauten Steuerberater hätte der Klägervertreter wissen müssen, dass die -möglicherweise irrige- Gewährung von Wiedereinsetzung in der Einspruchsentscheidung keine Bindungswirkung für das Gericht entfaltet.

II. Die Klage ist aber auch aus materiellen Gründen abzuweisen. Der Beklagte hat es zu Recht abgelehnt, weitere Betriebsausgaben zu berücksichtigen. Die angegriffenen Bescheide verletzen den Kläger folglich nicht in seinen Rechten.
Die für die Streitjahre zusätzlich geltend gemachten Betriebsausgaben aus den Rechnungen der C GmbH sind nicht zum Abzug zuzulassen. Das Gericht ist nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens (§ 96 der Finanzgerichtsordnung -FGO) davon überzeugt, dass es sich um Scheinrechnungen handelt, denen kein Leistungsaustausch zugrunde liegt.

Im Einzelnen gilt Folgendes:
Sämtliche Rechnungen, datierend aus 2003 und 2004, sind unter dem Briefkopf der C GmbH verfasst worden, die erst im Juli 2006 gegründet und am … 2006 in das Handelsregister eingetragen worden ist. Auch die auf zwei Rechnungen mit Datum versehenen Vermerke über den Erhalt des Rechnungsbetrages in bar datieren vom 15.11.2003 und 23.05.2004. Somit handelt es sich bei diesen Rechnungen um Fälschungen bzw. schriftliche Lügen. Die hierzu vom Kläger unterbreitete Erläuterung vermag den Senat nicht zu überzeugen.

Der Kläger hat sich in der Klageschrift darauf berufen, er habe mit E als Subunternehmer kontrahiert, der mit unterschiedlichen GmbH unternehmerisch tätig gewesen sei und der ihm den Erhalt der vereinbarten Entgelte bestätigt habe, allerdings auf unzutreffenden Rechnungsformularen der C GmbH. Er, der Kläger, habe bei Erhalt der Rechnungen nicht wissen können, dass die C GmbH zu diesem Zeitpunkt noch nicht existent gewesen sei und die Rechnungen gutgläubig akzeptiert. Diese Darstellung macht schon deshalb keinen Sinn, weil E 2003 und
2004 noch nicht die in den Rechnungsformularen aufgeführte Handelsregisternummer aus dem Jahr 2006 kennen konnte. Somit kann der Kläger in den Streitjahren diese Rechnungen nicht erhalten haben.
Im Erörterungstermin hat der Kläger dann angegeben, die ursprünglichen Rechnungen seien verloren gegangen. Deshalb habe er E gebeten, die Rechnungen nochmals zu schreiben und die Barzahlung handschriftlich zu quittieren. Diese Rechnungen habe er dann zu seinem Verfahrensbevollmächtigten gebracht. Abgesehen davon, dass es wenig überzeugend ist, dass der „Ersatz“ für verloren gegangene Rechnungen auf dem Briefpapier einer GmbH erfolgt, die es zur Zeit der Ausführung der Arbeiten nicht gab, und die Rechnung keinerlei Hinweis darauf enthält, dass es sich um eine Ersatzrechnung handelt, steht dieser Vortrag auch im Widerspruch zu dem Vorbringen im Rechtsbehelfsverfahren. Hier hat der Kläger mit Schriftsatz vom 18.05.2010 vortragen lassen, seine Buchhaltungsunterlagen seien durch zwei trennungsbedingte Umzüge in 2003 und 2004 an verschiedenen Stellen aufbewahrt worden, deshalb habe er die in Rede stehenden Eingangsrechnungen erst jetzt, d. h. während des Rechtsbehelfsverfahrens, gefunden. Er habe die Eingangsrechnungen abgelegt, weil er sie zunächst als durchlaufende Posten für steuerlich irrelevant angesehen habe.
Darüber hinaus weisen die Rechnungen weitere gravierende Unstimmigkeiten auf, die die Einordnung als Scheinrechnungen bestätigen:

