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Besteuerung von American Depository Receipts (ADRs) auf inländische Aktien

Bundeszentralamt für Steuern
DATUM 24. Mai 2013
BETREFF Besteuerung von American Depository Receipts (ADRs) auf inländische Aktien
GZ IV C 1 – S 2204/12/10003
DOK 2013/0457359
(bei Antwort bitte GZ und DOK angeben)
Im Einvernehmen mit den obersten Finanzbehörden der Länder gilt für die Besteuerung von
American Depository Receipts (ADRs) Folgendes:
I. Grundlagen der Besteuerung von American Depository Receipts auf inländische
Aktien
ADRs (Hinterlegungsscheine) auf inländische Aktien werden durch Emittenten in den USA
im Rahmen von ADR-Programmen aufgelegt und verbriefen einen Anteil an einem im Inland
verwahrten Bestand an inländischen Aktien. Beteiligte an dem ADR-Programm sind insbesondere die ausländische Depotbank, die inländische Hinterlegungsstelle der inländischen
Aktien, die inländischen und ausländischen Zwischenverwahrer sowie der Inhaber der ADRs.
Die ausländische Depotbank übernimmt die Registrierung und laufende Verwaltung des
ADR-Programmes in den USA. Sie verwaltet die emittierten ADRs und ist Inhaberin des
Aktiendepots inländischer Aktien bei der inländischen Hinterlegungsstelle. Die Aktionärsrechte, insbesondere das Stimmrecht sowie Dividendenansprüche und Bezugsrechte stehen
zwar der Depotbank zu, allerdings wird die Aktionärsstellung über das ADR-Programm durch
die Depotbank an die ADR-Inhaber vermittelt. Die Depotbank muss Dividenden und sonstige
Bezüge an die ADR-Inhaber weiterleiten. Je nach Ausgestaltung des ADR-Programmes
nimmt die Depotbank ihr Stimmrecht nach Weisung des ADR-Inhabers war. Die ADR-Seite 2 Inhaber können auch über eine Vollmacht selbst in der Hauptversammlung als Vertreter der
Depotbank auftreten.
Die Beziehungen zwischen den Beteiligten gestalten sich danach wie folgt:
Verwahr
vertrag
Inländische Hinterlegungsstelle der
inländischen Aktien
Ausländische Depotbank =
Inhaber der Aktien und Verwalter
des ADR-Programms
ADR-Inhaber
(lässt ADR bei seiner inländischen
oder ausländischen depotführenden
Stelle verwahren)Seite 3
II. Besteuerung der Gewinnanteile im Rahmen von ADR-Programmen auf inländische
Aktien
Gewinnbezugsberechtigter Aktionär im Rahmen eines ADR-Programmes auf inländische
Aktien ist zwar das Finanzinstitut, das die inländischen Aktien für die ADR-Inhaber bei einer
inländischen Hinterlegungsstelle verwahren lässt. Die auf die inländischen Aktien geleistete
Dividendenzahlung wird aber aufgrund der vertraglichen Verpflichtung aus dem ADR-Programm durch dieses Finanzinstitut an die ADR-Inhaber über die Verwahrkette weitergeleitet.
Die Dividendenzahlung ist deshalb für Zwecke der Besteuerung nicht dem zivilrechtlichen
Aktionär, sondern den ADR-Inhabern ihren Anteilen entsprechend zuzurechnen.
Für die Besteuerung der ADR-Inhaber wird an die von derinländischen Hinterlegungsstelle
ausgezahlte Dividendenzahlung angeknüpft. Gleiches gilt für sonstige Bezüge, die die Depotbank über das ADR-Programm an die ADR-Inhaber weiterleitet. Der Ertrag aus dem ADR
wird im Zeitpunkt des Zuflusses beim ADR-Inhaber realisiert.
Handelt es sich bei den im Rahmen des ADR-Programms verwahrten Aktien um Aktien
i. S. d. § 43 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1a EStG, hat die inländische Hinterlegungsstelle den
Kapitalertragsteuerabzug auf die Dividendenzahlung vor Zahlung in das Ausland vorzunehmen.
Die Dividendenzahlung ist beim ADR-Inhaber ein steuerpflichtiger Kapitalertrag gemäß
§ 20 Absatz 1 Nummer 1 Satz 1 EStG bzw. § 49 Absatz 1 Nummer 5 a) EStG. Maßgebend ist
die in Euro lautende Dividendenzahlung auf die inländische Aktie. Für die Erstattung von
Kapitalertragsteuer nach § 50d EStG aus im Rahmen von ADR-Programmen erzielten
Dividendenerträgen ist entsprechend § 50 d Absatz 1 Satz 4 EStG die Vorlage einer Steuerbescheinigung erforderlich, wenn es sich bei den für die ADRs hinterlegten Aktien um Aktien
i. S. d. § 43 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1a EStG handelt.
Das BMF-Schreiben vom 23. Juni 2011 (BStBl I Seite 625) betreffend Berücksichtigung von
Freistellungsaufträgen und Verrechnung von Verlusten im Zusammenhang mit dem Zufluss
von Kapitalerträgen i. S. v. § 43 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1a EStG i. d. F. des OGAW-IVUmsetzungsgesetzes gilt für ADR-Erträge entsprechend.Seite 4
III. Steuerbescheinigungen bei ADRs auf inländische Aktien
1. Allgemeines
Für die Erteilung von Steuerbescheinigungen gilt das BMF-Schreiben vom 20. Dezember
2012 (BStBl 2013 I Seite 36) entsprechend. Die Steuerbescheinigungen werden ausgestellt
durch die inländische Hinterlegungsstelle der Aktien auf Anforderung der inländischen oder
ausländischen depotführenden Stellen, die die ADRs für ihre Endkunden verwahren.
Inländische depotführende Stellen können unter den Voraussetzungen der Ziffer III.2 bei der
inländischen Hinterlegungsstelle auch eine Sammelsteuerbescheinigung beantragen.
Der Antrag auf Ausstellung einer durch die inländische Hinterlegungsstelle auszustellenden
Steuerbescheinigung ist über die Depotbank, die die Aktien bei der inländischen Hinterlegungsstelle verwahren lässt, an die inländische Hinterlegungsstelle zu leiten.
Eine Steuerbescheinigung kann jeweils entsprechend dem Verhältnis der ADRs zu den
zugrundeliegenden Aktien beantragt werden. Das Gesamtvolumen der zu bescheinigenden
Kapitalerträge ist auf die Dividendenzahlung der insgesamt im Rahmen des ADR-Programms
verwahrten Aktien beschränkt.
Vereinfachtes Beispiel:
Verhältnis ADR – Aktie: 4:1
Dividende auf eine Aktie: 4 Euro
Es sind vier ADRs in Umlauf, die von vier verschiedenen Inhabern gehalten werden.
Lösung:
Verlangen die Inhaber der ADR über das das ADR-Programm verwaltende Finanzinstitut
jeweils eine Steuerbescheinigung, sind vier Steuerbescheinigungen über jeweils 1 Euro Kapitalertrag mit darauf entfallender Kapitalertragsteuer auszustellen.
2. Sammel-Steuerbescheinigungen und zweiter Steuerabzug bei Verwahrung der ADR durch
inländische Kredit und Finanzdienstleistungsinstitute
Werden die ADRs bei einem inländischen Kredit- oder Finanzdienstleistungsinstitut i. S. d.
§ 43 Absatz 1 Satz 1 Nummer 7 Buchstabe b EStG (nachfolgend inländische depotführende
Stelle) verwahrt und erhält dieses für ihre Kunden von der ausländischen Depotbank über die
Verwahrkette der ADRs eine Dividendenzahlung auf das ADR, ist die Abwicklung der
Dividendenzahlung bis zur Gutschrift für den Kunden bei der inländischen depotführenden
Stelle mit der Abwicklung von Dividendenzahlungen bei der ausländischen Zwischenverwahrung von inländischen Aktien vergleichbar. Seite 5
Wegen der Vergleichbarkeit der Verwahrung von ADRs durch inländische depotführende
Stellen mit der ausländischen Zwischenverwahrung von inländischen Aktien sind die BMFSchreiben vom 1. März 2012 zur Anwendung der Sammel-Steuerbescheinigung nach
§ 44a Absatz 10 Satz 4 EStG (BStBl I Seite 236) und das Schreiben vom 26. Oktober 2011
zur doppelten Kapitalertragsteuerbelastung bei im Ausland zwischenverwahrten
Aktienbeständen (IV C 1 – S 2400/11/10002:003, Dok 2011/0833226) entsprechend
anzuwenden.
Liegen die dort genannten Voraussetzungen für die bei der inländischen depotführenden
Stelle verwahrten ADR Bestände vor, kann vom zweiten Steuerabzug Abstand genommen
sowie eine Sammel-Steuerbescheinigung beantragt werden. Die Sammel-Steuerbescheinigung
kann bei der inländischen Hinterlegungsstelle für die Aktien beantragt werden, die dem bei
der inländischen depotführenden Stelle verwahrten Bestand an ADRs entsprechen.
3. Angabe der ISIN
3.1 Auf den Steuerbescheinigungen, die von der inländischen Hinterlegungsstelle ausgestellt
werden, ist die ISIN der inländischen Aktien anzugeben, für die das ADR-Programm aufgelegt wurde. Die ausgewiesenen Beträge sind unter Berücksichtigung des Verhältnisses der
ADRs zur Originalaktie zu bescheinigen.
Erteilt eine inländische Hinterlegungsstelle entsprechend Rz. 54 des BMF Schreibens vom
20. Dezember 2012 (BStBl I 2013 Seite 36) auf Antrag eines inländischen oder ausländischen
Kreditinstitutes eine Einzelsteuerbescheinigung für einen ADR-Inhaber nach Muster I für die
Dividende aus den anteilig auf den ADR-Inhaber entfallenden Aktien, ist auf der Einzelsteuerbescheinigung nach der Angabe des Zahlungstags die Stückzahl der anteiligen inländischen Aktien, die ISIN der inländischen Aktien und die Bezeichnung der ausschüttenden
Aktiengesellschaft anzugeben.
Die im amtlichen Muster I angeführten Anwendungsfälle von Einzelsteuerbescheinigungen
(Treuhand-/Nießbrauch-/Anderkonto/ etc.) sind entweder zu streichen oder wegzulassen.
Stattdessen hat der Hinweis „ADR Erträge“ zu erfolgen.
Durch die inländische Hinterlegungsstelle sind demnach folgende Steuerbescheinigungen
unter Angabe der ISIN der inländischen Aktien zu erstellen:
Antrag inländischer oder ausländischer Kreditinstitute, die Bestände für Endkunden verwahren:
Einzelsteuerbescheinigung nach Muster I oder Steuerbescheinigung nach Muster IIISeite 6
Antrag eines inländischen Kreditinstitutes:
Sammel-Steuerbescheinigung
3.2 Die Anforderung zur Angabe der ISIN der inländischen Aktien gilt nicht für Steuerbescheinigungen der inländischen depotführenden Stellen, die ADRs für den Endkunden verwahren. Werden bei diesen Instituten für beschränkt steuerpflichtige ADR-Inhaber Einzelsteuerbescheinigungen bzw. zeitraumbezogene Steuerbescheinigungen beantragt, sind diese
nach Muster III unter Angabe der ISIN des ADRs auszustellen. Für unbeschränkt steuerpflichtige ADR-Inhaber sind die Erträge aus dem ADR-Programm im Rahmen der Jahressteuerbescheinigung zu erfassen soweit Einkünfte aus Kapitalvermögen vorliegen bzw. im
Rahmen einer Steuerbescheinigung nach Muster III bei Einkünften nach §§ 13, 15, 18 und 21
des Einkommensteuergesetzes.
IV. Auswirkungen der Währungsumrechnung
Bemessungsgrundlage für die Besteuerung des ADR-Inhabers nach § 20 Absatz 1 Nummer 1
EStG ist der in Euro lautende inländische Dividendenertrag. Dies gilt auch, wenn dem ADRInhaber infolge von Währungsumrechnungen ein höherer oder niedrigerer Betrag in Euro gutgeschrieben wird.
Wird einem unbeschränkt steuerpflichtigen Inhaber eines ADR aufgrund von Währungsschwankungen in Euro ein höherer oder niedrigerer Betrag gutgeschrieben als es der Dividende entspricht, verwirklicht dieser in Höhe des Differenzbetrages zwischen der Gutschrift
und der Dividende einen Gewinn bzw. Verlust aus einem privaten Veräußerungsgeschäft
gemäß §§ 22 Nummer 2, 23 Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 EStG.
V. Entsprechende Anwendung auf European-(EDR), International-(IDR) und Global
Depository Receipts (GDR)
Die Regelungen der Ziffer I. bis IV. finden auf EDRs, IDRs und GDRs entsprechende
Anwendung, soweit diese entsprechend ADRs ausgestaltet sind.Seite 7
VI. Anwendungsregelung
Dieses Schreiben ist auf nach dem 31. Dezember 2013 zufließende Kapitalerträge anwendbar.
Die Beantragung und Ausstellung von Sammel-Steuerbescheinigungen ist bereits für ab
1.Januar 2012 zufließende Kapitalerträge zulässig.
Dieses Schreiben wird im Bundessteuerblatt Teil I veröffentlicht.
Im Auftrag
Dieses Dokument wurde elektronisch versandt und ist nur im Entwurf gezeichnet.

