Ruhezeiten: Nach sechs Stunden muss Pause sein

Ruhezeiten: Nach sechs Stunden muss Pause sein

Viele Arbeitnehmer verzichten auf regelmäßige Pausen am Arbeitsplatz. Dennoch sind sie aus Gründen des Arbeitsschutzes Pflicht. Insbesondere Jugendliche müssen in besonderem Maße geschützt werden. Wie der Arbeitnehmer seine Pause verbringt, ist allerdings seine Sache.

Insgesamt jeder fünfte Arbeitnehmer nutzt seine Pausenzeiten im Job nicht voll aus. Das belegt eine Studie zu den Pausenzeiten im Auftrag von Verdi, die vor kurzem veröffentlicht wurde. Jeder zehnte unterbricht die Arbeit sogar an vielen Tagen gar nicht.

Der Arbeitgeber muss den Arbeitnehmern aber während einer zusammenhängenden Arbeitszeit Ruhepausen gewähren. Der Begriff der Ruhepause ist gesetzlich nicht definiert. Er wird allgemein verstanden als im Interesse des Arbeitnehmers stehende Arbeitsunterbrechung, während der er nicht zur Arbeitsleistung herangezogen werden darf und die er nach eigener Vorstellung verbringen kann.

Das Direktionsrecht liege beim Arbeitgeber. Er bestimmt, wann Mitarbeiter ihre Auszeit nehmen. Allerdings muss er sich an die Vorgaben des Arbeitszeitgesetzes halten.

Die Ruhepausen betragen grundsätzlich bei einer Arbeitszeit von mehr als 6 Stunden 30 Minuten und bei einer Arbeitszeit von mehr als 9 Stunden 45 Minuten. Länger als 6 Stunden hintereinander dürfen Arbeitnehmer nicht ohne Ruhepause beschäftigt werden.

Wann Jugendliche Pause machen sollen
Im Voraus feststehende Ruhepausen von angemessener Dauer müssen allen Jugendlichen gewährt werden. Als Ruhepause gilt nur eine Arbeitsunterbrechung von mindestens 15 Minuten. Die Ruhepausen müssen bei einer Arbeitszeit von mehr als 4,5 bis zu 6 Stunden mindestens 30 Minuten betragen, bei einer Arbeitszeit von mehr als 6 Stunden mindestens 60 Minuten. Sie dürfen frühestens 1 Stunde nach Beginn und müssen spätestens 1 Stunde vor Ende der Arbeitszeit gewährt werden. Länger als 4,5 Stunden dürfen Jugendliche nicht ohne Pause beschäftigt werden.

Die Pause muss in angemessener zeitlicher Lage gewährt werden, frühestens eine Stunde nach Beginn der Arbeit und spätestens 1 Stunde vor deren Ende. Länger als 4,5 Stunden hintereinander darf ein Jugendlicher nicht ohne Pause beschäftigt werden. An Berufsschultagen, an denen der Jugendliche noch in betriebliche Ausbildungsmaßnahmen einbezogen werden darf, sind die 4,5 Stunden einschließlich der Pausen anzurechnen. Diese Mindestanforderungen an den Umfang der Pausen müssen unter Umständen angemessen verlängert werden, wenn dies aufgrund der Belastung durch die Tätigkeit oder mit Rücksicht auf die Gesundheit des Jugendlichen erforderlich ist.

Was Arbeitnehmer in der Pause machen, ist ihre Sache
Der Chef kann die Gestaltung der Mittagspause nicht vorschreiben.

Ob Arbeitnehmer in der Pause Sport treiben oder essen gehen, ist allein ihre Sache. Auch darf der Arbeitgeber ihnen nicht untersagen, den Arbeitsplatz oder das Betriebsgelände zu verlassen. Macht er es dennoch, können Beschäftigte sich an den Betriebsrat wenden. Es ist allein die Entscheidung der Arbeitnehmer, wie sie ihre freie Zeit verbringen wollen.

Einen gesetzlichen Anspruch auf eine Raucherpause gibt es jedoch nicht. Wer ab und an vor die Tür treten möchte, um zu rauchen, muss das mit dem Arbeitgeber im Einzelfall aushandeln.

Besteuerungsrecht an Abfindungszahlung an einen im Inland wohnenden, aber in Frankreich tätigen Arbeitnehmer

BFH, Urteil I R 8/13 vom 24.07.2013

Leitsatz

Art. 13 Abs. 1 DBA-Frankreich ermöglicht – infolge seines von Art. 15 Abs. 1 OECD-MustAbk abweichenden Wortlauts – kein deutsches Besteuerungsrecht für eine Abfindungszahlung, die eine im Inland ansässige Person von ihrem bisherigen französischen Arbeitgeber aus Anlass der Aufhebung des Arbeitsverhältnisses erhält. Das Besteuerungsrecht gebührt vielmehr Frankreich als Tätigkeitsstaat.

Festsetzung eines Verzögerungsgelds wegen unzureichender Mitwirkung bei einer Außenprüfung

Mit Urteil vom 24. April 2014 IV R 25/11 hat der Bundesfinanzhof (BFH) entschieden, dass das Finanzamt (FA) auch in Fällen, in denen der Steuerpflichtige seiner Mitwirkungspflicht bei einer Außenprüfung schuldhaft nicht nachgekommen ist, ein Verzögerungsgeld nicht ohne nähere Begründung festsetzen darf.

Das FA kann gegen den Steuerpflichtigen ein Verzögerungsgeld von 2.500 Euro bis 250.000 Euro festsetzen, wenn dieser seinen Mitwirkungspflichten (u. a. Erteilung von Auskünften oder Vorlage von Unterlagen) im Rahmen einer Außenprüfung innerhalb einer angemessenen Frist nicht nachkommt (§ 146 Abs. 2b der Abgabenordnung). Ob es zur Festsetzung kommt, steht im Ermessen des FA. Die Ermessenserwägungen sind von dem FA ausführlich darzulegen, um eine gerichtliche Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Festsetzung zu ermöglichen. Deshalb muss das FA sämtliche Besonderheiten des Streitfalles in seine Ermessensentscheidung einbeziehen und abwägen. So muss es beispielsweise – wie im Streitfall – berücksichtigen, dass sich der Steuerpflichtige gegen die Vorlage der Unterlagen mit einem Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gewandt hat und dieser im Zeitpunkt des Ablaufs der Frist noch nicht beschieden war. Das Ermessen wird zudem fehlerhaft ausgeübt und führt zur Aufhebung des Verzögerungsgeldbescheides, wenn das FA früheres (Fehl-)Verhalten des Steuerpflichtigen, welches vor der Aufforderung zur Mitwirkung lag, in seine Ermessenserwägungen mit einbezieht.