Die Rechnung des Klägers vom 05.01.2004 an F, enthält eine außerordentlich detaillierte Leistungsbeschreibung über Putzarbeiten u. Ä., im Anschriftenfeld wird als Absender aber nicht der Kläger genannt, sondern „Hans Mustermann“ aus Musterstadt, die Zeile für die Bankverbindung ist nicht ausgefüllt, der Ort des Bauvorhabens wird ebenso wenig genannt wie der Zeitraum der Leistungserbringung. Zur Überzeugung des Gerichts handelt es sich bei dieser Ausgangsrechnung nicht um eine authentische Rechnung des Klägers, sondern um ein mutmaßlich aus dem Internet heruntergeladenes Rechnungsmuster. Insoweit weisen auch alle anderen Rechnungen des Klägers keine vergleichbar detaillierte Leistungsbeschreibung auf. Die dazu gehörige Eingangsrechnung vom 03.01.2004 schlüsselt die Leistungen nicht annähernd so detailliert auf, Leistungszeitraum und Bauvorhaben werden ebenfalls nicht genannt.
Im Falle der Ausgangsrechnung an die Firma Gerüstbau G datieren Ausgangs-und Eingangsrechnung vom selben Tag, Schreibfehler bei den vermeintlichen Einsatzstellen stimmen in beiden Rechnungen überein: die Straße Juhafenstraße existiert nicht. Ebenso verhält es sich bei der Ausgangsrechnung vom 30.10.2003 und der zugehörigen Eingangsrechnung vom 28.10.2003, hier wird in beiden Rechnungen die nichtexistente Straße Lasseler Damm (möglicherweise gemeint sein dürfte der Y- Damm) genannt. Diese Fehler legen die Annahme nahe, dass die Einsatzorte für die Scheinrechnungen nur abgeschrieben worden sind, ohne dass Leistungen erbracht wurden.
Auch der Umstand, dass sämtliche Rechnungen bar beglichen sein sollen bestärkt die Annahme von Scheinrechnungen. Denn es handelt sich zum Teil um sehr hohe Beträge von über 20.000 €. Zudem sollen ausweislich der mit Datum versehenen Quittungen die Barzahlungen umgehend, noch vor Weiterbelastung der Beträge an die Kunden des Klägers erfolgt sein. Ebenfalls nicht nachvollziehbar ist der sehr unterschiedliche Gewinnaufschlag auf die Leistungen der Eingangsrechnungen gegenüber dem Empfänger der Ausgangsrechnung, hier ergibt sich eine Bandbreite von 25 % bis zu 5,7 %. Keine plausible Erklärung gibt es auch dafür, dass der Kläger im Ermittlungsverfahren angegeben hat, Betriebsausgaben nur in Höhe von ca. 2000 € gehabt und vier bis fünf Subunternehmer beschäftigt zu haben, deren Namen er nicht mehr nennen könne. Wenn E tatsächlich die in den streitigen Eingangsrechnungen bezeichneten Leistungen erbracht hätte, ist es nicht vorstellbar, dass sich der Klägerin angesichts des beträchtlichen Leistungsumfanges in den Rechnungen hieran nicht mehr erinnern konnte.
Soweit sich der Kläger schließlich darauf berufen hat, die geltend gemachten zusätzlichen Betriebsausgaben seien in jedem Fall angefallen und zu berücksichtigen, weil er die erzielten Erlöse, beispielsweise aus Gerüstbauarbeiten, unmöglich alleine habe erwirtschaften können, trifft schon diese Prämisse nicht zu. Der Beklagte hat im Einzelnen in der Einspruchsentscheidung dargestellt, dass es dem Kläger durchaus möglich gewesen sein könnte, die Leistungen selbst zu erbringen. Überdies ist nicht ausgeschlossen, dass sich der Kläger anderer Hilfskräfte bedient hat. Insoweit ist er aber dem Benennungsverlangen des Beklagten gem. § 160 AO nicht nachgekommen, so dass ein weiterer Betriebsausgabenabzug –ggfs. auch auf der Grundlage einer Schätzung– nicht in Betracht kommt.
Nach alledem kommt ein Betriebsausgabenabzug aus den streitigen Rechnungen nicht in Betracht.

III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.

Finanzgericht schätzt Umsatz und Gewinn aufgrund eigener Schätzungsbefugnis und bestätigt Gewerbesteuerpflichtigkeit

Im Streitfall war die Klägerin als Prostituierte tätig und mietete sich hierfür in einem sog. Laufhaus ein Zimmer. Steuern zahlte sie nicht und gab auch keine Steuererklärungen ab. Als sich im Zuge strafrechtlicher Ermittlungen wegen Betrugstaten bei ihr Preislisten und Quittungen fanden, schätzte das Finanzamt Umsätze zwischen 170.000 € bis 320.000 € pro Jahr und erließ Steuerbescheide für Einkommen-, Umsatz- und Gewerbesteuer über mehrere Jahre.

Die Klägerin wandte sich an das Finanzgericht Hamburg. Die Schätzungen seien völlig überhöht, zumal sie nur tageweise gearbeitet habe. Die Klägerin reichte nun Steuererklärungen ein, nach denen sie maximal 17.200 € pro Jahr eingenommen haben wollte. Die Klägerin meinte zudem, als Kleinunternehmerin unterliege sie nicht der Umsatzsteuer und habe auch keine Gewerbesteuern zu zahlen.
Dem ist der 2. Senat in seinem Urteil nicht gefolgt. Trotz ihrer inzwischen eingereichten Steuererklärungen sei die Klägerin zu schätzen, weil sie keine nachvollziehbaren Aufzeichnungen über ihre Einnahmen und Ausgaben vorgelegt habe. Der 2. Senat ging von 48 Arbeitswochen pro Jahr und Tageseinnahmen von durchschnittlich 500 € aus, die die Klägerin nach den aufgefundenen Quittungen mit ein bis drei Kunden habe erzielen können, und berechnete einen Umsatz der Klägerin von jährlich 120.000 €. Unter Berücksichtigung der Zimmermiete von täglich 120 € und geschätzten weiteren Betriebsausgaben von 5.000 € verblieb ein Gewinn von 85.000 € pro Jahr. Der 2. Senat stellte nach Vernehmung eines Milieubeamten und des Zimmervermieters fest, dass die Klägerin auf eigene Rechnung gearbeitet und in keinem Beschäftigungsverhältnis gestanden habe. Das Laufhaus sei kein eigenständiger Bordellbetrieb. Weil die Klägerin selbst in Abrede genommen hatte, Zahlungen an einen Zuhälter abgeführt zu haben, konnte das Gericht auch keine weiteren Betriebsausgaben schätzen.