Steuerhinterziehung durch Unterlassen

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 586/12
vom
9. April 2013
BGHSt: ja
BGHR: ja
Nachschlagewerk: ja
Veröffentlichung: ja
____________________________
AO § 35, § 370 Abs. 1 Nr. 2; StGB § 25 Abs. 2
1. Täter einer Steuerhinterziehung durch Unterlassen (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO)
kann nur derjenige sein, der selbst zur Aufklärung steuerlich erheblicher Tatsachen besonders verpflichtet ist.
2. Das Merkmal „pflichtwidrig“ in § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO bezieht sich allein auf
das Verhalten des Täters, nicht auf dasjenige eines anderen Tatbeteiligten.
Damit kommt eine Zurechnung fremder Pflichtverletzungen auch dann nicht in
Betracht, wenn sonst nach allgemeinen Grundsätzen Mittäterschaft vorliegen
würde.
3. Eine eigene Rechtspflicht zur Aufklärung über steuerlich erhebliche Tatsachen trifft gemäß § 35 AO auch den Verfügungsberechtigten. Verfügungsbe– 2 –
rechtigter im Sinne dieser Vorschrift kann auch ein steuernder Hintermann sein,
der ihm gegenüber weisungsabhängige „Strohleute“ im Rechtsverkehr nach
außen im eigenen Namen auftreten lässt.
BGH, Urteil vom 9. April 2013 – 1 StR 586/12 – LG Mannheim
in der Strafsache
gegen
wegen Steuerhinterziehung u.a.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 9. April 2013,
an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Nack
und die Richter am Bundesgerichtshof
Rothfuß,
Dr. Graf,
Prof. Dr. Jäger,- 3 –
Prof. Dr. Radtke,
Richter
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte – in der Verhandlung -,
Justizangestellte – bei der Verkündung –
als Urkundsbeamtinnen der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Mannheim vom 11. Juni 2012
a) im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte in
den Fällen 19 sowie 23 bis 26 der Urteilsgründe jeweils
wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung verurteilt wird,
b) aufgehoben
aa) im Einzelstrafausspruch in den Fällen 19 sowie 23
bis 26 der Urteilsgründe und
bb) im Ausspruch über die Gesamtfreiheitsstrafe.- 4 –
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts
zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Steuerhinterziehung in
29 Fällen und Beihilfe zur Steuerhinterziehung in fünf Fällen unter Einbeziehung einer Geldstrafe aus einem Urteil des Amtsgerichts Bensheim vom
22. November 2011 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und neun
Monaten verurteilt.
Hiergegen richtet sich die auf eine nicht näher ausgeführte Verfahrensrüge sowie die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat den aus dem Tenor ersichtlichen Teilerfolg. Im Übrigen ist es unbegründet.
A.
Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
1
2
3- 5 –
I.
Fälle 1 bis 29 der Urteilsgründe („Bandentaten“)
1. Der einschlägig vorbestrafte Angeklagte hatte erfahren, dass sich eine
bis dahin von Ba. , G. und B. angeführte Gruppe erfolgreich im Handel mit Altgold betätigt hatte. Dieser Handel war darauf
ausgerichtet, systematisch einen betrügerischen „Umsatzsteuergewinn“ zu erwirtschaften. Der „Gewinn“ wurde dadurch erzielt, dass die beim Verkauf von
Altgold an Scheideanstalten neben dem Nettokaufpreis erlangte Umsatzsteuer
einbehalten wurde, in den Umsatzsteuervoranmeldungen der einliefernden
Personen aber ein nicht gerechtfertigter Vorsteuerabzug aus Scheinrechnungen vorgenommen wurde. Das Hinterziehungssystem folgte bis zum Einstieg
des Angeklagten im Juni 2010 im Wesentlichen folgendem Ablauf:
Die Gruppe ließ Goldscheideanstalten mit von Ba. und G.
„schwarz“ – also ohne Umsatzsteuer – angekauftem Gold in normalen Handelsgeschäften beliefern. Bei den Scheideanstalten traten als liefernde Unternehmer (sog. Einlieferer) nur G. oder Personen auf, die von G. zu diesem Zwecke angeworben worden waren und entsprechende Gewerbe angemeldet hatten. Die Goldscheideanstalten rechneten beim Ankauf des Goldes
mit den Einlieferern über Gutschriften (§ 14 Abs. 2 Satz 2 UStG) unter Ausweis
von Umsatzsteuer ab und überwiesen den Bruttokaufpreis auf deren Konten.
Die jeweiligen Einlieferer händigten den Brutto-Gutschriftsbetrag an Ba.
oder G. aus und erhielten dafür eine Provision in Höhe von drei bis vier
Prozent des Gutschriftsbetrages.
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7- 6 –
Die Einlieferer – darunter auch G. , soweit er in eigenem Namen
Gold bei den Goldscheideanstalten einlieferte – meldeten in ihren Umsatzsteuervoranmeldungen die Umsatzsteuer aus den Gutschriften für die Goldlieferungen an. Zur Minimierung der sich ergebenden Zahllast nahmen sie jedoch
gleichzeitig einen unberechtigten Vorsteuerabzug (§ 15 UStG) aus Scheinrechnungen vor, die B. beschaffte. Es handelte sich dabei um sog. Abdeckrechnungen, in denen den Rechnungsadressaten unter Umsatzsteuerausweis tatsächlich nicht erbrachte Lieferungen von Gold in Rechnung gestellt wurden. Die
„Gewinne“ aus den Geschäften verwendeten G. und Ba. einerseits für
weitere Goldankäufe sowie zum Bezahlen der Abdeckrechnungen, andererseits
für einen aufwendigen Lebensstil.
Anlässlich eines Streits um eine offene Forderung B. s nahmen Ba.
und G. den Angeklagten in die Gruppe auf, um fortan mit ihm nach „bewährtem Geschäftsmodell“ den auf Steuerhinterziehung ausgerichteten Goldhandel fortzusetzen. Der Angeklagte übernahm – B. ersetzend – in führender
Funktion gemäß einer „internen Aufgabenverteilung“ folgende Aufgaben (UA
S. 20). Er sollte:
8- 7 –
– finanzielle Mittel für den weiteren Altgoldankauf zur Verfügung stellen,
– neue Einlieferer anwerben,
– die „Logistik“ für die Abdeckrechnungen, insbesondere neue Scheinfirmen und „Strohmänner“ sowie entsprechende Unterlagen, bereitstellen,
– teilweise Altgold von Ba. in Empfang nehmen und an die anzuwerbenden neuen Einlieferer verteilen,
– teilweise das Bargeld von den Einlieferern in Empfang nehmen,
– teilweise die Gutschriftsbelege der Scheideanstalten, die für die Erstellung von Abdeckrechnungen benötigt wurden, von den Einlieferern in Empfang nehmen und an G. weiterleiten und
– teilweise die Abdeckrechnungen von G. in Empfang nehmen
und den Einlieferern übergeben.
Ba. sollte, wie zuvor auch, in erster Linie für die Beschaffung und
teilweise Verteilung des Goldes zuständig sein, während G. die Abdeckrechnungen fertigen und daneben weiterhin Gold einliefern sollte.
Ende September 2010 nahm der Angeklagte den gesondert Verfolgten
Gl. in die Gruppe auf, der als „Rechnungsschreiber“ und Einlieferer unter Falschpersonalien auftretend fortan ebenfalls eine führende Funktion
in der Gruppe einnahm. Er ersetzte G. , als dieser im Oktober 2010 aus
der Gruppe ausschied.
Der Angeklagte erhielt bei jedem Goldgeschäft einen Gewinnanteil; im
Übrigen blieb die Gewinnverteilung in der Gruppe weitgehend ungeklärt. Die in
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diesen Fällen unter Beteiligung des Angeklagten insgesamt bewirkte Umsatzsteuerverkürzung betrug 1.382.391,24 Euro.
2. Die einzelnen Fälle wiesen folgende Besonderheiten auf:
a) Fälle 1 bis 18 der Urteilsgründe
aa) In den Fällen 1 bis 14 sowie 16 bis 18 der Urteilsgründe wurden die
Einlieferungen von G. sowie von vier weiteren Einlieferern vorgenommen.
Die für die Steuerhinterziehung erforderlichen Abdeckrechnungen auf dem
Briefkopf einer A. GmbH stellte G. her, der zu diesem Zweck vom
Angeklagten Geschäftsunterlagen und einen Firmenstempel der A. GmbH
erhalten hatte. Der Angeklagte veranlasste jeweils, dass die Rechnungen vom
formellen Geschäftsführer der A. GmbH, einem unter den Falschpersonalien „ T. “ auftretenden nicht näher identifizierten bulgarischen
Staatsangehörigen, unterzeichnet wurden.
bb) Im Fall 15 der Urteilsgründe wurden Vorsteuern aus Abdeckrechnungen geltend gemacht, die Gl. unter den Falschpersonalien „
F. “ gefertigt hatte. Der Angeklagte hatte Gl. zuvor einen auf diesen
Namen ausgestellten gefälschten Reisepass besorgt.
b) Fälle 23 bis 26 der Urteilsgründe
Gl. trat in den Monaten September bis Dezember 2010 unter den
Falschpersonalien „ F. “ selbst als Einlieferer auf. Da er einen falschen Namen verwendete, gab er abweichend von der sonst üblichen Vorgehensweise absprachegemäß keine Umsatzsteuervoranmeldungen ab. Die Verwendung von Abdeckrechnungen erschien im Hinblick auf die Identitätstäuschung zu Verschleierungszwecken nicht erforderlich. Den für die Einlieferung
bei der Goldscheideanstalt erhaltenen Kaufpreis händigte er abzüglich einer
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Provision von einem Prozent des Gutschriftsbetrages an den Angeklagten oder
an Ba. aus.
c) Fälle 27 und 28 der Urteilsgründe
In den Fällen 27 und 28 der Urteilsgründe wurden zwei Einlieferer unter
Falschpersonalien tätig, denen der Angeklagte gefälschte Ausweisdokumente
verschafft hatte. Da auch sie unter diesen Falschpersonalien auftraten, wurden
Abdeckrechnungen für ihre Einlieferungen von vorneherein nicht erstellt.
d) Fälle 20 bis 22 sowie 29 der Urteilsgründe
aa) Die Einlieferin Y. hatte von Gl. unter dem Namen „
F. “ erstellte Abdeckrechnungen erhalten. Sie gab absprachewidrig keine
Umsatzsteuervoranmeldungen ab (Fälle 20 bis 22 der Urteilsgründe)
bb) Der Einlieferer D. gab, obwohl er Abdeckrechnungen erhalten
hatte, ebenfalls absprachewidrig keine Umsatzsteuervoranmeldungen ab (Fall
29 der Urteilsgründe).
e) Fall 19 der Urteilsgründe
Das Gruppenmitglied G. , das im Fall 19 der Urteilsgründe als Einlieferer tätig wurde, gab abweichend von den Absprachen in der Gruppe gleichfalls keine Umsatzsteuervoranmeldung ab.
3. Das Landgericht hat die vom Angeklagten aus der Gruppe heraus begangenen Taten als 18 Fälle gemeinschaftlicher Steuerhinterziehung durch
aktives Tun gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO, § 25 Abs. 2 StGB (Fälle 1 bis 18 der
Urteilsgründe) und elf Fälle gemeinschaftlicher Steuerhinterziehung durch Unterlassen gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO, § 25 Abs. 2 StGB (Fälle 19 bis 29 der
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Urteilsgründe) gewertet. Es hat in diesen Fällen jeweils eine bandenmäßige
Begehung i.S.v. § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 5 AO angenommen.
Das Landgericht hat den Angeklagten in diesen Fällen jeweils als Mittä-
ter eingestuft. Soweit Unterlassungsdelikte vorlägen (Fälle 19 bis 29 der Urteilsgründe), habe er gemeinschaftlich mit anderen die Abgabe von Umsatzsteuervoranmeldungen unterlassen.
Die über die Gewerbe der Einlieferer abgewickelten Goldlieferungen hat
das Landgericht den Mitgliedern der Gruppe, die sie als Bande qualifiziert hat,
und damit auch dem Angeklagten zugerechnet, weil die Einlieferer sich als
„Strohleute“ in einer arbeitnehmerähnlichen Stellung befunden hätten und
– somit nicht als Unternehmer im Sinne des § 2 UStG handelnd – den Tatplan
der Bandenmitglieder lediglich umgesetzt hätten. Daher habe für den Angeklagten als „Mitunternehmer“ gemäß § 18 UStG die Pflicht bestanden, diese Goldeinlieferungen in Umsatzsteuererklärungen als Umsätze anzumelden.
Soweit (in den Fällen 19 sowie 23 bis 26 der Urteilsgründe) G. und
Gl. als Einlieferer tätig geworden seien, sei der Angeklagte nicht als „Mitunternehmer“ einzustufen. Denn diese Gruppenmitglieder hätten nicht die Position von „Strohleuten“ eingenommen. Deshalb seien auch deren Goldeinlieferungen nicht dem Angeklagten unter dem Gesichtspunkt (mit)unternehmerischer Tätigkeit zurechenbar. Dennoch habe sich der Angeklagte auch insoweit der gemeinschaftlichen Umsatzsteuerhinterziehung gemäß § 370 Abs. 1
Nr. 2 AO, § 25 Abs. 2 StGB strafbar gemacht. Er müsse sich als Hintermann
– entgegen der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs – die
Pflichtverletzungen der Bandenmitglieder zurechnen lassen.
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28- 11 –
II.
Weitere Taten des Angeklagten (Fälle 30 bis 34 der Urteilsgründe)
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts leistete der Angeklagte
außerhalb der Bande Unterstützungsbeiträge zu weiteren vergleichbaren Taten:
a) Fall 30 der Urteilsgründe (Unterstützung einer Gruppe um B. )
Der wegen den Streitigkeiten mit G. und Ba. aus der Bande
ausgeschiedene B. nahm in einer neuen Gruppe entsprechende Goldhandelsgeschäfte vor, die ebenfalls auf die Hinterziehung von Umsatzsteuer abzielten. Die Geschäfte wurden über die vermögenslose S. GmbH abgewickelt. Nachdem viele Banken unter anderem wegen des von ihnen gesehenen Geldwäscheverdachts nicht mehr dazu bereit waren, Konten für Goldhändler zu errichten, unterstützte der Angeklagte die Gruppe, indem er über einen
unabhängigen Finanzvermittler die Eröffnung eines Geschäftskontos ermöglichte.
Die durch die Nichtabgabe der Umsatzsteuererklärungen für die über die
S. GmbH abgewickelten Goldhandelsgeschäfte eingetretene Umsatzsteuerverkürzung betrug insgesamt 824.000,04 Euro.
b) Fälle 31 bis 34 der Urteilsgründe (Unterstützung einer Gruppe um
Te. )
Für entsprechende Goldhandelsgeschäfte einer Gruppe um Te.
, bei denen ebenfalls systematisch Umsatzsteuern hinterzogen wurden,
stellte der Angeklagte Abdeckrechnungen zur Verfügung, die er von Gl.
fertigen ließ. Sie wurden zum unberechtigten Vorsteuerabzug verwendet. Hier-
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durch wurde durch Yi. Umsatzsteuer in Höhe von insgesamt 89.965
Euro und durch Ü. von weiteren 57.633,42 Euro hinterzogen.
2. Die den Fällen 30 bis 34 der Urteilsgründe zu Grunde liegenden Taten
hat das Landgericht jeweils als Beihilfe zur Steuerhinterziehung gemäß § 370
Abs. 1 Nr. 1 und 2 AO, § 27 StGB gewertet. Dabei ist es angesichts des einmaligen Tatbeitrages des Angeklagten im Falle der S. GmbH von einer
einheitlichen Beihilfetat ausgegangen.
B.
Die Revision des Angeklagten führt mit der Sachrüge – die nicht ausgeführte Verfahrensrüge ist unzulässig (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) – zu einem
Teilerfolg. In den Fällen 19 sowie 23 bis 26 der Urteilsgründe ändert der Senat
den Schuldspruch von Mittäterschaft auf Beihilfe zur Steuerhinterziehung ab.
Dies zieht in diesen Fällen die Aufhebung der zugehörigen Einzelstrafen sowie
des Gesamtstrafenausspruchs nach sich. Im Übrigen enthält das Urteil keinen
den Angeklagten beschwerenden Rechtsfehler.
I.
Die verfahrensgegenständlichen Taten können in zwei Fallkomplexe unterteilt werden. Fallkomplex I umfasst die von der Bande um den Angeklagten
und Ba. sowie G. bzw. Gl. begangenen Taten (Fälle 1 bis 29 der Urteilsgründe). Fallkomplex II erfasst die Unterstützungshandlungen des Angeklagten für andere Täter bzw. Tätergruppierungen
(Fälle 30 bis 34 der Urteilsgründe). Ausgehend von den sich stellenden Rechts-
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38- 13 –
fragen lassen sich im Fallkomplex I zwei Untergruppen bilden: Die Fallgruppe
I.1. umfasst diejenigen Fälle, bei denen von den Einlieferern unrichtige Umsatzsteuervoranmeldungen abgegeben wurden (Fälle 1 bis 18 der Urteilsgründe), während der Fallgruppe I.2. diejenigen Fälle zuzuordnen sind, bei denen
von den Einlieferern (pflichtwidrig) keine Steueranmeldungen eingereicht wurden (Fälle 19 bis 29 der Urteilsgründe). Letztere Fallgruppe (Unterlassungstaten) lässt sich weiter unterteilen in die Gruppe der Fälle, in denen weisungsabhängige Strohleute als Einlieferer tätig wurden (Fallgruppe I.2.a: Fälle 20 bis 22
und 27 bis 29 der Urteilsgründe) und diejenige, in der die führenden Bandenmitglieder G. und Gl. gegenüber den Scheideanstalten als Einlieferer auftraten (Fallgruppe I.2.b: Fälle 19 sowie 23 bis 26 der Urteilsgründe).
II.
Mit Ausnahme hinsichtlich der Fallgruppe I.2.b (Fälle 19 sowie 23 bis 26
der Urteilsgründe) hält der Schuldspruch rechtlicher Nachprüfung stand.
1. Fallgruppe I.1. (Fälle 1 bis 18 der Urteilsgründe)
Die Verurteilung des Angeklagten in der Fallgruppe I.1 wegen in Mittä-
terschaft begangener Steuerhinterziehung durch aktives Tun gemäß § 370
Abs. 1 Nr. 1 AO, § 25 Abs. 2 StGB begegnet keinen rechtlichen Bedenken.
a) Täter einer Steuerhinterziehung im Sinne von § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO
kann nicht nur der Steuerpflichtige sein. Vielmehr kommt als Täter einer Steuerhinterziehung durch aktives Tun grundsätzlich jedermann in Betracht („wer“),
sofern er den gesetzlichen Tatbestand verwirklicht. Mittäter kann daher auch
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eine Person sein, der das Gesetz keine steuerlichen Pflichten zuweist, sofern
nur die Voraussetzungen einer gemeinschaftlichen Begehungsweise im Sinne
von § 25 Abs. 2 StGB gegeben sind (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 12. November 1986 – 3 StR 405/86, BGHR StGB § 25 Abs. 2 Mittäter 1; BGH, Urteil
vom 28. Mai 1986 – 3 StR 103/86, NStZ 1986, 463; BGH, Beschluss vom
6. Oktober 1989 – 3 StR 80/89, BGHR AO § 370 Abs. 1 Nr. 1 Mittäter 3; BGH,
Urteil vom 22. Mai 2003 – 5 StR 520/02, BGHR AO § 370 Abs. 1 Nr. 1 Täter 4;
BGH, Beschluss vom 7. November 2006 – 5 StR 164/06, wistra 2007, 112).
Mittäter ist, wer nicht nur fremdes Tun fördert, sondern einen eigenen
Tatbeitrag derart in eine gemeinschaftliche Tat einfügt, dass sein Beitrag als
Teil der Tätigkeit des anderen und umgekehrt dessen Tun als Ergänzung seines eigenen Tatanteils erscheint. Ob ein Beteiligter ein so enges Verhältnis zur
Tat hat, ist nach den gesamten Umständen, die von seiner Vorstellung umfasst sind, in wertender Betrachtung zu beurteilen. Wesentliche Anhaltspunkte
können der Grad des eigenen Interesses am Taterfolg, der Umfang der Tatbeteiligung und die Tatherrschaft oder wenigstens der Wille zur Tatherrschaft sein
(st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 30. Juni 2005 – 5 StR 12/05, NStZ 2006, 44;
BGH, Urteil vom 15. Januar 1991 – 5 StR 492/90, BGHSt 37, 289, 291 mwN).
b) Die erkennbar auf der Grundlage einer Gesamtbetrachtung der maß-
geblichen Umstände getroffene Wertung des Landgerichts, der Angeklagte sei
in diesen Fällen Mittäter und nicht nur Gehilfe der durch Einreichung unrichtiger
Umsatzsteuervoranmeldungen für die Einlieferer begangenen Steuerhinterziehungen gewesen, ist rechtlich nicht zu beanstanden.
Das Landgericht durfte dabei maßgeblich berücksichtigen, dass die Einlieferer mit der Einreichung unrichtiger Umsatzsteuervoranmeldungen lediglich
den Tatplan der Gruppe (Bande) um den Angeklagten sowie Ba. und G.
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44
45- 15 –
bzw. Gl. umsetzten. In diesem Tatplan spielte die Verwendung der von
dem Angeklagten beschafften Abdeckrechnungen zur Verschleierung der
Steuerverkürzungen eine bedeutende Rolle. Der Angeklagte hatte zudem an
der Funktionsfähigkeit des verwendeten Systems der Hinterziehung von Umsatzsteuer erhebliches wirtschaftliches Eigeninteresse, denn er war an den Erträgen aus diesem System beteiligt. Die von ihm erbrachten Tatbeiträge, etwa
seine Mitwirkung bei der Beschaffung der Abdeckrechnungen und bei der
Übergabe des Goldes an die Einlieferer, hat das Landgericht rechtsfehlerfrei
als für die Taten wesentlich angesehen.
Der Annahme von Mittäterschaft steht nicht entgegen, dass der Angeklagte seine jeweiligen Tatbeiträge lediglich im Vorfeld der unrichtigen Steueranmeldungen erbrachte (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 25. September 2012
– 1 StR 407/12, wistra 2013, 67; Urteil vom 28. Mai 1986 – 3 StR 103/86, NStZ
1986, 463). Insoweit gelten die allgemeinen strafrechtlichen Grundsätze (vgl.
BGH, Beschluss vom 27. März 2012 – 3 StR 63/12).
2. Fallkomplex II. (Fälle 30 bis 34 der Urteilsgründe)
Die Verurteilung wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung im Fallkomplex II. ist ebenfalls rechtsfehlerfrei. Die Urteilsfeststellungen belegen in den
Fällen 30 bis 34 der Urteilsgründe sowohl die Haupttaten der Steuerhinterziehung als auch die von dem Angeklagten vorsätzlich erbrachten Tatbeiträge.
3. Fallgruppe I.2.a (Fälle 20 bis 22 sowie 27 bis 29 der Urteilsgründe)
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49- 16 –
Die Verurteilung des Angeklagten der Fallgruppe I.2.a wegen Steuerhinterziehung durch Unterlassen gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO hält jedenfalls im
Ergebnis rechtlicher Nachprüfung stand.
a) Tatbestandlich i.S.d. § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO handelt, wer eine Rechtspflicht zur Offenbarung steuerlich erheblicher Tatsachen verletzt. Diese Voraussetzung muss auch bei einem Mittäter vorliegen.
aa) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann Täter
– auch Mittäter – einer Steuerhinterziehung durch Unterlassen nur derjenige
sein, der selbst zur Aufklärung steuerlich erheblicher Tatsachen besonders
verpflichtet ist (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 4. April 1979 – 3 StR 488/78,
BGHSt 28, 371, 375 ff.; BGH, Urteil vom 12. November 1986 – 3 StR 405/86,
BGHR StGB § 25 Abs. 2 Mittäter 1; BGH, Beschluss vom 14. Februar 1990
– 3 StR 317/89, BGHR AO § 370 Abs. 1 Nr. 2 Eingangsabgaben 1; BGH, Beschluss vom 20. November 1990 – 3 StR 259/90, BGHR AO § 370 Abs. 1 Nr. 2
Mittäter 2; BGH, Urteil vom 24. Oktober 2002 – 5 StR 600/01, BGHSt 48, 52,
58; BGH, Urteil vom 22. Mai 2003 – 5 StR 520/02, BGHR AO § 370 Abs. 1 Nr. 1
Täter 4 = wistra 2003, 344; BGH, Beschluss vom 22. Juli 2004 – 5 StR 85/04,
wistra 2004, 393; BGH, Beschluss vom 7. November 2006 – 5 StR 164/06,
wistra 2007, 112; BGH, Beschluss vom 14. April 2010 – 1 StR 105/10). Dabei
können sich Offenbarungspflichten sowohl aus den gesetzlich besonders festgelegten steuerlichen Erklärungspflichten wie auch aus allgemeinen Garantenpflichten ergeben, die allerdings eine untergeordnete Rolle spielen (vgl. Joecks
in Franzen/Gast/ Joecks, Steuerstrafrecht, 7. Aufl., § 370 Rn. 161 ff.).
bb) Demgegenüber ist die Strafkammer – mit durchaus beachtlichen Argumenten – der Auffassung, dass die von der Rechtsprechung vorgenommene
Beschränkung des Täterkreises auf Personen, die eine eigene Offenbarungs-
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53- 17 –
pflicht verletzen, nicht zutreffend sei (UA S. 153 ff.). Vielmehr handele es sich
beim Unterlassungstatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO um ein Allgemeindelikt, sodass die Pflichtverletzung eines „Vordermanns“ einem selbst nicht erklä-
rungspflichtigen „Hintermann“ zugerechnet werden könne. Aus diesem Grund
könnten Personen auch Mittäter sein, die keine sie persönlich treffende Pflicht
verletzen, sofern nur die allgemeinen Voraussetzungen für die Annahme von
Mittäterschaft gegeben seien.
Der Wortlaut des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO sei mit einer Einstufung als Allgemeindelikt vereinbar. Das Gesetz grenze den Täterkreis nicht näher ein,
sondern verwende – ebenso wie bei § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO – die für Allgemeindelikte typische Umschreibung „wer“. Schließlich beschreibe auch das Merkmal
„pflichtwidrig“ keine persönliche Pflichtenstellung für einen bestimmten Personenkreis, sondern enthalte ein strafrechtliches „Jedermann-Gebot“. Es beschreibe nicht den Personenkreis näher, sondern konkretisiere, welche Art und
Weise des Handelns unter Strafe gestellt sei (vgl. Bender, wistra 2004, 368,
371; Kuhlen in: Festschrift für Heike Jung, 2007, S. 445, 457). Auch die Systematik des Gesetzes spreche für die vom Landgericht vertretene Auffassung,
denn § 370 AO enthalte die im Ordnungswidrigkeitentatbestand des § 378
Abs. 1 AO enthaltene Beschränkung des Täterkreises gerade nicht.
Schließlich verweist das Landgericht darauf, dass die bisherige Auslegung des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO nicht zu sachgerechten Ergebnissen führe. So
sei es oft letztlich vom Zufall abhängig, ob eine Bestrafung als Täter oder – trotz
vergleichbaren Unrechtsgehalts der Tatbeteiligung – nur als Gehilfe in Betracht
komme, etwa weil ein unterstützter anderer Tatbeteiligter eine Steuererklärung
überhaupt nicht statt – wie geplant – mit falschem Inhalt abgebe. So sei es nach
der bisherigen Auslegung des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO möglich, dass ein „Hin-
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termann“ trotz tatbeherrschender Stellung nur als Gehilfe bestraft werden könne.
cc) Der Senat teilt die Auffassung, dass es sich auch bei dem Unterlassungstatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO um ein Delikt handelt, das nicht
nur vom Steuerpflichtigen und Personen, denen sonst in den Steuergesetzen
steuerliche Erklärungspflichten auferlegt sind (vgl. §§ 34, 35 AO), verwirklicht
werden kann, sondern grundsätzlich von „Jedermann“.
(1) Durch die offene Formulierung des Gesetzes „wer“, die allen drei
Tatvarianten der Steuerhinterziehung vorangestellt ist, enthält § 370 Abs. 1 AO
die herkömmlich bei der Ausgestaltung von Allgemein-/Jedermannsdelikten
verwendete Formulierung (vgl. Kuhlen in: Festschrift für Heike Jung, 2007,
S. 445, 457). Nach dem Gesetzeswortlaut erfolgt damit keine Beschränkung
auf eine bestimmte Tätergruppe; einen Statusbegriff, wie er sonst häufig bei
der Beschreibung tauglicher Täter bei Sonderdelikten zu finden ist, enthält §
370 Abs. 1 Nr. 2 AO nicht.
(2) Der Umstand, dass der Tatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO hinsichtlich des Merkmals „pflichtwidrig“ weitere Besonderheiten aufweist, ergibt
sich darüber hinaus auch aus einem systematischen Vergleich zu anderen Tatbeständen, die ebenfalls das Merkmal „pflichtwidrig“ aufgreifen, jedoch anders
ausgestaltet sind:
So knüpfen zwar auch die Straftatbestände des § 266a Abs. 2 Nr. 2
StGB und des § 356 StGB an das Merkmal „pflichtwidrig“ an. Diese Tatbestände enthalten aber jeweils den Täterkreis beschreibende Statusbegriffe, so dass
bereits der jeweilige Wortlaut („als Arbeitgeber“ bzw. „ein Anwalt oder anderer
Rechtsbeistand, welcher bei den ihm in dieser Eigenschaft anvertrauten Angelegenheiten …. pflichtwidrig dient“) die Eigenschaft des tauglichen Täters be-
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schränkt. Beide Tatbestände knüpfen damit an ein besonderes Vertrauensverhältnis oder an besonders ausgestaltete Pflichtenstellungen an, die sich aus
der personalen Eigenschaft als „Arbeitgeber“ bzw. „als Anwalt“ ergeben. Demgegenüber erfordert die Tathandlung des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO (pflichtwidriges
In-Unkenntnis-lassen bezogen auf steuerlich erhebliche Tatsachen) keine Anknüpfung an solche personenbezogenen Eigenschaften und Umstände. Die
Strafvorschrift des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO verwendet nicht die Formulierung
„wer als Steuerpflichtiger“ (vgl. § 33 Abs. 1 AO) und richtet sich deshalb auch
nicht allein an den Adressaten eines Steuergesetzes, also denjenigen, dem aus
einem Steuergesetz Rechte und Pflichten erwachsen (vgl. zum Begriff des
Steuerpflichtigen Rüsken in Klein, AO, 11. Aufl., § 33 Rn. 1).
(3) Auch aus der Struktur des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO insgesamt ergibt
sich keine Beschränkung des Täterkreises auf den Adressaten eines Steuergesetzes. Tatbestandsrelevant ist der Verstoß gegen die Handlungspflicht bei Taten nach § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO zwar nur, wenn die Finanzbehörden über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis gelassen werden. Hieraus folgt aber
lediglich, dass die Pflicht zur Erfolgsabwendung, gegen die der Unterlassende
verstößt, nur dann eine Strafbarkeit begründen kann, wenn sie auf eine Beseitigung der Unkenntnis des Finanzamtes gerichtet ist. Dem lässt sich aber nur
entnehmen, wie die im Interesse des geschützten Rechtsguts (Steueraufkommen) bestehende Pflichtenstellung näher ausgestaltet sein muss, nicht aber,
wer Träger der Pflicht ist.
(4) Ein Vergleich mit dem Bußgeldtatbestand des § 378 Abs. 1 AO zeigt,
dass auch das Steuerstraf- bzw. Ordnungswidrigkeitenrecht Beschränkungen
des Täterkreises kennt. Bei dieser Vorschrift ist der Täterkreis eingeschränkt
auf Steuerpflichtige sowie Personen, „die bei Wahrnehmung der Angelegenheiten eines Steuerpflichtigen eine der in § 370 Abs. 1 AO bezeichnete Tat leicht-