Mit dem Verzögerungsgeld hat der Gesetzgeber der Finanzverwaltung ein scharfes Instrument an die Hand gegeben, um den Steuerpflichtigen zu einer zeitnahen Erfüllung der Mitwirkungspflichten anzuhalten, aber auch, um etwaiges Verzögerungsverhalten zu sanktionieren. Um eine dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz geschuldete Waffengleichheit zwischen der Finanzverwaltung und Steuerpflichtigen zu gewährleisten, hat der BFH hohe Anforderungen an die von der Finanzverwaltung zu treffende Ermessensentscheidung gestellt.

Im Streitfall hatte das Finanzgericht (FG) dem Antrag des Steuerpflichtigen stattgegeben und den Bescheid über die Festsetzung des Verzögerungsgelds wegen einer fehlerhaften Ausübung des Ermessens aufgehoben. Der BFH hat die Entscheidung des FG bestätigt.

BFH, Pressemitteilung Nr. 56/14 vom 06.08.2014 zum Urteil IV R 25/11 vom 24.04.2014

Nachträgliche Anschaffungskosten bei Verzicht auf Kleinanlegerprivileg

BFH, Urteil IX R 44/13 vom 06.05.2014

Leitsatz

Hat der darlehensgebende Gesellschafter mit der Gesellschaft vereinbart, das Darlehen solle „wie Eigenkapital“ behandelt werden und halten sich die Beteiligten in der Insolvenz der Gesellschaft an diese Abrede, führt der endgültige Ausfall des Darlehensrückforderungsanspruchs zu nachträglichen Anschaffungskosten der Beteiligung, auch wenn der Gesellschafter mit nicht mehr als 10 % am Stammkapital der Gesellschaft beteiligt war (Abgrenzung zum Senatsurteil vom 20. August 2013 IX R 43/12, BFH/NV 2013, 1783).

zum BFH-Urteil

Keine wirksame Bekanntgabe einer im Wege des sog. Ferrari-Fax-Verfahrens übermittelten, aber nicht vom Empfangsgerät ausgedruckten Einspruchsentscheidung

BFH, Urteil VIII R 9/10 vom 18.03.2014

Leitsatz

  1. Die gesetzlich gebotene Schriftform für behördliche und gerichtliche Entscheidungen wird auch durch Übersendung per Telefax gewahrt (ständige Rechtsprechung; BFH-Urteile vom 4. Juli 2002 V R 31/01, BFHE 198, 337, BStBl II 2003, 45; vom 18. August 2009 X R 25/06, BFHE 226, 77, BStBl II 2009, 965).
  2. Dies gilt auch für die Übersendung im sog. Ferrari-Fax-Verfahren; die auf diesem Weg übersandten Bescheide sind keine elektronischen Dokumente i. S. des § 87a AO und bedürfen deshalb zu ihrer Wirksamkeit keiner elektronischen Signatur.
  3. Per Telefax übersandte Bescheide sind erst mit ihrem Ausdruck durch das – auf automatischen Ausdruck eingestellte – Empfangsgerät wirksam „schriftlich erlassen“ (Anschluss an das BFH-Urteil vom 8. Juli 1998 I R 17/96, BFHE 186, 491, BStBl II 1999, 48, sowie die BGH-Beschlüsse vom 15. Juli 2008 X ZB 8/08, NJW 2008, 2649, und vom 4. Dezember 2008 IX ZB 41/08, WM 2009, 331). Hat das Empfangsgerät nach dem unwiderleglichen Vortrag des Adressaten den Bescheid nicht ausgedruckt, gehen die sich daraus ergebenden Zweifel an der wirksamen Bekanntgabe zu Lasten der Finanzbehörde.

Zum BFH-Urteil

Lotsrevier einer Lotsenbrüderschaft als weiträumige Betriebsstätte

BFH, Urteil VIII R 33/10 vom 29.04.2014

Leitsatz

  1. Fahrtkosten eines Lotsen zwischen seiner Wohnung und dem mit einer Lotsenstation versehenen Hafen des Lotsreviers seiner Lotsenbrüderschaft sind regelmäßig nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6 Satz 1 EStG nur in Höhe der Entfernungspauschale als Betriebsausgabe abziehbar.
  2. Das Lotsrevier einer Lotsenbrüderschaft ist eine großräumige Betriebsstätte, weil es alle Fahrstrecken in einem durch normative Regelungen begrenzten Einzugsbereich umfasst und über eine Lotsenstation als ortsfeste Einrichtung der Lotsenbrüderschaft zur Organisation der Einsätze der Lotsen in dem räumlich begrenzten Zuständigkeitsbereich der Lotsenbrüderschaft verfügt.
  3. Der prägende – regionbezogene – Schwerpunkt der Arbeitstätigkeit des Lotsen schließt es aus, den Mittelpunkt der Lotsentätigkeit auf den jeweils gelotsten Schiffen (Anschluss an BFH-Urteil vom 16. November 2005 VI R 12/04, BFHE 212, 64, BStBl II 2006, 267) oder in den nur der Arbeitsvorbereitung oder Arbeitsnachbereitung dienenden Büros der Lotsen zu sehen.

zum BFH-Urteil

Unangemessener Fahrzeugaufwand eines Freiberuflers

Der Bundesfinanzhof (BFH) hat mit Urteil vom 29. April 2014 VIII R 20/12 entschieden, dass Kosten für betriebliche Fahrten mit einem Kraftfahrzeug selbst dann i. S. des § 4 Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) – dem Grunde nach – betrieblich veranlasst sind, wenn die Aufwendungen unangemessen sind. Die Höhe der Aufwendungen und damit ihre Unangemessenheit ist allein unter Anwendung der in § 4 Abs. 5 EStG geregelten Abzugsverbote oder -beschränkungen zu bestimmen.