Mit dem 3. Senat des Bundesfinanzhofs bejahte der 2. Senat des Finanzgerichts Hamburg die Gewerbesteuerpflicht. Eigenprostitution sei ein Gewerbebetrieb, denn die Prostituierten beteiligten sich am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr und böten ihre Leistungen am Markt an. Die entgegenstehende Rechtsprechung, die auf einem Urteil des Großen Senats des Bundesfinanzhofs von 1964 beruht, sei überholt. Der 2. Senat des Finanzgerichts Hamburg hat in seinem Urteil (Az.: 2 K 169/11) die Revision nicht zugelassen. Da die Beschwerdefrist noch läuft, ist das Urteil noch nicht rechtskräftig.

Vorsteuerabzug auch bei sogenannter unregelmäßiger Einfuhrumsatzsteuer

In Abkehr von der seit jeher in Deutschland geübten Praxis hat der 5. Senat entschieden, dass eine „Einfuhr für das Unternehmen“ i.S.v. § 15 Abs. 1 Nr. 2 UStG nicht voraussetzt, dass der den Abzug der Einfuhrumsatzsteuer (EUSt) als Vorsteuer begehrende Unternehmer im Zeitpunkt der Einfuhr die Verfügungsmacht über den eingeführten Gegenstand inne-hat. Auch die gegenüber dem Inhaber eines Zolllagers nach Art. 203, 204 ZK i.V.m. § 21 Abs. 2 UStG wegen zollrechtlicher Pflichtverletzungen festgesetzte sog. unregelmäßige Einfuhrumsatzsteuer kann bei diesem als Vorsteuer abzugsfähig sein.

Die Klägerin betrieb in den Streitjahren u.a. ein Zolllager Typ C. Neben der Lagerung der Waren übernahm sie für ihren Hauptkunden auch die zollrechtliche Abwicklung. Auftragge-ber des Hauptkunden waren überwiegend Unternehmen aus Osteuropa, die die Waren i.d.R. an Abnehmer aus osteuropäischen Staaten weiterverkauften. An das Zolllagerverfah-ren schloss sich jeweils ein Versandverfahren bzw. Verfahren Carnet TIR an. Die Zollan-meldungen erfolgten mittels eines Zolldeklaranten und nicht im Namen und für Rechnung der Klägerin. Eigentum an den von ihr eingelagerten Waren erlangte die Klägerin nicht. Bei einer Prüfung stellte der Zoll Unregelmäßigkeiten fest. Wegen Entziehung von einfuhrabga-bepflichtigen Waren aus der zollamtlichen Überwachung i.S.v. Art 203 Abs. 1 ZK und Ver-letzung von Pflichten aus der Inanspruchnahme des Zolllagerverfahrens i.S.v. Art. 204 Abs. 1 Buchst. a ZK erließ das Hauptzollamt (HZA) verschiedene Einfuhrabgabenbescheide, mit denen es u.a. EUSt festsetzte. Die Bescheide ergingen (ausschließlich) an die Klägerin als Schuldnerin der Einfuhrabgaben. Klagen gegen die Einfuhrabgabenbescheide sind z.T. noch anhängig. EUSt entrichtete die Klägerin bislang nur in rechtskräftig durch Urteile fest-gesetzter Höhe.

Mit ihrer Umsatzsteuererklärung und ihrer Klage machte die Klägerin die festgesetzte EUSt als Vorsteuer geltend, deren Anerkennung der Beklagte verwehrte.

Der 5. Senat stellt in seinem Urteil vom 19.12.2012 (5 K 302/09) zunächst fest, das Recht zum Vorsteuerabzug setze entgegen dem Wortlaut des § 15 Abs. 1 Nr. 2 UStG nicht voraus, dass die EUSt entrichtet ist. Hinreichend sei, dass sie festgesetzt worden sei, wobei der Senat ausdrücklich offen lässt, ob die EUSt tatsächlich entstanden ist. Soweit § 15 Abs. 1 NR. 2 UStG die Entrichtung der EUSt voraussetze, stehe die Vorschrift nicht im Einklang mit Art. 168 Buchst. e und Art. 178 Buchst. e MwStSystRL und sei daher insoweit nicht an-wendbar. In Abweichung von Abschn. 15.8 Abs. 4 UStAE und von der bisherigen, nach Ansicht des 5. Senats überholten Rechtsprechung kommt er zu dem Ergebnis, bei richtlinien-konformer Anwendung und Auslegung von § 15 Abs. 1 Nr. 2 UStG könne auch ein Zolllagerinhaber zum Vorsteuerabzug von EUSt berechtigt sein. Der Senat stellt heraus, dass die Entstehung der EUSt – anders als für USt nach § 15 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG – nicht durch eine Lieferung der Gegenstände, sondern durch deren Einfuhr ausgelöst werde, nämlich der Verbringung eines Gegenstandes in den zoll- und steuerrechtlich freien Verkehr eines Mitgliedstaats der Union. Dieser Vorgang sei unabhängig von der eigentümerähnlichen Verfügungsmacht, wie eine Lieferung sie voraussetze, und von einem entsprechenden Herrschaftswillen des Handelnden. Weil die Gegenstände, für deren Einfuhr die hier streitige Mehrwertsteuer geschuldet werde, für das Unternehmen bzw. für Zwecke der besteuerten Umsätze der Klägerin verwendet worden seien – ohne die eingeführten Gegenstände hätte sie keine Lagerleistungen erbringen können -, gebiete der Grundsatz der steuerlichen Neutralität der Mehrwertsteuer auch bei ihr die Abzugsfähigkeit.
Gegen das Urteil ist Revision eingelegt worden, Az. des BFH V R 8/13.