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fertig“ begeht. Eine derartige Begrenzung des Täterkreises enthält § 370 Abs. 1
Nr. 2 AO nicht.
(5) Auch der Schutzzweck der Norm gebietet keine Beschränkung auf
die Verletzung eigener steuerlicher Pflichten. Denn geschütztes Rechtsgut ist
bei allen Tatbeständen des § 370 AO das öffentliche Interesse des Staates am
vollständigen und rechtzeitigen Aufkommen jeder einzelnen Steuerart (vgl.
BGH, Urteil vom 25. Januar 1995 – 5 StR 491/94, BGHSt 41, 1 und Beschluss
vom 22. November 2012 – 1 StR 537/12 [zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen] mwN). Alle Tatbestandsvarianten des § 370 Abs. 1 AO enthalten daher
auch einheitlich als Taterfolg die Verkürzung von Steuern sowie die Erlangung
nicht gerechtfertigter Steuervorteile für sich oder einen anderen.
dd) Schließlich trifft auch der Hinweis des Landgerichts zu, dass es zuweilen allein von der Ausgestaltung der steuerlichen Normen abhängt, ob eine
Tatbegehung durch aktives Tun (§ 370 Abs. 1 Nr. 1 AO) oder eine solche durch
Unterlassen (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO) in Betracht kommt, was – etwa auch im
Bereich mittelbarer Täterschaft – erhebliche Auswirkungen auf die Strafbarkeit
von Tatbeteiligten haben kann.
ee) Der Senat erkennt ausdrücklich an, dass das Landgericht mit sorgfältiger Begründung gegen die bisherige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs
Stellung bezogen und damit eine Änderung der Rechtsprechung angeregt hat.
Gleichwohl hält er an der Rechtsprechung fest, dass Täter einer Steuerhinterziehung durch Unterlassen gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO nur derjenige sein
kann, der selbst zur Aufklärung steuerlich erheblicher Tatsachen besonders
verpflichtet ist. Denn der Wortlaut dieser Strafnorm lässt eine andere Auslegung nicht zu (vgl. Art. 103 Abs. 2 GG). Nach Auffassung des Senats bezieht
sich das Merkmal „pflichtwidrig“ allein auf das Verhalten des Täters (bei dem es
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sich indes nicht um den Steuerpflichtigen handeln muss), nicht allgemein auf
dasjenige irgendeines Tatbeteiligten. Damit kommt eine Zurechnung fremder
Pflichtverletzungen auch dann nicht in Betracht, wenn sonst nach allgemeinen
Grundsätzen Mittäterschaft vorliegen würde.
Anders wäre dies etwa, wenn der Gesetzgeber die Formulierung „wer
bewirkt, dass die Finanzbehörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis gelassen werden“, gewählt hätte. Es bleibt daher dem
Gesetzgeber vorbehalten, etwaige Ungereimtheiten im Anwendungsbereich der
Tatbestände des § 370 Abs. 1 AO zu beseitigen. Im Übrigen kann ein Tatgericht den Umstand, dass eine nur als Gehilfe strafbare Person Tatherrschaft
hatte, im Rahmen des nach erfolgter Strafrahmenverschiebung gemäß § 27
Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 49 Abs. 1 StGB eröffneten Strafrahmens erheblich strafschärfend werten.
b) Entgegen der Auffassung des Landgerichts ergibt sich die für eine Unterlassungsstrafbarkeit nach § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO somit erforderliche Erklä-
rungspflicht des Angeklagten nicht daraus, dass er als „Mitunternehmer“ gemäß
§ 2 UStG verpflichtet gewesen wäre, gemäß § 18 UStG die von den Einlieferern getätigten Umsätze anzumelden.
Dies gilt unabhängig von dem Umstand, dass das Landgericht mit dem
Begriff des Mitunternehmers einen im Umsatzsteuerrecht nicht gebräuchlichen
(vgl. BFH, Urteil vom 18. März 1988 – V R 178/83, DStR 1988, 516, 517) Begriff
des Einkommensteuergesetzes (vgl. § 15 Abs. 1 Nr. 2 EStG) verwendet hat.
Dabei kann auch dahinstehen, ob die Bande, der sich der Angeklagte zur Begehung von Steuerstraftaten angeschlossen hatte, aufgrund geschlossenen
Auftretens nach außen hin als eigenständiges Unternehmen im Sinne des § 2
UStG anzusehen sein könnte. Denn entgegen der Ansicht des Landgerichts
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waren jedenfalls bei den hier in Rede stehenden Goldverkäufen allein die
„Strohleute“ die Unternehmer, die in einer Leistungsbeziehung zu den Scheideanstalten standen, nicht die hinter den „Strohleuten“ stehende Bande. Die Einlieferer waren insoweit – obgleich „Strohleute“ – nicht als für die Leistungsbeziehungen bedeutungslose „Nichtunternehmer“ anzusehen. Damit scheidet die
vom Landgericht vorgenommene Zurechnung der von den Einlieferern getätigten Umsätze zur Bande als Leistungserbringerin aus.
aa) Unternehmer im Sinne des Umsatzsteuergesetzes ist, wer eine gewerbliche oder berufliche Tätigkeit selbständig ausübt (§ 2 Abs. 1 Satz 1
UStG). Vom Unternehmerbegriff des Umsatzsteuergesetzes werden zwar unabhängig von der Rechtsform Personen und Personenzusammenschlüsse aller
Art erfasst. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs erbringt ein Zusammenschluss natürlicher Personen regelmäßig aber nur dann als selbständiger Unternehmer i.S.d. § 2 UStG Leistungen gegen Entgelt, wenn dem Leistungsempfänger diese Personenmehrheit als Schuldner der vereinbarten Leistung und Gläubiger des vereinbarten Entgelts gegenübersteht (vgl. BFH, Urteil
vom 16. August 2001 – V R 67/00, UR 2002, 213; BFH, Urteil vom 18. März
1988 – V R 178/83, DStR 1988, 516, 517). Maßgeblich ist somit, ob der Zusammenschluss natürlicher Personen als solcher nach außen durch die Erbringung von Umsätzen erkennbar am Wirtschaftsverkehr teilnimmt (vgl. Klenk in
Sölch/ Ringleb, UStG, 63. Lfg., § 2 Rn. 10 f.).
bb) Ob und inwieweit die Bande, der sich der Angeklagte angeschlossen
hatte, diese Voraussetzung erfüllte und sie damit als Unternehmerin im Sinne
des § 2 UStG tätig wurde, ist den Urteilsfeststellungen nicht eindeutig zu entnehmen.
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Letztlich kann dies hier auch dahinstehen. Denn die sich aus der Unternehmerstellung ergebenden Erklärungspflichten eines Unternehmers im Sinne
des § 2 UStG beschränken sich auf diejenigen Umsätze, die seinem Unternehmen zuzuordnen sind. Dazu gehörten hier – für die Bande – die Goldlieferungen der Einlieferer an die Scheideanstalten nicht.
(1) Wer bei einem Umsatz als Leistender anzusehen ist, ergibt sich nach
der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs regelmäßig aus den abgeschlossenen zivilrechtlichen Vereinbarungen (vgl. BFH, Urteil vom 16. August 2001 – V
R 67/00, UR 2002, 213; BFH, Urteil vom 26. Juni 2003 – V R 22/02, DStRE
2004, 153). Leistender ist damit in der Regel derjenige, der die Lieferungen oder sonstigen Leistungen im eigenen Namen gegenüber einem anderen selbst
ausführt oder durch einen Beauftragten ausführen lässt. Ob eine Leistung dem
Handelnden oder einem anderen zuzurechnen ist, hängt deshalb grundsätzlich
davon ab, ob der Handelnde gegenüber dem Leistungsempfänger im eigenen
Namen oder berechtigterweise im Namen eines anderen bei Ausführung entgeltlicher Leistungen aufgetreten ist (st. Rspr.; vgl. nur BFH, Urteil vom 12. Mai
2011 – V R 25/10, DStRE 2011, 1326 mwN). Dabei kann auch ein „Strohmann“
Unternehmer und Leistender im Sinne des Umsatzsteuergesetzes sein. Er ist
nicht deswegen unselbständig i.S.d. § 2 Abs. 1 Satz 1 UStG, weil er im Innenverhältnis den Weisungen des Auftraggebers verpflichtet ist (BFH, Urteil vom
26. Juni 2003 – V R 22/02, DStRE 2004, 153). Ohne Bedeutung für die Beurteilung der Leistungsbeziehungen im Verhältnis zu Dritten ist grundsätzlich, aus
welchen Gründen der „Hintermann“ gegenüber dem Vertragspartner des
„Strohmanns“ und Leistungsempfänger (einem Dritten), als Leistender nicht in
Erscheinung treten will (BFH aaO; zu den Leistungsbeziehungen zwischen
Stroh- und Hintermann vgl. auch BFH, Urteil vom 12. Mai 2011 – V R 25/10,
DStRE 2011, 1326).
71- 24 –
(2) Unbeachtlich ist ein „vorgeschobenes“ Strohmanngeschäft allerdings
dann, wenn es nur zum Schein abgeschlossen wird, d.h. wenn beide Vertragsparteien einverständlich oder stillschweigend davon ausgehen, dass die
Rechtswirkungen des Geschäfts gerade nicht zwischen ihnen, sondern zwischen dem Leistungsempfänger und dem „Hintermann“ eintreten sollen (vgl.
§ 41 Abs. 2 AO; BFH, Urteil vom 12. Mai 2011 – V R 25/10, DStRE 2011, 1326
unter II.1.c; BFH, Beschluss vom 31. Januar 2002 – V B 108/01, BFHE 198,
208 = BStBl II 2004, 622, unter II.4.c; BFH, Beschluss vom 17. Oktober 2003 V
B 111/02, BFH/NV 2004, 235; vgl. auch BGH, Urteil vom 22. Mai 2003 – 1 StR
520/02, BGHR AO § 370 Abs. 1 Nr. 1 Täter 4 = wistra 2003, 344). Letzteres ist
insbesondere dann zu bejahen, wenn der Leistungsempfänger weiß oder davon ausgehen muss, dass derjenige, mit dem (als „Strohmann“) oder in dessen
Namen das Rechtsgeschäft abgeschlossen wird, selbst keine eigene – ggf.
auch durch Subunternehmer auszuführende – Verpflichtung aus dem Rechtsgeschäft übernehmen will (vgl. BFH, Urteil vom 12. Mai 2011 – V R 25/10,
DStRE 2011, 1326 unter II.1.c; BFH, Beschluss vom 31. Januar 2002 – V B
108/01, BFHE 198, 208; BFH, Urteil vom 12. August 2009 – XI R 48/07,
BFH/NV 2010, 259).
(3) So verhielt es sich nach den Feststellungen hier nicht. Da nicht die
Bande um den Angeklagten, sondern die Einlieferer gegenüber den Scheideanstalten auftraten und für letztere keine Anhaltspunkte bestanden, dass diese
Personen für eine hinter ihnen stehende Person oder Personenmehrheit handelten und nur als „Rechnungsschreiber“ oder „Gutschriftsempfänger“ tätig
wurden (vgl. BFH, Urteil vom 5. August 2010 – V R 13/09, BFH/NV 2011, 81
unter II.2.a.aa), waren die Einlieferer, auch soweit sie nur „Strohleute“ waren,
bei den Goldveräußerungen an die Scheideanstalten als die leistenden Unternehmer anzusehen.
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Die Frage, ob die „Strohleute“ im Verhältnis zur Bande, von der sie das
Altgold erhielten, wegen ihres kollusiven Zusammenwirkens ohne handelstypisches Verhalten nicht als Unternehmer anzusehen waren (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 8. Februar 2011 – 1 StR 24/10, BGHR UStG § 15 Abs. 1 Unternehmer 1; BGH, Urteil vom 22. Mai 2003 – 5 StR 520/02, BGHR AO § 370
Abs. 1 Nr. 1 Täter 4 = wistra 2003, 344), ist insoweit ohne Bedeutung.
cc) Der Umstand, dass sowohl die gegenüber den Scheideanstalten
nicht auftretenden Bandenmitglieder als auch die „Strohleute“ von Anfang an
beabsichtigten, auf der Grundlage der Altgoldgeschäfte Umsatzsteuern zu hinterziehen, steht der Annahme steuerbarer und steuerpflichtiger Ausgangsumsätze (Lieferungen) der Einlieferer nicht entgegen (vgl. BFH, Urteil vom 5. August 2010 – V R 13/09, BFH/NV 2011, 81 unter II.2.a.bb mwN; zum Entstehen
einer anzumeldenden Steuerschuld gemäß § 14c Abs. 2 UStG, wenn der Einlieferer die Ausstellung einer unrichtigen Gutschrift veranlasst, vgl. BGH, Urteil
vom 27. Oktober 2011 – 5 StR 14/11, NStZ 2012, 267, 268; vgl. auch Korn in
Bunjes, UStG, 11. Aufl., § 14c Rn. 5; Wagner in Sölch/Ringleb, UStG, 68. Lfg.,
§ 14c Rn. 152 f.).
c) Leistende Unternehmer und damit als Steuerpflichtige zur Abgabe von
Umsatzsteuervoranmeldungen für die Altgoldlieferungen an die Scheideanstalten verpflichtet waren somit die „Strohleute“ als Unternehmer und nicht der Angeklagte. Jedoch bestand daneben für den Angeklagten als Verfügungsberechtigten im Sinne von § 35 AO eine eigenständige Rechtspflicht, dafür Sorge zu
tragen, dass die umsatzsteuerlichen Erklärungspflichten für die als „Strohleute“
eingesetzten Einlieferer erfüllt werden.
aa) Nach § 35 AO hat derjenige, der als Verfügungsberechtigter im eigenen oder fremden Namen auftritt, die Pflichten eines gesetzlichen Vertreters
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(§ 34 Abs. 1 AO), soweit er sie rechtlich und tatsächlich erfüllen kann. Wer daher in diesem Sinne als Verfügungsberechtigter auftritt, hat unter der Voraussetzung, dass er dazu tatsächlich und rechtlich in der Lage ist, wie der gesetzliche Vertreter nach § 34 Abs. 1 AO die steuerlichen Pflichten des Rechtsträgers
zu erfüllen (vgl. BFH, Urteil vom 24. April 1991 – I R 56/89, BFH/NV 1992, 76).
Zu den von ihm zu erfüllenden Pflichten gehört insbesondere die Abgabe von
Steuererklärungen (etwa von Umsatzsteuervoranmeldungen oder Umsatzsteuerjahreserklärungen, vgl. BFH, Urteil vom 5. August 2010 – V R 13/09, BFH/NV
2011, 81 sowie Niedersächsisches Finanzgericht, Urteil vom 6. Juni 2008
– 11 K 573/06, EFG 2009, 1610; vgl. auch BGH, Urteil vom 8. November 1989
– 3 StR 249/89, BGHR AO § 35 Verfügungsberechtigter 2 sowie BGH, Urteil
vom 12. November 1986 – 3 StR 405/86, BGHR AO § 370 Abs. 1 Nr. 2 Mittäter
1) und die Entrichtung der Steuern aus den vorhandenen Mitteln.
(1) Verfügungsberechtigter im Sinne des § 35 AO ist jeder, der nach dem
Gesamtbild der Verhältnisse rechtlich und wirtschaftlich über Mittel, die einem
anderen zuzurechnen sind, verfügen kann und als solcher nach außen auftritt
(vgl. BFH, Urteil vom 5. August 2010 – V R 13/09, BFH/NV 2011, 81; BFH, Urteil vom 27. November 1990 – VII R 20/89, BStBl. II 1991, 284; Krömker in Lippross, Basiskommentar Steuerrecht, 65. Lfg., § 35 AO Rn. 2; Gmach, DStZ
2001, 341, 342; Ransiek in Kohlmann, Steuerstrafrecht, 40. Lfg., § 370 AO
Rn. 118 ff.).
Nicht ausreichend ist eine rein tatsächliche Verfügungsmacht, etwa die
Möglichkeit, über (allein) wirtschaftlichen Druck auf die Verfügungen des Steuerpflichtigen Einfluss zu nehmen (vgl. hierzu BFH, Urteil vom 16. März 1995
– VII R 38/94, BStBl. II 1995, 859 betreffend eine Bank; Mösbauer, DB 2005,
1816, 1819); vielmehr muss die Verfügungsmöglichkeit rechtlich eingeräumt
worden sein, sodass der Verfügungsberechtigte aufgrund bürgerlich-rechtlicher
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Verfügungsmacht im Außenverhältnis wirksam handeln kann (vgl. BFH, Urteil
vom 21. Februar 1989 – VII R 165/85, BStBl. II 1989, 491 unter II.1.; Jatzke in
Beermann/Gosch, 62. Lfg., § 35 AO Rn. 7). Entscheidend für die Pflichtenstellung des § 35 AO ist, dass der Verfügungsberechtigte durch die Übertragung
der rechtlichen Verfügungsbefugnis (in der Regel durch Rechtsgeschäft, vgl.
Schwarz, AO, 122. Lfg., § 35 AO Rn. 7) in die Lage versetzt worden ist, am
Rechtsverkehr wirksam teilzunehmen (vgl. Jatzke aaO Rn. 7).
Eine mittelbare rechtliche Verfügungsbefugnis genügt. Verfügungsberechtigt im Sinne des § 35 AO ist daher auch, wer aufgrund seiner Stellung die
Pflichten des gesetzlichen Vertreters erfüllen kann oder durch die Bestellung
entsprechender Organe erfüllen lassen kann (vgl. Boeker in Hübschmann/
Hepp/Spitaler (HHSp), AO, Lfg. 205, § 35 AO Rn. 8 mwN). Gleiches gilt für
denjenigen, der kraft eines Rechtsverhältnisses den Vertretenen steuern und
über seine Mittel verfügen kann (vgl. zu einem Treuhand- oder sonstigen Auftragsverhältnis: Finanzgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 25. Juni 2008 –
12 K 407/04, Rn. 87 ff. [juris], EFG 2008, 1434). Auch wenn ein Geschäftsherr
einem Dritten für einen bestimmten Geschäftsbereich völlig freie Hand lässt, so
kann dieser Dritte nach den Umständen des Einzelfalls für den Geschäftsbereich, den er übernommen hat, als Verfügungsberechtigter im Sinne des § 35
AO anzusehen sein (vgl. Schwarz aaO Rn. 7).
(2) Nur wer als Verfügungsberechtigter nach außen auftritt, kann Verfü-
gungsberechtigter im Sinne des § 35 AO sein (vgl. BFH, Beschluss vom
26. April 2010 – VII B 194/09, BFH/NV 2010, 1610 unter II.3.; BFH, Urteil vom
24. April 1991 – I R 56/89, BFH/NV 1992, 76). Auftreten bedeutet Teilnahme am
Wirtschafts- und Rechtsverkehr, die über die Beziehungen zum Rechtsinhaber
hinausgeht (vgl. BFH, Urteil vom 29. Oktober 1985 – VII R 186/82, BFH/NV
1986, 192 unter 1., noch zu § 108 RAO; Niedersächsisches Finanzgericht, Ur-
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81- 28 –
teil vom 9. Juli 1991 – XI 508/90, EFG 1992, 239; Boeker in HHSp, Lfg. 205,
§ 35 Rn. 10; Rüsken in Klein, AO, 11. Aufl., § 35 Rn. 7).
Keine Voraussetzung ist ein Auftreten gerade gegenüber den Finanzbehörden oder in steuerlichen Angelegenheiten (vgl. BFH, Urteil vom 27. November 1990 – VII R 20/89, BStBl. II 1991, 284; BFH, Urteil vom 21. Februar 1989
– VII R 165/85, BStBl. II 1989, 491 mwN; Niedersächsisches Finanzgericht aaO;
Gmach, DStZ 2001, 341, 342), vielmehr genügt, dass der Verfügungsberechtigte gegenüber irgendjemandem – nach außen – im Rechtsverkehr als solcher
aufgetreten ist (vgl. BFH, Urteil vom 29. Oktober 1985 – VII R 186/82, BFH/NV
1986, 192 unter 1.).
Das Auftreten muss auch nicht in einer Disposition über fremdes Vermö-
gen bestehen. Es reicht aus, wenn der Verfügungsberechtigte sich nach außen
so geriert, als könne er über fremdes Vermögen verfügen. Nimmt etwa ein faktischer Geschäftsführer oder „faktischer Leiter“ (vgl. BFH, Beschluss vom
10. Oktober 1994 – I B 228/93, BFH/NV 1995, 662) eines Unternehmens Geschäftsführungsaufgaben tatsächlich wahr, so reicht es aus, wenn er lediglich
gegenüber einer „begrenzten Öffentlichkeit“, etwa im Rahmen von Gesellschafterversammlungen, zu erkennen gibt, dass er als solcher über das Vermögen
verfügen kann, das Auftreten gegenüber der „allgemeinen Öffentlichkeit“ aber
weisungsabhängigen Personen überlässt (vgl. BFH, Urteil vom 5. August 2010
– V R 13/09, BFH/NV 2011, 81; BFH, Urteil vom 24. April 1991 – I R 56/89,
BFH/NV 1992, 76; vgl. auch BFH, Beschluss vom 9. Januar 2013
– VII B 67/12 sowie Merkt, AO-StB 2009, 81, 84). Hält sich der faktisch Leitende
selbst im Hintergrund und bedient er sich zur Ausübung seiner Verfügungsbefugnis der Unterstützung weisungsgebundener Personen, wird er nach § 35 AO
nur verpflichtet, wenn die Weisungsabhängigkeit auch nach außen – mithin
mindestens gegenüber einer „begrenzten Öffentlichkeit“ – erkennbar wird (BFH,
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83- 29 –
Beschluss vom 26. April 2010 – VII B 194/09, BFH/NV 2010, 1610 unter II.3
mwN; vgl. auch Rüsken in Klein, AO, 11. Aufl., § 35 Rn. 7). Diese Grundsätze
gelten für Einzelunternehmen entsprechend (vgl. BFH, Beschluss vom
11. Dezember 2007 – VII B 172/07, BFH/NV 2008, 748; zur faktischen Unternehmensbeherrschung bei Einzelunternehmen vgl. auch Köhler in Wabnitz/Janovsky, Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, 3. Aufl. 2007,
Kap. 7, Rn. 274 sowie Bieneck in Müller-Gugenberger/Bieneck, Wirtschaftsstrafrecht, 5. Aufl., § 77 Rn. 20).
(3) Wer als Verfügungsberechtigter auftritt, hat die steuerlichen Pflichten
eines gesetzlichen Vertreters nur in dem Umfang zu erfüllen, wie er dies tatsächlich und rechtlich kann (§ 35 AO 2. Halbsatz). Mit Blick auf die ansonsten
weitgehende Bedeutungslosigkeit der Vorschrift des § 35 AO gegenüber dem
bereits über § 34 Abs. 1 AO unmittelbar erfassten Personenkreis ist aber nicht
erforderlich, dass der Verfügungsberechtigte unmittelbar rechtlich zur Pflichtenerfüllung in der Lage ist, mittelbares Können genügt daher (vgl. BFH, Urteil vom
16. März 1995 – VII R 38/94, BFHE 177, 209, BStBl. II 1995, 859 unter 3.a.;
BFH, Urteil vom 7. April 1992 – VII R 104/90, BFH/NV 1993, 213; BFH, Urteil
vom 27. November 1990 – VII R 20/89, BFHE 163, 106, BStBl. II 1991, 284).
Steuerliche Pflichten sind daher auch dann rechtlich und tatsächlich erfüllbar, wenn zwar keine unmittelbare Vertretungsbefugnis besteht, die rechtliche Stellung jedoch eine verbindliche Weisung an den Vertretenen ermöglicht
(Koenig in Pahlke/Koenig, AO, 2. Aufl., § 35 Rn. 14). Aber auch derjenige, der
kraft eines Vertragsverhältnisses den Steuerpflichtigen steuern und deshalb
über dessen Mittel verfügen kann, kann im Einzelfall tatsächlich und rechtlich in
der Lage sein, die steuerlichen Pflichten eines gesetzlichen Vertreters zu erfüllen (vgl. Finanzgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 25. Juni 2008 – 12 K
407/04, Rn. 87 ff. [juris], EFG 2008, 1434).
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85- 30 –
bb) Gemessen an diesen Maßstäben war der Angeklagte Verfügungsberechtigter im Sinne des § 35 AO. Er kam seiner sich hieraus ergebenden Verpflichtung, für die als „Strohleute“ tätigen Einlieferer die Goldverkäufe umfassende Umsatzsteuervoranmeldungen abzugeben, nicht nach, obwohl er hierzu
tatsächlich und rechtlich zumindest mittelbar in der Lage war.
(1) Die Einlieferer traten zwar gegenüber den Scheideanstalten selbst
nach außen auf. Im Verhältnis zu den führenden Bandenmitgliedern – also auch
zum Angeklagten – waren sie jedoch bei den Goldgeschäften als abhängige
und unselbständige „Strohleute“ eingebunden und hatten sämtliche Geschäftsabläufe wirtschaftlich aus der Hand gegeben (vgl. zur faktischen Führung von
Strohmannfirmen vgl. BGH, Beschluss vom 13. Dezember 2012 – 5 StR 407/12,
NJW 2013, 624). Die Goldgeschäfte waren ihnen nicht nur hinsichtlich Zeit und
Umfang vorgegeben; auch mussten sie den ihnen überwiesenen Kaufpreis
nach fest vorgegebenen Abläufen abheben und gegen eine Provision, die
ebenfalls nach festen Kriterien bestimmt war, aushändigen. Ihr Verhalten gegenüber den Finanzbehörden wurde dirigiert, indem ihnen entweder entsprechende „Buchhaltung“ (Abdeckrechnungen) ausgehändigt wurde oder sie mit
gefälschten Papieren ausgestattet wurden, die ein Auftreten gegenüber dem
Finanzamt von vornherein entbehrlich machten. Die zu einer Begleichung der
Umsatzsteuerschuld (Belieferung der Goldscheideanstalten) notwendigen und
zunächst auch vorhandenen Mittel, die ihnen ein steuerehrliches Verhalten ermöglicht hätten, wurden ihnen nach den ihnen vorgegebenen Geschäftsabläufen entzogen. Damit ließen die Einlieferer dem Angeklagten sowie den weiteren
„führenden“ Mitgliedern der Bande insgesamt völlig freie Hand.
Die hieraus resultierende Leitungsmacht des Angeklagten wird besonders deutlich in den Fällen, in denen der Angeklagte selbst die Einlieferer zum
Zwecke des Goldhandels anwarb, ihnen gefälschte Papiere besorgte und ihnen
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88- 31 –
Anweisungen zur Erledigung notwendiger Formalitäten erteilte. Aber auch soweit anstelle des Angeklagten die weiteren führenden Mitglieder der Bande bei
der Einflussnahme auf die „Strohleute“ mitwirkten, gilt im Ergebnis nichts anderes. Sie handelten auf der Grundlage einer gemeinsamen Absprache, die basierend auf dem „bewährten Geschäftsmodell“ eine intern arbeitsteilige Vorgehensweise vorsah. Einschränkungen der Befugnisse des Angeklagten waren
damit aber nicht verbunden.
Jedenfalls gegenüber den Einlieferern und den weiteren führenden Bandenmitgliedern, also gegenüber einer „begrenzten Öffentlichkeit“ trat der Angeklagte als einer der faktischen „Leiter“ der Unternehmen der Einlieferer auf.
Soweit der Angeklagte den Einlieferern gefälschte Papiere verschafft hatte und
sie bei der Erledigung der erforderlichen Formalitäten begleitete, trat er zudem
gegenüber der „allgemeinen Öffentlichkeit“ auf. Als der Angeklagte etwa in Begleitung von Einlieferern bei einer Steuerberaterin, der Zeugin L. , erschien,
trat der Angeklagte, so deren Wahrnehmung, als derjenige auf, der „die Geschäfte gemacht“ hat (UA S. 115). Demgegenüber beschränkte sich das Handeln der Einlieferer auf die Einlieferung des Goldes bei den Scheideanstalten
sowie auf Treffen mit dem Angeklagten oder anderen führenden Bandenmitgliedern, um dabei Geld und Gutschriften auszuhändigen oder Abdeckrechnungen sowie Gold entgegenzunehmen.
Der Angeklagte war auch in der Lage, zumindest mittelbar über die jeweiligen Einlieferer und die weiteren führenden Bandenmitglieder, der Verpflichtung zur Einreichung von Umsatzsteuervoranmeldungen nachzukommen.
Denn er hatte Zugriff auf die Gutschriften der Goldscheideanstalten, anhand
deren die Umsatzsteuervoranmeldungen hätten erstellt werden können. Zudem
war er nach der getroffenen Bandenabrede auch für die „Logistik“ und damit für
die Erstellung der Abdeckrechnungen anhand der Gutschriften verantwortlich.
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90- 32 –
Damit trafen ihn als Verfügungsberechtigten im Sinne des § 35 AO die Pflichten
eines gesetzlichen Vertreters.
(2) Für die Fälle 20 bis 22 und 29 der Urteilsgründe gilt nichts Abweichendes. Zwar haben die Einlieferer Y. und D. in diesen Fällen aus
Nachlässigkeit oder sonstigen Gründen abredewidrig statt unrichtiger Voranmeldungen überhaupt keine Erklärungen abgegeben. Dies beseitigte aber nicht
die auch in diesen Fällen bestehende, sich aus der „arbeitnehmerähnlichen
Stellung“ dieser „Strohleute“ ergebende Verfügungsbefugnis des Angeklagten
i.S.v. § 35 AO.
(3) Damit traf den Angeklagten in den Fällen 20 bis 22 sowie 27 bis 29
der Urteilsgründe neben den anderen führenden Bandenmitgliedern Ba.
und Gl. eine sich aus § 35 AO ergebende Pflicht, für die Unternehmen der
als „Strohleute“ tätigen Einlieferer Umsatzsteuervoranmeldungen abzugeben.
Dieser Pflicht sind sie gemeinschaftlich (vgl. hierzu allgemein Weigend in LKStGB, 12. Aufl., § 13 Rn. 82 mwN) nicht nachgekommen und haben sich daher
– wie vom Landgericht ausgeurteilt – wegen in Mittäterschaft begangener Steuerhinterziehung durch Unterlassen gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO, § 25 Abs. 2
StGB strafbar gemacht.
4. Fallgruppe I.2.b (Fälle 19 sowie 23 bis 26 der Urteilsgründe)
Im Gegensatz zur Fallgruppe I.2.a hält der Schuldspruch wegen Steuerhinterziehung durch Unterlassen in den Fällen der Fallgruppe I.2.b (Fälle 19
sowie 23 bis 26 der Urteilsgründe) rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Denn in
diesen Fällen traf den Angeklagten keine Offenbarungspflicht für die von den
als Einlieferern tätigen Bandenmitgliedern G. und Gl. mit den
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94- 33 –
Scheideanstalten getätigten Umsätze. Der Senat stellt jedoch den Schuldspruch auf Beihilfe (§ 27 StGB) um.
a) Gegenüber den Scheideanstalten wurden hier allein die führenden
Bandenmitglieder G. und Gl. , die insoweit als Einlieferer auftraten,
als Unternehmer i.S.v. § 2 UStG tätig, nicht die hinter diesen stehende Bande.
Der Angeklagte war daher auch nicht als Bandenmitglied zur Offenbarung dieser Umsätze gegenüber den Finanzbehörden verpflichtet.
b) Auch aus § 35 AO traf den Angeklagten nicht die Pflicht, für die als
Einzelunternehmer tätigen G. und Gl. die steuerlichen Pflichten
wahrzunehmen. Denn anders als die übrigen Einlieferer („Strohleute“) waren
die Bandenmitglieder G. und Gl. nicht lediglich völlig weisungsabhängige „Strohleute“, sondern nahmen ebenfalls Führungspositionen innerhalb
der Bande ein. Dementsprechend ermöglichten es die internen Absprachen
dem Angeklagten weder, in den Geschäftsablauf von G. oder Gl. als
Einlieferer aktiv einzugreifen noch deren Geschäfte „treuhänderisch“ zu führen.
Der Angeklagte hatte daher gegenüber diesen Personen keine Stellung inne,
die ihn hinsichtlich deren Einzelunternehmen als Verfügungsberechtigten i.S.v.
§ 35 AO qualifizieren würde.
c) Sonstige Offenbarungspflichten gegenüber den Finanzbehörden sind
nicht ersichtlich. Insbesondere hat der Angeklagte hier jedenfalls wegen der
Besonderheiten des Besteuerungsverfahrens im Umsatzsteuerrecht (§ 18
UStG, § 168 AO) auch keine Offenbarungspflichten aus einer sich etwa aus
dem von der Bande betriebenen Hinterziehungssystem ergebenden Garantenstellung (Ingerenz) verletzt.
d) Der Senat kann den Schuldspruch jedoch auf Beihilfe (§ 27 StGB), die
von den Feststellungen getragen wird, abändern. Er schließt aus, dass sich der
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98- 34 –
Angeklagte gegen diesen Vorwurf anders als geschehen hätte verteidigen können.
III.
Die Schuldspruchänderung von Steuerhinterziehung auf Beihilfe zur
Steuerhinterziehung in Fallgruppe I.2.b (Fälle 19 sowie 23 bis 26 der Urteilsgründe) zieht die Aufhebung der Einzelstrafen in diesen Fällen sowie des Gesamtstrafenausspruchs nach sich. Im Übrigen ist die Strafzumessung rechtsfehlerfrei.
IV.
Einer Aufhebung von Feststellungen bedarf es bei dem hier allein vorliegenden Subsumtionsfehler nicht. Das neue Tatgericht darf allerdings weitere
Feststellungen treffen, die mit den bisherigen nicht im Widerspruch stehen.
Nack Rothfuß Graf
Jäger Radtke
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EU-Pläne zur Mehrwertsteuer – Mehrbelastung bei der Sozialversicherung!

