Eine Gesellschaft, deren Hauptniederlassung in einem Mitgliedstaat ansässig ist, kann in die Berechnung des Pro-rata-Satzes für den Vorsteuerabzug nicht die Umsätze ihrer ausländischen Zweigniederlassungen einbeziehen.
Nach einer Steuerprüfung erhielt Le Crédit Lyonnais (LCL), ein Kreditinstitut mit Hauptniederlassung in Frankreich und Zweigniederlassungen im Ausland, zwei Nachforderungsbescheide. Die französische Steuerverwaltung verlangte von ihr nämlich Nachzahlungen insbesondere der Mehrwertsteuer für die Zeit vom 1. Januar 1988 bis 31. Dezember 1989, denn sie beanstandete, dass LCL bei der Berechnung des für die Bank anzuwendenden Pro-rata-Satzes für den Vorsteuerabzug Zinsbeträge von Darlehen berücksichtigt habe, die sie ihren außerhalb Frankreichs ansässigen Zweigniederlassungen gewährt habe.
LCL legte wegen der Mehrwertsteuer, die sie ihrer Meinung nach in den Jahren 1988 bis 1990 zu viel gezahlt hatte (etwa 31,7 Mio. Euro), drei Einsprüche ein und verlangte die Erstattung dieser Steuer. Nachdem die Steuerverwaltung diese Einsprüche zurückgewiesen hatte, erhob LCL Klage vor dem zuständigen französischen Verwaltungsgericht mit der Begründung, dass, wenn die von der Hauptniederlassung den Zweigniederlassungen in Rechnung gestellten Zinsen nicht berücksichtigt werden könnten, weil die Hauptniederlassung und ihre ausländischen Zweigniederlassungen eine Einheit bildeten, die Einnahmen aus den Umsätzen, die Letztere mit Dritten erzielten, als ihre Einnahmen anzusehen und bei der Berechnung des auf sie angewandten Pro-rata-Satzes des Vorsteuerabzugs zu berücksichtigen seien („globaler Pro-rata-Satz“).
Nachdem sie mit ihrer Klage und auch mit ihrer Berufung gescheitert war, wandte sich LCL an den Conseil d’État (Frankreich), der beschlossen hat, den Gerichtshof um die Auslegung der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie zu ersuchen. Es geht um die Frage, ob eine Gesellschaft, die in einem Mitgliedstaat ihre Hauptniederlassung und im Ausland Zweigniederlassungen hat, bei der Erfüllung ihrer steuerlichen Pflichten gegenüber dem Staat ihrer Hauptniederlassung – soweit sie sowohl Umsätze, für die ein Recht auf Vorsteuerabzug besteht, als auch Umsätze, für die dieses Recht nicht besteht, tätigt -, ihren Pro-rata-Satz des Vorsteuerabzugs unter Berücksichtigung ihres Gesamtumsatzes berechnen muss, d. h. unter Einbeziehung sowohl des Umsatzes der Hauptniederlassung als auch des Umsatzes ihrer einzelnen Zweigniederlassungen.
Der Gerichtshof weist in seinem Urteil vom 12.09.2013 erstens darauf hin, dass der in der Richtlinie vorgesehene Vorsteuerabzug den Unternehmer vollständig von der im Rahmen seiner wirtschaftlichen Tätigkeit geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlasten soll. Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem gewährleistet daher völlige Neutralität hinsichtlich der steuerlichen Belastung aller wirtschaftlichen Tätigkeiten unabhängig von ihrem Zweck und ihrem Ergebnis, sofern diese Tätigkeiten der Mehrwertsteuer unterliegen. Insbesondere ist, wenn sich die Mehrwertsteuer auf Gegenstände oder Dienstleistungen bezieht, die vom Steuerpflichtigen sowohl für Umsätze verwendet werden, für die ein Recht auf Vorsteuerabzug besteht, als auch für Umsätze, für die dieses Recht nicht besteht, der Vorsteuerabzug nur für den Teil der Mehrwertsteuer zulässig, der auf den Betrag der erstgenannten besteuerten Umsätze entfällt. Der Anspruch auf Vorsteuerabzug ist auf der Grundlage eines Pro-rata-Satzes zu berechnen, der anhand der Sechsten Richtlinie ermittelt wird. Da die Berechnung des Pro-rata-Satzes des Vorsteuerabzugs Teil der Regelung über den Vorsteuerabzug ist, fallen die Modalitäten dieser Berechnung in den Geltungsbereich des nationalen Mehrwertsteuerrechts, dem eine Tätigkeit oder ein Umsatz steuerlich zuzuordnen ist (Territorialitätsprinzip). Es ist daher Sache der nationalen Steuerbehörden, die Methode für die Berechnung des Rechts auf Vorsteuerabzug festzulegen, da sie durch die Sechste Richtlinie ermächtigt sind, für jeden Tätigkeitsbereich einen besonderen Pro-rata-Satz, einen Vorsteuerabzug nach der Zuordnung der Gesamtheit oder eines Teils der Gegenstände und Dienstleistungen zu einer bestimmten Tätigkeit oder unter bestimmten Voraussetzungen sogar den Ausschluss des Rechts auf Vorsteuerabzug vorzusehen.