Verfassungswidrigkeit der Kernbrennstoffsteuer?

Finanzgericht Hamburg legt dem Bundesverfassungsgericht das Kernbrennstoffsteuergesetz zur Überprüfung vor

Die Klägerin wechselte im Juli 2011 in dem vor ihr betriebenen Kraftwerk die Kernbrennstäbe, berechnete pflichtgemäß die Kernbrennstoffsteuer (KernbrSt) und gab beim für sie zuständigen Hauptzollamt eine Steueranmeldung über rund 96 Mio. Euro ab, wendet sich aber mit ihrer Klage gegen die Steuer.

Aufgrund erheblicher Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des KernbrStG hatte das FG Hamburg der Klägerin bereits mit Beschluss vom 16.9.2011 (Az. 4 V 133/11) vorläufigen Rechtsschutz gewährt, der allerdings vom Bundesfinanzhof aus formellen Gründen wieder aufgehoben wurde. In weiteren Eilverfahren hat bisher neben dem 4. Senat auch das Finanzgericht München ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der KernbrSt geäußert, wohingegen das Finanzgericht Baden-Württemberg das Gesetz für verfassungsgemäß gehalten hat.

Der Vorlagebeschluss des 4. Senats vom 29.1.2013 (Az. 4 K 270/11) ist bundesweit die ers-te Entscheidung in einem Klageverfahren gegen die im Jahr 2011 als Verbrauchsteuer ein-geführte KernbrSt.

Nach Schluss der mündlichen Verhandlung des Hauptsacheverfahrens am 29. Januar 2013 hat der Präsident des Finanzgerichts Hamburg und Vorsitzende des 4. Senats Schoenfeld den Beschluss des Senats verkündet. Aus der mündlichen Begründung:
Der vorlegende Senat sei von der formellen Verfassungswidrigkeit des KernbrStG überzeugt. Der Bund habe die sich aus Art. 105, 106 GG ergebende Gesetzgebungskompetenz für Ver-brauchsteuern nicht in Anspruch nehmen können, weil die KernbrSt weder eine herkömmliche Verbrauchsteuer sei noch die Typusmerkmale einer Verbrauchsteuer erfülle. Prägendes Wesensmerkmal der Verbrauchsteuern sei insbesondere ihr Ziel, den privaten Verbraucher zu belasten. Auch wenn Verbrauchsteuern typischerweise nicht unmittelbar beim Konsumenten erhoben würden, sondern indirekt beim Handel oder bei der Industrie, müssten sie doch darauf angelegt sein, auf den Konsumenten abgewälzt zu werden. Dies sei bei der KernbrSt nicht der Fall. Schon in der Begründung des KernbrStG sei festgehalten worden, dass eine Überwälzung der Steuer allenfalls in geringem Umfang möglich sein werde. Eine Betrachtung des Strommarktes bestätige erwartungsgemäß, dass die KernbrSt auf die Strompreisbildung ohne Einfluss geblieben sei. Wie Äußerungen im Gesetzgebungsverfahren belegten, werde mit der KernbrSt das Ziel verfolgt, die Gewinne der Kernkraftwerksbetreiber abzuschöpfen. Dem Bund stehe auch im Übrigen keine (alleinige) Gesetzgebungskompetenz zur Einführung der KernbrSt zur Verfügung.

Zur Verfassungsmäßigkeit der KernbrSt im Übrigen – die Klägerin rügt insbesondere noch den Verstoß gegen den Gleichheitssatz und die Verletzung der Eigentumsgarantie – hat sich der 4. Senat nicht geäußert; sie wird vom Bundesverfassungsgericht im Rahmen des Nor-menkontrollverfahrens von Amts wegen zu prüfen sein. Eine Überprüfung, ob das KernbrStG gegen höherrangiges Europarecht verstößt – etwa gegen Beihilfevorschriften oder den Euratom-Vertrag – hat der 4. Senat zunächst zurückgestellt.
Die schriftliche Begründung des Beschlusses lag bei Redaktionsschluss noch nicht vor.

Luftverkehrsteuer

Einnahmenbilanz 2012 und Auswirkungen der Einführung auf den Luftverkehr

Das Bundesministerium der Finanzen hat im Juni 2012 erstmals die wirtschaftlichen Auswirkungen der Einführung der Luftverkehrsteuer auf die Luftfahrtbranche untersuchen lassen. Dazu hat es ein unabhängiges Schweizer Wirtschaftsinstitut mit der Erstellung eines Gutachtens über die Entwicklung im Jahr 2011 beauftragt und dem Bundestag einen zusammenfassenden Bericht vorgelegt. Ergänzend hierzu wurde im Herbst 2012 ein weiteres vom BMF in Auftrag gegebenes Gutachten veröffentlicht, mit dem das erste Halbjahr 2012 bilanziert wurde.

Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass in den Jahren 2011 und 2012 das Passagieraufkommen an deutschen Flughäfen weiter gestiegen ist. Die Einführung der Luftverkehrsteuer hat aus Sicht der Bundesregierung die Entwicklung der Branche nicht nachhaltig negativ beeinflusst. Auf einen einmaligen und kurzfristigen Dämpfungseffekt der Nachfrage im Jahr 2011 folgte eine von der Steuer weitgehend unbeeinflusste Weiterentwicklung im Jahr 2012.

Die 2012 registrierten Zuwachsdämpfungen haben nach Auffassung des BMF ihre Ursache im aktuell vergleichsweise niedrigen Wirtschaftswachstum im Inland und im europäischen Ausland. Dies verwundert nicht, ist doch die Luftverkehrswirtschaft seit je her wie kaum eine andere Branche von der Entwicklung der Gesamtwirtschaft  abhängig. Insbesondere auf den Luftverkehr im Inland wirkt sich die die derzeit zu beobachtende wirtschaftliche Entwicklung unmittelbar aus.

Die Einnahmen aus der Luftverkehrsteuer, die im Jahr 2011 vordergründig zur allgemeinen Haushalts­kon­solidierung eingeführt worden ist, liegen sowohl in 2011 mit 959 Millionen Euro als auch in 2012 mit 948 Millionen Euro auf dem erwarteten Niveau von bis zu 1 Milliarde Euro.

NRW-Finanzministerium warnt vor gefälschten E-Mails

Gefälschte Mails im Namen des Finanzministeriums im Umlauf / NRW-Finanzministerium warnt vor gefälschten E-Mails

Das Finanzministerium teilt mit:

Das NRW-Finanzministerium warnt vor irreführenden E-Mails, die vorgeblich vom Finanzministerium versandt wurden. In diesen wird der Empfänger darauf hingewiesen, dass er eine Steuererstattung bekäme, wenn er seine Kreditkarten-Daten hinterlegt.

Im angehängten Link der Mail wird auf eine gefälschte Seite verwiesen, in der dann die Kreditkarten-Daten hinterlegt werden sollen.

Das Finanzministerium weist darauf hin, dass Sie von Seiten der Finanzverwaltung zu keiner Zeit aufgefordert werden, Ihre Konten- oder Kreditkarten-Daten auf einer Website einzugeben.

Weitere Informationen finden Sie unter www.fm.nrw.de

Bei Nachfragen wenden Sie sich bitte an die Pressestelle des Finanzministeriums, Telefon 0211 4972-5004.

Abzuzinsende Bürgschaftsverpflichtung als Maßstab für den nachträgliche AK bildenden Rückgriffsanspruch

Der BFH hat zur Abzinsung von Bürgschaftsverbindlichkeiten Stellung genommen (Az. IX R 34/12).

BFH, Urteil IX R 34/12 vom 20.11.2012

Leitsatz

  1. Wird ein i. S. von § 17 Abs. 1 EStG qualifiziert an einer Kapitalgesellschaft beteiligter Gesellschafter vom Gläubiger der Kapitalgesellschaft aus einer eigenkapitalersetzenden Bürgschaft in Anspruch genommen und begleicht er seine Schuld vereinbarungsgemäß ratierlich, entstehen nachträgliche Anschaffungskosten (AK) nur in Höhe des Tilgungsanteils (Anschluss an BFH-Urteil vom 26. Januar 1999 VIII R 32/96, BFH/NV 1999, 922).
  2. Eine Teilzahlungsvereinbarung wirkt materiell-rechtlich und damit als rückwirkendes Ereignis i. S. von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO auf den Zeitpunkt des Entstehens des Auflösungsverlusts zurück.

Weitere Entscheidungen des BFH (27.03.2013)

Folgende weitere Entscheidungen hat der Bundesfinanzhof (BFH) mit Datum von heute (27.03.2013) veröffentlicht:

– BFH-Urteil vom 23.01.2013 – X R 43/09 (Ermäßigter Höchstbetrag bei Leistungen des Arbeitgebers für den Krankenversicherungsschutz des Arbeitnehmer-Ehegatten – Verfassungsmäßigkeit von § 10 Abs. 4 Sätze 2 und 3 EStG i.d.F. vom 05.07.2004 – Kein Anspruch auf Gleichbehandlung im Unrecht);

– BFH-Urteil vom 20.11.2012 – IX R 34/12 (Abzuzinsende Bürgschaftsverpflichtung als Maßstab für den nachträgliche Anschaffungskosten bildenden Rückgriffsanspruch des i.S. von § 17 Abs. 1 EStG qualifiziert Beteiligten; nachträgliche Teilzahlungsvereinbarung als rückwirkendes Ereignis);

– BFH-Urteil vom 20.11.2012 – IX R 30/12 (Teilverjährung festzustellender Besteuerungsgrundlagen);

– BFH-Urteil vom 17.01.2013 – VI R 32/12 (Rückwirkende Anwendung des § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG i.d.F. des JStG 2007);

– BFH-Urteil vom 30.01.2013 – II R 6/12 (Eintritt des Besserungsfalls nach Verkauf eines “Besserungsscheins” zum Verkehrswert ohne schenkungsteuerrechtliche Bedeutung; Verhältnis von vGA und Schenkungsteuer);