Beitragszahlern zur Sozialversicherung droht Mehrbelastung von 34 Milliarden Euro jährlich

Erscheinungsdatum: 27.05.2013

Gemeinsame Pressemitteilung

Die EU-Kommission diskutiert derzeit über die Abschaffung der Tatbestände zur Steuerbefreiung bzw. der Ermäßigungssätze der Mehrwertsteuer. Eine solche Regelung würde bei gleichen Leistungen eine Mehrbelastung von rund 34 Milliarden Euro – allein im Jahre 2014 – für die deutsche Sozialversicherung bedeuten. Die Folge wäre, dass der Beitragssatz zur Sozialversicherung insgesamt um mehr als drei Prozentpunkte steigen müsste. Zu diesem Ergebnis kommt aktuell eine Analyse, die von der Deutschen Rentenversicherung Bund, dem GKV-Spitzenverband, den Verbänden der Kranken- und Pflegekassen auf Bundesebene sowie von der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung gemeinsam durchgeführt wurde.

Die Europäische Union ist für die Koordination der nationalen Mehrwertsteuersysteme im Rahmen des Binnenmarktes zuständig. Nach dem Willen der Europäischen Kommission soll dieses europäische Mehrwertsteuersystem reformiert werden. Zu den dazu bekannt gewordenen Überlegungen gehört auch, Steuerbefreiungen sowie steuerliche Ermäßigungen weitgehend zu beschränken.

Als Folge aus einer solchen Reform würden für die gesetzliche Sozialversicherung erhebliche Mehrkosten erwachsen. Denn bislang unterliegen die zur Erfüllung ihrer gesetzlichen Aufgaben bezogenen Leistungen zu einem großen Teil nicht der Mehrwertsteuer oder nur einem ermäßigten Steuersatz. So sind beispielsweise die ärztliche Heilbehandlung sowie die Krankenhausbehandlung grundsätzlich von der Mehrwertsteuer befreit.

Ein Wegfall dieser Steuerbefreiung würde allein für die gesetzliche Krankenversicherung ein Plus an Ausgaben von derzeit jährlich rund 20 Milliarden Euro bedeuten. Betroffen wären auch die gesetzliche Renten- und Unfallversicherung in ihrer Funktion als Rehabilitationsträger. Steigt in einem Sozialversicherungszweig der Beitragssatz, würde dies zudem Mehrkosten in anderen Sozialversicherungszweigen überall dort nach sich ziehen, wo diese Beiträge für ihre Versicherten übernehmen. So zahlt die Rentenversicherung beispielsweise für Rentner einen Teil der Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung.

Diese finanziellen Mehrbelastungen müssten durch höhere Bundeszuschüsse oder eine Anhebung der Beitragssätze aufgefangen werden. Vor diesem Hintergrund sprechen sich die Träger und Verbände der gesetzlichen Sozialversicherung entschieden dafür aus, den Status quo bei den Mehrwertsteuerbefreiungen sowie den ermäßigten Mehrwertsteuersätzen beizubehalten.

Steuererklärung 2012 für Rentner

Die Deutsche Rentenversicherung stellt auf Wunsch eine Bescheinigung aus, die Rentnern beim Ausfüllen ihrer Steuererklärung hilft. In der Bescheinigung sind die in den Steuervordrucken „Anlage R“ und „Anlage Vorsorgeaufwand zur Steuerklärung“ abgefragten Beträge enthalten. Darauf weist die Deutsche Rentenversicherung Bund in Berlin hin.

Die Bescheinigung kann man per Brief, Fax oder E-Mail bei seinem Rentenversicherungsträger anfordern. Möglich ist aber auch ein Anruf beim kostenlosen Servicetelefon der Deutschen Rentenversicherung unter der Nummer 0800 1000 4800. Wichtig ist, mit der Anforderung auch die Rentenversicherungsnummer anzugeben, unter der die Rente gezahlt wird. Wenn die Bescheinigung einmal beantragt wurde, erhält man sie auch in den Folgejahren von der Rentenversicherung automatisch zugesandt.

Weiterführende Informationen bietet die von der Deutschen Rentenversicherung herausgegebene kostenlose Broschüre „Versicherte und Rentner: Informationen zum Steuerrecht“. Sie ist im Internet unter www.deutsche-rentenversicherung.de abrufbar oder kann schriftlich bestellt werden bei der Deutschen Rentenversicherung Bund, GB 0200, 10704 Berlin. Die E-Mail-Adresse lautet bestellservice@drv-bund.de. Bestellungen sind auch möglich unter Telefon 030 865-24536 oder Telefax 030 865-27089. Pressemitteilung: Deutsche Rentenversicherung, Erscheinungsdatum: 23.05.2013

Steuererklärung für Rentner – Wie wir Sie unterstützen

Auch Rentner können steuerpflichtig sein. Wer dazugehört, muss bis zum 31. Mai 2013 seine Steuererklärung für 2012 beim Finanzamt abgeben. Für Rentner ist vor allem die „Anlage R“ wichtig. Denn hier müssen sie die steuerrechtlich relevante Rente eintragen.

Damit Sie nicht erst alle Bescheinigungen der gesetzlichen Rentenversicherung suchen und dann alles selbst ausrechnen müssen, hilft Ihnen die Deutschen Rentenversicherung. Sie stellt eine Bescheinigung über die gezahlte Rente aus. Die Zahlen können Sie dann ganz einfach in Ihre Steuererklärung übernehmen.

Die Bescheinigung für das Finanzamt können Sie am kostenlosen Servicetelefon der Deutschen Rentenversicherung unter 0800 1000 48000 oder auf der Seite www.deutsche-rentenversicherung.de im Bereich Services/Kontakt & Beratung/Meine Kontoinformation anfordern. Pressemitteilung: Deutsche Rentenversicherung

 

Leben und arbeiten im Ausland

Keine Nachteile für die Rente

Leben und arbeiten im Ausland bedeutet für viele, dass sie im Laufe ihres Berufslebens Mitglied in verschiedenen Systemen der Sozialen Sicherheit sind. So unterschiedlich die Systeme sind, eins haben sie meistens gemeinsam: Eine Rente kann nur gezahlt werden, wenn bestimmte Fristen eingehalten und Mindestversicherungszeiten erfüllt werden. Darauf weist die Deutsche Rentenversicherung Bund in Berlin hin.

In der Rentenversicherung zu berücksichtigende Zeiten aus verschiedenen Ländern können zusammengerechnet werden, um die in den einzelnen Ländern jeweils vorgeschriebenen Mindestversicherungszeiten zu erfüllen. So erfüllt zum Beispiel ein Versicherter, der 15 Jahre in Deutschland und 20 Jahre in Frankreich gearbeitet hat, die Mindestversicherungszeit von insgesamt 35 Jahren für die deutsche Altersrente für langjährig Versicherte.

Sind alle Voraussetzungen erfüllt, zahlt jedes Land aus seinen Zeiten eine eigene Rente. Eine gemeinsame Altersrente von einem Land für andere Länder gibt es nicht. Grundlage für die Rentenzahlung sind die in den Ländern zu berücksichtigenden Zeiten. Wer die Mindestversicherungszeit trotz der Zusammenrechnung der Zeiten nicht erfüllt und dadurch keine Rente erhalten kann, kann sich die Beiträge unter bestimmten Voraussetzungen auch erstatten lassen.

Eine Zusammenrechnung der Zeiten erfolgt nach europäischem Gemeinschaftsrecht im Verhältnis zu den Staaten der Europäischen Union und zusätzlich im Verhältnis zu Liechtenstein, Island, Norwegen und der Schweiz. Mit vielen anderen Staaten hat Deutschland Sozialversicherungsabkommen geschlossen, etwa mit Tunesien, der Türkei, den USA und Australien, die entsprechende Regelungen enthalten.

Alle Fragen rund um das Thema Ausland beantworten die Experten am Service-Telefon der Deutschen Rentenversicherung unter 0800 1000 4800 kompetent und kostenlos. Informationen gibt es auch in den Auskunfts- und Beratungsstellen der Deutschen Rentenversicherung. Zusätzlich bietet die Deutsche Rentenversicherung auch Informationsbroschüren zu diesem Thema an. Das umfangreiche Angebot ist im Internet unter www.deutsche-rentenversicherung.de kostenlos bestell- und downloadbar. Pressemitteilung: Deutsche Rentenversicherung, Erscheinungsdatum: 23.05.2013

Abfindung und Rückzahlung von Arbeitslosengeld

Nach dem BFH Urteil vom 11.12.2012, Az. IX R 23/11 erfolgt die Ermittlung der Einkommensteuer in sieben Schritten

1. Ermittlung des zu versteuernden Einkommens mit Abfindung.
2. Ermittlung des verbleibenden zu versteuernden Einkommens durch Abzug der Abfindung vom Betrag aus Schritt 1.
3. Von 1/5 des zu versteuernden Einkommens ist die Rückzahlung des Arbeitslosengelds abzuziehen.
4. Auf den in Schritt 3 ermittelten Wert ist die Steuerschuld zu ermitteln.
5. Aus den Werten zu Schritt 3 und 4 ist ein Steuersatz zu ermitteln.
6. Dieser Satz ist auf 1/5 des zu versteuernden Einkommens anzuwenden.
7. Die Steuerschuld zu Schritt 6 ist mit 5 zu multiplizieren.

  • Beispiel
Frau Maier, ledig, erhielt 2012 eine Abfindung von 200.000 Euro. Im selben Jahr musste Sie 5.000 Euro Arbeitslosengeld an die Agentur für Arbeit zurückzahlen. Sonderausgaben waren in Höhe von 10.000 Euro abziehbar. 

 

Abfindung
200.000 Euro
./. Sonderausgaben, außergewöhnliche Belastungen 10.000 Euro
= Zu versteuerndes Einkommen mit Abfindung (Schritt 1) 190.000 Euro
./. Abfindung 200.000 Euro
= Verbleibendes zu versteuerndes Einkommen (Schritt 2) ./. 10.000 Euro
1/5 des zu versteuernden Einkommens von 190.000 Euro 38.000 Euro
./. Rückzahlung Arbeitslosengeld 5.000 Euro
= Steuersatzeinkommen für Progressionsvorbehalt (Schritt 3) 33.000 Euro
Fiktive Einkommensteuer nach Grundtarif (Steuerschuld für 33.000 Euro – Schritt 4) 6.592 Euro
Besonderer Steuersatz: 6.592 Euro : 33.000 Euro x 100 = 19,9757 % (Schritt 5)
Steuer auf 1/5 des zu versteuernden Einkommens: 38.000 Euro x 19,9757 % (Schritt 6) 7.590 Euro
Steuerschuld 2012: 7.590 Euro x 5 (Schritt 7) 37.950 Euro

QUELLE: WISO SteuerBrief AUSGABE 05 / 2013 | SEITE 16 | ID 39037490

Zur Steuerberechung einer steuerbegünstigten Abfindung nach der Fünftelregelung siehe auch den online Abfindungsrechner.