Im Streitfall hatte ein selbständig tätiger Tierarzt den (hohen) Aufwand für einen 400 PS- starken Sportwagen als Betriebsausgabe geltend gemacht. Den (absolut) geringen Umfang der betrieblichen Nutzung (nur 20 Fahrten in drei Jahren) hat er mittels eines ordnungsgemäß geführten Fahrtenbuches nachgewiesen. Das Finanzamt hatte den als angemessen anzusehenden Aufwand für die betrieblichen Fahrten lediglich mit pauschal 1 Euro je gefahrenen Kilometer, das dagegen angerufene Finanzgericht (FG) mit pauschal 2 Euro je Kilometer angesetzt.

Auf die Revision des Klägers hat der BFH die vorinstanzliche Entscheidung bestätigt. Die Grenzen des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 7 EStG für den Abzug unangemessener Aufwendungen gelten auch für die Beschaffung ausschließlich betrieblich genutzter Pkw. Ob die Aufwendungen für das Fahrzeug unangemessen sind, bestimmt sich weiter danach, ob ein ordentlicher und gewissenhafter Unternehmer – ungeachtet seiner Freiheit, den Umfang seiner Erwerbsaufwendungen selbst bestimmen zu dürfen – angesichts der erwarteten Vorteile und Kosten die Aufwendungen nach den Umständen des Einzelfalles ebenfalls auf sich genommen haben würde. Auf dieser Grundlage ist das FG nach Ansicht des VIII. Senats des BFH ohne Rechtsfehler zu der Würdigung gekommen, die Kfz-Aufwendungen seien wegen des absolut geringen betrieblichen Nutzungsumfangs des Sportwagens sowie wegen der Beschränkung der wenigen Fahrten auf Reisen zu Fortbildungsveranstaltungen oder Gerichtsterminen und damit wegen fehlenden Einsatzes in der berufstypischen tierärztlichen Betreuung einerseits und des hohen Repräsentations- sowie privaten Affektionswerts eines Luxussportwagens für seine Nutzer andererseits unangemessen. Ebenso hat der BFH es als zulässig angesehen, zur Berechnung des angemessenen Teils der Aufwendungen auf durchschnittliche Fahrtkostenberechnungen für aufwändigere Modelle gängiger Marken der Oberklasse in Internetforen zurückzugreifen.

BFH, Pressemitteilung Nr. 57/14 vom 06.08.2014 zum Urteil VIII R 20/12 vom 29.04.2014

 Zum BFH-Urteil

Zufluss von Scheinrenditen in Schneeballsystemen

Prüfung der Festsetzungsverjährung gemäß § 169 Abs. 2 Satz 2 AO

BFH, Urteil VIII R 38/13 vom 02.04.2014

Leitsatz

Verlangt ein Anleger die Auszahlung fälliger Zins- oder Anlagebeträge vom Betreiber eines Schneeballsystems, ist für die Prüfung von dessen Leistungsfähigkeit und -bereitschaft im Zeitpunkt einer Gutschriftserteilung oder der Vereinbarung, Renditen wiederanzulegen, nicht erheblich, in welchem Umfang der Anleger Bemühungen entfaltet, um seinen Auszahlungswunsch durchzusetzen, sondern wie der Betreiber des Schneeballsystems auf den Auszahlungswunsch reagiert (Anschluss an die Senatsurteile vom 30. Oktober 2001 VIII R 15/01, BFHE 197, 126, BStBl II 2002, 138, und vom 16. März 2010 VIII R 4/07, BFHE 229, 141, BStBl II 2014, 147).

zum BFH-Urteil

EuGH-Vorlage zur Kindergeldberechtigung in Fällen mit EU-Auslandsbezug

Der Bundesfinanzhof (BFH) hat durch Beschluss vom 8. Mai 2014 III R 17/13 den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) im Wege des Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 Abs. 3 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union um die Beantwortung von Rechtsfragen gebeten, die sich in Fällen mit Bezug zum EU-Ausland bei der Bestimmung des Kindergeldberechtigten ergeben können.

Der in Deutschland wohnende Kläger ist von seiner früheren Ehefrau, die zusammen mit dem gemeinsamen Kind in Polen lebt, geschieden. Er war zeitweise nichtselbständig beschäftigt und zu anderen Zeiten arbeitslos. Seine Ehefrau war in Polen erwerbstätig, hatte jedoch wegen der nach polnischem Recht bestehenden Einkommensgrenze keinen Anspruch auf polnische Familienleistungen. Der Kläger beantragte in Deutschland Kindergeld für das in Polen lebende Kind. Die Familienkasse lehnte den Antrag ab, weil sie der Ansicht war, dass die Kindsmutter anspruchsberechtigt sei.

Das Finanzgericht (FG) gab dem Kläger Recht und verpflichtete die Familienkasse zur Kindergeldzahlung. Es war der Ansicht, die Kindergeldberechtigung des Klägers ergebe sich aus deutschem Recht. Die ab Mai 2010 geltende EU-Verordnung Nr. 883/2004, durch welche die Systeme der sozialen Sicherheit koordiniert werden sollen, sowie die dazu ergangene Durchführungsverordnung Nr. 987/2009 begründen nach Ansicht des FG keinen Kindergeldanspruch der in Polen lebenden Mutter. Das FG setzte sich in seiner Entscheidung mit Art. 60 Abs. 1 der VO Nr. 987/2009 auseinander. Die Vorschrift fingiert, dass „alle beteiligten Personen“ in dem Land leben, in dem der Anspruch auf Kindergeld erhoben wird. Wäre zu unterstellen, dass die vom Kläger geschiedene Kindsmutter mit dem gemeinsamen Kind in einer eigenen Wohnung in Deutschland lebt, so stünde ihr das Kindergeld zu, weil nach deutschem Recht bei getrennt lebenden Eltern derjenige Elternteil kindergeldberechtigt ist, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat. Das FG war jedoch der Ansicht, Art. 60 Abs. 1 der VO Nr. 987/2009 lasse den Anspruch des Klägers auf Kindergeld nach deutschem Recht nicht entfallen. Es vertrat damit die gleiche Rechtsmeinung wie die überwiegende Mehrzahl der deutschen Finanzgerichte, die sich bereits mit dieser Streitfrage befasst hatten.