– BFH-Urteil vom 23.01.2013 – I R 35/12 (Kein mehrfacher “Sockelbetrag” von 1 Mio. EUR gemäß § 10d Abs. 2 EStG im mehrjährigen Besteuerungszeitraum nach § 11 Abs. 1 KStG – Verfassungsmäßigkeit der sog. Mindestbesteuerung in Insolvenzfällen und sonstigen Liquidationsfällen – “Zwischenveranlagung”);

– BFH-Beschluss vom 02.10.2012 – I S 12/12 (Auslegung – sofortige Beschwerde als Anhörungsrüge);

– BFH-Beschluss vom 28.11.2012 – IV B 11/12 (Nichtzulassungsbeschwerde: Anfechtung einer Einspruchsentscheidung, mit der erstmals ein Steueranspruch als Insolvenzforderung festgestellt wird; Darlegungserfordernisse einer Divergenzrüge; Beginn der Gewerbesteuerpflicht; Ingangsetzung des Gewerbebetriebs bei einer Ein-Schiff-Gesellschaft; gewerblich geprägte Personengesellschaft);

– BFH-Beschluss vom 29.01.2013 – I B 181/12 (Keine Beiladung im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde bei offensichtlicher Unzulässigkeit);

– BFH-Urteil vom 11.12.2012 – VII R 69/11 (Unterlassungsklage und Feststellungsklage gegen Vollstreckung aus einem Beitreibungsersuchen).

Bundesfinanzhof (BFH)

Einkommensteuerveranlagungen 2002 bis 2004

§ 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG a.F. ist auch auf Veranlagungszeiträume vor 2006 anzuwenden. Die rückwirkende Geltungsanordnung der Vorschrift verstößt nicht gegen das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot (BFH, Urteil v. 17.1.2013 – VI R 32/12; veröffentlicht am 27.3.2013).

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 17.1.2013, VI R 32/12

Rückwirkende Anwendung des § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG i.d.F. des JStG 2007

Leitsätze

1. § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG i.d.F. des JStG 2007 ist auch auf Veranlagungszeiträume vor 2006 anzuwenden.

 

2. Die in § 52 Abs. 55j Satz 1 EStG i.d.F. des StVereinfG 2011 geregelte rückwirkende Geltungsanordnung der Vorschrift verstößt nicht gegen das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot.

Tatbestand

1
I. Streitig ist, ob für die Veranlagungszeiträume 2002 bis 2004 noch Einkommensteuerveranlagungen durchzuführen sind.
2
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) erzielte in den Streitjahren Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Daneben erwirtschaftete er nach den Angaben in seinen Einkommensteuererklärungen, die am 28. Dezember 2009 beim Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt –FA–) eingingen, Überschüsse der Werbungskosten über die Mieteinnahmen aus der langfristigen Vermietung einer Doppelhaushälfte in Höhe von 2.833 EUR (2002), in Höhe von 2.348 EUR (2003) und in Höhe von 2.030 EUR (2004). Mit Bescheiden vom 18. Februar 2010 lehnte das FA die Durchführung von Einkommensteuerveranlagungen ab, weil für die Streitjahre bereits Festsetzungsverjährung eingetreten sei.
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Der nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobenen Klage hat das Finanzgericht (FG) stattgegeben. Der Bundesfinanzhof (BFH) habe im Jahr 2006 entschieden, dass eine Veranlagung von Amts wegen auch dann durchzuführen sei, wenn die negative Summe der Nebeneinkünfte den Betrag von 410 EUR übersteige. Danach habe der Kläger vorliegend einen Anspruch auf Abgabe der Einkommensteuererklärungen innerhalb der Festsetzungsfrist und Durchführung der Amtsveranlagungen erworben. Dieser Anspruch sei bereits mit Ablauf der jeweiligen Kalenderjahre und nicht erst mit Abgabe der Einkommensteuererklärungen entstanden und nicht durch Festsetzungsverjährung erloschen. Auch sei die Rechtslage für die Streitjahre nicht durch das Jahressteuergesetz (JStG) 2007 vom 13. Dezember 2006 (BGBl I 2006, 2878, BStBl I 2007, 28) wirksam geändert worden. Zwar habe der Gesetzgeber die Vorschrift des § 46 Abs. 2 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) inzwischen dahingehend geändert, dass nur weitere positive Einkünfte von mehr als 410 EUR zu einer Amtsveranlagung führen, diese Änderung des Einkommensteuergesetzes wirke jedoch nicht auf die Streitjahre zurück.
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Mit der Revision rügt das FA die Verletzung von § 46 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 52 Abs. 55j Satz 1 EStG i.d.F. des JStG 2007.
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Es beantragt,das angefochtene Urteil des Niedersächsischen FG vom 31. Januar 2012  8 K 196/10 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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Der Kläger beantragt,die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