 

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 11.12.2012, IX R 23/11

Nebeneinander von Progressionsvorbehalt und Tarifermäßigung

Leitsätze

Progressionsvorbehalt nach § 32b EStG und Tarifermäßigung des § 34 Abs. 1 EStG sind mit der Folge nebeneinander anwendbar (sog. integrierte Steuerberechnung), dass sich ein negativer Progressionsvorbehalt im Rahmen der Ermittlung des Steuerbetrags nach § 34 Abs. 1 Satz 3 EStG wegen des niedrigeren Steuersatzes notwendig steuermindernd auswirkt.

Tatbestand

1
I. Streitig ist die Ermittlung der tariflichen Einkommensteuer bei Zusammentreffen eines negativen verbleibenden zu versteuernden Einkommens mit Einkünften, die dem negativen Progressionsvorbehalt unterliegen.
2
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) wurde für 2008 (Streitjahr) antragsgemäß getrennt zur Einkommensteuer veranlagt. Im Rahmen seiner Einkommensteuererklärung hatte er einen Betrag von 3.374 EUR als im Streitjahr an die Arbeitsverwaltung zurückgezahltes Arbeitslosengeld angegeben. Seine frühere Arbeitgeberin hatte in der Lohnsteuerbescheinigung als Dauer des Arbeitsverhältnisses den Zeitraum vom 1. bis zum 31. Juli des Streitjahres sowie einen ermäßigt besteuerten Arbeitslohn von 260.000 EUR angegeben. Diese Lohnzahlung behandelte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt –FA–) als nach § 24 Nr. 1a, § 34 Abs. 2 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes i.d.F. des Streitjahres (EStG) tarifbegünstigte Abfindungsleistung.
3
Mit geändertem Einkommensteuerbescheid vom Februar 2010 und später vom November 2010 ermittelte das FA Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit in Höhe von 256.751 EUR, ein zu versteuerndes Einkommen (zvE) von 248.879 EUR und ein nach § 34 Abs. 1 EStG „verbleibendes zu versteuerndes Einkommen“ von -7.872 EUR und setzte entsprechend H 34.2 Beispiel 4 des Amtlichen Einkommensteuer-Handbuchs 2008 (EStH) die tarifliche Einkommensteuer (Grundtarif) auf 62.480 EUR –unter Abzug der Steuerermäßigung nach § 35a EStG in Höhe von 300 EUR– die Einkommensteuer auf 62.180 EUR fest.
4
Einspruch und Klage, mit denen der Kläger aufgrund einer anderweitigen Berechnung die Festsetzung der tariflichen Einkommensteuer letztlich auf 41.565 EUR begehrte, hatten keinen Erfolg (Urteil in Entscheidungen der Finanzgerichte 2011, 1788). Das Finanzgericht (FG) entschied, dass die Steuerberechnung des FA nicht zu beanstanden sei. Träfen nämlich Tarifermäßigung mit negativem Progressionsvorbehalt zusammen, kämen beide Vergünstigungen zur Anwendung und es sei eine sog. integrierte Steuerberechnung nach dem Günstigkeitsprinzip vorzunehmen. Die Belastungsvergleichsrechnung des FA zeige, dass die finanzamtliche Ermittlung unter Berücksichtigung von Tarifermäßigung und negativem Progressionsvorbehalt zu einem für den Kläger günstigen Ergebnis führe.
5
Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts (§ 32b, § 34 Abs. 1 EStG). Er führt zur Begründung aus: Treffe die Tarifermäßigung mit einem negativen Progressions-vorbehalt zusammen, habe eine integrierte Steuerberechnung nach dem Günstigkeitsprinzip zu erfolgen, wobei die ermäßigt besteuerten außerordentlichen Einkünfte bei der Ermittlung des besonderen Steuersatzes i.S. des § 32b Abs. 2 EStG einzubeziehen sei. Nach dem Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 15. November 2007 VI R 66/03 (BFHE 219, 313, BStBl II 2008, 375) sei die Fünftel-Regelung des § 34 Abs. 1 EStG im Rahmen des negativen Progressionsvorbehalts anzuwenden „und nicht umgekehrt“. Dabei sei nicht nur das zvE mit einem Fünftel, sondern vielmehr auch „die dem Progressionsvorbehalt unterliegenden Einkünfte“ wie auch die ermäßigt besteuerten außerordentlichen Einkünfte nur mit einem Fünftel zu berücksichtigen, so dass sich ein wesentlich geringerer (besonderer) Steuersatz ergebe und dies zu einem günstigeren Ergebnis für den Kläger führe.
6
Der bei Gegenüberstellung des um das zurückgezahlte Arbeitslosengeld von 3.774 EUR verminderte zvE von 245.105 EUR zu den außerordentlichen Einkünften von 260.000 EUR resultierende Negativbetrag von 14.895 EUR ergebe eine Steuer von 0 EUR. Addiere man diesen Negativbetrag zu 1/5 des außerordentlichen Einkommens, nämlich den 52.000 EUR hinzu, ergebe sich auf die Summe von 37.105 EUR eine Einkommensteuer von 8.187 EUR. Die Steuer auf die außerordentlichen Einkünfte betrage demnach (8.187 EUR x 5 =) 40.935 EUR. Hieraus folge ein Steuersatz von 16,7010 % (40.935 EUR zu 245.105 EUR). Diesen angelegt auf das zvE von 248.879 EUR ergebe eine tarifliche Einkommensteuer von 41.565 EUR und unter Abzug der vom FA zuerkannten Ermäßigung für Handwerkerleistungen eine festzusetzende Einkommensteuer von 41.265 EUR.
7
Der Kläger beantragt sinngemäß,das Urteil des FG aufzuheben und die Einkommensteuer 2008 unter Änderung des Einkommensteuerbescheids in der Fassung vom 25. November 2010 auf 41.265 EUR festzusetzen.
8
Das FA beantragt sinngemäß,die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

9
II. Die Revision des Klägers ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung –FGO–). Das FG hat die Berechnung der Einkommensteuer des Klägers für das Streitjahr durch das FA zu Recht nicht beanstandet.
10
1. Die tarifliche Einkommensteuer bemisst sich nach dem zu versteuernden Einkommen, vorbehaltlich u.a. der § 32b und § 34 EStG (§ 32a Abs. 1 Satz 1, Satz 2  1. Satzteil EStG). Sind in dem zu versteuernden Einkommen außerordentliche Einkünfte enthalten, so ist gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 EStG die auf alle (im Veranlagungszeitraum bezogenen) außerordentlichen Einkünfte (nicht nur auf die Einnahmen) entfallende Einkommensteuer nach der sog. Fünftel-Regelung zu berechnen. Ist –wie im Streitfall– das verbleibende zu versteuernde Einkommen negativ und das zu versteuernde Einkommen positiv, so beträgt die Einkommensteuer gemäß § 34 Abs. 1 Satz 3 EStG das Fünffache der auf ein Fünftel des zu versteuernden Einkommens entfallenden Einkommensteuer. Hat ein Steuerpflichtiger –wie der Kläger– Arbeitslosengeld bezogen, so ist auf das nach § 32a Abs. 1 zu versteuernde Einkommen ein besonderer Steuersatz anzuwenden (§ 32b Abs. 1 Satz 1 EStG); das ist gemäß § 32b Abs. 2 Satz 1 EStG der Steuersatz, der sich ergibt, wenn bei der Berechnung der Einkommensteuer das nach § 32a Abs. 1 zu versteuernde Einkommen vermehrt oder vermindert wird, und zwar um den Saldo –hier– der Arbeitslosengeld-Leistungen in Höhe von -3.374 EUR.
11
Progressionsvorbehalt nach § 32b EStG und Tarifermäßigung des § 34 Abs. 1 EStG sind nebeneinander anwendbar (sog. integrierte Steuerberechnung, vgl. BFH-Urteile in BFHE 219, 313, BStBl II 2008, 375; vom 22. September 2009 IX R 93/07, BFHE 226, 510, BStBl II 2010, 1032, unter II.1.b aa, m.w.N.). Bei Anwendung des § 34 Abs. 1 EStG muss sich wegen seines Zwecks der Abmilderung der Progressionswirkung eine geringere Einkommensteuer ergeben als bei einer Besteuerung der außerordentlichen Einkünfte nach § 32a Abs. 1 EStG; das gilt erst recht, wenn die Tarifermäßigung mit einem negativen Progressionsvorbehalt zusammentrifft (vgl. BFH-Urteil in BFHE 219, 313, BStBl II 2008, 375, unter II.4.b bb), weil sich ein negativer Progressionsvorbehalt im Rahmen der Ermittlung des Steuerbetrags für die außerordentlichen Einkünfte nach § 34 Abs. 1 Satz 3 EStG notwendig steuersatzmindernd auswirkt (vgl. BFH-Urteile vom 17. Januar 2008 VI R 44/07, BFHE 220, 269, BStBl II 2011, 21; vom 1. April 2009 IX R 87/07, BFH/NV 2009, 1787; in BFHE 226, 510, BStBl II 2010, 1032).
12
2. Diesen Grundsätzen entspricht die Vorentscheidung; die Revision hat daher keinen Erfolg. Die Berechnung des FA hat das FG (im Ergebnis) zutreffend für rechtens erachtet. Auf die Hilfserwägung des FG, die aufgrund der nicht zweifelsfreien Annahme eines (zusätzlich) als Arbeitslohn zugeflossenen Arbeitslosengeldes in Höhe von 8.538 EUR zu einer höheren Steuer geführt hätte, kommt es wegen des im gerichtlichen Verfahren geltenden Verböserungsverbots –so auch das FG– nicht an.
13
a) Das FA hat in Anlehnung an H 34.2 Beispiel 4 EStH und unter Beachtung der vorstehenden Grundsätze die tarifliche Einkommensteuer für das Streitjahr gemäß § 32a Abs. 1, § 32b Abs. 2, § 34 Abs. 1 Satz 3 EStG zutreffend angesetzt. Dabei ist es von Einkünften i.S. des § 34 Abs. 2 EStG in Höhe von 256.751 EUR, einem zvE in Höhe von 248.879 EUR und einem verbleibenden negativen zvE in Höhe von -7.872 EUR ausgegangen. Auf dieser Basis hat es vom 1/5-zvE in Höhe von (248.879 EUR : 5 =) 49.775 EUR unter Abzug des Arbeitslosengeld-Saldos in Höhe von 3.374 EUR das maßgebende verbleibende 1/5-zvE in Höhe von 46.401 EUR errechnet. Darauf ergibt sich eine Einkommensteuer nach Grundtarif in Höhe von 11.649 EUR bei einem (durchschnittlichen =) besonderen Steuersatz von 25,1051 %. Dieser angewandt auf das 1/5-zvE (49.775 EUR) führt zu einer Einkommensteuer in Höhe von 12.496 EUR, multipliziert mit fünf ergibt eine tarifliche Einkommensteuer in Höhe von 62.480 EUR.
14
b) Dieser Steuerbetrag trägt auch dem Günstigkeitsprinzip Rechnung, wie eine Berechnung der anderen Fall-Varianten aufzeigt: nämlich eine Steuerberechnung ohne Tarifermäßigung und ohne Progressionsvorbehalt (96.615 EUR), ohne Tarifermäßigung und mit negativem Progressionsvorbehalt von 3.374 EUR (96.506 EUR), mit Tarifermäßigung und ohne Progressionsvorbehalt (65.020 EUR) sowie mit Tarifermäßigung und ohne Progressionsvorbehalt, aber mit negativen Einkünften von 3.374 EUR (FA: 63.700 EUR).
15
c) Die Berechnung des Klägers geht schon von unzutreffenden Annahmen aus; denn der Saldo der Arbeitslosengeld-Leistungen beträgt nicht 3.774 EUR, sondern 3.374 EUR, und die anzusetzenden Einkünfte i.S. des § 34 Abs. 2 EStG belaufen sich auf 256.751 EUR, nicht auf die reinen Einnahmen in Höhe von 260.000 EUR. Auch ist kein sog. Unterschiedsbetrag (i.S. von § 34 Abs. 1 Satz 2 EStG) zu ermitteln, denn im Streitfall sind nach den bindenden Feststellungen des FG die Voraussetzungen des § 34 Abs. 1 Satz 3 EStG (verbleibendes zvE negativ mit -7.872 EUR und zvE positiv mit 248.879 EUR) gegeben. Zudem ist die Steuer auch nicht auf ein Fünftel der außerordentlichen Einkünfte (wie in § 34 Abs. 1 Satz 2 a.E. EStG) zu ermitteln und in die Berechnung einzubeziehen, sondern die auf ein Fünftel des zvE. Daher entspricht die Berechnung des Klägers nicht den gesetzlichen Vorgaben.

Mehr Transparenz bei der Riester-Rente

Das Bundeskabinett hat am 26. September 2012 die Formulierungshilfe für ein Altersvorsorge- Verbesserungsgesetz beschlossen. Mit einem für die Anbieter verpflichtenden Produktinformationsblatt, das die wichtigsten Kriterien übersichtlich darstellt, sollen die Transparenz und Vergleichbarkeit von geförderten Altersvorsorgeprodukten (Riester-Rente / Basis-Rente) erhöht werden. Zudem sollen die Abschluss- und Vertriebskosten bei einem Vertragswechsel begrenzt werden. Weitere Verbesserungen sind bei der Basisversorgung im Alter und dem so genannten „Wohn-Riester“ vorgesehen. Auch die Möglichkeit, sich im Rahmen eines Riester-Vertrags gegen die verminderte Erwerbsfähigkeit abzusichern, soll erleichtert werden. Die Maßnahmen sind ein wesentlicher Beitrag, um die private Vorsorge für das Alter zu stärken.

Im Einzelnen:

 

Einführung eines Produktinformationsblatts

Für zertifizierte Altersvorsorge- und Basisrentenverträge wird ein standardisiertes anbieter- und produktübergreifendes Produktinformationsblatt eingeführt. Gestaltung und Inhalt werden vorgegeben. Eine übersichtliche Darstellung der anfallenden Kosten, der Rendite Erwartung und des Anlage- Risikos sollen es dem Verbraucher künftig besser als bisher ermöglichen, sich vor Vertragsabschluss einen Überblick über die wesentlichen Vertragsmerkmale zu verschaffen.

 

Riester-Rente: Begrenzung der Abschluss- und Vertriebskosten bei einem Vertragswechsel

Dem Anleger steht das Recht zu, den Anbieter seines Altersvorsorgevertrages zu wechseln. In diesem Fall entstehen auch für das bereits geförderte Altersvorsorgevermögen erneut Abschluss- und Vertriebskosten. Dies Kosten sollen begrenzt werden. Es ist vorgesehen, dass im Fall eines Anbieterwechsels maximal 50 % des geförderten übertragenen Kapitals bei der Berechnung der Abschluss- und Vertriebskosten beim neuen Anbieter berücksichtigt werden dürfen. Damit wird die Bemessungsgrundlage für die Kosten gedeckelt. Zudem sollen auch die Wechselkosten beim abgebenden Anbieter gedeckelt werden. Basisversorgung im Alter: Erhöhung des Abzugsvolumens und Absetzbarkeit von Beiträgen zur Absicherung der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit.

Das steuerliche Abzugsvolumen für eine Basisversorgung im Alter von bisher 20.000 € soll auf 24.000 € angehoben werden. Zudem können künftig Beiträge zur Absicherung der Berufs- und Erwerbsunfähigkeit im Rahmen des Abzugsvolumens der Basisrente geltend gemacht werden. Voraussetzung für das neue Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsprodukt ist, dass bei Eintritt des Versicherungsfalls eine lebenslange Rente gezahlt wird.

 

„Wohn-Riester“: Mehr Flexibilität

Hier sollen sich mehrere Punkte verbessern.
Jederzeitige Kapitalentnahme für selbstgenutztes Wohneigentum: Die förderunschädliche Entnahme von gefördertem Altersvorsorgevermögen für die selbstgenutzte Wohnung ist derzeit nur eingeschränkt möglich. So muss die Entnahme entweder im zeitlich unmittelbaren Zusammenhang mit der Anschaffung beziehungsweise Herstellung der selbstgenutzten Wohnung erfolgen oder zur Entschuldung dieser Wohnung unmittelbar zu Beginn der Auszahlungsphase. Diese Einschränkung soll aufgehoben werden. Gefördertes Altersvorsorgevermögen kann dann jederzeit für die Bildung von selbstgenutztem Wohneigentum entnommen werden.
Jederzeitige „Einmal“-Besteuerung des Wohnförderkontos während der Auszahlungsphase: Der Steuerpflichtige kann sich nach geltendem Recht nur einmalig – zu Beginn der Auszahlungsphase – entscheiden, ob er die ratierliche Besteuerung des Wohnförderkontos bis zum 85. Lebensjahr oder die Einmalbesteuerung wählt. Bei der Einmalbesteuerung des Wohnförderkontos zu Beginn der Auszahlungsphase werden lediglich 70 % des in der Wohnimmobilie gebundenen, geförderten Kapitals mit dem individuellen Steuersatz besteuert.

Zukünftig soll diese Möglichkeit, sich für eine „Einmal“-Besteuerung – hinsichtlich des dann noch vorhandenen Wohnförderkontos – zu entscheiden, während der gesamten Auszahlungsphase bestehen. Verminderung der jährlichen Erhöhung der in das Wohnförderkonto eingestellten Beträge von 2 % auf 1 %: Das geförderte Kapital („Wohn-Riester“) wird betragsmäßig in einem Wohnförderkonto erfasst. Während der Ansparphase erfolgt die Erfassung der Förderung fortlaufend. Das Wohnförderkonto wird jährlich um 2 % erhöht. Dieser Wert soll auf 1 % gesenkt werden. Hierdurch wird die Attraktivität des „Wohn-Riesters“ weiter verbessert, da der Stand des Wohnförderkontos langsamer anwächst, und die spätere (nachgelagerte) Besteuerung in der Altersphase entsprechend geringer ausfällt.
Einbeziehung eines behindertengerechten bzw. barrierereduzierenden Umbaus: Für bestimmte Umbaumaßnahmen an der selbstgenutzten Wohnung soll zukünftig die „Wohn-Riester“-Förderung in Anspruch genommen werden können. Voraussetzung dafür soll sein, dass die betreffenden Aufwendungen mindestens 6.000 € betragen und innerhalb eines Zeitraums von 3 Jahren nach der Anschaffung oder Herstellung der selbstgenutzten Wohnung entstanden sind, oder die Aufwendungen mindestens 30.000 € betragen. Außerdem muss in beiden Fällen durch einen Sachverständigen bestätigt werden, dass das für den Umbau entnommene Kapital zu mindestens 50 Prozent auf Umbaumaßnahmen im Sinne der DIN 18040-2 (barrierefreies Bauen) entfällt, soweit diese Standards aufgrund der Gegebenheiten der Immobilie baustrukturell möglich sind, und der verbleibende Teil der Kosten der Reduzierung von Barrieren dienen. Für die insoweit berücksichtigten Aufwendungen ist dann die Inanspruchnahme des § 35a EStG und die Berücksichtigung als außergewöhnliche Belastungen ausgeschlossen.

Quelle: BMF

Bewertung von Sachbezügen (BMF)

Verhältnis von § 8 Abs. 2 und Abs. 3 EStG bei der Bewertung von Sachbezügen

– Anwendung der BFH-Urteile VI R 30/09 und VI R 27/11 vom 26.07.2012 –

BMF, Schreiben (koordinierter Ländererlass) IV C 5 – S-2334 / 07 / 0011 vom 16.05.2013

Zu den Urteilen des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 26. Juli 2012 – VI R 30/09 – (BStBl II Seite xxxx) und – VI R 27/11 – (BStBl II Seite xxxx) gilt im Einvernehmen mit den obersten Finanzbehörden der Länder Folgendes:

Die Urteile sind über den jeweils entschiedenen Einzelfall hinaus entsprechend den nach-folgenden Regelungen anzuwenden. Das BMF-Schreiben vom 28.03.2007 (BStBl I Seite 464) wird aufgehoben.

1. Grundsätze der BFH-Rechtsprechung

1 Der BFH bestätigt in seinen Urteilen vom 26.07.2012 – VI R 30/09 – und – VI R 27/11 – die in seiner Entscheidung vom 05.09.2006 – VI R 41/02 – (BStBl II 2007 Seite 309) vertretene Rechtsauffassung, dass der Arbeitnehmer im Rahmen seiner Einkommensteuerveranlagung den geldwerten Vorteil wahlweise nach § 8 Abs. 2 EStG ohne Bewertungsabschlag und ohne Rabattfreibetrag oder mit diesen Abschlägen auf der Grundlage des Endpreises des Arbeitgebers nach § 8 Abs. 3 EStG bewerten lassen kann.

2 Nach Auffassung des BFH ist bei Anwendung des § 8 Abs. 2 EStG Vergleichspreis grundsätzlich der „günstigste Preis am Markt“. Endpreis i. S. d. § 8 Abs. 3 EStG ist nach Auffassung des BFH der am Ende von Verkaufsverhandlungen als letztes Angebot stehende Preis und umfasst deshalb auch Rabatte (Änderung der Rechtsprechung).

2. Zeitliche Anwendung der BFH-Rechtsprechung

3 Die BFH-Rechtsprechung ist sowohl im Lohnsteuerabzugsverfahren als auch im Veranlagungsverfahren in allen offenen Fallen anwendbar (vgl. aber Rdnr. 5 und Rdnr. 11).

3. Materielle Anwendung der BFH-Rechtsprechung

3.1. Endpreis i. S. d. § 8 Abs. 2 Satz 1 EStG
4 Einnahmen, die nicht in Geld bestehen (Wohnung, Kost, Waren, Dienstleistungen und sonstige Sachbezüge), sind mit den um übliche Preisnachlässe geminderten üblichen Endpreisen am Abgabeort anzusetzen (§ 8 Abs. 2 Satz 1 EStG); R 8.1 Abs. 2 Satz 9 LStR 2011 ist anzuwenden. Endpreis in diesem Sinne ist auch der nachgewiesene günstigste Preis einschließlich sämtlicher Nebenkosten, zu dem die konkrete Ware oder Dienstleistung mit vergleichbaren Bedingungen an Endverbraucher ohne individuelle Preisverhandlungen im Zeitpunkt des Zuflusses am Markt angeboten wird; R 8.1 Abs. 2 Satz 9 LStR 2011 ist nicht anzuwenden. Fallen Bestell- und Liefertag auseinander, sind die Verhältnisse am Bestelltag für die Preisfeststellung maßgebend (vgl. R 8.1 Abs. 2 Satz 8 LStR 2011). Markt in diesem Sinne sind alle gewerblichen Anbieter, von denen der Steuerpflichtige die konkrete Ware oder Dienstleistung im Inland unter Einbeziehung allgemein zugänglicher Internetangebote oder auf sonstige Weise gewöhnlich beziehen kann. § 8 Abs. 2 Sätze 2 bis 9 EStG bleiben unberührt.