Im anschließenden Revisionsverfahren, das von der Familienkasse angestrengt wurde, hat der III. Senat des BFH das Verfahren ausgesetzt und den EuGH um Beantwortung der Frage gebeten, ob die in Art. 60 Abs. 1 der VO Nr. 987/2009 enthaltene Fiktion des gemeinsamen Wohnlandes dazu führt, dass das in Deutschland vorgesehene Kindergeld an den im Ausland getrennt lebenden Elternteil, bei dem das gemeinsame Kind wohnt, zu zahlen ist. Weiterhin hat er angefragt, ob für den Fall, dass der im Ausland lebende Elternteil nach Art. 60 Abs. 1 der VO Nr. 987/2009 kindergeldberechtigt sein sollte, der im Inland lebende Elternteil dann doch anspruchsberechtigt ist, wenn der andere Elternteil keinen Antrag auf Kindergeld gestellt hat, und nach welchem Zeitraum von einer unterbliebenen Antragstellung auszugehen wäre.

BFH, Pressemitteilung Nr. 55/14 vom 06.08.2014 zum Beschluss III R 17/13 vom 08.05.2014

 

BUNDESFINANZHOF Entscheidung vom 8.5.2014, III R 17/13

EuGH-Vorlage zur VO Nr. 883/2004 und zur VO Nr. 987/2009 – Anspruch auf Kindergeld für im EU-Ausland beim getrennt lebenden Ehegatten wohnende Kinder

Leitsätze

Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden folgende Rechtsfragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist in einem Fall, in dem eine in einem Mitgliedstaat (Inland) lebende Person Anspruch auf Kindergeld für Kinder hat, die in einem anderen Mitgliedstaat (Ausland) beim anderen, von ihm getrennt lebenden Ehegatten wohnen, Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 anzuwenden mit der Folge, dass die Fiktion, wonach bei der Anwendung von Art. 67 und 68 der VO Nr. 883/2004 die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen ist, als würden alle Beteiligten –insbesondere was das Recht zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt– unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fallen und dort wohnen, dazu führt, dass der Anspruch auf Kindergeld ausschließlich dem im anderen Mitgliedstaat (Ausland) lebenden Elternteil zusteht, weil das nationale Recht des ersten Mitgliedstaats (Inland) vorsieht, dass bei mehreren Kindergeldberechtigten der Elternteil anspruchsberechtigt ist, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat?

2. Für den Fall, dass die erste Frage zu bejahen sein sollte:

Ist bei dem unter 1. dargelegten Sachverhalt Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der VO Nr. 987/2009 dahin auszulegen, dass dem in einem Mitgliedstaat (Inland) lebenden Elternteil der Anspruch auf Kindergeld nach inländischem Recht zusteht, weil der im anderen Mitgliedstaat (Ausland) lebende andere Elternteil keinen Antrag auf Kindergeld gestellt hat?

3. Für den Fall, dass die zweite Frage bei dem unter 1. dargelegten Sachverhalt dahin zu beantworten sein sollte, dass die unterbliebene Antragstellung des im EU-Ausland lebenden Elternteils zum Übergang des Anspruchs auf Kindergeld auf den im Inland lebenden Elternteil führt:

Nach welchem Zeitraum ist davon auszugehen, dass ein im EU-Ausland lebender Elternteil das Recht auf Kindergeld nicht i.S. von Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der VO Nr. 987/2009 „wahrnimmt“ mit der Folge, dass es dem im Inland lebenden Elternteil zusteht?