Im Übrigen hebt der Gerichtshof hervor, dass sich die Art der Rückzahlung der Mehrwertsteuer (durch Abzug oder durch Erstattung) ausschließlich danach richtet, wo der Steuerpflichtige ansässig ist (Hauptniederlassung, aber auch feste Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat). So ist eine Gesellschaft, die ihre Hauptniederlassung in einem Mitgliedstaat und eine feste Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat hat, aufgrund dieser Tatsache im Hinblick auf die im letztgenannten Staat durchgeführten Tätigkeiten als dort niedergelassen anzusehen und hat keinen Anspruch mehr auf eine Erstattung der dort entrichteten Mehrwertsteuer. Es ist Sache der festen Niederlassung, bei den Steuerbehörden dieses Staates für dort getätigte Anschaffungen den Vorsteuerabzug geltend zu machen.
Da der Gerichtshof entschieden hat, dass eine in einem Mitgliedstaat ansässige feste Niederlassung und die in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Hauptniederlassung im Hinblick auf die Mehrwertsteuer als ein einziger Steuerpflichtiger anzusehen sind, folgt daraus, dass ein einziger Steuerpflichtiger außer der in seinem Sitzstaat geltenden Regelung so vielen nationalen Regelungen über den Vorsteuerabzug unterliegt, wie es Mitgliedstaaten gibt, in denen er feste Niederlassungen hat.
Da die Modalitäten der Berechnung des Pro-rata-Satzes ein wesentlicher Bestandteil der Vorsteuerabzugsregelung sind, kann bei der Berechnung des Pro-rata-Satzes, der für die in einem Mitgliedstaat ansässige Hauptniederlassung eines Steuerpflichtigen gilt, der Umsatz, der von allen festen Niederlassungen des genannten Steuerpflichtigen in anderen Mitgliedstaaten erzielt wurde, nicht berücksichtigt werden.
Zweitens stellt der Gerichtshof fest, dass die Richtlinie dahin auszulegen ist, dass eine Gesellschaft, deren Hauptniederlassung in einem Mitgliedstaat ansässig ist, für die Bestimmung des für sie geltenden Pro-rata-Satzes des Vorsteuerabzugs nicht den Umsatz berücksichtigen kann, den ihre in Drittstaaten ansässigen Zweigniederlassungen erzielt haben.
Die Richtlinie enthält nämlich keinen Anhaltspunkt dafür, dass es Auswirkungen auf die Vorsteuerabzugsregelung, der ein Steuerpflichtiger in dem Mitgliedstaat seiner Hauptniederlassung unterliegt, haben könnte, wenn er außerhalb der Europäischen Union eine feste Niederlassung hat. Der Gerichtshof weist somit das Vorbringen von LCL zurück, dass eine Gesellschaft, die eine Zweigniederlassung in einem Drittstaat habe, im Hinblick auf die Mehrwertsteuer dieselbe steuerliche Behandlung erfahren müsse wie eine Gesellschaft, die in dem Drittstaat eine Tochtergesellschaft habe. Diese unterschiedlichen Möglichkeiten spiegeln nämlich klar unterschiedliche Sachverhalte wider und können deshalb nicht dieselbe steuerliche Behandlung erfahren.
Drittens stellt der Gerichtshof fest, dass die Richtlinie es einem Mitgliedstaat nicht erlaubt, für die Berechnung des Pro-rata-Satzes des Vorsteuerabzugs für jeden Tätigkeitsbereich einer steuerpflichtigen Gesellschaft eine Regelung vorzusehen, nach der die Gesellschaft den Umsatz berücksichtigen darf, den eine in einem anderen Mitgliedstaat oder in einem Drittstaat ansässige Zweigniederlassung erzielt hat.
Der Begriff „Tätigkeitsbereiche“ bezieht sich nämlich nicht auf geografische Gebiete, sondern auf verschiedene Arten wirtschaftlicher Tätigkeiten, wie Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden.
Quelle: EuGH, Pressemitteilung vom 12.09.2013 zum Urteil C-388/11 vom 12.09.2013