5 Dem Arbeitgeber bleibt es unbenommen, im Lohnsteuerabzugsverfahren einen um übliche Preisnachlässe geminderten üblichen Endpreis am Abgabeort i. S. d. Rdnr. 4 Satz 1 anzusetzen. Er ist nicht verpflichtet, den günstigsten Preis am Markt i. S. d. Rdnr. 4 Satz 2 zu ermitteln. Der Arbeitnehmer kann im Rahmen seiner Einkommensteuerveranlagung den geldwerten Vorteil mit dem günstigsten Preis am Markt i. S. d. Rdnr. 4 Satz 2 bewerten (vgl. Rdnr. 10).

6 Der Arbeitgeber hat die Grundlagen für den ermittelten und der Lohnversteuerung zu Grunde gelegten Endpreis als Belege zum Lohnkonto aufzubewahren, zu dokumentieren und dem Arbeitnehmer auf Verlangen formlos mitzuteilen.

3.2. Endpreis i. S. d. § 8 Abs. 3 Satz 1 EStG
7 Endpreis i. S. d. § 8 Abs. 3 Satz 1 EStG ist der Preis, zu dem der Arbeitgeber oder der dem Abgabeort nächstansässige Abnehmer die konkrete Ware oder Dienstleistung fremden Letztverbrauchern im allgemeinen Geschäftsverkehr am Ende von Verkaufsverhandlungen durchschnittlich anbietet. Auf diesen Angebotspreis sind der gesetzliche Bewertungsabschlag von 4 Prozent und der gesetzliche Rabattfreibetrag von 1.080 Euro zu berücksichtigen (§ 8 Abs. 3 Satz 2 EStG).

8 Bei der Ermittlung des tatsächlichen Angebotspreises ist es nicht zu beanstanden, wenn als Endpreis i. S. d. § 8 Abs. 3 EStG der Preis angenommen wird, der sich ergibt, wenn der Preisnachlass, der durchschnittlich beim Verkauf an fremde Letztverbraucher im allgemeinen Geschäftsverkehr tatsächlich gewahrt wird, von dem empfohlenen Preis abgezogen wird.

Das BMF-Schreiben vom 18. Dezember 2009 (BStBl I 2010 Seite 20) zur Ermittlung des geldwerten Vorteils beim Erwerb von Kraftfahrzeugen vom Arbeitgeber in der Automobil-branche ist hinsichtlich des bisher zu berücksichtigenden Preisnachlasses in Hohe von 80 Prozent nicht mehr anzuwenden. Es gilt ansonsten unverändert fort.

9 Der Arbeitgeber hat die Grundlagen für den ermittelten und der Lohnversteuerung zu Grunde gelegten Endpreis als Belege zum Lohnkonto aufzubewahren, zu dokumentieren und dem Arbeitnehmer auf Verlangen formlos mitzuteilen.

3.3. Wahlrecht zwischen den Bewertungsmethoden nach § 8 Abs. 2 und Abs. 3 EStG
10 Der Arbeitnehmer kann den geldwerten Vorteil im Rahmen seiner Einkommensteuer-veranlagung nach § 8 Abs. 2 Satz 1 EStG (vgl. Rdnr. 4) bewerten. Der Arbeitnehmer hat den im Lohnsteuerabzugsverfahren der Besteuerung zu Grunde gelegten Endpreis i. S. d. § 8 Abs. 3 Satz 1 EStG und den Endpreis i. S. d. § 8 Abs. 2 Satz 1 EStG nachzuweisen (z. B. formlose Mitteilung des Arbeitgebers, Ausdruck eines günstigeren inländischen Angebots im Zeitpunkt des Zuflusses).

11 Dem Arbeitgeber bleibt es unbenommen, im Lohnsteuerabzugsverfahren den geldwerten Vorteil nach § 8 Abs. 3 Satz 1 EStG (vgl. Rdnr. 7) zu bewerten. Er ist nicht verpflichtet, den geldwerten Vorteil nach § 8 Abs. 2 Satz 1 EStG (vgl. Rdnr. 4) zu bewerten.

12 Beispiel
Ein Möbelhandelsunternehmen übereignet seinem Arbeitnehmer im Januar 2013 eine Schrankwand und im Februar 2013 eine Couch zu einem Preis von je 3.000 Euro. Bestell- und Liefertag fallen nicht auseinander. Der durch Preisauszeichnung angegebene Endpreis betragt jeweils 5.000 Euro. Das Möbelhandelsunternehmen gewahrt auf diese Möbelstücke durchschnittlich 10 Prozent Rabatt. Ein anderes inländisches Möbelhandelsunternehmen bietet diese Couch im Februar 2013 auf seiner Internetseite für 4.000 Euro an. Der Arbeitgeber hat die geldwerten Vorteile nach § 8 Abs. 3 Satz 1 EStG bewertet. Der Arbeitnehmer beantragt im Rahmen seiner Einkommensteuerveranlagung die Bewertung des geldwerten Vorteils für die Couch nach § 8 Abs. 2 Satz 1 EStG und legt einen Ausdruck des günstigeren Angebots vor.

Steuerliche Behandlung im Lohnsteuerabzugsverfahren:
Endpreis i. S. d. § 8 Abs. 3 Satz 1 EStG ist der am Ende von Verkaufsverhandlungen durchschnittlich angebotene Preis des Arbeitgebers in Hohe von jeweils 4.500 Euro (= 5.000 Euro abzgl. durchschnittlichem Rabatt von 10 Prozent). Zur Ermittlung des geldwerten Vorteils aus der Übereignung der Schrankwand ist der Endpreis um 180 Euro (= 4 Prozent) zu kürzen, so dass sich nach Anrechnung des vom Arbeitnehmer gezahlten Entgelts von 3.000 Euro ein Arbeitslohn von 1.320 Euro ergibt. Dieser Arbeitslohn überschreitet den Rabatt-Freibetrag von 1.080 Euro um 240 Euro, so dass dieser Betrag für Januar 2013 zu versteuern ist. Zur Ermittlung des geldwerten Vorteils aus der Übereignung der Couch ist der Endpreis von 4.500 Euro um 180 Euro (= 4 Prozent) zu kürzen, so dass sich nach Anrechnung des vom Arbeitnehmer gezahlten Entgelts von 3.000 Euro ein Arbeitslohn von 1.320 Euro ergibt. Der Rabatt-Freibetrag kommt nicht mehr in Betracht, da er bereits bei der Ermittlung des geldwerten Vorteils aus der Übereignung der Schrankwand berücksichtigt wurde. Daher ist ein Arbeitslohn von 1.320 Euro für Februar 2013 zu versteuern.

Steuerliche Behandlung im Veranlagungsverfahren:
Endpreis i. S. d. § 8 Abs. 2 Satz 1 EStG ist die nachgewiesene günstigste Marktkondition in Höhe von 4.000 Euro. Zur Ermittlung des geldwerten Vorteils aus der Übereignung der Couch ist der Endpreis nicht zu kürzen, so dass sich nach Anrechnung des vom Arbeitnehmer gezahlten Entgelts ein Arbeitslohn von 1.000 Euro (statt bisher 1.320 Euro) ergibt. Die Freigrenze für Sachbezüge nach § 8 Abs. 2 Satz 9 EStG ist überschritten, so dass ein Arbeitslohn von 1.000 Euro zu versteuern ist. Der bisher versteuerte Arbeitslohn (vgl. Zeile 3 des Ausdrucks der elektronischen Lohnsteuerbescheinigung für 2013) ist durch das Finanzamt um 320 Euro zu mindern.

Quelle: BMF

Reparaturkosten infolge Falschbetankung neben der Entfernungspauschale als Werbungskosten abziehbar

Das Niedersächsische Finanzgericht (NFG) hat mit Urteil vom 24.04.2013 (Az.: 9 K 218/12) einer Klage zur steuerlichen Abzugsfähigkeit von Kfz-Reparaturaufwendungen stattgegeben. Die Kosten waren dem Kläger wegen eines durch eine Falschbetankung auf dem Weg zur Arbeitsstelle verursachten Motorschadens entstanden. Das Gericht hat sich dabei gegen die zu diesem Problemkreis bisher ergangene FG-Rechtsprechung und die Auffassung der Finanzverwaltung gestellt.

Der Kläger hatte auf dem Weg von seinem Wohnort zur Arbeitsstelle beim Tanken aus Unachtsamkeit statt Diesel Benzin in sein Fahrzeug eingefüllt. Als der Motor kurze Zeit nach Fortsetzung der Fahrt „unregelmäßig“ lief, bemerkte er das Unglück. Der Kläger gelangte noch bis zu einer nahe gelegenen Werkstatt, die den Motorschaden reparierte. Die Versicherung lehnte eine Erstattung der Reparaturkosten (ca. 4.300 Euro) wegen der Sorgfaltspflichtverletzung des Klägers ab. Das Finanzamt meinte, neben der Entfernungspauschale (sog. Pendlerpauschale) seien nur Kosten eines Unfalls zum Werbungskostenabzug zuzulassen. Die Falschbetankung sei aber kein Unfall.

Das NFG stand vor dem Rechtsproblem, dass nach dem Wortlaut der Vorschrift des § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG mit dem Ansatz der verkehrsmittelunabhängigen Entfernungspauschale seit dem Jahr 2001 sämtliche Kosten für Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte abgegolten sein sollten. Die seit Einführung der Entfernungspauschale hierzu ergangene FG-Rechtsprechung und ein Teil der steuerrechtlichen Literatur haben mit Blick auf diesen Wortlaut Ausnahmen stets abgelehnt. Die Finanzverwaltung hat gleichwohl im Grundsatz Unfallkosten neben der Entfernungspauschale zum Werbungskostenabzug zugelassen.

Der 9. Senat des NFG hat dagegen die durch den Ansatz der Entfernungspauschale erfolgte Abgeltungswirkung auf die gewöhnlichen (laufenden) Kfz-Kosten, die einer Pauschalierung zugänglich sind, begrenzt und damit im Wege der Gesetzesauslegung die Rechtslage wiederhergestellt, die vor 2001 seit mehreren Jahrzehnten bestand. Danach waren neben der früheren Kilometerpauschale stets außergewöhnliche Wegekosten (z. B. Motorschaden, Diebstahl, Unfall) als Werbungskosten abzugsfähig.

Nach Überzeugung des Gerichts entspricht diese Auslegung dem in den Gesetzesmaterialien ausreichend klar zum Ausdruck kommenden objektivierten Willen des Gesetzesgebers. Im Übrigen ist eine solche Auslegung – so die Finanzrichter – auch verfassungsrechtlich geboten, da anderenfalls § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG einem Abzugsverbot für Werbungskosten gleichkomme. Für eine solche Durchbrechung des objektiven Nettoprinzips fehle aber die erforderliche sachliche Rechtfertigung.

Das NFG hat die Revision zum Bundesfinanzhof (BFH) wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache und Fortbildung des Rechts zugelassen. Ein Az. des BFH ist derzeit noch nicht bekannt.

Quelle: FG Niedersachsen, Pressemitteilung vom 17.05.2013 zum Urteil 9 K 218/12 vom 24.04.2013

Abzug von außergewöhnlichen Kfz-Kosten als Werbungskosten neben der Entfernungspauschale / Umfang der Abgeltungswirkung des § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG
1. Durch eine Falschbetankung auf dem Weg vom Wohnort zur Arbeitsstelle und den dadurch herbeigeführten Motorschaden verursachte Reparaturaufwendungen sind als Werbungskosten gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG steuermindernd bei den Einkünften des Klägers aus nichtselbständiger Arbeit zu berücksichtigen (entgegen seit Einführung der Entfernungspauschale ergangener FG-Rechtsprechung; entgegen BMF-Schreiben vom 3. Januar 2013 IV C 5 – S 2351/09/10002 – DOK 2012/11700915, FR 2013, 190 Tz. 4).2. Außergewöhnliche Wegekosten, die einer Pauschalierung grundsätzlich nicht zugänglich sind, sind nicht durch den Ansatz der Entfernungspauschale von 0,30 Euro (§ 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG) abgegolten, denn sie werden durch die in § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG gesetzlich normierte Abgeltungswirkung nicht erfasst.3. Der in den Gesetzesbegründungen anlässlich der Einführung der Entfernungspauschale im Jahr 2001 und den folgenden Gesetzesänderungen des § 9 EStG zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers gebietet eine entsprechende Auslegung des § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG gegen den scheinbar klaren Wortlaut.

4. Da außergewöhnliche Wegekosten bei beruflicher Veranlassung grundsätzlich Werbungskosten gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG darstellen, würde bei einer durch die bisherige FG-Rechtsprechung vorgenommenen (einschränkenden) Auslegung ansonsten § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG in seiner Wirkung einem Abzugsverbot für Werbungskosten gleichkommen.

5. Zur Vermeidung eines sachlich nicht gerechtfertigten Verstoßes gegen das objektive Nettoprinzip ist daher § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG in verfassungskonformer Weise über den Wortlaut hinaus so auszulegen, dass lediglich laufende Kfz- und Wegekosten, die grundsätzlich einer Pauschalierung zugänglich sind, von der Abgeltungswirkung erfasst werden.

Niedersächsisches Finanzgericht 9. Senat, Urteil vom 24.04.2013, 9 K 218/12

§ 9 Abs 1 S 1 EStG, § 9 Abs 1 S 3 Nr 4 EStG, § 9 Abs 2 S 1 EStG

Tatbestand

1
Streitig ist der Werbungskostenabzug von Reparaturkosten, die infolge einer Falschbetankung auf einer Fahrt zwischen Wohnung und Arbeitsstätte entstanden sind.
2
Die Kläger sind Eheleute, die im Streitjahr 2010 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt werden. Die Kläger beziehen beide Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Der Kläger ist Angestellter der X-AG.
3
Im Rahmen der Einkommensteuererklärung  für das Streitjahr 2010 beantragte der Kläger den Abzug von 4.264 € für die Reparatur seines Pkw´s als Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit. Nach den Angaben des Klägers war die Reparatur durch eine Falschbetankung auf dem Weg zur Arbeitsstätte verursacht.
4
Der Steuererklärung beigefügt war eine Unfall-/Schadenmeldung an die X- Versicherungsvermittlungs-GmbH. Danach hatte der Kläger am 5. November 2009 auf dem Weg zur Arbeitsstelle in W an der Tankstelle in C irrtümlich anstatt Diesel Benzin getankt und diese Falschbetankung erst kurz vor F bemerkt, als das Fahrzeug „unregelmäßig“ fuhr. Der Pkw wurde nach der Schadensschilderung des Klägers anschließend beim Autohaus W in F zur Reparatur abgegeben.
5
Nach den Feststellungen des Senats ereigneten sich sowohl die Falschbetankung als auch der anschließende Motorschaden am 5. November 2009 auf dem  Weg vom Wohnort des Klägers in R zur Arbeitsstelle in W. Dieser Sachverhalt ist zwischen den Beteiligten auch unstreitig (vgl. Protokoll der mündlichen Verhandlung von 24. April 2013).
6
Die Reparaturkosten betrugen nach der Rechnung des Autohauses W vom 30. November 2009 insgesamt 4.263,19 € (Arbeitspreis: 614,87 €; Materialkosten: 2.967,64 € inkl. 15,26 € für Betankung nach Reparatur; Umsatzsteuer: 680,68 €). Bezüglich der Einzelpositionen wird auf die Rechnung vom 30. November 2009 Bezug genommen.
7
Der Steuererklärung beigefügt war zudem ein Schreiben der X-AG vom 4. Januar 2010, in dem mitgeteilt wurde, dass der Kläger für seinen Schaden unbeschränkt selbst hafte und die Reparaturkosten selbst zu zahlen habe.
8
Das beklagte Finanzamt ließ die Aufwendungen nicht zum Abzug zu. Diese Entscheidung wurde damit begründet, dass die Kosten mit dem Ansatz der Kilometerpauschale abgegolten seien und es sich auch nicht um einen Verkehrsunfall gehandelt habe.
9
Der gegen den entsprechenden Einkommensteuerbescheid 2010 gerichtete Einspruch hatte keinen Erfolg.
10
Mit der vorliegenden Klage verfolgen die Kläger ihr Begehren auf Abzug der Reparaturkosten als Werbungskosten weiter. Zur Begründung tragen sie im Wesentlichen Folgendes vor:
11
Die durch die Falschbetankung verursachten Reparaturkosten seien wie Unfallkosten zu behandeln und damit steuerlich neben der Entfernungspauschale abzugsfähig. Ein Unfall sei ein unerwünschtes, von außen auf einen und/oder mehrere Menschen oder Dinge rasch einwirkendes Ereignis, dass zu einem unfreiwilligen Schaden führe. Genauso sei die Falschbetankung passiert. Für den Abzug solcher Unfallkosten als Werbungskosten sei es grundsätzlich ohne Bedeutung, ob neben der beruflichen Veranlassung weitere Umstände den Unfall herbeigeführt hätten, insbesondere, ob der Unfall auf das Verhalten eines Dritten oder eines Naturereignisses zurückzuführen seien. Auch das eigene Verhalten des Steuerpflichtigen, z.B. bei der Unfallverursachung, sei steuerlich ohne Bedeutung, wenn und solange dieses Verhalten nicht dem Bereich der privaten Lebensführung zuzurechnen sei. Das sei vorliegend nicht der Fall. Der Schaden sei auch nicht abwendbar gewesen. Zu einem Unfall zählten nicht nur Verkehrsunfälle, sondern auch vergleichbare Ereignisse.
12
Die Kläger beantragen,
13
den Einkommensteuerbescheid 2010 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 2. Juli 2012 abzuändern und weitere Werbungskosten in Höhe von 4.248 € bei den Einkünften des Klägers aus nichtselbständiger Arbeit steuermindernd zu berücksichtigen und die Einkommensteuer entsprechend herabzusetzen.
14
Der Beklagte beantragt,
15
die Klage abzuweisen.
16
Der Beklagte weist darauf hin, dass gemäß § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG klargestellt sei, dass durch die Entfernungspauschalen sämtliche Aufwendungen abgegolten seien, die durch die Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte und durch die Familienheimfahrten veranlasst seien. Auf die Frage, ob der entstandene Schaden am Fahrzeug durch die Falschbetankung mit einem Unfall vergleichbar sei, komme es nicht an. Im Übrigen habe der Kläger eine erhebliche Sorgfaltspflichtverletzung begangen. Das habe auch dazu geführt, dass die Versicherung den Schaden nicht übernommen habe. Der Schaden sei abwendbar gewesen, wenn der Kläger nicht losgefahren wäre. Der beantragte Werbungskostenabzug führe vorliegend ausschließlich zur Belastung der Allgemeinheit und sei deshalb zu versagen. Bezüglich des weiteren Vorbringens verweist der Beklagte auf seinen Einspruchsbescheid vom 2. Juli 2012.
 