Tatbestand

1
I. Der in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) wohnende Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist von seiner früheren Ehefrau, die zusammen mit dem im April 2000 geborenen gemeinsamen Sohn in Polen lebt, geschieden. Er bezog im streitigen Zeitraum (Januar 2011 bis Oktober 2012) zunächst Arbeitslosengeld. Von November 2011 bis zum 11. Januar 2012 sowie vom 1. bis zum 22. Februar 2012 war er in Deutschland nichtselbständig beschäftigt, danach bezog er Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch. Die frühere Ehefrau ging in Polen einer Erwerbstätigkeit nach. Sie hatte wegen der nach polnischem Recht bestehenden Einkommensgrenze keinen Anspruch auf polnische Familienleistungen für den hier streitigen Zeitraum. Einen Antrag auf Familienleistungen nach deutschem oder polnischen Recht hat sie nicht gestellt.
2
Im August 2012 beantragte der Kläger Kindergeld für seinen Sohn. Die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) lehnte den Antrag mit Bescheid vom 3. September 2012 ab, da die Kindsmutter vorrangig zum Bezug von Kindergeld nach deutschem Recht berechtigt sei. Der dagegen gerichtete Einspruch hatte keinen Erfolg (Einspruchsentscheidung vom 18. Oktober 2012).
3
Das Finanzgericht (FG) gab der anschließend erhobenen Klage statt. Es verpflichtete die Familienkasse, Kindergeld für den Sohn ab Januar 2011 zu gewähren. Es war der Ansicht, der Kläger habe einen Kindergeldanspruch nach deutschem Recht. Er habe seinen Wohnsitz in Deutschland, sein Kind lebe in einem Land der Europäischen Union. Für den Zeitraum seiner nichtselbständigen Beschäftigung (November 2011 bis Februar 2012) ergebe sich die Anwendbarkeit deutschen Rechts aus Art. 11 Abs. 1 und Abs. 3 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit –VO Nr. 883/2004– (Amtsblatt der Europäischen Union –ABlEU– 2004 Nr. L 166, S. 1), für die übrige Zeit aus Art. 11 Abs. 1 und Abs. 3 Buchst. e der VO Nr. 883/2004. Dem stehe nicht entgegen, dass der Sohn in den Haushalt der Kindsmutter aufgenommen sei. Eine Anspruchskonkurrenz nach Art. 68 der VO Nr. 883/2004 bestehe nicht, da die Kindsmutter wegen des Überschreitens der nach polnischem Recht maßgeblichen Einkunftsgrenze keinen Anspruch auf polnische Familienleistungen habe. Die Vorschrift des § 64 Abs. 2 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) sei nicht einschlägig, weil die Kindsmutter selbst nicht die Anspruchsvoraussetzungen nach §§ 62 ff. EStG erfülle. Aus Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit –VO Nr. 987/2009– (ABlEU 2009 Nr. L 284, S. 1) ergebe sich keine andere Beurteilung. Nach der darin enthaltenen Fiktion sei die Familie so zu behandeln, als habe sie ihren Wohnsitz in Deutschland. Dadurch könnten jedoch keine Rechte Dritter begründet werden, durch die Rechte des Klägers geschmälert oder ausgeschlossen würden. Die Vorschrift des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 solle nur den Rechtsverlust einer aus dem Ausland zugewanderten Person verhindern. Der Anspruch der im Inland lebenden Person könne dadurch jedoch nicht begrenzt oder ausgeschlossen werden.
4
Zur Begründung der Revision trägt die Familienkasse vor, Art. 11 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 bestimme, dass Personen, für die die Verordnung gelte, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats unterlägen. Nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG werde Kindergeld bei mehreren Berechtigten demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen habe. Gemäß Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 habe eine Person auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnten. Ergänzend bestimme Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009, dass bei der Anwendung von Art. 67 und Art. 68 der VO Nr. 883/2004, insbesondere was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelange, die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen sei, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fallen und dort wohnen. Damit sei nicht nur geregelt, dass Familienleistungen auch für Familienangehörige zu zahlen seien, die in anderen Mitgliedstaaten lebten (Ausschluss von Wohnsitzklauseln), sondern auch, dass die in anderen Mitgliedstaaten vorliegenden Tatbestände so zu behandeln seien, als lägen sie im zuständigen Mitgliedstaat vor (Sachverhaltsgleichstellung, vgl. Art. 5 der VO Nr. 883/2004). Kindergeld könne somit nur demjenigen gewährt werden, der nach den nationalen Vorschriften vorrangig Berechtigter wäre, wenn sich alle Beteiligten im Inland aufhielten. Im vorliegenden Fall sei deshalb gemäß Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 zu unterstellen, dass auch die Kindsmutter mit dem Kind in Deutschland lebe. Dann wäre sie jedoch gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig kindergeldberechtigt, da sie das Kind in ihren Haushalt aufgenommen habe. Ein gemeinsamer Familienhaushalt mit dem Kläger bestehe nicht, so dass für eine Berechtigtenbestimmung nach § 64 Abs. 2 Satz 2 EStG kein Raum bleibe. Das Kindergeld könne daher gemäß § 64 Abs. 1, Abs. 2 EStG nicht an den Kindsvater ausgezahlt werden.
5
Auch entspreche es der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH), dem Elternteil das Kindergeld zu zahlen, der nach den nationalen Vorschriften der Kindergeldberechtigte sei, auch wenn dieser selbst nicht den deutschen Rechtsvorschriften unterliege. So habe der EuGH in der Rechtssache Hoever und Zachow mit Urteil vom 10. Oktober 1996 C-245/94 und C-312/94 (Slg. 1996, I-4895) entschieden, dass der Ehegatte eines Arbeitnehmers, der den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats (des Beschäftigungsstaates) unterliege und mit seiner Familie in einem anderen Mitgliedstaat lebe, im Beschäftigungsstaat Anspruch auf Familienleistungen geltend machen könne. Ansonsten wäre der Anspruch auf Erziehungsgeld daran gescheitert, dass keiner der Ehegatten sämtliche Anspruchsvoraussetzungen in seiner Person erfüllt habe. In der Entscheidung in der Rechtssache Dodl und Oberhollenzer vom 7. Juni 2005 C-543/03 (Slg. 2005, I-5049, Rdnr. 61 und 62) habe der EuGH hervorgehoben, dass der Umstand, dass der Vater eines Kindes nicht die nach den deutschen Rechtsvorschriften vorgesehenen Anspruchsvoraussetzungen erfüllte, für die Anwendung des Art. 10 Abs. 1 Buchst. b lit. i der Verordnung Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der VO Nr. 1408/71 irrelevant sei. Es sei nicht erforderlich, dass die Erwerbstätigkeit von der Person ausgeübt werde, die persönlich Anspruch auf Familienleistungen habe. Es genüge, dass der Anspruch auf Leistungen in diesem Staat für einen Elternteil, hier die Mutter, erworben werde. Unter Berufung auf diese Entscheidung habe der EuGH in der Rechtssache Weide vom 7. Juli 2005 C-153/03 (Slg. 2005, I-6017, Rdnr. 32 f.) entschieden, dass eine in Luxemburg vorgesehene Erziehungszulage auch dann bis zur Höhe des im Wohnmitgliedstaat (Deutschland) vorgesehenen Erziehungsgelds ausgesetzt werde, wenn dieses dem zum Bezug der luxemburgischen Erziehungszulage Berechtigten und nicht dessen Ehegatten geschuldet werde. Augenscheinlich gehe der EuGH davon aus, dass nicht nur zwischen der vorrangigen oder nachrangigen Zuständigkeit der beteiligten Mitgliedstaaten zu unterscheiden sei, sondern auch danach, welcher Elternteil tatsächlich Anspruch auf die jeweilige Familienleistung habe. In Fortführung dieser Rechtsprechung habe der EuGH in der Rechtssache Slanina durch Urteil vom 26. November 2009 C-363/08 (Slg. 2009, I-11111) entschieden, dass grundsätzlich auch der im Ausland lebende Elternteil die Ansprüche auf Familienleistungen im Inland geltend machen könne. Aus dieser Entscheidung folge, übertragen auf § 64 EStG, dass derjenige Elternteil, der der vorrangig Kindergeldberechtigte wäre, wenn er in Deutschland leben würde, diesen Anspruch auch dann geltend machen könne, wenn er in einem anderen Mitgliedstaat lebe. Hierbei könne es nicht darauf ankommen, ob zuvor bereits ein Anspruch in Deutschland bestanden habe und nun nur wegen eines Umzugs in einen anderen Mitgliedstaat in Frage stehe. Vielmehr sei die Situation der Familie für die Festsetzung von Kindergeld von Anfang an unter Einbeziehung des in einem anderen Mitgliedstaat zusammen mit dem Kind lebenden Elternteils zu beurteilen. Grund für die Regelung des § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG sei, dass nach allgemeiner Lebenserfahrung derjenige, der das Kind in seiner Obhut habe, es betreue und erziehe, die höchste Unterhaltslast trage. Dem sei auch bei grenzüberschreitenden Sachverhalten Rechnung zu tragen. Zudem könnten dem Kind erhebliche Nachteile entstehen, wenn das Kindergeld grundsätzlich an den in Deutschland wohnhaften Elternteil ausgezahlt werde. Zwar bestehe die Möglichkeit einer Abzweigung, diese sei jedoch nach Art. 68a der VO Nr. 883/2004 mit einem zusätzlichen und in der Regel aufwendigen Verwaltungsverfahren verbunden. Diese Nachteile könnten vermieden werden, wenn das Kindergeld an die vorrangig berechtigte Person nach Art. 64 Abs. 2 Satz 1 EStG gezahlt werde.
6
Die Familienkasse beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
7
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
8
Er hält die Entscheidung des FG für zutreffend.