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II. Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung).
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1. Nach § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG i.d.F. des JStG 2007 ist die Amtsveranlagung nur durchzuführen, wenn, was hier nicht der Fall ist, die positive Summe der einkommensteuerpflichtigen Einkünfte, die nicht dem Steuerabzug vom Arbeitslohn zu unterwerfen waren, vermindert um die darauf entfallenden Beträge nach § 13 Abs. 3 und § 24a EStG, mehr als 410 EUR beträgt (zur früheren Rechtslage s. BFH-Urteile vom 21. September 2006 VI R 47/05, BFHE 215, 149, BStBl II 2007, 47; VI R 52/04, BFHE 215, 144, BStBl II 2007, 45). § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG i.d.F. des JStG 2007 ist gemäß § 52 Abs. 55j Satz 1 EStG i.d.F. des Steuervereinfachungsgesetzes (StVereinfG) 2011 (früher § 52 Abs. 55j EStG i.d.F. des JStG 2007) auch auf Veranlagungszeiträume vor 2006 und damit die Streitjahre anzuwenden. Wortlaut und Gesetzeszweck der Vorschriften sind insoweit eindeutig.
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a) Der Gesetzgeber wollte mit den Neuregelungen die bisherige Verwaltungspraxis, nach der eine Pflichtveranlagung zur Einkommensteuer bei Bezug von Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit nach § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG voraussetzt, dass der Arbeitnehmer bzw. die Arbeitnehmerin in dem jeweiligen Veranlagungszeitraum Einkünfte aus anderen Einkunftsarten bezieht, deren positive Summe 410 EUR bzw. 800 DM übersteigt, fortgesetzt wissen (Schmidt/Kulosa, EStG, 31. Aufl., § 46 Rz 12). Dies folgt zum einen aus dem Umstand, dass der Gesetzgeber den Neuregelungen lediglich eine klarstellende Bedeutung beigemessen hat (BRDrucks 622/1/06, S. 21 f.; BTDrucks 16/3036, S. 22 „Zu Nummer 17“). Zum anderen macht die rück(be)wirkende Geltungsanordnung deutlich, dass der Gesetzgeber an seiner Lesart der bisherigen Fassung des § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG nicht nur zukünftig, sondern auch für die Vergangenheit festhalten wollte (vgl. Paetsch in Frotscher, EStG, Freiburg 2011, § 46 Rz 26b). Nach der durch die allgemeinen Regeln der Mathematik unterstützten wörtlichen Auslegung der Vorschrift sei eine negative Summe der Einkünfte niedriger als 0 und könne damit nicht mehr als 410 EUR bzw. 800 DM betragen (BRDrucks 622/1/06, S. 21 f.).
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b) Entgegen der Auffassung der Vorinstanz und des Klägers verstößt diese Auslegung des § 52 Abs. 55j Satz 1 EStG i.d.F. des StVereinfG 2011 nicht gegen das grundsätzliche Verbot rückwirkender belastender Gesetze. Dabei kann der Senat offenlassen, ob der Gesetzgeber mit der rückwirkenden Geltungsanordnung des § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG i.d.F. des JStG 2007 tatsächlich in einen abgeschlossenen steuerlichen Sachverhalt ändernd eingegriffen hat. Denn selbst wenn ein solches Verhalten des Gesetzgebers vorläge, sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) jedoch –ohne dass dies abschließend wäre– Fallgruppen anerkannt, in denen das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes) durchbrochen ist (vgl. BVerfG-Beschlüsse vom 14. Mai 1986  2 Bvl 2/83, BVerfGE 72, 200 <258 ff.>; vom 3. Dezember 1997  2 BvR 882/97, BVerfGE 97, 67 <79 f.>; BVerfG-Urteil vom 23. November 1999  1 BvF 1/94, BVerfGE 101, 239 <263>). So tritt das Rückwirkungsverbot, das seinen Grund im Vertrauensschutz hat, namentlich dann zurück, wenn sich kein schützenswertes Vertrauen auf den Bestand des geltenden Rechts bilden konnte (vgl. BVerfG-Urteil in BVerfGE 101, 239 <263>), etwa weil die Rechtslage unklar und verworren war (vgl. BVerfG-Urteil vom 19. Dezember 1961  2 BvL 6/59, BVerfGE 13, 261 <272>) oder eine gefestigte Rechtsanwendungspraxis zu einer bestimmten Steuerrechtsfrage nach Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung rückwirkend gesetzlich festgeschrieben wird (BVerfG-Beschlüsse vom 23. Januar 1990  1 BvL 4/87, 1 BvL 5/87, 1 BvL 6/87, 1 BvL 7/87, BVerfGE 81, 228; vom 15. Oktober 2008  1 BvR 1138/06, Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 14, 338, und vom 21. Juli 2010  1 BvL 11/06, 1 BvL 12/06, 1 BvL 13/06, 1 BvR 2530/05, BVerfGE 126, 369, 393 f.).