Entscheidungsgründe

17
1. Die Klage ist begründet.
18
Der angefochtene Einkommensteuerbescheid 2010 vom 23. Dezember 2011 und die Einspruchsentscheidung vom 2. Juli 2012 sind rechtwidrig und verletzen die Kläger in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 Finanzgerichtsordnung – FGO -).
19
Die durch die Falschbetankung auf dem Weg vom Wohnort zur Arbeitsstelle und den dadurch herbeigeführten Motorschaden verursachten Reparaturaufwendungen sind als Werbungskosten gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG steuermindernd bei den Einkünften des Klägers aus nichtselbständiger Arbeit zu berücksichtigen (§ 19 Abs. 1 Satz 1 EStG).
20
a. Nach § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG sind Werbungskosten Aufwendungen zur Erwerbung, Sicherung und Erhaltung von Einnahmen. Zu den Erwerbsaufwendungen zählen beruflich veranlasste Fahrtkosten. Sie sind nach § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG mit den tatsächlich entstandenen Aufwendungen oder mit 0,30 € pro gefahrenen Kilometer als Werbungskosten abzugsfähig. Allerdings begrenzt § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG die Abzugsfähigkeit der Aufwendungen des Arbeitnehmers für Fahrten zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte (ab VZ 2014: erste Tätigkeitsstätte). Diese sind nur in Höhe der Entfernungspauschale abzugsfähig.
21
Bei den streitbefangenen Reparaturkosten, die infolge der Falschbetankung auf dem Weg zur Arbeitsstelle entstanden sind, handelt es sich dagegen um außergewöhnliche, nicht durch die vorgenannten Kilometerpauschbeträge abgegoltenen Aufwendungen.
22
Mit diesen Kilometerpauschbeträgen gemäß § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG sind nach der ständigen Rechtsprechung des BFH dazu die normalen, voraussehbaren Kosten, die dem Arbeitnehmer bei Benutzung des eigenen privaten PKW für berufliche Zwecke entstehen, abgegolten. Deshalb können insbesondere Kraftfahrzeugsteuern, Haftpflichtversicherungsprämien, übliche Reparaturkosten, Parkgebühren und Absetzung für Abnutzung nicht neben den Kilometer-Pauschbeträgen als Werbungskosten abgezogen werden. In den Pauschbeträgen sind indessen nicht berücksichtigt Unfallkosten und sonstige Kosten, die ihrer Natur nach außergewöhnlich sind und sich einer Pauschalierung entziehen (vgl. BFH-Urteil vom 29. Januar 1982 VI R 133/79, BStBl II 1982, 325, m.w.N.; BFH-Urteil vom 22. September 2010 VI R 54/09, BStBl. II 2011, 354). Zu den durch diese Norm nicht abgegoltenen Aufwendungen gehören – ähnlich den Reparaturkosten bei Motorschäden (vgl. hierzu BFH-Urteil vom 29. Januar 1982 VI R 133/79, BStBl II 1982, 325, m.w.N) – auch die im Streitfall durch die Falschbetankung verursachten Aufwendungen. Auch derartige Kosten sind einer Pauschalierung nicht zugänglich und können daher neben der Entfernungspauschale als (normale) Werbungskosten gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG abgezogen werden, denn sie sind ohne Zweifel durch das Arbeitsverhältnis veranlasst. Entscheidend ist insoweit der Anlass der Fahrt (vgl. BFH-Urteil vom 28. Oktober 1994 VI R 54/94, BFH/NV 1995, 668 betr. Pkw-Unfallschaden bei der Fahrt zu einer Betriebsveranstaltung).
23
Da nach den Feststellungen des Senats sowohl die Falschbetankung als auch der dadurch verursachte Motorschaden am 5. November 2009 auf dem (direkten) Weg zur Arbeitsstelle in W stattgefunden haben, steht diese Veranlassung durch das Arbeitsverhältnis fest.
24
Entgegen der Auffassung des Beklagten steht dem Werbungskostenabzug nicht entgegen, dass die Falschbetankung und damit der Schaden am Motor ggf. durch ein grob fahrlässiges Handeln des Klägers verursacht worden ist (vgl. BFH-Urteil vom 24. Mai 2007 VI R 73/05, BStBl. II 2007, 766 betr. Schadensfahrt unter Alkoholeinfluss). Ausnahmsweise kommt der Werbungskostenabzug nur dann nicht in Betracht, wenn das auslösende Moment die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit war. Hierfür hat der Senat keine Anhaltspunkte.
25
Ebenso hat der Senat keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger in Kenntnis der Falschbetankung losgefahren ist und damit der Schaden vermeidbar gewesen wäre.
26
Da die Kläger in der mündlichen Verhandlung ihren Klageantrag eingeschränkt haben und auf Hinweis des Senats die Betankungskosten von 15,26 € nicht mehr geltend machen, ist im Übrigen die Höhe des Werbungskostenabzugs zwischen den Beteiligten unstreitig. Insoweit hat auch der Senat keine Bedenken, da es sich um reine Reparaturkosten handelt.
27
b. Entgegen der Auffassung des Beklagten sind derartige außergewöhnliche Wegekosten nicht durch den Ansatz der Entfernungspauschale von 0,30 € (§ 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG in der für das Streitjahr geltenden Fassung) abgegolten, denn sie werden durch die in § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG in der für das Streitjahr geltenden Fassung gesetzlich normierte Abgeltungswirkung nicht erfasst.
28
aa. Gemäß § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 Sätze 1 und 2 EStG (in der für das Streitjahr geltenden Fassung) sind Werbungskosten auch die Aufwendungen des Arbeitnehmer für die Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte. Zur Abgeltung dieser Aufwendungen ist für jeden Arbeitstag, an dem der Arbeitnehmer die Arbeitsstätte aufsucht, eine Entfernungspauschale für jeden vollen Kilometer der Entfernung zwischen Wohnung und Arbeitsstätte von 0,30 € anzusetzen, höchstens jedoch 4.500 € im Kalenderjahr; ein höherer Betrag ist anzusetzen, soweit der Arbeitnehmer einen eigenen oder ihm zur Nutzung überlassenen Pkw benutzt. Gemäß § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG gilt, dass durch die Entfernungspauschalen sämtliche Aufwendungen abgegolten sind, die durch die Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte und durch die Familienheimfahrten veranlasst sind.
29
Die Rechtsentwicklung bis zu der vorstehenden Gesetzesfassung, die historische Gesetzesentstehung und die jeweiligen gesetzgeberischen Motive geben nach Überzeugung des Senats Aufschluss über das Verständnis der streitentscheidenden Vorschriften.
30
(1) Nach der bis einschließlich zum Veranlagungszeitraum 2000 geltenden Fassung des § 9 Abs. 1 Satz 3  EStG unterschied der Gesetzgeber vom Verkehrsmittel abhängig wie folgt:
31
„Werbungskosten sind auch …
32
4. Aufwendungen des Arbeitnehmers für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte. Fährt der Arbeitnehmer an einem Arbeitstag mehrmals zwischen Wohnung und Arbeitsstätte hin und her, so sind die zusätzlichen Fahrten nur zu berücksichtigen, soweit sie durch einen zusätzlichen Arbeitseinsatz außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit oder durch eine Arbeitszeitunterbrechung von mindestens vier Stunden veranlaßt sind. Hat ein Arbeitnehmer mehrere Wohnungen, so sind die Fahrten von oder zu einer Wohnung, die nicht der Arbeitsstätte am nächsten liegt, nur zu berücksichtigen, wenn sie den Mittelpunkt der Lebensinteressen des Arbeitnehmers bildet und nicht nur gelegentlich aufgesucht wird. Bei Fahrten mit einem eigenen oder zur Nutzung überlassenen Kraftfahrzeug sind die Aufwendungen mit den folgenden Pauschbeträgen anzusetzen:
33
a)bei Benutzung eines Kraftwagens 0,70 Deutsche Mark,
34
b)bei Benutzung eines Motorrads oder Motorrollers 0,33 Deutsche Mark“
35
Mit diesen Kilometerpauschbeträgen waren nach der ständigen Rechtsprechung des BFH dazu die normalen, voraussehbaren Kosten, die dem Arbeitnehmer bei Benutzung des eigenen privaten PKW für berufliche Zwecke entstehen, abgegolten. Deshalb konnten insbesondere Kraftfahrzeugsteuern, Haftpflichtversicherungsprämien, übliche Reparaturkosten, Parkgebühren und Absetzung für Abnutzung nicht neben den Kilometer-Pauschbeträgen als Werbungskosten abgezogen werden. In den Pauschbeträgen waren indessen nicht berücksichtigt Unfallkosten und sonstige Kosten, die ihrer Natur nach außergewöhnlich sind und sich einer Pauschalierung entziehen (vgl. etwa BFH-Urteile vom 29. Januar 1982 VI R 133/79, BStBl. II 1982, 325, m.w.N. betr. Motorschaden; vom 22. September 2010 VI R 54/09, BStBl. II 2011, 354 betr. Kosten eines Chauffeurs; vom 21. August 2012 VIII R 33/09, BFH/NV 2013, 114 betr. Unfallkosten). Diese außergewöhnlichen Kosten waren daneben als Werbungskosten gemäß § 9  Abs. 1 Satz 1 EStG abzugsfähig.
36
Dieser Auffassung war auch die Finanzverwaltung gefolgt (siehe H 42 – außergewöhnliche Kosten – LStH 2000).
37
(2) Durch das Gesetz zur Einführung der Entfernungspauschale erfolgte aus umwelt- und verkehrspolitischen Gründen ab dem Veranlagungszeitraum 2001 eine Umstellung der steuerlichen Berücksichtigung von Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte sowie für Familienheimfahrten von einem Kilometerpauschbetrag auf eine einheitliche verkehrsmittelunabhängige Entfernungspauschale. Aus sozialen Erwägungen wurde die Entfernungspauschale auf 0,80 DM angehoben, um die zusätzlichen Belastungen der Kraftfahrzeugnutzer durch die erhöhten Treibstoffkosten abzufedern (BT-Drucks. 14/4242 S. 5).
38
Die Regelung des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG lautete nun wie folgt:
39
„4. Aufwendungen des Arbeitnehmers für die Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte. Zur Abgeltung dieser Aufwendungen ist für jeden Arbeitstag, an dem der Arbeitnehmer die Arbeitsstätte aufsucht, eine Entfernungspauschale für jeden vollen Kilometer der Entfernung zwischen Wohnung und Arbeitsstätte von 0,70 DM für die ersten 10 Kilometer und 0,80 DM für jeden weiteren Kilometer anzusetzen, höchstens jedoch 10.000 DM; ein höherer Betrag als 10.000 DM ist anzusetzen, soweit der Arbeitnehmer einen eigenen oder ihm zur Nutzung überlassenen Kraftwagen benutzt. … „
40
Zusätzlich wurden die Sätze 1 und 2 wie folgt in § 9 Abs. 2 EStG neu eingefügt:
41
„(2) Durch die Entfernungspauschalen sind sämtliche Aufwendungen abgegolten, die durch die Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte und durch die Familienheimfahrten veranlasst sind. Aufwendungen für die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel können angesetzt werden, soweit sie den als Entfernungspauschale abziehbaren Betrag übersteigen. …“
42
Nach dem Regierungsentwurf des Gesetzes zur Einführung einer Entfernungspauschale war zunächst dem neuen § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG nach einem Semikolon angefügt worden:
43
„dies gilt auch für Aufwendungen in Folge eines Verkehrsunfalls.“
44
Nach der Begründung dieses Entwurfs sollten mit der Entfernungspauschale sämtliche Aufwendungen, die durch die Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte bzw. Familienheimfahrten veranlasst sind, abgegolten sein. Sie sollte danach auch ein Beitrag zur Steuervereinfachung sein, weil sie zukünftig Rechtsstreitigkeiten zwischen den Steuerpflichtigen und dem Finanzamt über die Berücksichtigung besonderer Kosten (z.B. Kosten für Abholfahrten)und außergewöhnlicher Kosten (z.B. Unfallkosten) bei den Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte und Familienheimfahrten vermeidet (vgl. BT-Drucks. 14/4242, S. 6).
45
Auf Empfehlung des Finanzausschusses des Deutschen Bundestages wurde jedoch später der zweite Halbsatz des § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG im Regierungsentwurf wieder gestrichen, „um eine Schlechterstellung von Pkw-Nutzern gegenüber der ursprünglichen Regelung“ zu vermeiden (vgl. BT-Drucks. 14/4631 S.11).
46
Diesem Willen des Gesetzgebers Rechnung tragend hat die Finanzverwaltung die Gesetzesfassung des § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG so ausgelegt, dass zumindest Unfallkosten als außergewöhnliche Kosten auch weiterhin neben der Entfernungspauschale zu berücksichtigen sind (vgl. BMF 11. Dezember 2001 IV C 5-S 2351-300/01, BStBl. I 2001, 994 Tz. 3).
47
(3) Im Steueränderungsgesetz 2007 vom 19. Juli 2006 (BStBl. I 2006, 432) wurden ab VZ 2007 die Aufwendungen für Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte nicht mehr als Werbungskosten anerkannt. Diese Aufwendungen wurden als Entfernungspauschale nur noch ab dem 20 km Entfernung „wie“ Werbungskosten berücksichtigt (vgl. § 9 Abs. 2 EStG in der Fassung des StÄndG 2007).
48
In der Gesetzesbegründung heißt es hierzu (BT-Drucks. 16/1545, 14 linke Spalte 2. Absatz):
49
In den Beratungen zum Gesetz zur Einführung einer Entfernungspauschale (BGBl. 2000 I S. 1918) ist zum Ausdruck gebracht worden, dass neben der Entfernungspauschale weiterhin Unfallkosten als außergewöhnliche Kosten berücksichtigt werden sollen (Bundestagsdrucksache 14/4631), obwohl § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG bestimmt, dass mit der Entfernungspauschale sämtliche Aufwendungen für das Zurücklegen der Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte und für Familienheimfahrten abgegolten sind. An dieser Ausnahmeregelung wird, auch im Hinblick auf die Streichung der Sonderregelung für die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, nicht mehr festgehalten. Ab 2007 sollen auch die Unfallkosten unter die Abgeltungswirkung fallen. Nach der Gesetzesänderung soll die Ausnahmeregelung nach Textziffer 3 des BMF-Schreibens vom 11. Dezember 2001 (BStBl I S. 994) aufgehoben werden.“
50
(4) Nachdem das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 9. Dezember 2008 (2 BvL 1/07, 2 BvL 2/07, 2 BvL 1/08, 2 BvL 2/08, BVerfGE 122, 210) die unter (3) dargestellte Gesetzeslage für verfassungswidrig erklärt und vorläufig durch die vor 2007 bestehende Regelungslage ersetzt hatte, führte der Gesetzgeber durch das Gesetz zur Fortführung der Gesetzeslage 2006 bei der Entfernungspauschale die alte Gesetzeslage rückwirkend ab 2007 fort.
51
Im allgemeinen Teil der Gesetzesbegründung heißt es unter anderem (BT-Drucks. 16/12099 S. 6):
52
Der wesentliche materielle Unterschied zu der vorläufigen Regelung des Bundesverfassungsgerichts besteht darin, dass nach der Gesetzeslage 2006
53
– Aufwendungen für die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel auch abziehbar sind, soweit sie den als Entfernungspauschale abziehbaren Betrag übersteigen, und
54
– Unfallkosten als außergewöhnliche Aufwendungen nicht durch die Entfernungspauschale abgegolten sind.“
55
56
Durch die Entfernungspauschale sind weiterhin sämtliche Aufwendungen abgegolten, die durch die Wege zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte und Familienheimfahrten entstehen
57
Entsprechend diesem gesetzgeberischen Willen lässt die Finanzverwaltung Unfallkosten auf dem Weg zwischen Wohnung und Arbeitsstätte wieder als außergewöhnliche Aufwendungen gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG zum Werbungskostenabzug zu. Sonstige gewöhnliche (z.B. Parkkosten, Finanzierungskosten, Versicherungsbeiträge, Beiträge für Kraftfahrerverbände) oder außergewöhnliche Aufwendungen (z.B. Diebstahl, Motorschaden) sollen aber von der Abgeltungswirkung des § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG erfasst sein (so BMF-Schreiben vom 3. Januar 2013 IV C 5 – S 2351/09/10002 – DOK 2012/11700915, FR 2013, 190 Tz. 4).
58
bb. Seit der Einführung der Entfernungspauschale ist die steuerliche Bewertung der vorstehenden Gesetzesentwicklung im Hinblick auf die Frage der Reichweite der Abgeltungswirkung des § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG umstritten.
59
(1) Soweit ersichtlich hatte sich der Bundesfinanzhof für Zeiträume ab VZ 2001 nicht mit Fällen der Abgeltungswirkung für außergewöhnliche Kosten für Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte zu befassen. Im Übrigen vertritt der Bundesfinanzhof in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass sich aus der Formulierung in § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 Satz 2 “zur Abgeltung … ist für jeden Arbeitstag … anzusetzen“ unmissverständlich ergebe, dass der  Abzugsbetrag ungeachtet tatsächlich höherer oder niedriger Aufwendungen je Arbeitstag berücksichtigt werde. Dies wird nach Auffassung des BFH zudem durch § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG bestätigt. Danach greift die Abgeltungswirkung der Entfernungspauschale auch dann ein, wenn wegen atypischer Dienstzeiten Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte zweimal arbeitstäglich erfolgen. Sämtliche Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte seien damit abgegolten. Eine Einschränkung des Anwendungsbereiches im Wege einer teleologischen Reduktion auf „normale“ oder „typische“ Arbeitsverhältnisse sei nicht möglich. Der Gesetzgeber sei von Verfassungswegen nicht verpflichtet, für atypische Dienstzeiten eine Ausnahme von der Abgeltungswirkung der Entfernungspauschale vorzunehmen (vgl. BFH-Beschluss vom 11. September 2003 VI B 101/03, BStBl. II 2003, 893 betreffend Abgeltungswirkung der Entfernungspauschale bei einem Opernchorsänger; BFH-Beschluss vom 11. September 2012 VI B 43/12, BFH/NV 2012, 2023). Im Urteil vom 15. April 2010 (VI R 20/08, BStBl. II 2010, 805) hat der BFH die Abgeltungsreichweite der Entfernungspauschale insoweit präzisiert, als regelmäßig sämtliche mit dem Betrieb des Fahrzeugs verbundenen Aufwendungen abgegolten sind. Diese Abgeltungswirkung erfasse auch eine Leasingsonderzahlung. Dagegen ist nach Auffassung des BFH der Abzug der Kosten für ein in der Semestergebühr gegebenenfalls enthaltendes Semesterticket nicht von der Abgeltungswirkung des § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG erfasst, wenn die Entrichtung eines gegebenenfalls in der Semestergebühr mitenthaltenen Betrags für ein Semesterticket auf einem anderen Veranlassungszusammenhang (z.B. der für das Studium erforderlichen Erlangung  des Studentenstatus) beruht (vgl. BFH-Urteil vom 22. September 2011 III R 38/08, BStBl. II 2012, 338).
60
(2) Die bislang mit der Rechtsproblematik befassten Finanzgerichte sind bis auf eine Ausnahme (siehe unten) der Auffassung, dass durch außergewöhnliche Ereignisse wie Diebstahl, Unfall oder Motorschaden verursachte Aufwendungen nicht zusätzlich als Werbungskosten neben der Entfernungspauschale geltend gemacht werden können (vgl. u.a. FG München, Urteil vom 21. April 2009 13 K 4357/07, juris, betr. Motorschaden aufgrund vorzeitigem Verschleiß; FG Hamburg, Urteil vom 5. Juli 2006 1 K 4/06, EFG 2006, 1822 betr. auf der Fahrt zur Arbeit gestohlener PKW; FG Nürnberg, Urteil vom 4. März 2010 4 K 1497/08, EFG 2010, 1125 betr. Verkehrsunfall auf dem Weg zur Arbeit; Hessisches Finanzgericht, Urteil vom 18. März 2005 8 K 4194/04, DStRE 2006, 258 betr. Diebstahl eines Motorrollers; FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 29. Mai 2008 3 K 1699/05, DStRE 2008, 1498 betr. Kfz-Unfall).
61
Soweit ersichtlich, ist nur das FG Schleswig–Holstein (Urteil vom 30. September 2009 2 K 386/07, DStRE 2010, 147) der Auffassung, dass die Abgeltungswirkung des § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG nur gewöhnliche Kosten umfasst, die durch die Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte entstehen. Danach könnten außergewöhnliche Kosten neben der Entfernungspauschale abgezogen werden. Diese Auffassung stützt sich auf die ältere Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes zur Rechtslage bis einschließlich VZ 2000. Im dortigen Streitfall spielte dies jedoch keine Rolle, da die streitbefangenen Mautgebühren  als gewöhnliche Kosten angesehen und damit als mit der Entfernungspauschale abgegolten gewertet wurden. Eine Auseinandersetzung mit der bereits zur Zeit der Urteilsabfassung  vielfachen entgegenstehenden FG-Rechtsprechung zur Erfassung auch der außergewöhnlichen Kosten und dem entgegenstehenden Wortlaut des § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG erfolgte nicht.
62
Die übrige FG-Rechtsprechung stellt in erster Linie auf den Wortlaut des § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG ab. Dieser eindeutige Wortlaut schließe die Geltendmachung weiterer – auch außergewöhnlicher – Aufwendungen aus (vgl. FG Nürnberg, Urteil vom 4. März 2010, a.a.O., m.w.N.). Die frühere Rechtsprechung des BFH, die neben den alten Kilometerbeträgen den Ansatz außergewöhnlicher Aufwendungen gestattete, beziehe sich auf einen anderen Gesetzestext und sei daher durch die Neufassung des § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG mit Wirkung ab dem 1. Januar 2001 überholt (so ausdrücklich FG München, Urteil vom 21. April 2009, a.a.O.; FG Nürnberg, Urteil vom 4. März 2010, a.a.O.).
63
Durch die Entfernungspauschale seien nach der ausdrücklichen Bestimmung und nach dem unmissverständlichen Wortsinn sämtliche Aufwendungen für die Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte abgegolten. Diese der Steuervereinfachung dienende Abgeltungswirkung habe angesichts des Wortlauts der Vorschrift zur Folge, dass außergewöhnliche Aufwendungen neben der Entfernungspauschale nicht mehr abziehbar seien. Neben dem Wortsinn des § 9 Abs. 2. Satz 1 EStG spreche auch die Systematik des Gesetzes dagegen, außergewöhnliche Kosten neben den Pauschalen für abzugsfähig zu halten. Ausnahmen von der in § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG geregelten umfassenden Abgeltungswirkung seien in § 9 Abs. 2 Sätze 2 und 3 EStG geregelt. Daraus werde deutlich, dass eine Ausnahme für außergewöhnliche Kosten, wenn es denn eine geben sollte, dort bei den weiteren Ausnahmen hätte geregelt werden können und müssen. Das sei jedoch nicht geschehen, was auch jenseits des klaren Wortlauts dafür spreche, dass es für außergewöhnliche Kosten keine Ausnahme geben solle (vgl. Hessisches FG, Urteil vom 18. März 2005, a.a.O.).
64
Auch aus der Entstehungsgeschichte des Gesetzes soll sich nach der Auffassung der vorgenannten FG-Rechtsprechung nichts anderes ergeben. Zwar ergebe sich aus der Gesetzesbegründung, dass eine Schlechterstellung von PKW-Benutzern gegenüber der ursprünglichen Regelung nicht gewollt sei (BT-Drucksache 14/4631, S.11). Da die Abgeltungswirkung nun aber ausdrücklich gesetzlich verankert sei, liege die Schlussfolgerung nahe, dass darüber hinausgehende Aufwendungen nicht mehr abziehbar sein sollen. Ein möglicherweise bestehender anderweitiger Wille des Finanzausschusses helfe nicht über den klaren Wortlauts des §  9 Abs. 2 Satz 1 EStG hinweg. Es seien auch keine vernünftigen Gründe dafür ersichtlich, dass der Gesetzgeber angesichts des klaren Wortlautes nicht das zum Ausdruck gebracht habe, was er zum Ausdruck habe bringen wollen (vgl. Hessisches FG, Urteil vom 18. März 2005, a.a.O.).
65