Entscheidungsgründe

9
II. Der Senat setzt das Revisionsverfahren gemäß § 121 i.V.m. § 74 der Finanzgerichtsordnung aus und legt dem EuGH gemäß Art. 267 Abs. 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union die im Leitsatz bezeichneten Fragen zur Vorabentscheidung vor. Die Entscheidung über den Streitfall hängt von der Beantwortung der vorgelegten Fragen ab.
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1. Zur ersten Vorlagefrage:
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a) Nach deutscher Rechtslage haben freizügigkeitsberechtigte Personen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt in Deutschland nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG Anspruch auf Kindergeld für Kinder, die in Deutschland, in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder in einem EWR-Staat ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben (§ 63 Abs. 1 Satz 3 EStG). Dieser Kindergeldanspruch steht in erster Linie den Eltern für Kinder zu, die mit ihnen im ersten Grad verwandt sind (§ 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 32 Abs. 1 Nr. 1 EStG). Darüber hinaus können auch Pflegeelternteile, der Ehegatte oder gleichgeschlechtliche Lebenspartner des Elternteils oder Großelternteile anspruchsberechtigt sein. Nach § 64 Abs. 1 EStG wird das Kindergeld nur einem Berechtigten gezahlt, d.h. in der Regel einem der beiden Elternteile. Bei einem gemeinsamen Haushalt bestimmen die Eltern untereinander den Berechtigten (§ 64 Abs. 2 Satz 2 EStG). Leben die Eltern in verschiedenen Haushalten, dann wird das Kindergeld an den Elternteil gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG). Eine Aufteilung des in einem Betrag auszuzahlenden Kindergelds auf mehrere Berechtigte ist im deutschen Recht nicht vorgesehen. Aus deutscher Sicht muss der Kindergeldberechtigte eindeutig bestimmbar sein, weil die Zahlung an einen nicht Berechtigten die Familienkassen nicht von ihrer Zahlungsverpflichtung befreit. Die Frage, wer Kindergeldberechtigter ist, darf daher nicht offenbleiben. Bei ausschließlicher Anwendbarkeit deutschen Rechts wäre das Kindergeld im Streitfall an den Kläger zu zahlen.
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b) Der nach deutschem Recht zunächst begründete Kindergeldanspruch des Klägers könnte wegen der Anwendbarkeit von Unionsrecht entfallen. Nach Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 gilt die Verordnung für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, Staatenlose und Flüchtlinge mit Wohnort in einem Mitgliedstaat, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, sowie für ihre Familienangehörigen und Hinterbliebenen.
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c) Der Umstand, dass die geschiedene Ehefrau des Klägers keinen Anspruch auf Familienleistungen nach polnischem Recht hat, steht nach Ansicht des Senats der Anwendung der VO Nr. 883/2004 nicht entgegen, obwohl im Streitfall nicht die Familienleistungen verschiedener Mitgliedstaaten zu koordinieren sind. So hat der EuGH in der Rechtssache Schwemmer Koordinierungsrecht angewandt, obwohl wegen der im Ausland (Schweiz) fehlenden Antragstellung dort kein Anspruch auf Familienleistungen bestand und somit nicht die Familienleistungen verschiedener Staaten zu koordinieren waren (EuGH-Urteil vom 14. Oktober 2010 C-16/09, Slg. 2010, I-9717).
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d) Zum sachlichen Geltungsbereich der Verordnung gehören unter anderem Familienleistungen (Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der VO Nr. 883/2004), somit auch das nach den Vorschriften der §§ 62 ff. EStG zu gewährende deutsche Kindergeld.
15
e) Zuständig für die Erbringung von Familienleistungen gegenüber dem Kläger ist nach Art. 11 Abs. 3 der VO Nr. 883/2004 Deutschland, ohne dass zwischen den Zeiten zu unterscheiden wäre, in denen der Kläger nichtselbständig beschäftigt und in denen er arbeitslos war.
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f) Nach Art. 7 der VO Nr. 883/2004 dürfen, sofern in der Verordnung nichts anderes bestimmt ist, Geldleistungen, die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten oder nach dieser Verordnung zu zahlen sind, nicht aufgrund der Tatsache gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden, dass der Berechtigte oder seine Familienangehörigen in einem anderen als dem Mitgliedstaat wohnt bzw. wohnen, in dem der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat. Von dieser sog. Exportpflicht sind Familienleistungen nicht ausgenommen, da sie nicht in Anhang X zur VO Nr. 883/2004 aufgeführt sind (s. Art. 70 Abs. 2 Buchst. c, Abs. 4 der VO Nr. 883/2004).
17
g) In Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 ist vorgesehen, dass eine Person auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats hat, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden.
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aa) Nach Art. 1 Buchst. i Nr. 1 lit. i der VO Nr. 883/2004 ist Familienangehöriger jede Person, die in den Rechtsvorschriften, nach denen die Leistungen gewährt werden, als Familienangehöriger bestimmt oder anerkannt oder als Haushaltsangehöriger bezeichnet wird. Es obliegt somit dem zuständigen Mitgliedstaat, die Eigenschaft als Familienangehöriger zu bestimmen.
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bb) Die Vorschriften der §§ 62 ff. EStG enthalten keine ausdrückliche Bestimmung darüber, wer Familienangehöriger ist. Sie regeln, für welche Kinder Kindergeld gewährt wird und welche Person anspruchsberechtigt ist. Darauf, ob die Eltern verheiratet sind oder nicht, kommt es nach deutschem Recht nicht an. Wegen dieser eigenen Anspruchsberechtigung sind die Eltern eines Kindes im Hinblick auf das nach §§ 62 ff. EStG zu gewährende Kindergeld auch dann Familienangehörige, wenn sie nicht (mehr) verheiratet sind.
20
cc) In der Rechtssache Slanina (EuGH-Urteil in Slg. 2009, I-11111), in der es darum ging, ob eine zusammen mit dem Kind in das EU-Ausland ausgewanderte Person einen Anspruch auf Familienleistungen geltend machen kann, der nach dem Recht des früheren Wohnstaats an den dortigen Mittelpunkt der Lebensinteressen anknüpft, hat der EuGH darauf abgestellt, ob das Kind in den persönlichen Anwendungsbereich der damals einschlägigen VO (EG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, fällt. Warum es darauf ankommen soll, geht aus der Entscheidung des EuGH nicht hervor. Im Streitfall ist der in Polen lebende Sohn des Klägers nach § 32 Abs. 1 Nr. 1 EStG dessen Familienangehöriger. Möglicherweise genügt dies dem EuGH, um den persönlichen Anwendungsbereich der VO Nr. 883/2004 auf die geschiedene Ehefrau des Klägers zu erstrecken.
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h) Nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ist bei der Anwendung von Art. 67 und Art. 68 der VO Nr. 883/2004, insbesondere was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fallen und dort wohnen. Die genannte Vorschrift gilt somit auch dann, wenn nur Art. 67 der VO Nr. 883/2004 zur Anwendung kommt. Die letztgenannte Vorschrift ist nach ihrem Wortlaut anwendbar, und zwar in Bezug auf den Kläger. Allerdings wird zu Art. 67 der VO Nr. 883/2004 auch die Auffassung vertreten, dass die Regelung nicht die Funktion habe, dem Familienangehörigen einer im Inland (Deutschland) lebenden Person einen eigenen Anspruch auf Kindergeld nach deutschem Recht einzuräumen (Urteil des FG Rheinland-Pfalz vom 23. März 2011  2 K 2248/10, Entscheidungen der Finanzgerichte 2011, 1323).