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Gemessen hieran durfte der Gesetzgeber für eine Pflichtveranlagung nach § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG (weiterhin) positive Nebeneinkünfte voraussetzen. Denn mit der Neuregelung hat er lediglich die Rechtslage wiederhergestellt, die bis zu den Entscheidungen des BFH vom 21. September 2006 (in BFHE 215, 149, BStBl II 2007, 47, und in BFHE 215, 144, BStBl II 2007, 45) der jahrzehntelangen Besteuerungspraxis (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 22. Mai 2006 VI R 50/04, BFHE 214, 141, BStBl II 2006, 801; FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 5. April 2006  1 K 1076/04, Entscheidungen der Finanzgerichte –EFG– 2006, 1523; FG Köln, Urteil vom 10. Februar 2006  12 K 4601/05, EFG 2007, 593; FG Hamburg, Urteil vom 2. Juni 2005 VI 260/03, juris; Hessisches FG, Urteil vom 13. November 2003  5 K 2804/03, juris) und der nahezu einhelligen Meinung im Fachschrifttum (z.B. Schmidt/Glanegger, EStG, 24. Aufl., § 46 Rz 50 f.; Haase, Steuern und Bilanzen 2005, 157) entsprochen hat. Ein berechtigtes Vertrauen auf den Fortbestand der hiervon abweichenden Rechtslage und damit der Rechtsprechung des BFH vom 21. September 2006 konnte in der Zeit bis zum Erlass der Neuregelungen nicht entstehen (vgl. Niedersächsisches FG, Urteil vom 28. September 2010  12 K 478/08, 12 K 479/08, EFG 2011, 533). Denn der Gesetzgeber hat bereits am 29. September 2006 angekündigt, dass er zur bisherigen Rechtslage zurückkehren werde, nach der eine Pflichtveranlagung zur Einkommensteuer bei Bezug von Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit nach § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG voraussetzt, dass der Arbeitnehmer bzw. die Arbeitnehmerin in dem jeweiligen Veranlagungszeitraum Einkünfte aus anderen Einkunftsarten bezieht, deren positive Summe 410 EUR bzw. 800 DM übersteigt (BRDrucks 622/1/06, S. 21 f.).
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c) Ob und inwieweit anderes für die Zeit nach dem Ergehen der Urteile des BFH in BFHE 215, 149, BStBl II 2007, 47 und in BFHE 215, 144, BStBl II 2007, 45 bis zum endgültigen Gesetzesbeschluss am 13. Dezember 2006 bzw. der Verkündung des JStG 2007 am 18. Dezember 2006 (BGBl I 2006, 2878) oder jedenfalls bis zur entsprechenden Gesetzesinitiative (BVerfG-Beschluss vom 10. Oktober 2012  1 BvL 6/07, Deutsches Steuerrecht –DStR– 2012, 2322, m.w.N.) –hier der Veröffentlichung der BRDrucks 622/1/06– gilt, kann vorliegend ebenfalls dahinstehen. Denn der Kläger hat seine Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre erst am 28. Dezember 2009 abgegeben; etwaige im Vertrauen auf die erfolgte Rechtsprechungsänderung getätigte Dispositionen in der Zeit bis zum Erlass der Neuregelung stehen damit nicht zur Entscheidung. Im Übrigen genießt die bloß allgemeine Erwartung, das geltende Recht werde zukünftig unverändert fortbestehen, wenn –wie hier– keine besonderen Momente der Schutzwürdigkeit hinzutreten, keinen besonderen verfassungsrechtlichen Schutz (vgl. BVerfG-Beschluss in DStR 2012, 2322, m.w.N.).
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2. Damit kommt vorliegend allein eine Veranlagung des Klägers nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG i.d.F. des JStG 2008 (EStG n.F.) vom 20. Dezember 2007 (BGBl I 2007, 3150, BStBl I 2008, 218) in Betracht. Danach wird eine Einkommensteuerveranlagung durchgeführt, wenn sie beantragt wird. Die –frühere zusätzliche– Voraussetzung, dass der Antrag bis zum Ablauf des auf den Veranlagungszeitraum folgenden zweiten Kalenderjahres zu stellen war, ist entfallen.
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a) § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG n.F. ist gemäß § 52 Abs. 55j Satz 4 EStG i.d.F. des StVereinfG 2011 (früher § 52 Abs. 55j Satz 2 EStG n.F.) erstmals für den Veranlagungszeitraum 2005 anzuwenden und in Fällen, in denen am 28. Dezember 2007 über einen Antrag auf Veranlagung zur Einkommensteuer noch nicht bestandskräftig entschieden ist. Letzteres trifft zu. Eine bestandskräftige Ablehnung des Antrags des Klägers auf Durchführung der Einkommensteuerveranlagungen für die Streitjahre liegt nicht vor. Nach der Rechtsprechung des Senats ist es nicht erforderlich, dass der Antrag auf Veranlagung für Veranlagungszeiträume vor 2005 bereits vor dem 28. Dezember 2007 bei den Finanzbehörden eingegangen ist (Senatsentscheidung vom 12. November 2009 VI R 1/09, BFHE 227, 97, BStBl II 2010, 406).
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b) Im Streitfall steht der Veranlagung gemäß § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG n.F. i.V.m. § 52 Abs. 55j Satz 4 EStG i.d.F. des StVereinfG 2011 jedoch der Eintritt der Festsetzungsverjährung entgegen.
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Die Festsetzungsfrist für die Einkommensteuer beträgt nach § 169 Abs. 2 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO) vier Jahre. Sie beginnt mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden ist (§ 170 Abs. 1 AO). Die Einkommensteuer für 2002, 2003 und 2004 verjährte demnach mit Ablauf der Jahre 2006, 2007 und 2008. Nach den Feststellungen des FG hat der Kläger den erforderlichen Antrag durch Abgabe der Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre (erst) im Jahre 2009 beim FA gestellt.
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Der Ablauf der Festsetzungsfrist war nach der neuen Rechtsprechung des BFH nicht nach § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO gehemmt. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird zur Begründung auf die Senatsentscheidung vom 14. April 2011 VI R 53/10 (BFHE 233, 311, BStBl II 2011, 746) verwiesen.
18
Nach alldem war die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.