Die Gesetzeshistorie könne nicht zur Begründung eines dem klaren Wortlaut des Gesetzes widersprechenden Ergebnisses herangezogen werden. Das Bundesverfassungsgericht habe wiederholt ausgesprochen, dass die Gesetzesmaterialien mit Vorsicht, nur unterstützend und insgesamt nur insofern herangezogen werden dürften, als sie auf einen objektiven Gesetzesinhalt schließen lassen. Der sogenannte Wille des Gesetzgebers bzw. der am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten, könne bei der Interpretation nur insoweit berücksichtigt werden, als er im Text Niederschlag gefunden habe. Die Materialien dürften nicht dazu verleiten, die subjektiven Vorstellungen der gesetzgebenden Instanzen dem objektiven Gesetzesinhalt gleichzusetzen. Auch der BFH folge dieser Formel vom objektivierten Willen des Gesetzgebers. Eine Auslegung gegen den eindeutigen Gesetzeswortlaut sei nur in einem äußerst beschränkten Maße, und zwar dann zulässig, wenn die wortgetreue Auslegung zu einem offenbar unrichtigen bzw. zu einem jeder wirtschaftlichen Vernunft widersprechenden Ergebnis führen würde, dass dem Sinn und Zweck der Vorschrift und dem Willen des Gesetzgebers zuwiderlaufe (vgl. FG Nürnberg, Urteil vom 4. März 2010, a.a.O., unter Bezugnahme auf BFH-Urteil vom 3. September 1999 I B 169/98, BFH/NV 2000, 42).
66
Nach Auffassung der bisherigen FG-Rechtsprechung bestätigt der objektivierte Regelungswille, der in dem eindeutigen Wortlaut („sämtliche Aufwendungen“) seinen Niederschlag gefunden habe, schließlich auch denSinn und Zweck der Entfernungspauschale gemäß § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG. Sie diene dadurch der Vereinfachung, dass grundsätzlich nur noch die Entfernung zwischen Wohnung und Arbeitsstätte und die Anzahl der Arbeitstage festgestellt werden müsse. Dadurch entfalle für den Steuerpflichtigen das Erfordernis, seine Aufwendungen zu belegen und für die Verwaltung eine  diesbezügliche Überprüfung. Sinn und Zweck der Einführung der Abgeltungswirkung in § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG sollte nach den gesetzgeberischen Motiven auch die Vermeidung zukünftiger Rechtsstreitigkeiten zwischen Steuerpflichtigen und dem Finanzamt über die Berücksichtigung besonderer Kosten (z.B. Kosten für Abholfahrten) und außergewöhnliche Kosten (z. B. Unfallkosten) bei den Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte sein (vgl. FG Münster, Urteil vom 19. Dezember 2012 11 K 1785/11 F, EFG 2013, 419, Rev. eingelegt, Az. des BFH: VIII R 12/13 betr. sog. Dreiecksfahrten). Wenn jedoch eine derartige Typisierung zur Verwaltungsvereinfachung vorgenommen werde, seien auch Unschärfen und von dem typischen Geschehensablauf abweichende Konstellationen  hinzunehmen. Der Gesetzgeber dürfe sich im Übrigen grundsätzlich am Regelfall orientieren und sei nicht gehalten, allen Besonderheiten jeweils durch Sonderregelungen Rechnung zu tragen. Der Gesetzgeber habe vor allem bei der Ordnung von Massenerscheinungen und deren Abwicklung einen Raum für generalisierende, typisierende und pauschalierende Regelungen. Dabei fordere der Gleichheitssatz nicht eine immer mehr individualisierende und spezialisierende Gesetzgebung, die letztlich die Gleichmäßigkeit des Gesetzesvollzugs gefährde. Es habe dem Gesetzgeber auch unter dem Blickwinkel des Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) freigestanden, für die Fahrten zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte eine typisierende Abgeltungsregelung zu treffen, auch wenn dadurch nicht in allen Fällen die tatsächlich angefallenen Aufwendungen abgedeckt werden, selbst wenn es sich hierbei um nach der früheren Rechtslage berücksichtigungsfähige außergewöhnliche Aufwendungen handele (vgl. Hessisches FG, Urteil vom 18. März 2005, a.a.O.).
67
Selbst Unfallkosten auf dem Weg zwischen Wohnung und Arbeitsstätte werden nach der FG-Rechtsprechung trotz großzügiger Handhabung durch die Finanzverwaltung aus den vorstehenden Gründen nicht zum Werbungskostenabzug zugelassen (vgl. FG Nürnberg, Urteil vom 4. März 2010 a.a.O.; möglicherweise anderer Auffassung: FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 29. Mai 2008 3 K 1699/05, DStRE 2008, 1498 betr. Anrechnung von Entschädigungsleistungen der privaten Vollkaskoversicherung auf entstandene Unfallkosten).
68
(3) Die Auffassungen zum Umfang der Abgeltungswirkung des § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG sind in der steuerrechtlichen Literatur geteilt.
69
(a) Teilweise wird ausgehend vom Wortlaut des § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG und dem Fehlen einer Abgeltungsregelung bis 2001 geschlossen, dass über die Entfernungspauschale hinaus ein Abzug auch außergewöhnlicher Aufwendungen unter Berufung auf die Grundvorschrift des § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG nicht möglich ist (so u.a. Bergkemper in Hermann/Heuer/Raupach, Kommentar zum EStG/KStG, § 9 Anm. 641; ders., FR 2011, 288, 289; Zimmer in Littmann/Bitz/Pust, Kommentar zum EStG, Stand Febr. 2013, 98 Erg. Lfg., § 9 Rz. 901; Urban, FR 2011, 289; Kettler, DStZ 2002, 677; Fuchsen, StB 2001, 122). Dies bedeute eine Schlechterstellung gegenüber der bis 2000 geltenden Rechtspraxis. Die Systematik (andere Ausnahmen sind explizit im Gesetz aufgeführt) und der Regelungszweck (Steuervereinfachung) werden zudem als Begründung angeführt. Die Entstehungsgeschichte des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG sei nicht entscheidend, weil es bei der Auslegung eines Gesetzes in erster Linie nicht auf den historischen, sondern einen objektivierten Willen des Gesetzgebers ankomme (so ausdrücklich Zimmer, a.a.O.).
70
(b) Ein anderer Teil, insbesondere der Kommentarliteratur, ist dagegen der Auffassung, dass auch nach Einführung des § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG Aufwendungen, die ihrer Natur durch außergewöhnliche, nicht pauschalierbare Ereignisse entstehen, neben der Entfernungspauschale zu berücksichtigen sind (so Thürmer in: Blümich, Kommentar zum EStG/KStG/GewStG, § 9 EStG Rz. 510; Schmidt/Drenseck, EStG, 30. Auflage 2011, § 9  Rz. 126; Schmidt/Loschelder, EStG, 32. Auflage 2013, § 9 Rz. 126 jeweils unter Berufung auf BFH-Urteil vom 22. September 2010 VI R 54/09, BStBl. II 2011, 354; Frotscher, EStG-Kommentar, § 9 Rz. 148; v. Bornhaupt in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG-Kommentar, § 9 Rdnr. F90 ff.). Ungewöhnliche Kosten führten zu einer ungleichen Belastung des Steuerpflichtigen und müssten daher neben der Entfernungspauschale ansetzbar sein (so Frotscher, a.a.O.). Zudem werden die Gesetzesmaterialien zur Begründung herangezogen (so v. Bornhaupt in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, a.a.O.).
71
cc. Nach der Überzeugung des Senats werden die streitbefangenen Reparaturkosten als außergewöhnliche Kosten entgegen der von den vorgenannten Finanzgerichten und einem Teil der steuerrechtlichen Literatur vertretenen Auffassung nicht von der Abgeltungswirkung des § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG erfasst.
72
(1) Zunächst ist den Vertretern der gegenteiligen Auffassung zuzugestehen, dass der Wortlaut des § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG („sämtliche Aufwendungen“) scheinbar eine vom Senat vorgenommene Auslegung nicht zulässt (so wohl u.a. Bergkemper in Hermann/Heuer/Raupach, § 9 EStG Anm. 641; ders. FR 2011, 288, 289; Urban, FR 2011, 289). Maßgebend für die Interpretation einer gesetzlichen Vorschrift ist aber nicht nur der reine Wortlaut, sondern entscheidend ist der in ihm zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers (vgl. BFH-Urteil vom 21. Oktober 2010 IV R 23/08, BFHE 231, 544, BStBl II 2011, 277). Der Feststellung dieses Willens dienen die Auslegung aus dem Wortlaut der Norm (grammatikalische Auslegung), aus dem Zusammenhang (systematische Auslegung), aus ihrem Zweck (teleologische Auslegung) sowie aus den Gesetzesmaterialien (vgl. hierzu Kanzler, FR 2007, 525) und der Entstehungsgeschichte (historische Auslegung). Zur Erfassung des Inhalts einer Norm darf sich der Richter dieser verschiedenen Auslegungsmethoden gleichzeitig und nebeneinander bedienen (vgl. BFH-Urteil vom 21. Oktober 2010, a.a.O.; Geserich, Beihefter zu DStR Heft 31/2011, 59).
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Gegen den Wortlaut ist die Auslegung eines Gesetzes deshalb nur ausnahmsweise möglich, wenn nämlich die wortgetreue Auslegung zu einem sinnwidrigen (offenbar unrichtigen bzw. zu einem jeder wirtschaftlichen Vernunft widersprechenden, so unverständlichen Ergebnis führen würde, dass ein verständiger Steuerpflichtiger das Gesetz nicht so hätte auffassen können) Ergebnis führt, dass vom Gesetzgeber offensichtlich nicht beabsichtigt sein kann, oder wenn sonst anerkannte Auslegungsmethoden, etwa eine verfassungskonforme Auslegung, dies verlangen (Geserich, a.a.O., m.w.N.).
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Aus Sicht des Senats wird der objektivierte Wille des Gesetzgebers in Bezug auf die Vorschrift des § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG nur im Zusammenhang mit der historischen Gesetzesentwicklung und der diesbezüglichen Gesetzesbegründung deutlich. Wie bereits unter 1. b. aa. oben dargestellt wurde, waren zunächst bis zum Jahr 2000 mit den unterschiedlichen Kilometerpauschsätzen für Kraftwagen bzw. Motorräder oder Motorroller lediglich die normalen, voraussehbaren Kosten, die dem Arbeitnehmer bei der Benutzung der Verkehrsmittel für Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte entstehen, abgegolten. Ausnahmsweise ließ das Gesetz in § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG a.F. auch mehrmalige Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte an einem Arbeitstag zum Werbungskostenabzug zu. Außergewöhnliche Kosten, die ihrer Natur nach einer Pauschalierung nicht zugänglich waren (z.B. Motorschaden, Unfallkosten und Ähnliches), waren daneben entsprechend der langjährigen höchstrichterlichen Rechtsprechung als Werbungskosten gem. § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG abzugsfähig. Mit der Gesetzesänderung ab dem Veranlagungszeitraum 2001 und der Einführung der einheitlichen, verkehrsmittelunabhängigen Entfernungspauschale wollte der Gesetzgeber mit der erstmaligen Einführung einer Abgeltungswirkung in § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG offensichtlich eine Steuervereinfachung erzielen, und zwar zunächst im Hinblick auf die Vermeidung von Rechtsstreitigkeiten zwischen dem Steuerpflichtigen und dem Finanzamt über die Berücksichtigung besonderer Kosten (z.B. Kosten für Abholfahrten) und außergewöhnliche Kosten (z.B. Unfallkosten) bei Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte (BT-Drucks. 14/4242, Seite 6). Im Entwurf der Bundesregierung enthielt § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG insoweit jedoch nach dem Semikolon den Nachsatz „dies gilt auch für Aufwendungen in Folge eines Verkehrsunfalls“. Ausweislich der vorgenannten Gesetzesbegründung ist klar zum Ausdruck gekommen, dass die Unfallkosten lediglich als Beispiel für außergewöhnliche Wegekosten gemeint sind. Um eine Schlechterstellung gegenüber der vorgenannten Rechtslage bis einschließlich VZ 2000 zu vermeiden, wurde dieser Nachsatz schließlich in der endgültigen Gesetzesfassung wieder weggelassen. Dadurch hat der Gesetzgeber in objektivierbarer Weise zum Ausdruck gebracht, dass mit dem schließlich Gesetz gewordenen Wortlaut des § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG – anders als zunächst beabsichtigt – außergewöhnliche Kosten wie Unfallkosten nicht von der Abgeltungswirkung erfasst werden sollen. Anders wäre nicht erklärlich, warum der Gesetzgeber in der Ausgangsfassung des Regierungsentwurfes die Notwendigkeit gesehen hatte, die Unfallkosten ausdrücklich in die Umfang der Abgeltungswirkung mit aufzunehmen. Diesen Willen des Gesetzgebers entsprechend hat auch das maßgeblich an Gesetzesvorhaben beteiligte Bundesfinanzministerium gehandelt und zumindest Unfallkosten als außergewöhnliche Kosten auch weiterhin neben der Entfernungspauschale berücksichtigt. So gesehen ist auch nicht verwunderlich, dass der entgegenstehende Wortlaut der Regelung aus Kreisen der Finanzverwaltung als offensichtliches Redaktionsversehen dargestellt wird (vgl. Morsch, DStR 2001, 245). Danach war eine derartige Ausweitung der Abzugsbeschränkung vom Gesetzgeber gerade nicht beabsichtigt.
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Das wird auch dadurch erkennbar, dass bei der Bemessung der Entfernungspauschale der Höhe nach der Gesetzgeber – gegenüber der bis VZ 2000 geltenden Kilometerpauschale – lediglich eine Steigerung der Benzinkosten berücksichtigt hat. Eine Einrechnung eines Betrags für außergewöhnliche Kosten hat – zutreffender Weise (weil nicht pauschalierungsfähig) – gar nicht stattgefunden.
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Zweifel an diesem objektivierten Willen des Gesetzgebers, der in verunglückter Weise scheinbar im Wortlaut keinen klaren und eindeutigen Niederschlag gefunden hat, können aus Sicht des Senates nicht bestehen, denn der Gesetzgeber hat in mehrfacher Weise bei späteren Gesetzesänderungen in den Begründungen zum Ausdruck gebracht, dass weiterhin außergewöhnliche Kosten für Wege zwischen Wohnung und Arbeit abzugsfähig sein sollen (so z.B. in der Gesetzesbegründung zum Steueränderungsgesetz 2007, BT-Drucks. 16/1545, 14). Ab dem VZ 2007 sollten ausdrücklich auch die Unfallkosten unter die Abgeltungswirkung fallen.
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Noch deutlicher wird dieser objektivierte Wille in der Gesetzesbegründung zum Gesetz zur Fortführung der Gesetzeslage 2006 bei der Entfernungspauschale (BT-Drucksache 16/12099, Seite 6). Hier führt der Gesetzgeber weiterhin aus, dass bis 2006 und auch zukünftig Unfallkosten als außergewöhnliche Aufwendungen nicht durch die Entfernungspauschale abgegolten sind. Durch die Entfernungspauschale sollen weiterhin sämtliche Aufwendungen abgegolten werden, die durch die Wege zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte und Familienfahrten entstehen. Dies kann (bei gleichzeitiger Geltung des unveränderten Wortlauts „sämtliche Aufwendungen“) nur so verstanden werden, dass nach dem Willen des Gesetzgebers die üblichen, normalen, einer Pauschalierung zugänglichen Aufwendungen abgegolten sein sollen, nicht jedoch außergewöhnliche Kfz-Kosten wie z.B. Unfallkosten. So hat auch das Bundesfinanzministerium die aktuelle Gesetzesfassung – bezogen auf die Unfallkosten – im BMF-Schreiben vom 3. Januar 2013 (FR 2013, 190 Tz. 4) ausgelegt.
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Im Ergebnis gebieten die vorgenannten Gesetzesentwicklungen und –begründungen aus Sicht des Senates zwingend eine Auslegung dahingehend, dass außergewöhnliche Aufwendungen nicht mit der Entfernungspauschale abgegolten sind.
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Sinn und Zweck und Systematik des § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG stehen dem nicht entgegen. Wie die Entscheidungen des BFH und der Finanzgerichte im Anschluss an die Gesetzesänderung im Jahr 2001 zeigen, bleibt der Steuervereinfachungszweck des § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG erhalten. Dies gilt sowohl hinsichtlich sämtlicher laufenden Kfz-Kosten als auch hinsichtlich der Problematik von Mehrfach-, Umweg-, Dreiecks- oder Abholfahrten.
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Aus systematischer Sicht vermag der Senat nicht zu erkennen, dass die Gesetzessystematik dem gefundenen Auslegungsergebnis widerspricht. Allein aus der Aufnahme weiterer tatsächlich neben der Entfernungspauschale zu berücksichtigender Kosten für die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel kann nicht geschlossen werden, dass alle anderen Kosten vom Werbungskostenabzug ausgeschlossen sein sollen.
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(2) Obwohl für den Senat nicht bindend, hat die Finanzverwaltung den Umfang der Abgeltungswirkung in ähnlicher Weise interpretiert, insbesondere ausgehend ebenfalls von der Gesetzeshistorie und der Gesetzesbegründung, jedoch beschränkt auf die Unfallkosten. Entgegen der Auffassung des Klägers kann der Senat jedoch nicht prüfen, ob die im vorliegenden Streitfall relevanten Reparaturkosten unfallkostenähnlich sind und der Kläger aus diesem Grund ebenfalls in den für ihn sachlichen Anwendungsbereich des BMF-Schreibens vom 3. Januar 2013 gelangt. Norminterpretierende oder typisierende Verwaltungsvorschriften oder BMF-Schreiben mit materiell-rechtlichem Inhalt dürfen durch die Gerichte weder wie Gesetze ausgelegt noch verändert werden (BFH-Beschluss vom  15. März 2011 VI B 145/10, BFH/NV 2011, 983).
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Für eine solche Beschränkung der Abzugsfähigkeit außergewöhnlicher Wegekosten im Rahmen des § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG auf Unfallkosten ergeben sich für den Senat dagegen auch keinerlei Anhaltspunkte im Gesetz oder der Steuerrechtsprechung. Nach der Terminologie des EStG sind Unfallkosten keine eigenständige Kategorie von Erwerbsaufwendungen, die einer gesonderten steuerlichen Behandlung zugänglich wären. Sie stellen vielmehr – so schon die BFH-Rechtsprechung für VZ bis 2000 – eine (wenn auch die wohl praxisrelevanteste) Fallgruppe der außergewöhnlichen Wegekosten dar, die nicht vorhersehbar und für den Steuerpflichtigen unabwendbar sind (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 28. Oktober 1994 VI R 54/94, BFH/NV 1995, 668).
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Diese Rechtsauffassung wird bestätigt durch die Gesetzesbegründung des Regierungsentwurfs des Gesetzes zur Einführung einer Entfernungspauschale. Hier heißt es in der Begründung zur Ausgangsfassung des § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG (vgl. BT-Drucks. 14/4242, S. 6) wörtlich:
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„Sie ist deshalb auch ein Beitrag zur Steuervereinfachung, weil sie zukünftig Rechtsstreitigkeiten zwischen den Steuerpflichtigen und dem Finanzamt über die Berücksichtigung besonderer Kosten (z.B. Kosten für Abholfahrten) und außergewöhnlicher Kosten (z.B. Unfallkosten) bei den Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte und Familienheimfahrten vermeidet.“
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(3) Da die streitbefangenen Reparaturkosten unstreitig Werbungskosten gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG darstellen (s.o.), würde bei einer durch die bisherigen FG-Rechtsprechung vorgenommenen (einschränkenden) Auslegung ansonsten § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG in seiner Wirkung einem Abzugsverbot für Werbungskosten gleichkommen (vgl. z.B. zur Verfassungswidrigkeit des Abzugsverbot des § 20 Abs. 9 Satz 1 EStG: FG Baden-Württemberg, Urteil vom 17. Dezember 2012 9 K 1637/10, Rev. eingelegt, Az. des BFH: VIII R 13/13; zur Verfassungswidrigkeit des Abzugsverbots des § 9 Abs. 6 EStG siehe Bergkemper in Herrmann/Heuer/Raupach, § 9 EStG, Anm. 711 u. Kreft in Herrmann/Heuer/Raupach, § 9 EStG, Anm. 9). Ein damit einhergehender Verstoß gegen das objektive Nettoprinzip wäre jedoch nicht gerechtfertigt.
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Die vom Gesetzgeber (einzig) angeführten Vereinfachungszwecke können lediglich eine geringfügige Mehrbelastung rechtfertigen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Oktober 2010 1 BvR 12/07, BVerfGE 127, 224 unter D.III.3.b.dd. der Entscheidungsgründe). Ein Ausschluss aller außergewöhnlichen Wegekosten vom Werbungskostenabzug verlässt diesen dem Gesetzgeber eröffneten Rahmen jedoch deutlich. Die Fälle von Aufwendungen in Folge von Unfall, Diebstahl oder Motorschaden auf dem Weg zur Arbeitsstelle erscheinen dem Senat zum einen nicht vernachlässigbar gering. Zum anderen hätte der Gesetzgeber nicht in ausreichendem Maße dargelegt, dass es sich nur um eine kleine Zahl von Fällen handelt, die im Rahmen einer Pauschalierung aufgehen kann. Eine entsprechende Erhebung hierzu ist dem Senat jedenfalls nicht bekannt.
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Außerdem tritt durch eine Einbeziehung der außergewöhnlichen Wegekosten in die Abgeltungswirkung ein großer Vereinfachungseffekt nicht ein. Die außergewöhnlichen Wegekosten beruhen auf einem besonderen, isolierten Ereignis. Deshalb sind die Kosten in aller Regel leicht von den übrigen laufenden Kfz-Kosten zu trennen. Nur der einheitliche berufliche Anlass – die Fahrt zur Arbeitsstelle – verbindet die laufenden mit den außergewöhnlichen Kosten.
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Auch unter diesem Aspekt kann § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG in verfassungskonformer Weise daher über den scheinbar klaren Wortlaut der Vorschrift hinaus nur so ausgelegt werden, dass lediglich laufende Kfz- und Wegekosten, die grundsätzlich einer Pauschalierung zugänglich sind, von der Abgeltungswirkung erfasst werden.
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Im Ergebnis folgt der Senat in diesem Punkt der Auffassung von Frotscher (ESt-Kommentar, § 9 Rz. 148), der ebenfalls in einer Einbeziehung außergewöhnlicher Kosten in die Pauschalierung einen Verstoß gegen das Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit sieht. Danach belasten ungewöhnliche Kosten die Steuerpflichtigen ungleich und müssen daher als Einzelkosten neben der Pauschale angesetzt werden.
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(4) Für die vorgenommene Auslegung des § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG spricht nach Überzeugung des Senats auch, dass für den Fall, dass der Gesetzgeber tatsächlich eine Beschränkung der Abzugsfähigkeit der Wegekosten und damit eine Schlechterstellung gegenüber der jahrzehntelang bestehenden BFH-Rechtsprechung gewollt hätte, dies deutlich entweder im Gesetz selber (wie zunächst beabsichtigt durch den Nachsatz) oder zumindest in der Gesetzesbegründung hätte zum Ausdruck gebracht müssen werden. Das Gegenteil ist der Fall. Objektiv erkennbar ist das in den Gesetzesbegründungen der Folgeänderungen bewusst nicht geschehen, da sich der Gesetzgeber vielmehr für den Erhalt der Abzugsfähigkeit der Unfallkosten als Teil der außergewöhnlichen Kosten ausgesprochen hat.
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Nach alledem hat die Klage in vollem Umfang Erfolg.
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Die Neuberechnung bzw. Neufestsetzung der Einkommensteuer 2010 wird dem beklagten Finanzamt gemäß § 100 Abs. 2 Sätze 2 und 3 Finanzgerichtsordnung (FGO) übertragen.
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
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3. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 151 Abs. 3 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung.
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4. Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung und Fortbildung des Rechts zuzulassen (§ 115 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 FGO). Im Rahmen des Revisionsverfahrens hätte der BFH die Möglichkeit, den derzeitigen, aus Sicht des Senats unhaltbaren Rechtszustand zu beenden und für Rechtsklarheit zu sorgen. Nach aktueller Rechtslage entscheidet die Finanzverwaltung (über den Wortlaut hinweg) nach eigenem, nicht überprüfbaren und nicht justiziablen Ermessen, welche Reparaturkosten über den Begriff „Unfallkosten“ als außergewöhnliche Wegekosten abzugsfähig sind und welche nicht.