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aa) Da die geschiedene Ehefrau als Familienangehörige anzusehen ist, muss –bei Anwendbarkeit des Art. 67 der VO Nr. 883/2004– unterstellt werden, dass alle beteiligten Personen in Deutschland wohnen (Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009). Wegen der Ehescheidung kann im Streitfall allerdings nicht fingiert werden, dass beide Elternteile und der Sohn in einem gemeinsamen Haushalt leben. Vielmehr ist zu unterstellen, dass die frühere Ehefrau des Klägers zusammen mit dem Sohn in einem eigenen Haushalt lebt, so wie dies in Polen der Fall ist. Bei dieser Sichtweise könnte § 64 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 EStG zur Anwendung kommen mit der Folge, dass das Kindergeld dem Elternteil gezahlt wird, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat. Bei einem fingierten Wohnsitz der geschiedenen Ehefrau in Deutschland würde der Anspruch auf Kindergeld somit ihr zustehen.
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bb) Sollte die Fiktion des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 einschlägig sein, so wäre möglicherweise danach zu unterscheiden, ob Eltern eines Kindes, für das Kindergeld begehrt wird, trotz der –insbesondere durch eine Erwerbstätigkeit bedingten– räumlichen Trennung eine Gemeinschaft bilden. Ist dies der Fall, so ist zu fingieren, dass bei einem unterstellten Wohnsitz des anderen Elternteils und des Kindes ein gemeinsamer Haushalt in Deutschland besteht, was zur Folge hätte, dass die Elternteile den Kindergeldberechtigten untereinander bestimmen könnten. Stellt in einem derartigen Fall der im Inland lebende Elternteil einen Antrag auf Kindergeld nach deutschem Recht, erhält er nur dann Kindergeld, wenn der andere Elternteil seiner vorrangigen Berechtigung zustimmt. Bei Eltern, die keine Gemeinschaft bilden, wäre dagegen –wie ausgeführt– zu fingieren, dass der im Ausland lebende Elternteil in Deutschland zusammen mit dem Kind in einer eigenen Wohnung lebt, was zur Folge hätte, dass nach deutschem Recht nur dieser Elternteil das Kindergeld beanspruchen könnte.
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i) Eine Auslegung der Art. 7 und 67 der VO Nr. 883/2004 und des Art. 60 der VO Nr. 987/2009 dahingehend, dass dem im Ausland mit dem Kind lebenden Elternteil der Anspruch auf Kindergeld nach deutschem Recht zusteht, scheint in Einklang zu stehen mit dem EuGH-Urteil in der Rechtssache Slanina in Slg. 2009, I-11111. Zwar ist in dieser Entscheidung die Rede davon, dass die in das Ausland verzogene Person den Anspruch auf Familienleistungen nach dem Recht des Herkunftslands „beibehält“. Allerdings hat der EuGH in dieser Rechtssache einen Anspruch auf Familienleistungen nach österreichischem Recht auch für Zeiträume bejaht, die dem Wegzug der Anspruchsinhaberin nachfolgten. Es kann somit nicht entscheidungserheblich sein, ob der zusammen mit dem Kind im Ausland lebende Elternteil schon immer dort gewohnt hat oder erst später dorthin verzogen ist, nachdem er sich von dem im Inland lebenden anderen Elternteil getrennt hatte.
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j) Gegen eine Auslegung des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 dahingehend, dass der nach deutschem Recht begründete Anspruch des Klägers durch die Anwendung von Unionsrecht entfällt, könnte allerdings sprechen, dass Art. 68a der VO Nr. 883/2004 die Möglichkeit vorsieht, die Familienleistungen mit befreiender Wirkung an diejenige Person zu zahlen, welche tatsächlich für das Kind sorgt. Durch eine derartige Abzweigung wäre sichergestellt, dass die Familienleistungen bei der Person ankommen, die durch Unterhaltsaufwendungen belastet ist. Allerdings hat die Familienkasse auf den erheblichen Verwaltungsaufwand hingewiesen, der nach ihrer Ansicht mit einem Abzweigungsverfahren verbunden ist.
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2. Zur zweiten Vorlagefrage:
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Sollte die Fiktion des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 anwendbar sein und die geschiedene Ehefrau deshalb so zu behandeln sein, als würde sie mit dem Sohn in einem gemeinsamen Haushalt in Deutschland leben, so stellt sich die weitere Frage, ob die Vorschrift des Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der VO Nr. 987/2009 anzuwenden ist. Hiernach hat der Mitgliedstaat, dessen Rechtsvorschriften anzuwenden sind (hier: Deutschland), den vom anderen Elternteil gestellten Kindergeldantrag „zu berücksichtigen“, wenn die Person, die berechtigt ist, den Anspruch auf die Familienleistungen zu erheben, dieses Recht nicht wahrnimmt. Die Vorschrift geht offensichtlich von einem Verhältnis von Vor- und Nachrangigkeit aus. Ein nachrangig Anspruchsberechtigter soll berechtigt sein, Familienleistungen zu beantragen, wenn der vorrangig Berechtigte dieses Recht nicht wahrnimmt. Nach deutschem Recht hat jedoch bei getrennt lebenden Eltern nur derjenige Elternteil, in dessen Haushalt das Kind lebt, Anspruch auf Kindergeld. Der Elternteil, in dessen Haushalt das Kind nicht aufgenommen ist, hat auch dann keinen Anspruch auf Kindergeld, wenn der andere Elternteil, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat, das Kindergeld nicht beantragt. Es stellt sich somit die Frage, ob Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der VO Nr. 987/2009 insoweit zur Unanwendbarkeit des nationalen Rechts führt, das die Anspruchsberechtigung von im Inland lebenden Kindergeldberechtigten an die Haushaltsaufnahme des Kindes knüpft. Möglicherweise lässt jedoch Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der VO Nr. 987/2009 die ursprüngliche Anspruchsberechtigung unberührt und führt lediglich zu einem Wechsel der Antragsberechtigung. Dies hätte im Streitfall zur Folge, dass der Antrag des Klägers auf Kindergeld nach deutschem Recht bewirkt, dass das Kindergeld nicht ihm, sondern der Ehefrau zu gewähren ist.
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3. Zur dritten Vorlagefrage:
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Sollte Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der VO Nr. 987/2009 dahin auszulegen sein, dass bei einer unterbliebenen Antragstellung des mit dem Kind im EU-Ausland lebenden Elternteils sowohl die Anspruchs- als auch die Antragsberechtigung auf den im Inland lebenden Elternteil übergehen, so stellt sich die Frage, nach welchem Zeitraum dies der Fall ist. Nach deutschem Recht verjährt der Anspruch auf Kindergeld in vier Jahren. Beantragt der im EU-Ausland lebende Elternteil das Kindergeld zunächst nicht und wird dieses deshalb in Anwendung des Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der VO Nr. 987/2009 dem im Inland lebenden Elternteil ausgezahlt, so hätte dies wegen des Grundsatzes, dass Kindergeld nur an einen (einzigen) Elternteil zu zahlen ist, aus der Sicht der Familienkasse befreiende Wirkung gegenüber dem im EU-Ausland lebenden Elternteil, dessen Anspruch auf Kindergeld durch die Zahlung des Kindergeldes an den im Inland lebenden Elternteil erloschen wäre.

Übersendung eines Steuerbescheids per Telefax

Übersendung eines Steuerbescheids per Telefax

Die gesetzlich gebotene Schriftform für behördliche und gerichtliche Entscheidungen wird auch durch Übersendung per Telefax gewahrt.

Hintergrund
Der Streit ging um die Frage, ob die Übersendung eines Einkommensteuerbescheids per Telefax die Festsetzungsverjährung unterbricht.

Die 4-jährige Festsetzungsfrist für die Veranlagung der Steuerpflichtigen X zur Einkommensteuer 2003 lief regulär mit Ablauf des Kalenderjahrs 2008 ab, da sie ihre Einkommensteuererklärung 2003 in 2004 eingereicht hatte. Das Finanzamt übersandte den aufgrund der Erklärung ergangenen Einkommensteuerbescheid vom 30.12.2008 ausweislich des Telefaxjournals am 30.12.2008 per Telefax an das Büro der Steuerberaterin der X. Dagegen legte X Einspruch ein mit der Begründung, wegen nicht rechtzeitiger Bekanntgabe des Bescheids sei zum 31.12.2008 Festsetzungsverjährung eingetreten. Denn nach der 3-Tages-Fiktion gelte ein elektronisch übermittelter Bescheid erst 3 Tage nach der Absendung als bekannt gegeben.

Das Finanzamt entgegnete, die Festsetzungsfrist sei gewahrt, da der Bescheid noch vor Fristablauf den Bereich des Finanzamts verlassen habe und der X tatsächlich zugegangen sei. Die dagegen erhobene Klage wies das Finanzgericht als unbegründet ab.

Entscheidung
Ebenso wie das Finanzgericht hält auch der Bundesfinanzhof den Verjährungseinwand für unbegründet und wies die Revision zurück.

Der Bescheid ist formwirksam und ordnungsgemäß bekannt gegeben worden. Der Bundesfinanzhof verweist dazu auf die ständige Rechtsprechung, nach der die Schriftform auch durch Übersendung per Telefax gewahrt ist. Denn ein Telefax gewährleistet gleichermaßen den mit dem Gebot der Schriftlichkeit verfolgten Zweck, dass aus dem Schriftstück der Inhalt der Erklärung, die abgegeben werden soll, und die Person, von der sie ausgeht, hinreichend zuverlässig entnommen werden können.

Wichtig ist der Hinweis des Bundesfinanzhofs, dass die Übersendung per Telefax nicht als Übersendung eines elektronischen Verwaltungsakts anzusehen ist, für den eine qualifizierte elektronische Signatur nach dem Signaturgesetz erforderlich wäre. Denn der Bundesfinanzhof vertritt die Auffassung, dass die Neuregelungen über den elektronischen Rechtsverkehr die Wirksamkeit der Bekanntgabe behördlicher oder gerichtlicher Entscheidungen per Telefax nicht berühren. Die Bekanntgabe des Bescheids am 30.12.2008 per Telefax war somit ohne qualifizierte Signatur wirksam.

Mit dem gefaxten Einkommensteuerbescheid hat das Finanzamt daher den Ablauf der Festsetzungsfrist gehemmt. Denn die Frist ist immer gewahrt, wenn der Bescheid vor Fristablauf den Bereich des Finanzamts – mit seinem Wissen und Wollen – verlassen hat und dem Adressaten tatsächlich (wenn auch erst nach Ablauf der Frist) zugegangen ist. Auf die mit der Revision aufgeworfene Frage, ob die 3-Tage-Fiktion im Telefax-Verfahren anwendbar ist, kam es im Streitfall nicht an, da für die Fristhemmung der Zeitpunkt, zu dem der Bescheid das Finanzamt verlassen hat, entscheidend ist, nicht der Zeitpunkt des Zugangs.

Steuern & Recht vom Steuerberater M. Schröder Berlin